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Brigitte Prutti (Seattle)1



Postmoderne Artistenmetaphysik?
Zum Spiel mit der Autorschaft in Daniel Kehlmanns Ruhm



Postmodern Artistenmetaphysik? Playing with authorship in Daniel Kehlmann's Ruhm
My essay examines the playful notion of authorship and the fictional treatment of the theodicy question in Daniel Kehlmann’s novel Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten [2009]. The first part of the essay focuses on the novel’s bestselling author and his extensive media presence; part two discusses the authorial agency of the fictitious writer-characters within the novel; part three briefly contextualizes the aesthetic experiment of the novel with regard to some of Kehlmann’s other writings.



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Mails, nichts Vernünftiges dabei. Bei Perlentaucher lese ich, jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich! mein erster Gedanke. Halt! Ich zwinge mich zu denken. Daniel hat ein wunderbares Buch geschrieben. Er verdient sich alles Lob, das er bekommt. Ich kann ihm diesen Zeitungsartikel schon mal verzeihen. (Glavinic 2007: 41)

Gott ist tot, es lebe Leo Richter, sein neurotisches Double in Daniel Kehlmanns Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten, der im Januar 2009 bei Rowohlt erschienen ist. Die "zwischen Herrgott und Witzfigur, programmatischem Ernst und Selbstironie" (Breitenstein 2009) angelegte Gestalt ist eine von mehreren Autorinstanzen im letzten Roman des jungen Wiener Erfolgsautors und der Gegenstand einer schon im Vorfeld des Romans veröffentlichten Erzählung, die die diffizile Verflechtung von schriftstellerischen Ängsten und medialer Neugierde zum Thema hat. Die Erzählung mit dem Titel Leo Richters Porträt ist entstanden, während Kehlmann selbst von einem Kulturjournalisten der Zeit für ein sogenanntes Autorenporträt interviewt worden ist. Sie erschien gemeinsam mit Kehlmanns Porträt aus Anlass der Frankfurter Buchmesse im ZEIT-Magazin vom 15. Oktober 2008; inzwischen sind sie beide auch im eleganten Taschenbuchformat mit Fotos von Daniel Kehlmann und Illustrationen zu Leo Richter sowie als Audio-CD erhältlich (Soboczynski 2008; Kehlmann 2009b). Als Leserin von Ruhm ist man zunächst fast ein wenig enttäuscht, dass der wie Daniel Kehlmann im Jahr 1975 geborene Adam Soboczynski ein wirklicher Kulturjournalist ist und keine zu Interviewzwecken erfundene literarische Figur, die die metafiktionale Spirale des Romans gleich noch ein wenig höher schrauben könnte. Für seine Göttinger Poetikvorlesungen im November 2006 hatte sich Kehlmann nämlich selbst in den beiden Rollen inszeniert, als kritische Frageinstanz und als der befragte Autor, und er ironisierte damit das geläufige Konzept einer Poetikdozentur und die daran geknüpfte Autoritätszumutung für junge Schriftsteller "in der Rolle der selbstbewußten Auskunftgeber", die so sprechen sollen, "als hätten sie die erste Gesamtausgabe bereits hinter sich" (Kehlmann 2007a: 5). Literarisches Schreiben sei weniger Beruf und Berufung als die gelungene Flucht vor einem regulären Brotberuf, insistiert der Befragte, und er warnt vor einer allzu engen Allianz des Geistes mit der Macht:




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Wir müssen dankbar sein für jeden Autor, dem Macht versagt bleibt. [...] Schriftsteller haben vor allem zwei Eigenschaften: Sie sind der Pragmatik abhold und ziemlich oft Opportunisten. Demokratische Politik ist aber nun mal die Kunst der Pragmatik und des faulen Kompromisses. Sie ist unästhetisch und damit abstoßend für Künstler (Kehlmann 2007a: 8).

Die moralische Autorität von Schriftstellern ist nach Kehlmann restlos kompromittiert und das Schreiben selbst charakterisiert er als problematisches Unterfangen. Dazu gehört der kalte Blick auf vertraute Personen in der Umgebung des Schriftstellers und die Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Figuren, denen er oder sie das Leben schwermacht. Das Ergebnis dieser Reflexionen lautet: "Man sollte versuchen, im Leben einigermaßen anständig zu sein, aber Schreiben ist etwas Brutales und Rücksichtsloses, da hilft nichts" (Lovenberg 2008).

Die fragwürdige Allianz von Geist und Macht stand auch im Zentrum von Kehlmanns Augsburger Rede zur Eröffnung des Brecht-Festivals im Juli 2008. Unter dem programmatischen Titel Der gute Mensch von Augsburg problematisiert Kehlmann hier Brechts affirmatives Verhältnis zur stalinistischen Diktatur. Schon der Redeauftakt setzt die entsprechenden kritischen Akzente angesichts der diskreditierten sozialistischen Utopie: "Und bevor wir uns wohlfeilen Phrasen überlassen, sollten wir einmal deutlich aussprechen, welches Glück wir haben, alle von uns, jeder Einzelne, dass die Welt nicht so geworden ist, wie er sie sich gewünscht hat" (Kehlmann 2008). Viele der (links-)engagierten Schriftsteller wie Brecht, Neruda, Sartre und Aragon "meinten bloß, gegen die Macht zu stehen, in Wirklichkeit waren sie auf deren Seite und sicher unter ihrem Schirm" (Kehlmann 2008). Der Redner zieht das folgende Resümee zur Komplizenschaft von Schriftstellern mit totalitären Regimes:

Nein, wir sind nicht klüger als sie, aber rückblickend sollten wir auch nicht den Schrecken leugnen und tun, als wären sie klüger gewesen, als sie waren. Schriftsteller sind keine Autoritäten, sie werden es nie mehr sein nach jenem Zeitalter der Wölfe, wie Ossip Mandelstam es nannte, bevor er ihm selbst zum Opfer fiel, jenem Zeitalter, das so viele Schreibende derart verführbar zeigte als beredte Gegner von Demokratie und Freiheit, deren Argumente nur besser formuliert, aber nicht besser waren als die des nächsten Stammtischkrakeelers. (Kehlmann 2008)

In die gleiche Kerbe zielte bereits Kehlmanns Beitrag für die Meinungsseite der New York Times vom 20. August 2006, der die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS zum Gegenstand hat. Kehlmann sieht im verspäteten Geständnis des Nobelpreisträgers eine Form des posthumen Ruhm-Managements, mit dem der Noch-Lebende der schlechten Nachrede über den Toten zuvorzukommen sucht, und er kritisiert die Ansprüche des deutschen Nachkriegsmilieus an das politische Engagement seiner Schriftsteller. Sie hätten selbst einen poetischen Magier vom Kaliber eines Günter Grass dazu gebracht, sich in schlechter didaktischer Manier als Parade-Moralist zu inszenieren – auch mit negativen Konsequenzen für die Qualität seiner eigenen literarischen Produktion. Die Kritik an der Gesinnungsästhetik in der deutschen Literatur beinhaltet eine fundamentale Generationenskepsis, die vor rhetorisch zugespitzten Vereinfachungen nicht zurückscheut: "When even the most outspoken German moralist wore the uniform of the murderers, one might ask whether there is a single guiltless German in this generation" (Kehlmann 2006). Als Rezensent und Redner, Festival-Gast und Gesprächspartner von Journalisten und Philosophen besetzt der Verfasser der Vermessung der Welt inzwischen "verstärkt auch die Kritiker- und Intellektuellenrolle" (Haefs 2009: 246) und er füllt das rhetorische Genre der Festrede mit provokanten Inhalten, die im Fall seiner Eröffnungsansprache zu den Salzburger Festspielen im Juli 2009 auch eine entsprechende mediale Resonanz zeitigten. Kehlmanns Aussagen in Reden und Interviews bezeugen eine ähnlich skeptische wie spielerische Auffassung von Kunst und von Schriftstellertum wie der Roman, von dem hier noch etwas genauer die Rede sein soll.




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Die folgenden Überlegungen gelten der medialen Konstruktion eines ungewöhnlichen Bestsellerautors und dem witzig-selbstreflexiven Spiel mit der Autorschaft in Daniel Kehlmanns Ruhm. Der schillernde Begriff der Artistenmetaphysik im Titel meines Essays evoziert das wirkungsmächtige Ensemble der romantischen Künstler- und Schriftstellermythen, die das postmoderne Fiktionsspiel des Romans immer wieder aufruft und dekonstruiert. Geprägt hat ihn Nietzsche im "Versuch einer Selbstkritik" zu seiner Geburt der Tragödie, um die zentrale Behauptung des "fragwürdigen Buch[es]" zu bekräftigen, dass "nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist" (Nietzsche 1987: 16).

Aus der Perspektive der selbstironischen Distanz zelebriert Nietzsche hier den Pessimismus der Stärke, dem die ästhetische Theodizee seiner Tragödienabhandlung geschuldet ist: "[D]iese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müßig, phantastisch nennen – , das Wesentliche daran ist, daß sie bereits einen Geist verrät, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird" (Nietzsche 1987: 16). In einem engeren und präziseren Sinn ist der Begriff der Artistenmetaphysik also auf die philosophische Transformation der Theodizeeproblematik bei Nietzsche zu beziehen, in der es nun nicht mehr um die Rechtfertigung Gottes, sondern um die amoralische Affirmation der menschlichen Existenz und um die existenzielle Notwendigkeit der Kunst geht. Rüdiger Safranski beschreibt diese Neufassung des Theodizeeproblems bei Nietzsche wie folgt:

Nietzsche hatte mit seiner Formulierung von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt ausdrücklich an die Theodizeefrage angeknüpft. Die klassische Theodizeefrage [...] lautet von Hiob bis Leibniz: Wie läßt sich angesichts der Übel in der Welt die Existenz Gottes rechtfertigen? Nach dem Verschwinden des alten Gottes wird die Theodizeefrage an die Kunst gerichtet und lautet: Wie läßt sich angesichts der Übel in der Welt das vergleichsweise luxurierende Unternehmen der Kunst rechtfertigen? Ist nicht die Tatsache, daß die einen Kunst machen, während die anderen leiden, ein skandalöser Beweis der Ungerechtigkeit in der Welt? Der Jammer der Welt und das Singen der Kunst – wie soll das zusammenstimmen? (Safranski 2000: 69)

Susan Neiman in ihrer Geschichte zur Philosophie des Bösen differenziert zwischen einem engen und einem weiten Theodizeebegriff: "Theodicy, in the narrower sense, allows the believer to maintain faith in God in face of the world’s evils. Theodicy, in the broad sense, is any way of giving meaning to evil that helps us face despair" (Neiman 2002: 239). Ästhetische Theodizee im weitesten Sinne meint die diversen Formen einer literarischen Sinnstiftung angesichts des Bösen, die in der historischen Praxis sehr unterschiedlich ausfallen können. Kehlmanns Roman knüpft unter performativen Gesichtspunkten an die säkulare Kunstreligion der literarischen Moderne an.2 Sein Verfasser inszeniert eine aktuelle Form der ästhetischen Theodizee und unterminiert parallel dazu ihren existenziellen Gültigkeitsanspruch. Die postmoderne Artistenmetaphysik von Ruhm ist exklusiv auf die Domäne der Kunst beschränkt. Nur die fiktiven Gestalten ihrer Fiktion vermag sie von ihrem Leid zu erlösen.




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In der Literaturwissenschaft ist der in den 1960er Jahren totgesagte Autor schon lange wieder auferstanden, ganz programmatisch so etwa in einem DFG-Symposium der 1990er Jahre zur Rückkehr des Autors und in den zahlreichen anderen Arbeiten zu Fragen der Autorschaft, die seither erschienen sind (siehe Jannidis et al. 1999; Detering 2002). Und wenn er schon nicht leben sollte, so bewegt er sich doch mindestens als Revenant unter uns, und zwar als ein Effekt der ihn betreffenden Diskurse, an denen auch dieser Essay partizipiert. Zu heuristischen Zwecken möchte ich hier ganz grob zwischen vier historisch distinkten Autorschaftsmodellen unterscheiden, die analytisch noch schärfer zu differenzieren wären. Erstens das genieästhetische Autorschaftsmodell der Marke Prometheus/Werther, das den Autor als genialen Selbstschöpfer gemäß der organizistischen Kreativitätsdoktrin entwirft (Begemann/Wellbery 2002). Die Autorschaft als Werkherrschaft ist die hermeneutische und praktische Kehrseite eines als männlich kodierten Projekts der Selbstsetzung und Sinnstiftung, gegen das die poststrukturalistische und feministische Kritik zu Felde gezogen ist. Statt vom Autor, der einem Text je schon vorgängig sein soll und als quasi-göttliche Instanz auch seine Bedeutungen kontrolliert, ist im Poststrukturalismus von der Schrift als einem Schnittpunkt von Diskursen die Rede. Nach der einflussreichen These von Roland Barthes ist der Autor ein Effekt der Schrift oder umgekehrt Teil des Versuchs, die Polysemie von Texten gewaltsam zu unterdrücken und einen potentiell unabschließbaren Lektüreprozess zu einem vorzeitigen Stillstand zu bringen. Der hermeneutischen Lektüremetapher des Eindringens und Entjungferns stellt er die Textilmetapher der Verknüpfung und Entwirrung von zahllosen Fäden gegenüber und – passender noch für ein nicht-lineares und hypertextuelles Lektüremodell – die Vorstellung eines steten Durchquerens von fiktiven Räumen (Barthes 1989). Das zweite Modell ist das in der Nachfolge der Weimarer Klassik stehende modernistische Konzept des Autors als authentischer Dichter und Denker, der statt der Seelenaussprache des empfindsamen Genies die disziplinierte Arbeit im Weinberg des Geistes verrichtet und daher auch eine gesellschaftliche Vorbild- und Vordenkerrolle einzunehmen oder mindestens für sich zu beanspruchen vermag.3 Das Modell Aschenbach, wie man diese Personalunion von Dichter und Denker auch nennen könnte, existiert in einer kulturkonservativ-bildungsbürgerlichen und in einer links-engagierten Variante und die bekanntesten Schriftsteller der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur haben daran partizipiert.4 Drittens wäre das explizit performative popliterarische Autorschaftsmodell der Marke Christian Kracht zu nennen, das die Autorschaft als eine Form der gelungenen Selbstinszenierung begreift, die die "Zeichenproduktion der populären Kultur [...] als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens" (Schäfer 2003: 15) benutzt und die Schriftsteller als Quasi-Popstars mit medienwirksamen Posen und Allüren im Rahmen von passenden Literatur-Events auftreten lässt. Schließlich gibt es noch das Modell eines globalisierten und demokratisierten Schreibens, das ebenso exhibitionistisch wie schemenhaft anmutet und in so vielen Sprachen, Medien und Netzwerken zirkuliert, dass es kaum noch auf einen wie immer gearteten auktorialen Ursprung bezogen werden kann, also die Barthes’sche Vorstellung vom gänzlich entwurzelten, radikal performativen Charakter des Schreibens vollständig einzulösen scheint, während es die Autorität der traditionellen Literaturproduzenten ohne weiteres für sich in Anspruch nimmt (siehe Städtke/Kray 2003).




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"Menschsein heißt, medial sein wollen" – so lautet der eingängige Titel eines Aufsatzes von Harro Segebrecht zur "Autorschaft im Medienzeitalter" (Segeberg 2007: 245). Vielleicht ist dieses mediale Menschsein weniger eine Frage des Wollens als des Müssens, aber wie dem auch sei, die Formulierung zielt auf die ebenso banale wie zentrale Tatsache, dass die zeitgenössischen Autoren weniger Schrifteffekte als die Produkte der elektronischen Medien sind.5 "Die Vermessung der Welt, übersetzt in über vierzig Sprachen, ist einer der größten Erfolge der deutschen Nachkriegsliteratur" (Kehlmann 2009a); das besagt der mit einem aparten Autorenfoto versehene Klappentext zu Kehlmanns fünftem und bisher letztem Roman. Die paratextuelle Information des Verlegers trifft Vorsorge für den unwahrscheinlichen Fall, dass die KäuferInnen von Ruhm mit dem literarischen Erfolg seines Verfassers noch nicht hinreichend vertraut sein könnten. Den professionellen Kritikern des neuen Romans drohte Rowohlt dagegen mit einer deftigen Geldstrafe, falls sie ihn schon vor dem Erstverkaufstag am 16. Januar 2009 besprechen sollten. Ein kurz vor Ablauf der Sperrfrist im Spiegel erschienener Artikel gab in der Folge Anlass zu legalen Querelen, ob er als ein Autorenporträt oder als eine Rezension zu betrachten sei, weil er den im Erscheinen begriffenen Roman etwas zu eingehend kommentiert hatte (Hage 2009). Das tat auch der Autor selbst in seinem langen Gespräch mit Felicitas von Lovenberg, das bereits am 29. Dezember 2008 in der FAZ erschienen war und von einem witzelnden Kritiker als die "vorauseilende Explikation eines autorisierten Lesemodells von [...] A bis (FA)Z" (Schütte 2009) verrissen wurde. Dem Verfasser von Ruhm konnte man das kluge Reden über die Konstruktionsprinzipien des eigenen Romans nicht gut verbieten, aber die kostspielige Frage nach dem Genrecharakter des Spiegel-Artikels sollte per Gerichtsbeschluss gelöst werden. An der verkitschten Authentizitätszumutung im Titelzitat dieses Berichts ("Ich habe sehr gelitten") und am physiognomischen Blick des Journalisten hat sich dagegen niemand gestoßen. Romantische Tiefe und Seelenqual im Sinne genieästhetischer Vorstellungen sind bei Kehlmann nicht zu finden, das besagt der entsprechende Befund, aber er präsentiert sich als anregender Gesprächspartner, der die fiktionsgesteuerten Erwartungen an seine Person sehr gut zu befriedigen weiß:

Er ist ein Starautor, doch auf der Straße wird er nicht erkannt, von niemandem behelligt. Ein Mann, dem Allüren fremd sind. Sein Gesicht wirkt zart und offen, Grüblerisches oder gar Zerquältes sucht man darin vergebens. Doch sobald er über sich und seine Arbeit spricht, wird Kehlmann lebhaft und zeigt eine wache Intelligenz. Er formuliert unprätentiös, ohne Imponiergehabe – ganz wie beim Schreiben. (Hage 2009)

In der Zwischenzeit stand Ruhm selbst schon auf der Bestsellerliste des Spiegel und Kehlmann hat mit seiner Salzburger Rede für einige negative Aufregung im deutschsprachigen Feuilleton gesorgt. "Vom Wunderkind zum konzentrierten Erfolgsschriftsteller" (Hametner 2009)6 – so lautete auch eine der Schlagzeilen beim medialen Debüt von Ruhm, wonach wir es hier mit einem Schriftsteller zu tun haben, dessen enormer Erfolg, sowohl in Verkaufszahlen bemessen als auch in hochliterarischer Anerkennung, ironischerweise mit jenem Roman auf Dauer gestellt zu sein scheint, der die ephemeren Qualitäten dieses Phänomens so nachdrücklich vor Augen führt. Die tausendäugige und tausendstimmige Göttin Fama ist die ortlose transpersonale Rede, der auch der virtuelle Kehlmann zu danken ist, der zurzeit in allen Medien herumgeistert.7 Und so wird post factum auch das literarische Wunderkind entworfen, das da immer schon auf seine Entdeckung wartete; etwa im Klappentext zur Rowohlt-Neuauflage von Beerholms Vorstellung, Kehlmanns erstem Roman, den der damals 22-jährige im Jahr 1997 ohne nennenswertes Echo bei Deuticke in Wien veröffentlicht hat.




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In der Retrospektive handelt es sich dabei um "das phantastische Debüt eines Frühvollendeten", bei dem sich "der Genieverdacht zu verdichten" (Kehlmann 2007b: Cover) scheint.8 Bemerkenswert an der missglückten Formulierung dieses Klappentexts ist die Tatsache, dass die Marketingabteilungen der Verlage und manche Kulturjournalisten noch immer oder schon wieder ganz ungeniert aus dem Formelrepertoire der Genieästhetik schöpfen. Die Anregung dazu verdanken sie der satirisch zugespitzten "Komödie der Genialität" (Kehlmann/Kleinschmidt 2008: 31) in Kehlmanns eigenen Romanen.

Umgekehrt gibt es auch die Star-KritikerInnen wie Elke Heidenreich, denen der ganze Medienrummel offenbar schon so sehr auf die Nerven geht, dass sie den neuen deutschen Literaturstar mit viel Witz und einer gehörigen Portion Bosheit "vom Genie-Sockel" (Heidenreich 2009) zu stürzen suchen. Ihre Internet-Kolumne für den Stern vom 19. März 2009 enthält ein eindringliches Plädoyer für die Verlangsamung des gesamten Kulturbetriebs:

Zwanzig? Vierzig? Ach, sagen wir großzügig: sechzig Kulturredakteure haben mich ungefähr um den 16. Januar herum angerufen, ich solle doch sagen, wie ich den neuen Kehlmann fände. Der Spiegel hatte es da bereits gesagt und soll dafür nun Strafe zahlen, denn da galt noch die Sperrfrist für Rezensionen – nicht vor dem 16.1.! Aber sowas hält ein Spiegel natürlich nicht ein in Zeiten, in denen schon ein vier Wochen altes Buch als Ladenhüter gilt, wenn noch niemand darüber berichtet hat. Ein Kritiker sagte neulich über Spiegel und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, ein Buch, das schon erschienen sei, würde dort erst gar nicht mehr besprochen. Man ist der Erste oder man ist nicht. Literatur als Schnellschuss. (Heidenreich 2009)

Auch Adam Soboczynski in seinem Autorenporträt in der Zeit schreibt im Sinne des von ihm Porträtierten gegen das geläufige Wunderkind-Image an. Es sei "schon deshalb irreführend, da er, Kehlmann, über eine lange Zeit hinweg keineswegs erfolgreich gewesen sei. Er habe in seiner Schriftstellerexistenz durchaus gedarbt. Aber das sehe niemand mehr" (Kehlmann 2009b: 53). Soboczynski konstruiert ein Narrativ der schwierigen Anfänge und einen akademikergerechten Kehlmann, der schwer an der Bürde seines übergroßen Wissens zu tragen hat, anno dazumal noch ein "Nerd inmitten von Stars, traurig hoch gebildet, enorm belesen, ausgestattet mit einem Literatur- und Philosophiestudium, einer abgebrochenen Promotion über Kant und drei Büchern, die keine Leser fanden" (Kehlmann 2009b: 55). Nach dem fiktionalen Muster von Kehlmanns Kritikersatire in Ich und Kaminski (2003) unterstreicht er hier auch das unweigerlich parasitäre Moment aller Kritik. Die diesbezüglichen Bedenken erscheinen etwas forciert, enthalten sie doch eine Reihe von historiographischen Gemeinplätzen, die den Zeit-Lesern durchaus vertraut sein dürften, aber sie gestatten dem Porträtisten einen dramaturgisch effektiven Auftritt. Soboczynskis Resümee besagt: Der ungeheure Erfolg der Vermessung der Welt war in den Glanzzeiten der sogenannten Popliteratur noch keineswegs absehbar und ein poeta doctus vom Schlage Kehlmanns ein kompletter Außenseiter unter seinen populären Zeitgenossen. Kehlmanns Medienpräsenz zeigt, dass die Porträts berühmter Männer so beliebt sind wie eh und je, aber es gibt bessere und schlechtere Arten, sie zu entwerfen, und der Wunsch nach einem kleinen Denkmalssturz liegt da ebenfalls nicht immer fern. Aber im digitalen Zeitalter gibt es keine steinernen Monumente mehr zu stürzen und die Vielstimmigkeit der Göttin Fama ist kaum geringer als die der Fiktion.9




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Aus literatursoziologischer Sicht wurde jüngst auf die Neuheit im geistigen Habitus und in der Selbstinszenierung verwiesen, die Kehlmanns auktoriales Distinktionsmerkmal ausmache und ihn als den "wahre[n] Exponent[en] einer neuen, mobilen und mediensozialisierten Autorengeneration" ausweise, "die mit souveräner Geste die traditionellen Grenzen zwischen E- und U-kultur verwischt" (Haefs 2009: 244). Etwas weniger gelehrt formuliert: Der Schriftsteller Daniel Kehlmann repräsentiert den verloren geglaubten diskreten Charme der großbürgerlichen Intelligenz unter den Bedingungen der mobilen Netzwerkgesellschaft.10 Der misanthropische Held von Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige bezeichnet die aus der Ferne bewunderte Helene Altenwyl als "delizios artig" (Hofmannsthal 1990: 42), und dieses Prädikat des Lobes scheint mir auch auf Kehlmann zuzutreffen, wobei hier allerdings weniger die zweifellos guten Manieren des Autors gemeint sind als die enorme Intelligenz und Kunstfertigkeit (ars) seines Schreibens, die unter den schöpfungslogischen Vorzeichen der spätromantischen Kreativitätsdoktrin gelegentlich noch immer etwas suspekt anmutet. Der Geniediskurs ist insgesamt so obsolet nicht, wie es scheint.11


2

Ich erwache vom Klingeln des Handys, meine Mutter.
'WAS LESE ICH DA, DEIN FREUND KRIEGT SCHON WIEDER EINEN PREIS?'
[...]
'WANN SCHREIBST DENN DU MAL SO WAS?'
'Wie bitte?'
'WANN SCHREIBST DENN DU MAL EIN BUCH, DAS SO EINEN ERFOLG HAT?'
(Glavinic 2007: 113)

Auch für Kehlmanns Ruhm gilt die Maxime der Göttinger Poetikvorlesungen, wonach "Literatur immer [dann] am faszinierendsten [ist], wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit" (Kehlmann 2007a: 15). Kehlmann stellt sich mit dieser Auffassung in die Tradition einer internationalen Moderne und eines gebrochenen Realismus, in dem "die Grenzen zwischen Tages- und Nachtwirklichkeit, zwischen Wachen und Träumen durchlässig" (ebd.: 14) sind, und er kontrastiert die traumlogisch konzipierte Diegese dieser Texte mit einem problematisch verengten Realismus- und Avantgardebegriff in der deutschen Nachkriegsliteratur. "Selbst der große Magier unserer Literatur, der Autor der Blechtrommel, wurde als engagierter Didakt gelesen" (ebd.) lautet die entsprechende Diagnose. Sein eigenes Literaturkonzept ist schon im Titel dieser autopoetischen Reflexionen bezeichnet, den Kehlmann einer Aussage Goethes über seinen Faust II entlehnt hat. Er begründet die Wahl dieses Titels – Diese sehr ernsten Scherze – mit der Tatsache, dass man noch keine "bessere Wendung für das Wesen der Kunst" (ebd.: 40) gefunden habe. Die Hommage gilt dem "Erfinder des amoralischen Reineke Fuchs und der vitalsten Teufelsfigur der Literaturgeschichte", nicht dem "pathetische[n] Humanisten" (ebd.) Goethe, dessen preußischen Adepten Kehlmanns Vermessung der Welt mit so viel satirischem Gusto porträtiert hatte.




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Von renommierten Kritikern im deutschsprachigen Feuilleton wurde Kehlmanns ästhetischer Gegenentwurf zu seiner Vermessung der Welt wohlwollend bis euphorisch besprochen. Ruhm sei ein "nabokovianisch vertracktes Spiegelkabinett"(Schneider 2009), das "vor Raffinement" (Breitenstein 2009) nur so strotze; "perfekt ausbalanciert zwischen Komik und dem Horror existenzieller Not" (Gasser 2009). Der Verfasser des Romans sei ein "zeitgemäßer Romantiker, ein philosophischer Geschichtenerzähler" (Detering 2009), der "ein Schreckens- und Traumbuch aus unserer Gegenwart" (Weidermann 2009) geschrieben habe. Kurz: "der erste Postmoderne mit genauso viel Herz wie Verstand" (Krekeler 2009). Manche Rezensenten halten ihn überhaupt für "das größte Schriftstellertalent seiner Generation" (ebd.) und für den "gegenwärtig bedeutendste[n] Schriftsteller deutscher Sprache" (Gasser 2009). "Es gibt in der deutschen Gegenwartsliteratur keinen Autor, der eine derart virtuose Beherrschung des Handwerks mit so viel Welt- und Lebensklugheit verbindet und dabei so temporeich und pointensicher, so unverschämt unterhaltsam erzählt", resümiert Heinrich Detering in seiner enthusiastischen Besprechung in der FAZ (Detering 2009). Erwartungsgemäß gibt es auch etliche kritische Stimmen, die dem Tenor dieser Begeisterung zuwiderlaufen. Die Bandbreite der Urteile reicht de facto von der Brillanzdiagnose bis zu einigen bösen Verrissen, wobei ganz unterschiedliche Wertkriterien zum Tragen kommen.12

Kehlmanns Kritiker unter den professionellen Rezensenten konzedieren in der Regel sein technisches Können und seine unbestreitbare Intelligenz, aber sie werfen ihm einen Mangel an ästhetischer Substanz und an Tiefe und gelegentlich auch ganz einfach zu viel Können vor. Gutes Handwerkertum heißt das dann, wenn ästhetisches Kalkül insinuiert werden soll, wo vermutlich Ingenium am Werk sein sollte.13 Kehlmanns Ruhm sei das gelungene "Kabinettstückchen" eines literarischen "Feinmechanikers", befindet etwa Dirk Knipphals in seiner Besprechung in der taz; das "Buch des Jahres" (Knipphals 2009) lasse weiterhin auf sich warten. Das ist keine allzu schwere Prognose, wenn man bedenkt, dass der Roman im Januar erschienen ist. Ina Hartwig in der Frankfurter Rundschau unterstreicht die intrikate Verbindung der einzelnen Geschichten, tut sie aber letztlich als "äußerliche Verknüpfungen" (Hartwig 2009) ab und moniert die fehlende Tiefe der Charaktere, die das Buch erst zu einem wirklichen Roman machen könne.14 Wolfram Schütte in seiner vielsagend betitelten Besprechung "Artist in seiner Zirkuskuppel: turnend – Kehlmanns poetischer Ruhm im Gegenlicht" bescheinigt dem Verfasser, das anspielungsreiche "Short-Cut'-Potpourri" seiner parabelhaften Geschichten sei "von allen realen Widersprüchen aseptisch befreit" (Schütte 2009) und von einem profunden Kenner der postmodernen Phantastik folglich nicht wirklich zu genießen. Andere Rezensenten werfen ihm "billige Witze" (Knipphals 2009) und die Klischeehaftigkeit seiner Figurenzeichnung vor. "Reine Germanistenprosa" und "spiegelglatte Designerliteratur" lauten die entsprechenden Verdikte in Elke Heidenreichs Internet-Kolumne des Stern (2009) und bei Wiebke Porombka in der Zeit (2009). Porombkas Besprechung zeichnet sich in erster Linie durch die suggestive Gehässigkeit und das Ressentiment der Verfasserin aus, die dem Verfasser von Ruhm attestiert, ein völlig "humorloses und bescheidenes Buch" (ebd.) geschrieben zu haben. Heidenreichs Irritation gilt den Machinationen des zeitgenössischen Kulturbetriebs und den medial hochgeschraubten Erwartungen an Kehlmanns letzten Roman:




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Daniel Kehlmann wird geradezu hysterisch beweihräuchert wie Harry Potter, und auch die Meinungen über seine Qualität gehen trotz des Kritikerhype auseinander. Jaja, eine Seite jeweils in FAZ und SZ und Zeit, ein Genie ist unter uns, ein Jahrhundertstreich wurde geschrieben, wir kriegen kaum noch Luft vor lauter Lobhudeln, und dann ach: So ein dünnes Hündchen (Heidenreich 2009).

Dem süffisanten Witz von Elke Heidenreich kann ich einiges abgewinnen, aber nur weil der Roman auch seinen professionellen Lesern gefallen kann, muss er umgekehrt natürlich nicht schon schlecht sein.15 Begründet wird das saloppe Urteil mit der nicht weiter begründeten Unterstellung, wonach die Spezies der sogenannten Normalleser spätestens in der Mitte des Buches im Dickicht der Metafiktionen verlorengehe. Das mag zwar auf Mollwitz’ Brüder im Geiste zutreffen, aber die Perversionsleser freut, was den Normalleser reut. Weniger aggressiv als im Tonfall der milden Herablassung gehalten ist Jochen Jungs Besprechung in der Zeit, wo der Roman als eine mimetisch vollkommen anspruchlose, "gut geölte Maschine" (Jung 2009) bezeichnet wird, mittels derer ausschließlich die "technische Seite des Erzählens" (ebd.) vorgeführt werde. "Mit dem Leben und den Erfahrungen, die wir in ihm machen können oder müssen" (ebd.), habe das allerdings herzlich "wenig zu tun. Es ist vielmehr nichts als das harmlose Vergnügen eines Virtuosen, der mit seinen Trillern und Doppelgriffen vorführt, was er kann, und dieser hier kann einiges" (ebd.).16 Das Handy sei letztlich nichts als ein "Stoffzünder" (ebd.) und das zentrale Thema des "Rollentausch[s]" (ebd.) ebenfalls ein alter Hut. Alles schon dagewesen und noch dazu viel zu perfekt inszeniert.

Unter dem Titel Fame: A Novel in Nine Episodes ist Kehlmanns Ruhm im September 2010 auch auf Englisch erschienen und sein Verfasser hat eine Lesetour in den USA unternommen. Die Klappentexte zur amerikanischen Ausgabe bei Pantheon Books zelebrieren das Vergnügen, das der Roman seinen englischsprachigen Lesern bereitet. Der erste Blurb auf der Rückseite des Buchumschlags stammt von niemand anderem als Jonathan Franzen, selbst ein Starautor des amerikanischen Literaturbetriebs, der im August 2010 angesichts der Veröffentlichung seines lange erwarteten neuen Romans auf der Titelseite von Time zu bewundern war – "the first living American novelist to appear on Time magazine cover for a decade" (Flood 2010). Im Hintergrund seines lobenden Urteils über Kehlmanns Ruhm stehen die nach wie vor dominanten Rezeptionserwartungen an die metaphysische Schwere (Langeweile?) und Ernsthaftigkeit der deutschsprachigen Literatur:

Who would have thought contemporary Central European literature could be so fun and so funny? Daniel Kehlmann is who. The young Austrian prodigy, famous everywhere but in the United States, has given us a real beauty of a book, farcical, satiric, melancholic, and humane. Modern fame may have been invented in America, but nobody has dramatized its paradoxes and heartbreaks more entertainingly than the European Kehlmann does here. (Kehlmann 2010a: Cover)




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Die anglo-amerikanischen Besprechungen heben auf das gelungene Porträt der modernen Medientechnologie (Manguel 2010) und den witzig-selbstreflexiven Charakter des Buches ab: "Fame may be intended as a lavish joke" (Mohr 2010). Was hier grundsätzlich fehlt, ist die aggressiv-überhebliche Pose von deutschen Kritikern, die den Autor wie einen vorlauten Schulbuben auf seinen Platz verweisen möchten. Die Übersetzung von Carol Brown Janeway hat gleichermaßen positive wie negative Einschätzungen erfahren. Tim Mohr in seiner Rezension in der New York Times kritisiert ihre mangelnde Sensibilität für das zeitgenössische Deutsch, die die Formulierungen der englischen Fassung manchmal "awkward and at times incongruously old-timey" (Mohr 2010) erscheinen lasse; Alberto Manguel im Guardian dagegen lobt die außerordentliche Leistung der Übersetzerin, die den stilistischen und lexikalischen Feinheiten des Originals "with humour and verisimilitude, and without the slightest feeling of artificiality" (Manguel 2010) gerecht werde. Die französische Ausgabe in der Übersetzung von Juliette Aubert hat vor kurzem einen Preis für den besten europäischen Roman (Le Prix Cévennes du Roman Europeen 2010) erhalten.

Kehlmanns Ruhm ist tatsächlich ein geistreiches und witziges Buch, das mit leichter ästhetischer Hand eine Reihe von schwerwiegenden philosophischen Problemen aufgreift und in seinen eng vernetzten Geschichten behandelt: Willensfreiheit und Determinismus, Kontingenz und Theodizee, persönliche Identität und Identitätsverlust, Endlichkeit und Unsterblichkeit, Wahrheit und Lüge, das Sagbare und das Unsagbare. Als literarisches Porträt der mobilen Netzwerkgesellschaft dokumentiert der Roman die grundlegende Transformation unseres Raum-, Zeit-, Welt- und Selbstverständnisses und das kontinuierliche Changieren zwischen diversen "Parallelwirklichkeiten", wie Kehlmann das selbst genannt hat: "Ich interessiere mich immer schon für sanften Surrealismus, für das Unwirklichwerden des Alltags. Mobiltelefone und E-Mails schaffen eine Parallelwirklichkeit" (Lovenberg 2008). Aus kommunikationstheoretischer Sicht wurde die Veränderung der Raum- und Zeiterfahrung durch die digitalen Medien als die Aufhebung von festen Grenzen und als eine neue Form der Simultaneität beschrieben:

Wireless communication [...] blurs, rather than transcends, spatial contexts and time frames. And it induces a different kind of space – the space of flows – made of the networked places where the communication happens, and a new kind of time – timeless time – formed from the compression of time and the desequencing of practices through multitasking (Castells et al. 2007: 250).

Die neun Geschichten des Romans rufen unterschiedliche Genres und Traditionen, Autoren und Intertexte auf. Ihre Vernetzung findet auf der Ebene der Figuren, Themen und Motive und der modernen Kommunikationstechnologien statt. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten von Ruhm gehört auch die spielerische Auseinandersetzung mit Fragen der zeitgenössischen Schreiber- und Schriftstellerexistenz. Es geht um die Produktion und Rezeption von Literatur, um die ästhetische und moralische Verantwortung von Schriftstellern, ihre Ängste und Neurosen, um die lächerlichen Seiten des Kulturexports, die Formen der öffentlichen Beachtung im Medienzeitalter, um die Rituale des Kulturbetriebs, das Unsterblichkeitsbedürfnis der Obskuren wie der Berühmten usw.




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In seinem Essay zur Ökonomie der Aufmerksamkeit hat Georg Franck die Distributions- und Wirkungsmechanismen der sozialen Anerkennung erörtert und das Phänomen des Ruhms neben dem Prestige, der Reputation und der Prominenz als die "höchste Form des rentierlichen Reichtums an Beachtung" (Franck 1998: 118) designiert. Seiner These zufolge ist der Ruhm auch dasjenige Kapital, das eine bestimmte Form der Unsterblichkeit garantiert: "Wer berühmt ist, ist allen bekannt und wird es lange bleiben. Als Ruhm bezeichnen wir die Vermögen in der Größenordnung, die eine 'ewige Rente' versprechen. Der Ruhm macht unsterblich in dem Sinne, daß der Strom der bezogenen Beachtung nie versiegt" (ebd.). Die Einleitung des Buches schlägt ganz euphorische Töne an, um die Unwiderstehlichkeit des betreffenden Phänomens zu beschreiben:

Das Hinreißende am jubelnden Publikum ist der Schwall der zufliegenden, das Betörende am eigenen Ausüben von Faszination ist das Bad der gebannten Aufmerksamkeit. Der Zauber, der von der Fülle empfangener Zuwendung ausgeht, übertrifft die Magie des Geldregens. Aber wie vom Geld, so können wir von der Aufmerksamkeit nicht genug bekommen (ebd.: 10).

Die unerwünschten Formen und Effekte der sozialen Dauerbeachtung und einer entsprechenden Politik der Visibilität markieren den blinden Fleck in dieser Apotheose des Ruhms. Kehlmann selbst hat auf die vergleichsweise bescheidene Dimension des Schriftstellerruhms verwiesen und wie Franck seine "rauschhafte, die Persönlichkeit erhöhende Kraft" (Kehlmann/Kleinschmidt 2008: 125) unterstrichen. Er verderbe zwar nicht den Charakter, wohl aber den Geist, weshalb man den intelligenzhemmenden Effekten einer ruhminduzierten Selbstüberschätzung auch nur mit "drastischer Selbstironie" begegnen könne, "sogar mit erniedrigend drastischer Selbstironie, weil man nun die Skepsis, die früher die anderen einem entgegengebracht haben, selber übernehmen muß" (ebd.: 127). Und an dieser Selbstironie mangelt es keineswegs im geistreichen Spiel mit der Ruhmesbegierde und mit den Ruhmeseffekten in Daniel Kehlmanns Ruhm. 17 In intertextueller Perspektive mag man darin auch eine spielerische Replik auf Thomas Glavinic und seinen Schriftstellerroman Das bin doch ich (2007) sehen, der die komischen Qualen und Ängste eines hypochondrischen Neurotikers namens Thomas Glavinic im Kampf um die literarische Anerkennung zum Gegenstand hat, bei der ihm Freund Daniel stets um einiges voraus ist. Letzterer versorgt den Erzähler hier per SMS auch in regelmäßigen Abständen mit den exorbitant steigenden Verkaufszahlen seiner Vermessung der Welt. Eine schöne Pointe am Rande: Bei Glavinic wartet der fiktive Daniel Kehlmann noch ganz gespannt darauf, von dem nicht namentlich genannten "größten Starautor der westlichen Welt" (Glavinic 2007: 31) zu hören, der sich bei einer Lesung in Wien seine Emailadresse hat geben lassen.




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Zum ironisch gezeichneten Schriftstellerpersonal von Ruhm gehören der eingangs schon erwähnte Leo Richter, die Krimiautorin Maria Rubinstein, und der brasilianische Bestsellerautor Miguel Auristos Blancos, dessen Bücher in fast allen Geschichten des Romans irgendwo herumliegen oder von einer Nebenfigur gelesen werden. Kein Schriftsteller im traditionellen Sinn, aber ein besessener Schreiber ist auch der Computernerd Mollwitz, der zahllose Internet-Foren mit seinen Beiträgen versorgt. Es folgt eine Inhaltsskizze des literarischen Formexperiments, das den fiktiven Leo Richter hier bei seinem ersten Auftritt in der zweiten Geschichte des Romans augenblicklich zum Schwärmen bringt: "Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held" (Kehlmann 2009a: 25).

Ruhm beginnt mit dem Läuten eines Mobiltelefons, das sich ein Computertechniker namens Ebling in der ersten Geschichte mit dem theologisch anspielungsreichen Titel Stimmen auf das Drängen seiner Umgebung hin zulegt, um medial eben so präsent zu sein, wie man es in der mobilen Netzwerkgesellschaft von jedem Einzelnen erwartet. Und er bekommt in der Folge eine Reihe von Anrufen, die einem unbekannten Anderen gelten, der offensichtlich ein viel interessanteres Leben führt als er selbst. Ebling beginnt sein aufregendes Doppelleben als Stimmenimitator des unbekannten "Raff, Ralf oder Rauf" (R 7) und die Macht über andere zu genießen, bis diese Anrufe ebenso unvermittelt wieder aufhören, wie sie begonnen haben.

Die zweite Geschichte mit dem Titel In Gefahr enthält das selbstironische Porträt des erfolgreichen Autors und Intellektuellen als junger Narziss. Kehlmann selbst hatte im Jahr 2001 eine Poetikdozentur in Mainz inne. Seine poetologischen Aussagen in Diese sehr ernsten Scherze verdeutlichen, dass sein Leo Richter unter anderem als ein ironisches Selbstporträt angelegt ist:

Ich hatte gemeint, gute Literatur müsse bloß formal perfekt sein. Sie müsse bloß aus möglichst brillanten, tänzelnd überraschenden Sätzen bestehen. Aber natürlich reicht das nicht. Es muß immer ... nun ja, ein Element existentieller Wahrheit geben, eine Berührung mit den Grundtatsachen unseres Daseins. Sie muß etwas über uns als Menschen sagen und über mich als Menschen, als den Schreibenden. (Kehlmann 2007a: 12)

Der neurotische Leo Richter in Ruhm wird eingeführt als der "Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz" (R 29). Er ist der hochgradig professionalisierte Vertreter einer jüngeren Autorengeneration und die zeitgenössische Inkarnation des Schriftstellers auf Reisen, der immer und überall arbeitet und von seinen Lesern nach den Quellen seiner Inspiration befragt wird.18 Das schillernde Raunen dieses postmodernen Kulturtheoretikers im Gefolge von Nietzsche und Baudrillard wird gerne vernommen und es beschert ihm die Aufmerksamkeit des zeitgenössischen Kulturbetriebs:

Wenige Wochen zuvor hatte er vor der Mainzer Akademie einen Vortrag darüber gehalten, daß die Kultur zwar aussterbe, daß dies aber nicht bedauerlich sei und es der Menschheit bessergehen werde ohne den Ballast von Wissen und Tradition. Dies sei das Zeitalter der Bilder, des rhythmischen Lärms und des mystischen Dämmerns im ewigen Jetzt – ein religiöses Ideal, Wirklichkeit geworden durch die Macht der Technik. Niemand wußte so recht, ob er das ernst oder ironisch meinte, ob er Nihilist war oder konservativ, aber gerade deswegen wurde der Text abgedruckt, allerlei Repliken wurden verfaßt, und deutsche Kulturinstitute in aller Welt luden ihn zu Vortragsreisen ein. (R 31)




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Zum Zeitpunkt des Erzählgeschehens befindet sich dieser fröhliche Kulturpessimist auf einer Lesereise in Mittelamerika, die seinem Erfinder zu einer unterhaltsamen Satire auf den hochkulturellen Literaturexport dient. Begleitet wird er von einer jungen Ärztin namens Elisabeth, die während dieser Reise von der Entführung ihrer drei engsten Mitarbeiter bei der internationalen Ärzteorganisation Médecins sans frontières in einem afrikanischen Krisengebiet erfährt. Leo Richter weiß davon nichts. In seiner neurotischen Selbstbezüglichkeit ist er die ganze Zeit über nur mit seiner eigenen Flugangst und anderen möglichen Gefahren für seine Sicherheit präokkupiert. Die Intimität der beiden Figuren erstreckt sich auf die erotische Begegnung der Körper.

Rosalie geht sterben ist der Titel der dritten, dem fiktiven Leo Richter zugeschriebenen Geschichte, der gleich in den Eingangsworten der Erzählung die selbstzufriedene Bewunderung für sein eigenes Geschöpf zum Ausdruck bringt. Die kluge Rosalie ist eine an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte 72-jährige Frau, die auf der Fahrt in ein Züricher Sterbehilfezentrum mit ihrem literarischen Schöpfer um ihr Leben zu verhandeln beginnt. Und der gewährt seiner Figur hier trotz aller ästhetischen Bedenken ein Happy End, als sie nach einer pannenreichen Fahrt an ihr trauriges Ziel kommt. Als der Zeitpunkt des assistierten Suizids gekommen ist, schaltet sich der fiktive Autor ein und entlässt seine Gestalt wie ein wundertätiger Heiland in ein neues Leben. Da aber auch in dieser "theologischen Geschichte" (R 67) nicht von Göttern und Menschen, sondern von sprachlichen Zeichen auf dem Papier die Rede ist, endet Rosalies Existenz am Ende der Erzählung auch "von einem Moment zum nächsten. Ohne Todeskampf, Schmerz oder Übergang" (R 77).

Im Zentrum der vierten Geschichte mit dem Titel Der Ausweg steht ein prominenter Filmschauspieler, der aufgrund eines Fehlers bei der Nummernvergabe "von einem Tag zum nächsten" (R 79) keinerlei Anrufe mehr bekommt, als Ralf-Tanner-Imitator in einem Vorstadtlokal namens Looppool (R 82) die in der Öffentlichkeit zirkulierenden filmischen Bilder seiner selbst zu verkörpern beginnt, und schließlich feststellen muss, dass ein begabteres Double seine Stelle eingenommen hat. Aber was hier das Original und was das Spiegelbild ist, ist am Ende dieser Spiegelgeschichte keineswegs mehr so klar.19

Die Protagonistin der fünften Geschichte ist die erfolgreiche Krimiautorin Maria Rubinstein, die auf Empfehlung Leo Richters an einer vom PEN-Club veranstalteten "Schriftstellerrundreise" (R 40) in Zentralasien teilnimmt und dort in die Riesenbaustelle eines post-sowjetischen Staates gerät, in dem Englisch noch nicht die lingua franca ist. Vor ihrer Rückreise in den Westen wird sie hier in einem leerstehenden Hotel vergessen. Eine Bäuerin auf dem Marktplatz nimmt sie schließlich mit in die Steppe, wo sie am Ende der Erzählung erschöpft einschläft.




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Die Hauptfigur der sechsten Geschichte Antwort an die Äbtissin ist Miguel Auristos Blancos, der erfolgreiche "Autor von Büchern über Gelassenheit, innere Anmut und die Suche nach Lebenssinn beim Wandern über hügeligen Wiesengrund" (R 121). Eine Minima Moralia hat dieser globale Sinnproduzent zwar noch nicht verfasst, dafür aber so populäre Titel wie Der Weg des Selbst zu seinem Selbst; Frieden, komm tief in uns; Ruhige Hand schafft ruhigen Sinn usw. Er steht knapp vor der Fertigstellung eines neuen Manuskripts, als er um eine erbauliche Epistel zur Stützung des philosophischen Optimismus gebeten wird: "Warum gebe es das Leiden, warum die Einsamkeit, warum vor allem die Gottesferne, und weshalb sei die Welt dennoch aufs beste eingerichtet?" (R 127) Seine Antwort ist eine wütende Attacke gegen alle Sinnbehauptungen, auf die er sich in seiner bisherigen Karriere so erfolgreich spezialisiert hatte. Am Ende der Geschichte spielt er mit dem Gedanken, dass gerade die schockierende "Auslöschung seines Lebenswerks" (R 130) seinen Ruhm sicherstellen könnte. Wir verlassen ihn mit einer geladenen Pistole im Mund.

Ein besessener Schreiber ist auch der verfressene Mollwitz in der siebten Geschichte des Romans. Es handelt sich um einen internetsüchtigen Blogger, der seinen Gedankenmüll in diversen Gesprächsforen postet:

Im Real Life (dem wirklichen!) bin ich Mitte dreißig, ziemlich sehr groß, vollschlank. Unter der Woche trage ich Krawatte, Officezwang, der Geldverdienmist, macht ihr ja auch. Muß sein, damit man seinen Lifesense realisieren kann. In meinem Fall Schreiben von Analysen, Betrachtungen und Debatten: Kontributionen zu Kultur, Society, Politikzeug. (R 134)

Im "wirklichen Leben" ist Mollwitz der Angestellte einer Telekomfirma, der seinen Chef bei einem "Kongreß der Europäischen Telekommunikations-Anbieter" (R 138) vertreten muss und sich bei dieser Gelegenheit auch als Stalker von Leo Richter betätigt. Er träumt von einer Metamorphose im Medium der Literatur an der Seite der schönen Lara Gaspard in Leo Richters Fiktion. Und weil er viel zu sehr mit seinen eigenen Internet-Disputen beschäftigt ist, ignoriert er hier auch ein dringendes Warnmemo der Technik "über eine Störquelle bei der Nummernvergabe" (R 138) und setzt damit das Vexierspiel des ganzen Romans in Gang. Als Leo-Richter-Fan ist Mollwitz auch entsprechend versiert in Bezug auf sein literarisches Idol und kein Freund der professionellen Literaturkritik, die Kehlmann hier amüsanterweise gleich mit persifliert:

Ich meine, ich weiß, daß sie erfunden ist. Weiß auch, denn natürlich hab ich damals gleich gegoogelt, daß Leo Richter das geschrieben hat, als er selbst in Paris war, und dann, als seine Frau ihm den Stiefel gegeben hatte, kamen die drei Storys, wo Lara ihren Husband verläßt, Der Mond und die Freiheit, Herr Müller und die Ewigkeit, und Titel von der dritten hab ich vergessen. Also: Was ihm zustößt, das passiert dann ihr, was er macht, macht später sie, und wer ihn trifft, kann in einer Story auftauchen. Im literaturhaus-Forum nannte das einer autobiographischen Narzißmus, aber dem hab ich so was von Feuerstahl gegeben, der chattet nie wieder über Zeug, das er nicht überzieht, der Müllhund. Nur die Story von der alten Lady, die in die Schweiz fährt, um sich niedergiften zu lassen, hab ich gar nicht gemocht, da war nichts von ihm selbst drin, und der Schluß hat gar keinen Sinn gehabt, keine Ahnung, wer den überziehen soll, ich jedenfalls nicht (R 143f.; Hervorhebung im Text).




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Das Verdikt des autobiographischen Narzissmus nimmt den Tenor der Rezensionen vorweg, die dem Verfasser des Romans bei aller ironischen Brechung etwas allzuviel Selbstbezüglichkeit vorwerfen.

In der achten Geschichte von Ruhm lernen die Leser schließlich den Leiter der Telekom-Abteilung kennen, die für die falsche Vergabe der Telefonnummern verantwortlich ist. Und der führt mittels Handy und Email ein kompliziertes Doppelleben mit seiner "dunklen, fragilen" (R 166) Lebenspartnerin im südlichen Deutschland (Hannah) und seiner stämmigen blonden Geliebten (Luzia) an seinem Arbeitsplatz im nördlichen Hannover, bis ihm die immer unmöglicher werdende Distinktion zwischen Fakten und Fiktionen über den Kopf zu wachsen droht. Die Namen von Lebenspartnerin und Geliebter (Hannah versus Luzia) und ihre gegensätzlichen Prädikate (dunkel versus blond; südlich versus nördlich; fragil versus stämmig; jüdisch versus nicht-jüdisch) legen die Hommage an Thomas Mann und die Möglichkeit einer theologischen Lektüre nahe, in der es um die Frage nach der Verantwortung für eine betrügerische Zweitschöpfung (Fiktionen und Kinder) geht. Am Ende öffnet der von seinem erotischen Doppelleben überforderte Ich-Erzähler auf ein reales oder imaginäres Klingeln hin die Tür zu der Wohnung, in der er sich mit seiner ebenfalls nackten Geliebten befindet.

Wenn Hannah da draußen stand, warum nicht auch die Kinder [...] warum nicht Lobenmeier, Hauberlan und Longrolf von der Revision, warum nicht auch Mollwitz; alle gekommen, um mich ohne Kleidung zu sehen, ohne Geheimnis, Schein, Phantasie und Trug, ganz so, wie ich wirklich war? 'Kommt herein.' Ich öffnete die Tür. 'Kommt nur alle herein!' (R 190)

Das offene Ende dieser Geschichte entlässt uns in Erwartung einer skandalösen Entlarvungsszene, wie sie der Wiener Meister des erotischen Reigens kaum besser hätte erfinden können.20

Die neunte und letzte Erzählung des Romans ist schon über den Titel (In Gefahr) als Parallele zur zweiten Geschichte gekennzeichnet. Es treten also nochmals der Schriftsteller Leo Richter und die Ärztin Elisabeth auf, aber die Rollen und Schauplätze sind vertauscht, und die Gefährdung der Protagonisten erscheint real und nicht als imaginiert. Der ängstliche Narziss ist diesmal Zeuge bei einem Kriseneinsatz von Ärzte ohne Grenzen in einem nicht näher bezeichneten afrikanischen Kriegsgebiet. Aber die letzte Geschichte in diesem Roman voller Metalepsen hat ebenfalls einen doppelten Boden. Ihr Afrika ist die fiktive Realitätsebene der beiden Protagonisten und die Erfindung von Leo Richter nach dem Muster von anderen Fiktionsvorgaben, in der parallel zu Elisabeth nun auch Lara Gaspard, ihr schönes Double auf der nächsten Fiktionsstufe, auftritt. In der zweiten Geschichte des Romans formulierte Elisabeth die säkulare Version des mosaischen Bilderverbots, gegen das ihr Begleiter in dieser Geschichte verstößt: "Mach dir kein Bild von mir. Steck mich nicht in eine Geschichte. Das ist das einzige, worum ich dich bitte" (R 49). Hier beschwert sie sich über ihre unerwünschte Fiktionalisierung und ganz generell über die Unzumutbarkeit der Fiktion: "Das hier ist deine Version, das ist das, was du daraus gemacht hast. [...] Ich wußte, du machst das mit mir. Ich wußte, ich komme in eine deiner Geschichten! Genau das wollte ich nicht!" (R 201) Aber Kehlmanns fiktives alter ego argumentiert, dass es letztlich gar kein Leben außerhalb von Geschichten gebe, ehe er in seiner eigenen Fiktion verschwindet und sein weibliches Gegenüber und seine Leser alleine zurückläßt: "So machten sie es wohl, so stahlen sie sich aus der Verantwortung. Schon war er überall und hinter den Dingen und über dem Himmel und unter der Erde wie ein zweitklassiger Gott, und es gab keine Möglichkeit mehr, ihn zur Rechenschaft zu ziehen" (R 203). Die engagierte Ärztin artikuliert den philosophischen Protest gegen das gekonnte Spiel mit Fiktionen, deren Teil sie selbst ist. An dieser exponierten Stelle am Ende des Romans beharrt sie hier noch einmal darauf, dass die existenzielle Realität des Leidens nicht so ohne weiteres in Sprache und Literatur und in Sinn übersetzbar sei:




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Dort draußen war Tod, dort war die Wirklichkeit so grell und schmerzhaft, daß man dafür keine Sätze mehr finden konnte. Ganz gleich, ob er es sich ausgedacht hatte oder ob sie tatsächlich hier war – es gab Orte des reinen Schreckens, und es gab Plätze, wo alle Dinge nichts anderes waren als sie selbst. (R 201)

"'Aber nicht jetzt' [...]. 'Nicht in dieser Geschichte'" (R 201), so lautet die letzte schwache ästhetische Apologie des fiktiven Schöpfers, der für den afrikanischen Krisenschauplatz des Romans mit verantwortlich zeichnet. Und der Schriftsteller-als-Zeuge macht sich aus dem Staub, ehe etwas geschieht, was er vielleicht nicht sehen wollte.

Unter struktureller Perspektive kann das gesamte Schriftstellerpersonal des Romans als ironische Figuration der Autor-als-Schöpferinstanz betrachtet werden, nicht nur Leo Richter, wie in den Rezensionen gemeinhin zu lesen war. Im südamerikanischen Lebenshilfeguru hat Kehlmann seinem kulturpessimistischen europäischen Narzissten einen metaphysischen Opportunisten als Parallel- und Kontrastfigur beigegeben; die Krimiautorin Maria Rubinstein ist das weibliche alter ego von Leo Richter, die hier auch die Rolle des Opfers übernimmt. Unter Genderaspekten inszeniert der Roman die traditionelle Aufgabenverteilung des sozio-kulturellen Feldes. Die Männer sind in der Rolle der intellektuellen Literaten und als trivialphilosophische Sinnfabrikanten zu sehen; die Frauen in der Domäne der Unterhaltungsliteratur und in humanitären Aufgaben tätig. Die Lebensrettung ist doppelt kodiert als risikoreiches praktisches Engagement (Elisabeth) und als die nachträgliche Modifikation eines ästhetischen Entwurfs (Leo Richter), der das unverdiente Leiden einer literarischen Figur zu seinem Thema hat. Der Roman konstrastiert die globale humane Verantwortung mit der Verantwortungslosigkeit des ästhetischen Spiels, das er spielerisch in Szene setzt.

Kehlmann inszeniert eine ästhetische Theodizee, um den amoralischen Charakter des Schreibens und die Kontingenz der Verhältnisse in seinem fiktiven Universum zu unterstreichen. Weil sich die Titelfigur der zweiten Geschichte bei aller Entschlossenheit zum Sterben "trotzdem [...] nicht ganz in ihr Schicksal ergeben [kann]" (R 54f.), wendet sie sich hier an ihren fiktiven Erfinder und bittet ihn um Gnade. Zwischen den beiden entspinnt sich der folgende Dialog:

Rosalie, das liegt nicht in meiner Macht. Das kann ich nicht.
Natürlich kannst du! Das ist deine Geschichte.
Aber sie handelt von deinem letzten Weg. Täte sie es nicht, hätte ich nichts über dich zu erzählen. Die Geschichte –
Könnte eine andere Wendung nehmen!
Ich weiß nichts anderes. Nicht für dich. (R 55)

Die von einem göttlichen oder gottgleichen Souverän und in diesem Falle Autor von Fall zu Fall dispensierte Gnade (clementia, mercy) ist die Ausnahme von der Regel und das Gegenstück zur Gerechtigkeit.21 Im Rahmen seiner Fiktion erweist sich Leo Richter als benevolenter Retter und der ästhetische Gnadenakt in der Rosalie-Geschichte ist nur das markanteste Signum seiner auktorialen Willkür. Während er sein literarisches Henkeramt also temporär an den Nagel hängt, um die unheilbar kranke Rosalie vor ihrem sicheren Tod zu bewahren, lässt er sein weibliches alter ego Maria Rubinstein eine alptraumhafte Reise in einen imaginären Osten antreten. "Turkmenistan, glaube ich. Oder Usbekistan. Wer kann sich das schon merken!" (R 40) – so der von der außereuropäischen Geographie und von seinen kulturellen Repräsentationspflichten überforderte Autor, der hier eben im Begriff ist, eine unwillkommene Einladung abzusagen.




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Im Zuge der traumdiegetisch plausiblen Häufung von Zufällen ist seiner fiktiven Stellvertreterin dann der Rückweg in ihr westliches Zuhause versperrt. Da ihr Akku leer ist und sie das Aufladegerät für ihr Handy vergessen hat, die lokale Polizei aber korrupt ist und Maria Rubinstein auf der offiziellen Teilnehmerliste erst gar nicht aufscheint, gibt es für sie in dieser Geschichte kein Zurück. Das Ganze ist als eine Traumphantasie und zugleich als die fiktive Realität der Geschichte gekennzeichnet. Als die erschöpfte Protagonistin schließlich in einer unlokalisierbaren Steppe einschläft, sieht sie sich selbst schlafen und im Traum wiederum auf sich selbst herabsehen. Es handelt sich um eine komplexe Verschachtelung der fiktiven Realitätsebenen, wie sie in Kehlmanns Romanen auch sonst zu finden ist. In der letzten Erzählung des Romans wird dann von Leo Richter zu erfahren sein, dass die Krimis von Maria Rubinstein seit ihrem mysteriösen Verschwinden so beliebt sind "wie noch nie" (R 194).

Für die parallelen Welten von Kehlmanns Ruhm gilt die post-Descart'sche Maxime der mobilen Netzwerkgesellschaft des 21. Jahrhunderts: "Ich telefoniere, schicke Emails, SMS und Tweets, also bin ich". Die persönliche Identität der Figuren ist weniger dinglich als medial konstituiert und das Handy folglich nicht primär nur neues Spielzeug (gadget), sondern das Mittel zur literarischen Erkundung von entsprechenden Technologie- und Medieneffekten. Das Versagen der modernen Kommunikationstechnologien und der damit gegebene Mangel an Vernetztheit implizieren den Verlust an medialer Präsenz und an persönlicher Identität.22 Maria Rubinstein, die mittels ihres Nachnamens explizit als jüdisch gekennzeichnete Figur, personifiziert die Angstvisionen des Handy- und Internetzeitalters und das Holocaust-Trauma der Nachgeborenen in der zweiten und dritten Generation.23 Am Ende der Geschichte gerät sie hier an jenen Ort, wo ehemals noch die Nomaden lebten, die der totalitäre Staat im Zuge eines rabiaten Modernisierungsprozesses erfolgreich ausgerottet hat, wie von der staatlich bestellten Führerin der westlichen Besucher zu erfahren ist. In der Diffamierung der Opfer liefert das siegesgewisse Zivilisationsnarrativ die Begründung für die Notwendigkeit des Mordens gleich mit. In wenigen Strichen zeichnet Kehlmann hier das europäische Schreckensbild der grausamen mongolischen Horden:

Man fuhr sie zu einer Kläranlage, man fuhr sie zu einem Ölbohrturm in sumpfigem Niemandsland, man fuhr sie zu einer Großbäckerei, man fuhr sie an einen Ort, wo es vor achtzig Jahren noch eine Zeltsiedlung der Nomaden gegeben habe. Alles hätten die einst verwüstet, sagte die Führerin, mit Säbel, Knüppel und Peitsche, sie seien ausgeritten und hätten Frauen geschändet und Felder verbrannt, aber dann habe man kurzen Prozeß gemacht und sie vernichtet bis zum letzten Mann. (R 101)

Die Steppe in dieser "dunklen, harten Geschichte" (Maus 2009: 124) ist Teil eines kafkaesken Alptraums und zugleich Ort einer möglichen Befreiung von diesem Alptraum. Der ominös-proleptische Titel der Geschichte ruft ein imaginäres Schreckensterrain auf, das in der narrativen Diegese als desolate Riesenbaustelle mit den propagandistischen Versatzstücken (Fahnen, Chöre, Reden) eines totalitären Staates gestaltet ist. Sie endet mit einer Hommage an Kafkas Landarzt, die den gefährlich schlüpfrigen Charakter der Realität in Kehlmanns Fiktion unterstreicht: "Eine falsche Regung, und man fand nicht mehr zurück, und schon war das alte Dasein dahin und kam nie wieder. Sie seufzte. Oder vielleicht träumte sie nur, daß sie das tat. Dann, endlich, erlosch ihr Bewußtsein" (R119). Die fiktive Welt des Romans ist wie glattes und dünnes Eis, auf dem man jederzeit ausrutschen und einbrechen kann.24




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Das soziologische Pendant zu Kehlmanns poetischem Befund ist die Verwendung der Flüssigkeitsmetapher im wissenschaftlichen Œuvre von Zygmunt Bauman, um die prekäre Instabilität von sozialen Strukturen und Bindungen, das fragmentierte Leben und die flottierenden Ängste der vereinzelten Subjekte in der globalisierten Moderne zu beschreiben ("liquid modernity"; "liquid love"; "liquid lives"; "liquid fear"). Die säkulare Fortschrittsgläubigkeit der sogenannten "festen Moderne" hat sich Baumans Diagnose zufolge in ihr furchterregendes Gegenteil verkehrt und ihre gesellschaftlichen Utopien sind einem konsumorientierten Individual-Eskapismus gewichen, der das latente Gefühl von Bedrohung und das allgegenwärtige Unglück – das drohende eigene und das der glücklosen Anderen – möglichst auf Distanz zu halten sucht:

'Progress', once the most extreme manifestation of radical optimism and a promise of universally shared and lasting happiness, has moved all the way to the opposite, dystopian and fatalistic pole of anticipation: it now stands for the threat of a relentless and inescapable change that instead of auguring peace and respite portends nothing but continuous crisis and strain and forbids a moment of rest. Progress has turned into a sort of endless and uninterrupted game of musical chairs in which a moment of inattention results in irreversible defeat and irrevocable exclusion. Instead of great expectations and sweet dreams, 'progress' evokes an insomnia full of nightmares of 'being left behind' – of missing the train, or falling out of the window of a fast accelerating vehicle (Bauman 2007: 10f.; meine Hervorhebung).

Ein leitmotivischer Witz in Osten ist der fettige Schweinebraten mit Mayonnaise, der der "vorzügliche[n] Delegation der besten Reisejournalisten der Welt" (R 99) von ihren offiziellen Gastgebern hier dauernd als Gastmahl serviert wird. Das Fette, an dem sie würgen, ist das Schmalz der staatlich sanktionierten Lügen. Die problematische Repräsentanz von Schriftstellern in Kehlmanns Roman also gilt für beide Seiten: Entweder sie vertreten das Eigene im Eigenen (Leo Richter bei seinen Lesungen in deutschen Kulturinstituten vor deutschen Besuchern) oder sie sind das potentielle Sprachrohr von Ideologien, mit denen die Figuren in dieser Geschichte gefüttert werden. Von einem erfolgreichen Kulturtransfer kann keine Rede sein.




PhiN 55/2011: 19


Mit der Sinnstiftung durch die Literatur sieht es nicht viel besser aus. Der hoch über den Favelas an der "glitzernden Küste der Stadt Rio de Janeiro" (R 121) in einer durchgestylten Penthouse-Wohnung situierte globale Bestsellerautor Miguel Auristos Blancos ist die zynische Version des neuen Großschriftstellers, der keine politischen Widerstandsbotschaften mehr versendet wie anno dazumal noch Thomas Mann in den aufrüttelnden BBC-Radioansprachen an seine "Deutsche[n] Hörer", sondern verwässerte epikuräische und stoische Lebenshilfemaximen mit vagen Sinnzumutungen. Dieser erfolgreiche Guru wird durch die unerwartete Theodizeeanfrage so sehr provoziert bzw. inspiriert, dass er das wackelige Gebäude seiner therapeutischen Fiktionen mit einigen wenigen Sätzen zerstört:

Werte Äbtissin, kein Grund zur Hoffnung besteht, und selbst wenn Gott anders zu rechtfertigen wäre als durch Seine offenkundige Abwesenheit, so verblaßte jedes kluge Argument doch vor dem Ausmaß des Schmerzes, ja vor dem schieren Faktum, daß es Schmerzen gibt und daß alles immer und zu jeder Zeit, bedenken Sie es nur recht, ehrwürdige Mutter, so unzureichend ist. Das einzige, was uns hilft, sind wohlige Lügen wie die in Ihrer heiligen Person verkörperte Würde. (R 129)

Aber es gibt bessere und schlechtere Lügen, (pseudo-)theologische und ästhetische Fiktionen, und der Roman führt sie uns beide vor. Die Parodie auf Paulo Coelho in der Figur von Miguel Auristos Blancos ist dabei nur vordergründig das Ziel, wie Kehlmann jüngst in einem Interview mit Blick auf die Kritik am philosophischen Optimismus in Voltaires Candide vermerkt hat:

It pretends to be a parody of this writer, and of writers who tell people that life can be good and that it’s all a question of attitude. But that wouldn’t be enough. What I wanted to do was to turn the book into a serious satire on why the world is so horrible and why it’s ridiculous to say that life can be good. (Derbyshire 2010)

Kehlmanns Populärphilosoph betreibt noch mit seiner Theodizeeattacke und mit seinem spektakulären Suizidvorhaben ein geschicktes posthumes Ruhmmanagement, das ihm die literarische Unsterblichkeit sichern soll.25 Dem kulturtheoretisch versierten Leo Richter ist der Gedanke an den Nachruhm ebenfalls nie fern, wie seine Obsession mit der Vergabe von Literaturpreisen zeigt. Auch seine Anteilnahme an Maria Rubinsteins Schicksal beschränkt sich auf die Frage nach der literarischen Anerkennung und die möglichen Konsequenzen ihres mysterösen Verschwindens für sich selbst: "Jetzt wollen sie ihr sogar in Abwesenheit den Romner-Preis geben. Mein Gott, stell dir vor, ich wäre damals hingeflogen. Dann wäre jetzt vielleicht ich und nicht sie ... Ich frage mich immer noch, ob ich mich schuldig fühlen sollte" (R 194). Am Beispiel seiner ruhmbesessenen Autoren unterstreicht Kehlmanns Roman das grundlegende Distinktionspotential von literarischen Preisen, das Burckhard Dücker aus ritualtheoretischer Sicht charakterisiert hat als "die Funktion, Literatur und Autoren 'zu machen' und zu kanonisieren" (Dücker 2009: 73).




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Auch im Umgang mit den Anerkennungsmechanismen des zeitgenössischen Literaturbetriebs ist der spielerische Bezug auf Thomas Glavinic deutlich. Der Erzähler von Das bin doch ich ist obsessiv auf den Deutschen Buchpreis fixiert, der seit 2005 von Gnaden des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels alljährlich für den "'besten Roman in deutscher Sprache'" (Dücker 2009: 70) vergeben wird; Kehlmanns Leo Richter sammelt fiktive Auszeichnungen wie den "Elmitz-Karner-Preis" (R 198), die schon von ihren Namen her der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Im Strukturgefüge des ganzen Romans verkörpert Miguel Auristos Blancos die Gegenposition zu Leo Richter und zum Gnadenakt in der zweiten Geschichte, bei der es dem fiktiven Autor und seinen todesfürchtigen Lesern ganz warm und wohlig ums Herz wird vor lauter Selbstzufriedenheit und Optimismus: "Und Rosalie? Sie geht die Straße entlang, mit großen Schritten, halb bewußtlos noch vor Freude, und mir scheint es für einen Moment, als hätte ich richtig gehandelt, als wäre Gnade das Höchste, und als käme es auf eine Geschichte mehr oder weniger nicht an" (R 76). Hier also die grandios inszenierte ästhetische Theodizee auf Seiten des fröhlichen Kulturpessimisten; dort der gravierende Anfall von metaphysischem Pessimismus auf Seiten des verlogenen Optimisten. Die Rosalie-Geschichte ist auch die eine von zwei Erzählungen des Romans, in denen die global vermarkteten Lebenshilfebücher des Letzteren nicht irgendwo herumliegen oder gerade gelesen werden, und das nicht von ungefähr. Die Geschichte selbst inszeniert ja die literarische Einlösung der kosmischen Sinnsuche, die Miguel Auristos Blancos eben im Begriff zu geben ist, als ihn die Theodizeefrage so sehr aus der Fassung bringt. Frag den Kosmos, er wird sprechen, so lautet der Titel des geplanten Buches, und die positive Antwort wird hier ironischerweise von Leo Richter gegeben, der als gottgleicher Deus ex machina in das Schicksal seiner eigenen Figur eingreift und ihr und seinen Lesern das gewünschte Happy End beschert. Der utopischen Hoffnungen eingedenk, die in jedem glücklichen Ende aufgehoben sind, ist die parodistische Note dieses Deus-ex-machina-Auftritts ebenfalls nicht zu übersehen.26 Nachdem Rosalie und ihr literarischer Schöpfer schon die ganze Schweizer Reise über wegen der (un)möglichen Transformation einer Leidensgeschichte in eine "lebensbejahende Geschichte" (R 66) verhandelt haben und sogar der mysteriöse Mann mit der "knallroten Schirmmütze" (R 68f.) eingreifen durfte, um den ästhetischen Plan noch ein wenig zu verwirren, absolviert Leo Richter hier seinen großen Glanzauftritt und wirkt sein literarisches Wunder:

Jetzt ruiniere ich es. Ich reiße den Vorhang weg, werde sichtbar, erscheine neben Freytag vor der Lifttür. Eine Sekunde sieht er mich verständnislos an, dann verblaßt er und verweht wie Staub. Rosalie, du bist gesund. Und wenn wir schon dabei sind, sei auch wieder jung. Fang von vorne an! (R 75)




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Die Ironie ist auch in der parodistischen Anspielung auf Paulo Coelhos Suizidfabel vom geglückten Leben im Zeichen des verfehlten Suizids deutlich. Coelhos Buch trägt den Titel Veronika beschließt zu sterben (Diogenes 2000), und er ist das Muster für Miguel Auristos Blancos, dessen Sinngebungspose Leo Richter in dieser Geschichte imitiert. Kehlmanns "theologische Geschichte" (R 75) hat darüber hinaus auch die Züge einer Konsumsatire, in der selbst der Tod zu einer Frage der Konsumentenwahl wird und das Nicht-Sterben-Müssen als das ultimate Konsumversprechen erscheint.27

Zu den unbedingten Fans der Dichter und Denker in Kehlmanns Roman gehört auch der herrlich stupide Mollwitz, der hier gerade in einem Buch von Miguel Auristos Blancos blättert, während er auf einen Moviechat wartet:

Keine Chance natürlich, Server überlastet, jetzt wollte jeder, logischer Fall. Werde eins mit den Dingen, eins mit dem Einswerden, eins mit deinem Einssein mit ihnen, auch eins mit deinem Zorn, und sollte die Atombombe fallen, dann werde eins mit der Atombombe. Na Krawall. Ich weiß, bin zu busy, zu viel Work und Alltag, aber große Thoughts erkenn ich, wenn ich sie sehe. Dann abgelenkt, weil lordoftheflakes den üblichen Bullshit und sich auch proctor, 3helgoland und birnenfreund auf seine Seite geschlagen hatten, dazu zwei Neuposter, die ich gar nicht kannte und denen ich erst mal heavy eins drüberslashen mußte. (R 140; Hervorhebung im Original)

Wolfgang Schneider in seiner kurzen Besprechung hat das Bloggerporträt des Romans sehr gut auf den Punkt gebracht: "Es ist eine schwarze Satire auf die 'demokratische' Kommunikationsgemeinschaft im Netz – ein virtueller Mob, angetrieben von Paranoia und Geltungssucht" (Schneider 2009). Die Satire als "ästhetisch sozialisierte Aggression" (Brummack nach Warning 1996: 923) funktioniert über die negative Bezugnahme auf deutlich erkennbare Referenzsysteme, ohne dass die normativen Standards der Kritik expliziert werden müssten. Für den Repräsentanten der maliziösen Macht der Dummheit im digitalen Zeitalter hat Kehlmann auch eine eigene Kunstsprache erfunden, die als akustische Maske für das intellektuelle Profil (sprich: die Dummheit) der Figur in der satirischen Tradition der Wiener Moderne bei Karl Kraus, Veza und Elias Canetti und Ödön von Horvath zu sehen ist.28 Dirk Knipphals in seiner Rezension kritisiert genau das, wovon Kehlmann selbst spricht, wenn er die latente Grausamkeit von Autoren vis-à-vis ihren Figuren erwähnt:

Was den Witz betrifft, fällt einem als Leser bald auf, dass er vor allem auf Kosten der Figuren funktioniert. Man muss zum Beleg gar nicht die fragwürdigste der neun Episoden anführen. In ihr karikiert Kehlmann, technisch durchaus gekonnt, einen fetten, stinkenden, eine computernerdige Denglisch-Sprache brabbelnden Internetfreak; es kann schon arg schlechte Laune machen zu sehen, wie umstandslos Daniel Kehlmann seine Figuren zu denunzieren bereit ist (Knipphals 2009).




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Was hier im empörten Tonfall der politischen Korrektheit als Denunziation verworfen wird, aber bewegt sich in der literarischen Tradition des grotesk-satirischen Realismus, der die monströse Körperlichkeit seiner Figuren mit einem markanten sprachlichen Profil verbindet.29 Kehlmann selbst hat auf die poetische Dimension seiner Kunstsprache verwiesen, die die geistige Beschränktheit der Figur auf amüsante Weise zu kompensieren sucht: "Mollwitz, der Stalker, ist spracharm, das stimmt, aber die Geschichte selbst darf es nicht sein, daher habe ich versucht, seinem Stil soviel Kraft und Poesie zu verleihen, wie ich konnte – gleichsam hinter Mollwitz' Rücken und ohne dass er es bemerkte" (Hüfner 2009). In Sachen digitaler Kommunikation ist Kehlmanns Blogger übrigens selbst nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand der Dinge, denn von Facebook oder Twitter etwa ist hier noch gar nicht die Rede.30

Mollwitz ist die mit dem Zufall in Gestalt jenes unkorrigierten technischen Fehlers assoziierte Figur, die das literarische Spiel der Täuschungen und Spiegelungen in Kehlmanns Roman zu allererst in Gang setzt, ehe der fiktive Leo Richter hier auf den Plan tritt und als fiktives Double seines Autors die Zügel in der innerfiktionalen Geschichtenproduktion ergreift. Dem literarischen Deus ex machina in der Rosalie-Geschichte kommt der böse Geist in der Maschine also je schon zuvor, aber bei Kehlmann ist er weniger "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" (Goethe 1986: 47), sondern der sprichwörtlich dumme Teufel im geistigen Habitus des Internetzeitalters, der sogenanntes Multitasking betreibt und viel zu zerstreut ist für seine beruflichen Aufgaben: "Gab grad einen riesen Streit mit lonebulldoggy auf thetree.com, und währenddessen mußte ich ein Warnmemo von der Technik durchsehen, irgendwas über eine Störquelle bei der Nummernvergabe, das mir der Boss auf den Desk geknallt hatte" (R 137f.). Mollwitz und sein affärenhalber gestresster Chef repräsentieren die enge Verflechtung von Arbeit und Spiel, die als eines der zentralen Merkmale der neuen Netzwerk-Sozialität beschrieben wurde (Wittel 2001; Richtel 2010). Schon der aufgeklärte Teufel von Goethes Faust steht, wie Eda Sagarra das sehr schön formuliert hat, "in einer Art von 'partnerschaftlichem' Verhältnis zum Gott des 'Prolog im Himmel'. Eine ungleiche Partnerschaft zwar, doch werden beide zu seltsamen collaborateurs im Dienst der Erkenntnissuche des Menschen" (Sagarra 2003: 130).31 Kehlmanns ästhetisches Experiment funktioniert ebenfalls nur unter Mithilfe des dummen Teufels. Er ist, so betrachtet, auch der eigentliche Auctor oder mindestens Ghostwriter des ganzen Romans. Die schönste Pointe ist allerdings die, dass dieser alltagsgeplagte Teufel selbst die Erlösung in der Fiktion sucht: "In einer Story vorkommen – irgendwie auch nichts andres als in einen Chatroom gehen. Transformation eben! Sich selbst übertragen in was andres" (R 146). Der Zugang zu Leo Richters Fiktion bleibt ihm hier zwar versperrt, aber dessen Erfinder verwendet ihn sehr geschickt dazu, um seine eigene Geschichtenproduktion in Gang zu setzen, und er lässt den dummen Teufel mit ein wenig stilistischer Nachhilfe sogar seinen eigenen Blogger-Beitrag "zur Debatte" verfassen: "Wenigstens hatte ich jetzt was fürs Prominentenspotforum" (R 158). Dass die schöpferische Prominenz in den Augen ihres enttäuschten Bewunderers nicht allzu gut wegkommt, lässt sich denken.




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Aus der Perspektive der achten Geschichte erscheint der dumme Teufel dann umgekehrt als der Sündenbock par excellence in den Lügengeschichten seines eigenen Chefs. Sein Name ist in Wie ich log und starb immer zur Hand, wenn der Ich-Erzähler eine besonders gute Ausrede braucht. Um die unabsehbaren Komplikationen einer möglichen Doppelverabredung mit Partnerin und Geliebter zu vermeiden, schickt er seinen Stellvertreter hier auch zu dem Telekom-Kongress, von dem dieser in der siebten Geschichte berichtet hat. Die Figur des intriganten Rivalen soll die Geliebte davon überzeugen, dass der gemeinsame Kongressbesuch unbedingt ins Wasser fallen muss:

Wird nichts draus, schrieb ich. Muß Mollwitz schicken. Er hat Freunde bei der Geschäftsführung, er ist zu einflußreich geworden. Das Tippen fiel mir schwer, meine Hände bebten – vor Aufregung natürlich, aber auch vor Wut auf Mollwitz und seine Intrigen. Bin machtlos. Tut mir so leid (R 178; Hervorhebungen im Original).

Die vermeintliche Allmacht des dummen Teufels (mollwit = dimwit) ist die opportune Legitimationsfiktion eines betrügerischen Gottes, dem die Kontrolle über seine eigenen Geschichten zu entgleiten droht. Für den selbst deklarierten Tod dieses zweitklassigen Gottes wiederum zeichnet die andere Teufelsfiguration des Romans mit verantwortlich, nämlich der mysteriöse "Mann mit fettigen Haaren, einer Hornbrille und einer grellroten Mütze" (R 185), der bei Kehlmann immer dann auftaucht, wenn guter Rat teuer und ein rasches Transportmittel gefragt ist. In der zweiten Geschichte hat er Rosalie an der falschen Adresse abgesetzt; hier chauffiert er den Ich-Erzähler zu einem möglichen Eklat nach Hause und lässt sich dafür teuer bezahlen. Gott und der Teufel sind bei Kehlmann die absichtlich-unabsichtlichen Kollaborateure in einem gewagten Spiel mit Fiktionen, die sich gegenseitig dauernd ins Zeug pfuschen und auf diese Weise die Geschichten des Romans vorantreiben und miteinander verknüpfen.32 Und Kehlmanns Erzähler wäre kein begnadeter Herr der Fiktionen, wenn die Geschichte seines Todes nicht auch noch aus seiner eigenen Feder stammte. Aber das kann natürlich auch eine Lüge oder Erfindung sein, denn schließlich haben wir es mit einem gewieften Lügner bzw. Erfinder zu tun, der mittels des Erzählens sein eigenes Verschwinden praktiziert. Und warum sollten wir überhaupt einem Erzähler glauben, der uns die eine Geschichte serviert, die sich seiner narrativen Kompetenz entzieht?33


3

Gestern kam die Verlagsvorschau. Sieht gut aus, aber ich fand natürlich sofort Grund zur Beunruhigung. Bei einigen Autoren wird gleichzeitig das Hörbuch ausgeliefert, bei mir nicht. Wurde also vom Deutschen Hörverlag abgelehnt. Das gefällt mir nicht. Aber egal, selbst wenn mich Michael Krüger morgen anruft und sagt, bis auf einen Kerl in Greifswald lieben alle Kritiker mein Buch, werde ich verzweifelt sein, denn dieser Jemand in Greifswald ist das Böse unter der Sonne. (Glavinic 2007: 178)




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In seiner Salzburger Festspielrede mit dem Titel Die Lichtprobe hat Kehlmann für eine historisch akkurate und textgetreue Inszenierungspraxis plädiert, die dem folgenreichen "Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde" (Kehlmann 2010b: 185) im deutschen Theater entgegentreten soll. Zu dem Zweck beschwört er die Verwirrung der uneingeweihten ausländischen Zuseher, denen die seltsamen Vorgänge auf den deutschsprachigen Bühnen ein Rätsel sind.34 Die Rede ist eine Würdigung seines 2005 verstorbenen Vaters, des bekannten Fernseh- und Theaterregisseurs Michael Kehlmann. Der Sprecher bekräftigt die Auffassung seines Vaters, wonach der Regisseur als "Diener des Autors" (ebd.: 182) zu gelten habe, und er zieht für die Kritik an gewaltsam aktualisierenden Aufführungen auch Max Reinhardt, Karl Kraus und Samuel Beckett als Gewährsleute heran. Der künstlerischen Maxime vom unbestrittenen Primat des Autors gegenüber dem Regisseur ist es Kehlmann zufolge auch zuzuschreiben, dass sein eigener Vater am Ende der achtziger Jahre "aus der Mode und in Vergessenheit" (ebd.: 181) geriet: "In einem Bereich, wo es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als das Wort altmodisch, galt er plötzlich als ebendies, und wohl auch deswegen war ich zunehmend entschlossen, mich vom Theater fernzuhalten und lieber Bücher zu schreiben" (ebd.: 183). Mit seiner Theaterschelte hat sich Kehlmann erwartungsgemäß wenig Freunde unter Kulturjournalisten und Theaterleuten gemacht, wie der Sturm im Wasserglas des deutschen Feuilletons bezeugt. Einer psychoanalytischen Deutung war es zudem ein Leichtes, ihre zentralen Aussagen gegen den Strich zu bürsten und die verkappte Lösung eines tragischen Vaterproblems zu suggerieren: "Er [Daniel Kehlmann] wird selbst Autor und so gelingt es ihm, sich den Vater zumindest virtuell zu seinem Knecht stilisieren, der Vater unterwirft sich dem Sohn, wie sich der Regisseur dem Autor unterwirft" (Hegemann 2009). Das ist ebenso einleuchtend wie banal.

Kehlmanns Rede operiert mit konventionellen Begriffen von Werktreue und Inszenierung, die in der zeitgenössischen Theaterwissenschaft durch das Konzept des postdramatischen Theaters (Lehmann 1999) und die Ästhetik des Performativen (Fischer-Lichte 2004) ersetzt wurden, die den Primat der nicht-verbalen Bühnenzeichen und die konstitutive Offenheit und Unsteuerbarkeit des theatralischen Ereignisses betonen.35 Nicht die Angemessenheit von Kehlmanns Urteil über die Bühnenpraxis des deutschsprachigen Theaters oder die Mediendebatte um seine Rede allerdings interessieren mich hier, sondern die Frage, wie sich diese in performanztheoretischer Perspektive ästhetisch konservativen Thesen vom Regisseur als Diener des Autors zum Spiel mit der Autorschaft in Kehlmanns Ruhm verhalten.36 Geht es im literarischen Experiment dieses Romans nicht gerade darum, alle Vorstellungen einer souveränen auktorialen Kontrolle performativ zu unterlaufen? Oder dient das gekonnte Spiel mit fiktiven Doubles und die Multiplikation der Autorenrolle gerade umgekehrt dazu, um den Verfasser des Romans bzw. die Instanz des impliziten Autors als ultra-souveränen Spieler zu etablieren, der die produktiven Irrtümer gleich mitinszeniert und mit leichter ästhetischer Hand all das kontrolliert, was seinen fiktiven Stellvertretern im Text je schon zu entgleiten droht?

Der Festspielgründer Max Reinhardt ist in Kehlmanns Salzburger Rede auch der Kronzeuge für die Möglichkeit einer rettenden Aufhebung der Kindheit in der Kunst. Für ihn selbst liege der "Schlupfwinkel" der nicht aufgegebenen Kindheit nicht im Theater, der Domäne des Vaters, sondern "in den Büchern, im Erfinden, in der kontrollierten Flucht in die Phantasie, die jeder Roman bietet" (Kehlmann 2010b: 180).




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Kontrollierte Flucht in die Phantasie ist auch das passende Stichwort für Kehlmanns ersten Roman. Es handelt sich um die fiktive Autobiographie eines hochbegabten Zauberlehrlings, der die Kraft der Vorstellung (Phantasie, Täuschung, Performanz) als Antidoton zur Kontingenz der Ereignisse und zur geistlosen Materie beschwört. Lässt sich, so fragt dieser erste Roman, trotz eines gleich dreifach markierten Schreckenspotentials noch irgendeine Form von metaphysischem Optimismus oder – wesentlich skeptischer formuliert – eine "metaphysische Form von Opportunismus" (B 61) retten? Das entsprechende Schreckenspotential ist das kindliche Grauen vor einer unverfugten Welt, das theologische Skandalon des tödlichen Blitzschlags aus heiterem Himmel, und das unheimliche Potential der irrationalen Zahlen, das die mathematische Ordnung selbst unterminiert und den Gedanken nahelegt, "daß im Herz der Mathematik der Keim des Wahnsinns liegt" (B 58). Die Textilmetaphorik besagt, dass die kindliche Erfahrungswelt noch nicht hinreichend vertextet ist, um irgendeine Form von Sicherheit zu suggerieren:

Hat denn jeder die andere Seite vergessen? Den Schrecken, der in jedem schattigen Winkel wartet, die vielarmigen Gestalten, die aus der Ferne den Blick auf dich heften, das rein und unverstellt Böse, das im Keller darauf lauert, daß der Lichtschalter versagt? Die Welt um ein Kind ist noch nicht ganz festgefügt, an den Rändern fasert sie aus, es gibt noch Löcher darin und undichte Stellen und kleine Irrtümer im Gewebe. Nie wieder habe ich so intensiv das Grauen erlebt, das in der völligen Stille rauscht und in der Leere zwischen den Möbeln flimmert, wie in schlaflosen Kindernächten, wenn ich das Licht anknipste. (B 19)

Mit dem tödlichen Blitz aus heiterem Himmel, der die Adoptivmutter seines siebenjährigen Zauberlehrlings "an einem freundlichen Frühlingstag" (B 15) tötet, rekurriert Kehlmann auf den traditionsreichen Gewittertopos zur Evokation der arbiträren göttlichen Gewalt. "Das Feuer Gottes fiel vom Himmel und verbrannte Schafe und Knechte und verzehrte sie; und ich bin allein entronnen, daß ich dir’s ansagte", besagt die erste Hiobsbotschaft des biblischen Hiobsmythos. (Hiob 1: 16) In der empfindsamen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts wird der Gewittertopos dann Teil der ästhetischen Theodizee, der die Annahme der göttlichen Vorsehung stützen soll.37 Das empfindsame Gewitter bei Klopstock und Goethe erneuert die Natur und der destruktive Blitzschlag findet nicht statt.38 Kehlmanns Roman kontrastiert die wissenschaftlich-neutrale Beschreibung des horrenden Ereignisses (B 16f.) mit seiner mathematischen und theologischen Betrachtung. Unter analytischen Vorzeichen ist der Blitzschlag in Beerholms Vorstellung nichts als ein unwahrscheinliches Ereignis, in dem sich "Schicksal, Irrsinn und Statistik auf das Unangenehmste berühren" (B 15); theologisch betrachtet ist es ein Skandal: "Ella war ein friedlicher Mensch, nützlich und gut, des Herren Magd. Aber der Himmel wählte die drastischste, die effektvollste Methode, um ihr Herz zu verbrennen und ihr Gehirn zu durchlöchern, um sie aus der Welt zu bomben" (B 15). Die gedankliche Option zwischen absoluter Kontingenz und göttlicher Allmacht (der berühmte Fingerzeig Gottes) macht da keinen grundlegenden Unterschied: "Gut, ich hatte die Wahl: Entweder hatte ein blinder Zufall Ella getötet, oder ein gelangweilter Gott hatte Zielschießen an ihr geübt. Aber welche Möglichkeit war denn besser?" (B 60) Im verbrannten Rasen bleibt nur ein dunkler Fleck zurück (B 18, 49), der die dauerhafte Absenz des Opfers markiert, und der Ich-Erzähler selbst verbleibt im Bann dieser traumatischen Erfahrung: "Das Grauen dieses Momentes durchdrang meinen Körper so sehr, daß ich es bis heute in meinen Gelenken spüre wie schwachen Rheumatismus" (B 60). Das elaborierte Phantasiegebäude, das Kehlmann in seinem ersten Roman vor den Augen seiner staunenden Leser errichtet, ist die literarische Probe aufs Exempel, ob sich das menschliche Subjekt in dieser schreckensträchtigen Welt in irgendeiner Form zu behaupten vermag:




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Was bedeutet Magie? Sie bedeutet schlicht, daß der Geist dem Stoff vorschreiben kann, wie er sich zu verhalten hat, daß dieser gehorchen muß, wo jener befiehlt. Was unvernünftig scheint, ist in Wahrheit Offenbarung der Vernunft. Was sich als Aufhebung der Naturgesetze gibt, ist eigentlich deren glanzvolles Hervortreten aus dem Gestrüpp des Zufalls. Die unsichtbare Welt der Formen und die nur zu sichtbare Welt des Formlosen verschmelzen für einen kurzen, kaum wirklichen Moment. Die unendliche Macht des Geistes zeigt sich eine Sekunde lang ganz unverstellt. Und mit ihr die Wahrheit, daß kein Ding in der Welt die Kraft hat, seiner inneren mathematischen Pflicht zu widerstehen.
Das ungefähr glaubte ich damals. Und glaubte es noch lange. Ob ich recht hatte, ist eine andere Frage; bald, sehr bald, werde ich es wissen. Ende des Vortrags. (B 40)

Die katholische Theologie und die Priesterkarriere unter der Ägide des blinden Paters Faßbinder oder die Täuschungskunst der Magie und die Künstlerkarriere unter dem Zauberer Jan van Rode offerieren dem modernen Zauberlehrling in Beerholms Vorstellung mögliche Alternativen. Er entscheidet sich schließlich für die teuflisch konnotierte Kunst der Magie, und der ironische Segen seines Meisters begleitet ihn auf seinem weiteren Karriereweg:

[M]achen Sie sich keine Sorgen. Die Götter werden mit ihnen sein und dazu alle Hasen, Tauben und zerschnittenen Jungfrauen unserer seltsamen Zunft. Und schlimmstenfalls? Wenn alles schiefgeht, können Sie immer noch an einer Volkshochschule Religion unterrichten. Auch nicht zu verachten! (B 154)

Die Macht über die Dinge wendet sich gegen den erfolgreichen Zauberlehrling selbst, der als unzuverlässiger Erzähler gleich mehrere Möglichkeiten ins Spiel bringt, wie seine traumhafte Karriere und die Karriere im Traum zu Ende gehen könnte. Er erfährt die unheimliche Allmacht des Magiers, der seine Umwelt nicht mehr nur scheinbar, sondern tatsächlich beherrscht; er leidet an Wahnvorstellungen und hält sich für Gott; er ist alkoholisiert und hat einen Unfall, aus dem er in eine entzauberte und farblose Welt erwacht: "Was auch immer gewesen war: Es war vorbei. Und würde nicht wiederkommen" (B 215). Der Erzähler verkündet, am Ende seines autobiographischen Berichts von der Terrasse des Fernsehturms springen zu wollen, auf dem er seine Aufzeichnungen verfasst, und im letzten Absatz des Romans setzt er genau zu diesem Sprung an. Letzterer steht für das narrative Experiment des ganzen Romans, ob die Kunst der arbiträren Gewalt und dem Tod irgendetwas entgegenzusetzen hat. Kehlmann bereitet seinem fiktiven Magier mindestens noch einen spektakulären Abgang, wie es sich für einen großen Showman gebührt: "Voilà, meine letzte Volte. Der Schlußeffekt, das Ende meiner Darbietungen. Ich stehe auf, verbeuge mich, gehe ab" (B 249).




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Der Ausgangspunkt von Kehlmanns Schreiben ist die Frage nach dem Bösen und nach den Chancen des Subjekts in einer kontingenten und heillosen Welt. Bei aller metaphysischen Skepsis ist es keine pessimistische Weltverneinung, die er seinen Arthur in Beerholms Vorstellung praktizieren lässt, sondern eine Form der kreativen Selbstbehauptung, die nicht mit ihren Wundern und Kunststücken geizt und zuletzt sogar noch die "unsinnige Hoffnung" (B 248) in den Raum stellt, dass dem literarischen Enkel des Hochstaplers Felix Krull und anderer Magier und Illusionisten bei seinem gewagten Sprung in die Tiefe "Flügel wachsen" (B 248) könnten.39 Der Roman entwirft einen befreiend-prekären Zwischenraum der ästhetischen Illusion und des Spiels, wie ihn der englische Kinderpsychologe D.W. Winnicott in seiner Theorie der Übergangsobjekte und Übergangsphänomene aus psychoanalytischer Perspektive beschrieben hat (Winnicott 1971). Um eine ebenso spielerische wie skeptische Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik und mit den Leistungen und Limitationen der Kunst geht es auch in Kehlmanns Ruhm, nicht zuletzt in den beiden philosophischen Parabeln dieses Romans, Rosalie geht sterben und Antwort an die Äbtissin, und in den alptraumhaft-surrealen und befreienden Visionen des Verschwindens. Die Theodizeeproblematik ist auch in der Vermessung der Welt virulent, wo Kehlmann seinen fiktionsbewussten und von Zahnweh und anderen Dingen geplagten Melancholiker über die Zweitklassigkeit des Universums klagen lässt, dessen Teil er hier ist: "Insekten, Dreck, Schmerz. Das Unzureichende in allem. Selbst bei Raum und Zeit war geschlampt worden" (V 99).40 Im Gartenkapitel gibt er ihm auch die Möglichkeit zur Beschwerde, aber der fiktive Gauß nimmt sie nicht wahr.

Die auktorialen Instanzen von Kehlmanns Ruhm sind problematische Spielernaturen, die in ihren eigenen Geschichten untertauchen, wenn es ihnen zu brenzlig wird; sie spielen russisches Roulette oder gehen auf andere Weise in der erzählten Welt verloren. Ihr Erfinder aber ist kein "zweitklassiger Gott" (R 203), sondern ein erstklassiger Schriftsteller, der das Verschwinden des Autors oder dessen heimliche Transzendenz hier gleich mit inszeniert hat. In der Sprache der Kriminalistik enthalten die offenen Schlüsse des Romans lauter ungelöste Fälle, nur der dumme Teufel schläft seinen dionysischen Rausch aus und kehrt ernüchtert zu seiner tyrannischen Mamma und zu seinen Internetforen zurück und beklagt im übrigen die Tatsache, dass er es nicht zur literarischen Unsterblichkeit gebracht hat. Aber die wird ihm hier auf einer anderen Ebene natürlich doch noch zuteil, da auch das postmoderne Fiktionsspiel auf den Geist der Verneinung nicht zu verzichten vermag.

In der zweiten Geschichte von Ruhm verpassen Leo Richter und seine Begleiterin einen Empfang zu Ehren des Schriftstellers und fliegen auf Leos Wunsch hin zu den Pyramiden, wo es ihm einfällt, dass ihn "das alles [gar] nicht" (R 49) interessiert, denn, so die entsprechende Devise: "Ich schreibe nur. Ich erfinde. Eigentlich will ich gar nichts sehen" (R 49). Er doziert stattdessen lieber im komfortablen Hotelzimmer über den "metaphysischen Schrecken" (R 34) von gewalttätigen Fernsehbildern. Aber plötzlich ist ein Wolkenbruch zu Ende und in der dünnen Hochlandluft erblicken die europäischen Kulturtouristen die Stufen der riesigen aztekischen Pyramiden. Leos Begleiterin wartet zu diesem Zeitpunkt noch immer darauf zu erfahren, ob ihre in Afrika entführten Mitarbeiter bei Ärzte ohne Grenzen in der Zwischenzeit schon ermordet wurden oder doch noch befreit werden konnten. Das offene Ende der Geschichte besteht aus dem folgenden Dialog und aus dem Klingeln eines Handys, das hier, wie am Ende des Romans, nicht mehr eingeschaltet wird.




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'Hier haben sie Menschen getötet', sagte Leo. 'Viele tausend. Jeden Monat.'
'Und es verschwindet nicht aus der Welt', sagte der Führer mit unbewegter Miene. 'Wenn man die Augen schließt, kann man es fühlen.'
'Woher können Sie Deutsch?'
'In Heidelberg studiert. Völkerkunde. Neun Semester.'
In diesem Moment läutete ihr Telefon. (R 49f.)

Der pointierte Dialog am Ende dieser zweiten Geschichte evoziert das Hauptstadt-Kapitel in Kehlmanns Vermessung der Welt, wo sich ein in seinem unverbesserlichen Aufklärungsoptimismus beleidigter Alexander von Humboldt angesichts der horrend scheinenden Zahl von zwanzigtausend Menschenopfern "an einem Ort und Tag" von einem ebenso beleidigten Arbeiter bei den Ausgrabungen eines zerstörten Tempels sagen lassen muss, dem Universum sei die Zahl der Opfer nichts weniger als "scheißegal" (V 202).41 Denn es verschwindet nicht aus der Welt, und der europäisch gebildete Tourguide und Ethnograph muss es ja schließlich wissen. Die genaue Referenz dieser Aussage bleibt offen, aber es steht zu vermuten, dass es das Leiden (das Böse) ist, das im Namen des Numinosen allerorten verübt wird. Der lakonische Erzählschluss zielt auf den unermeßlichen Leidensgrund für den metaphysischen Pessimismus, der auch in Kehlmanns Ruhm durchwegs präsent ist.42 Sein Verfasser inszeniert die ästhetische Theodizee und er entzieht ihr den Boden unter den Füßen und das beides mit gleichermaßen schwindelerregender Virtuosität. Parallele Welten auch hier.


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Anmerkungen

1 Für die Lektüre des Essays schulde ich Manfred Bansleben und Jochen Liesche herzlichen Dank.

2 Zur langen Tradition dieser Vorstellungen in der deutschen Kultur siehe auch Wittstock (2009).

3 Zum Ethos der Anstrengung und der Opferlogik bei modernistischen Autoren auf beiden Seiten des politischen Spektrums siehe Joseph Peter Stern (Stern 1995).

4 Siehe Kehlmanns Dankesrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck mit dem Titel "Dionysos und der Buchhalter" (erstmals abgedruckt im FAZ.net vom 25. Oktober 2008). Die überzeugende Grundthese besagt: "Bei Thomas Mann existiert das Rigide, um wirkungsvoll zu scheitern, in seinem Erzählton klingt stets die Stimme Aschenbachs mit, der ein bürgerlich respektabler Langeweiler sein möchte, aber zu seiner Größe findet genau dadurch, dass ihm das mit einemmal nicht mehr gelingt" (Kehlmann 2010c: 90f.).

5 Die damit einhergehende Professionalisierung von Autorschaft provoziert hin und wieder auch die nostalgische Evokation des Gegenteils und das Lob der großen Ausnahmefiguren unter den zeitgenössischen Schriftstellern. Ganz in diesem Sinne ist die Laudatio auf Walter Kappacher, den Büchnerpreisträger des Jahres 2009, durch seinen Schriftstellerkollegen Karl-Markus Gauß gehalten (Gauß 2009).

6 So wurde er vom Moderator Michael Hametner als Gast im Lese-Café des MDR Figaro am 12. März 2009 bei der Präsentation seines neuen Buches angekündigt.

7 Fama (bona fama, mala fama) ist eine Allegorie des Gerüchts: "Rumours are quotations with a loophole. It can never be determined who is being quoted; and nobody knows who it was who originally set it in motion" (Neubauer 1999: 3).

8 Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung, zitiert auf dem Buchumschlag der Neuausgabe bei Rowohlt.

9 Weiterhin aktuell im Umgang mit der Gegenwartsliteratur ist Nietzsches Warnung vor einer allzu geläufigen kritischen Relativierung der künstlerischen Leistungen: "Sind die Persönlichkeiten erst in der geschilderten Weise zu ewiger Subjektlosigkeit oder, wie man sagt, Objektivität ausgeblasen: so vermag nichts mehr auf sie zu wirken; es mag was Gutes und Rechtes geschehen, als Tat, als Dichtung, als Musik: sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das Werk hinweg und fragt nach der Historie des Autors. Hat dieser schon mehreres geschaffen, sofort muß er sich den bisherigen und mutmaßlichen weiteren Gang seiner Entwicklung deuten lassen, sofort wird er neben andere zur Vergleichung gestellt, auf die Wahl seines Stoffes, auf seine Behandlung hin seziert, auseinandergerissen, weislich neu zusammengefügt und im ganzen vermahnt und zurechtgewiesen. Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit, den Autor schon aus weiter Ferne zu überschauen. Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als 'Kritik', während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts träumen ließ" (Nietzsche 1989: 61).




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10 Zur kommunikationstheoretischen Bestimmung dieses Begriffs siehe Manuel Castells et al. (2007).

11 Zur Medienbedingtheit dieses ganzen Vorstellungskomplexes siehe Aleida Assmann: "The Gutenberg age produced cultural concepts such as greatness, immortality, and monumental heroism. These concepts are all anchored in the very medium of writing itself" (Assmann 2006: 15).

12 Es ist erstaunlich, was da am Rande noch so alles mitverhandelt wird. Der Wiener Germanist Klaus Kastberger in seiner lobenden Besprechung des Romans ("glanzvolles Buch") in der Wiener Presse etwa nutzt die Gelegenheit zu kleinen Invektiven gegen das "bundesdeutsche Feuilleton" und betont, dass der ironisch gezeichnete Leo Richter im Gegensatz zu seinem österreichischen Verfasser ja ein "bundesdeutscher Schriftsteller" sei, der von den "offiziellen Vertreter[n] des bundesdeutschen Kulturlebens" (Kastberger 2009) auf seine Lesereise geschickt werde. Ob die Dinge so wesentlich anders lägen, wenn das österreichische Kulturinstitut die Reise finanzierte, mag man bezweifeln.

13 Zur Historizität der implizit beschworenen Kreativitätsdoktrin siehe Gunter Blamberger (1991).

14 Auch ein Rezensent der englischen Ausgabe im Guardian betrachtet die Bezeichnung Roman als bloße Marketingstrategie, da die neun Geschichten "entirely self-sufficient" (Gordon 2010) seien.

15 Ein wenig besserwisserische Eitelkeit klingt hier ebenfalls an. Man habe Kehlmann schließlich schon lange entdeckt und ihm zum literarischen Durchbruch verholfen, weshalb also jetzt noch das große Getue. So klingt das im Wortlaut: "Klar kann dieser Kehlmann schreiben, wir bei Lesen! wussten das schon im Juni 2003, als wir Ich und Kaminski vorgestellt haben, und Die Vermessung der Welt war auch bei uns so gut wie zuerst, im Oktober 2005, unter großzügigster Einhaltung der Sperrfristen, es interessierte sich einfach noch niemand. Also, mir muss man den Mann nicht erklären. Der kann was, der ist gescheit, der hat Phantasie, aber GENIE? WELTMEISTER? Das neue Buch heißt Ruhm, schöner Schachzug, aber es ist reine Germanisten- und Kritikerprosa, wird sich natürlich reißend verkaufen, doch spätestens in der Mitte bleibt der Normalleser auf der Strecke und fragt sich: was denn nun? Sind die echt? Sind die fiktiv? Was ist echt, was ist ausgedacht? Das soll doch so sein! werden die Kritiker höhnen, aber Zwölftonmusik will ja auch keiner mehr hören, nur weil Adorno das sagt" (Heidenreich 2009; Hervorhebungen im Original).

16 Nur die "ebenso brillant[e] wie einfühlsam[e]" (Jung 2009) Rede Kehlmanns zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises erweckt die genuine Bewunderung des Rezensenten, aber selbst das mit einigen Vorbehalten der "geradezu professoralen" Bildung gegenüber, die sich "hinter der Physiognomie des Knaben Wundermild" (ebd.) verberge.

17 In seiner Dankesrede für den WELT-Literaturpreis hat Daniel Kehlmann die absurde Erfahrung der literarischen Berühmtheit mit einer Formulierung von Imre Kertész beschrieben: "Das Lustige und zugleich Schwindelerregende an der neuen Lage, das rauschhaft Absurde an ihr ist, daß der eigene Name, den vor kurzem noch selbst die Fachleute nicht zur Kenntnis nehmen wollten, auf einmal von vielen im Mund geführt wird, als hätten sie ihn immer schon gekannt, als wäre er stets dagewesen und immer schon im Abglanz der märchenhaften Verkaufszahl. Der Ruhm ist eine Komödie, aber eine von Buñuel, er ist, um das wunderbare Wort von Imre Kertész zu entleihen, eine Glückskatastrophe, die bewirkt, daß man es dann, zumindest für eine Weile, weniger mit Freuden und Qualen der Formulierung zu tun hat als mit chinesischen Raubdrucken, mit katalanischen Fehlübersetzungen, mit Steuerprüfern [...] sowie mit Lesern, über deren Aufmerksamkeit man sich zwar freut, die man aber auch bedauert, weil die Bestsellerliste ihnen ein Buch aufgezwungen hat, das ihren Wünschen möglicherweise gar nicht entspricht" (Kehlmann 2010d: 174; meine Hervorhebung).




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18 Zum massenmedialen Mythos des 'Schriftstellers in Ferien' für ein französisches bürgerliches Publikum siehe die aufschlussreiche Analyse der betreffenden Figur in Roland Barthes' Mythologies (frz. 1957). Die Wonnen der Gewöhnlichkeit (der Schriftsteller macht Ferien wie du und ich) tun seinem besonderen auktorialen Status keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: "Writers are on holiday, but their Muse is awake, and gives birth non-stop. [...] The singularity of a 'vocation' is never better displayed than when it is contradicted – but not denied, far from it – by a prosaic incarnation: this is an old trick of all hagiographies" (Barthes 1983: 30f.). Der Schriftsteller auf Reisen ist allerdings immer schon die Figur einer produktiven Mobilität und von daher auch repräsentativ für den Zeitgeist; nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

19 Kehlmanns Ralf Tanner korrigiert den Wikipedia Artikel (R 80) über sich selbst, das fiktive alter ego von Thomas Glavinic in Das bin doch ich schreibt ihn überhaupt gleich selbst, um ihn dann der kreativen Bearbeitung durch andere zu überlassen. Auch Leo Richters massive Flugangst kann als motivische Anspielung auf den neurotischen Helden von Glavinic gelten.

20 Zu den ganz neuen Möglichkeiten der erotischen Kommunikation in der mobilen Netzwerkgesellschaft siehe die interessante Kolumne von David Brooks auf der Meinungsseite der New York Times (2009); die legalen Implikationen der digitalen Evidenz für Scheidungsfälle erörtert Laura M. Holson (2009).

21 Zu den machtpolitischen Aspekten der Gnade am Beispiel des Barockdramas siehe Albrecht Koschorke et al. (2007). Auch Kehlmanns Ich-Erzähler in Beerholms Vorstellung beschreibt die göttliche Gnade als ultimate Willkür: "Es gibt keinen Grund, Kinder mit der schrecklichsten von allen Wahrheiten zu behelligen. Der nämlich, daß Gott auswählt, ohne Gründe zu haben, daß Seine Gnade nicht erworben werden kann, durch keine Bemühung, durch keine Tat. Daß seine Liebe ungerecht ist" (B 23f.). Das ist auch der wunde Punkt, um den Lessings Ringparabel herumzukommen sucht.

22 "Relentless connectivity" ist Manuel Castells et al. (2007: 124) zufolge auch das zentrale Merkmal der mobilen Netzwerkgesellschaft, nicht schon die Mobilität als solche. Sherry Turkle (2008: 122) spricht in diesem Kontext auch von einem "tethered self", das im Hinblick auf seine prosthetischen technologischen devices selbst eine liminale Position zwischen virtueller und physischer Realität besetzt.

23 Zur Verfolgungsgeschichte von Kehlmanns väterlicher Familie ("Familie war für mich immer das, was nicht mehr da war") und zur Frage seiner persönlichen Identität siehe das Cicero-Interview "Wie jüdisch bin ich?" (Kehlmann 2009c)

24 Wörtlich geschieht das in der Eislaufepisode in der Vermessung der Welt (V 24f.); die komische Variante dazu findet sich im Gartenkapitel dieses Romans, wo der fiktive Gauß in seiner miserablen Unterkunft im feudalen Schloss des Grafen von der Ohe zur Ohe über sein unerwartetes Dasein als Landvermesser räsoniert: "Da war man einen Moment nicht aufmerksam gewesen, und schon hatte man ein Amt, zog durch die Wälder und verhandelte mit Bauern um ihre schiefen Bäume" (V 184). Der berühmte Schlusssatz von Kafkas Landarzt lautet: "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen" (Kafka 1983: 117). Schon das markante Formelement der erlebten Rede im Eingangssatz von Osten unterstreicht den Kafka-Bezug in dieser Geschichte, und das tun auch die folgenden Passagen, die sehr deutlich auf Gregor Samsas Reflexionen am Beginn der Verwandlung verweisen: "Ihr Leben war in Ordnung. Mußte sie sich wirklich solche Reisen zumuten?" (R 96) // "War es möglich, daß die anderen ihr Fehlen nicht bemerkt oder daß sie sich mit einer fadenscheinigen Erklärung zufriedengegeben hatten, nur um die eigene Abreise nicht zu verspäten?" (ebd.: 106f.).

25 Zu den unterschiedlichen Formen von Unsterblichkeitsvorstellungen siehe Sigrid Weigel (2006).

26 Ivan Nagel vermerkt mit Blick auf das Happy End in der klassischen Humanitätsdramaturgie und das ästhetische Vorbild bei Euripides: "Its addictive ingredient (even in commercial comedies and movies) is probably not so much the belief in actual happiness as the hope that human sacrifice can be avoided" (Nagel 1991: 86).

27 Rosalie goes shopping [1989] ist eine Filmkomödie von Percy Adlon mit Marianne Sägebrecht in der Rolle der kulturell überforderten bayrischen GI-Ehefrau in Stuttgart, Arkansas, die die Spielregeln der amerikanischen Konsumgesellschaft (das Leben auf Pump) auf ihre ingeniös dumm-schlaue Art meistert.




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28 Zum Begriff der akustischen Maske in Canettis Dramenpoetik siehe das Interview mit Manfred Durzak: "Wenn ich in einer Stadt frei herumgehe, so wie ich damals in Wien herumging, also ohne Absicht, hatte ich eigentlich den Eindruck von lauter Tierstimmen, aber von Tierarten, die man noch nicht kennt und die zu schaffen dann eigentlich die Aufgabe des Dramatikers ist. Das scheint mir das wesentlich Schöpferische am Drama, das sehr weit zurückgeht auf eine frühe, stark mythengefärbte Zeit. Daß man also aus akustischen Masken eine neue Figur entdeckt, ein eigenes Wesen. Es ist zwar etwas Mimetisch-Naturalistisches, was man gehört hat, von einem wirklichen Geschöpf, aber die Figur, die dann entstanden ist, wird etwas Neues, schon weil etwas weggelassen wurde, weil alles, was sonst zu einem vollen, runden Menschen gehört, überhaupt nicht ins Spiel kommt. Man kommt also dann zu neuen Figuren und bevölkert eine Stadt wie einen Dschungel" (Durzak 1983: 22). Was der an Karl Kraus geschulte Dramatiker als Ohrenzeuge im Wien der 1920er und 30er Jahre hörte und als die akustische Physiognomie seiner Figuren entwarf, ist für den flanierenden Schriftsteller des 21. Jahrhunderts das Internet.

29 Zu den entsprechenden Repräsentationsstrategien und den zentralen Prädikaten des grotesken Körpers siehe Mikhail Bakhtin (1984).

30 Zur gravierenden Veränderung der Kommunikationsmuster in der digitalen Medienkultur siehe Vincent Miller (2008); zur digitalen Beschleunigung der Generationendifferenzen vgl. auch Brad Stone (2010). Der im Zuge des Plagiatsskandals um Helene Hegemann bekannt gewordene und zu literarischen Ehren gelangte aktuelle Bloggersound – "Nietzsche für Doofe" (Jungen 2010), wie Jochen Jungen den Techno-Vitalismus des Buches im FAZ.net sehr witzig charakterisiert hat – ist nachzulesen beim Blogger Airen (2010).

31 Zur Transformation der europäischen Faust-Tradition bei Goethe siehe Jane K. Brown: "Goethe's devil is – in good eighteenth-century tradition – a charming rogue, inclinded to steal the show" (Brown 1986: 75); zu den historischen Gestalten des dummen Teufels vgl. auch Sagarra (1997).

32 Zur Komplexität und Polyvalenz des Fiktionsbegriffs siehe Dorrit Cohn (1999). Sie umreißt vier Grundbedeutungen des Begriffs, und zwar: (a) Fiktion als pejorativer Begriff qua Lüge und Unwahrheit; (b) Fiktion als philosophischer Begriff im Sinne von Konzept und Idee; (c) Fiktion als Begriff für den narrativen Diskurs im allgemeinen; und (d) Fiktion als generischer Begriff für nicht-referentielle Narrative.

33 Die Überlegungen des Ich-Erzählers am Ende von Beerholms Vorstellung kreisen genau um dieses narratologische und philosophische Problem; auch die "dumme Trostformel Epikurs" wird hier namentlich ins Spiel gebracht (B 246): "Also wie kann ich sterben? Der Tod umrahmt mein Leben, aber er berührt es nicht, er greift nicht hinein. Wie auch das Ende dieser Erzählung nicht Teil dieser Erzählung ist. So lange sie anhält, lebe ich; und mein Verstummen kommt in ihr nicht vor, kann in ihr nicht vorkommen. So muß auch der Tod außerhalb des Daseins bleiben" (B 249).

34 "Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghettiessen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Ob das denn staatlich vorgeschrieben sei?" (Kehlmann 2010b: 183). Die Fragestellung selbst ist vorweggenommen im Gespräch über "Schauspieler und Theater" im Requiem für einen Hund: "Kein Thema scheint mir in der deutschen Gesellschaft so tabubelastet wie die Frage: Kann nicht auch die werkgetreue Aufführung eines Klassikers ästhetisch gelungen, ja innovativ sein? Eine völlig harmlose Frage, die Aggressionen weckt, wie sonst nur Diskussionen über die israelische Außenpolitik" (Kehlmann/Kleinschmidt 2008: 93).

35 Für Kehlmann repräsentiert Max Reinhardt die bürgerliche Faszination für das Theater; bei Erika Fischer-Lichte ist er die zentrale Figur des Umbruchs im Theater der Moderne, der die zeitgenössische Ästhetik des Performativen wichtige Impulse zu verdanken hat.

36 Kehlmann selbst bezeichnete die Salzburger Rede in einem Spiegel-Interview als "Plädoyer für ästhetische Offenheit" (Kehlmann 2009d: 109), das die Texte ernstzunehmen sucht.




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37 Zur Theodizeedebatte im 18. Jahrhundert und zu ihren literarischen Dimensionen siehe die Untersuchungen von Thomas P. Saine (1971 und 1997) und Marion Hellwig (2008); zur Frage von Religion und Ästhetik in der Literatur des 20. Jahrhunderts vgl. Berwald/Thuswaldner (2007).

38 Im Zuge der Französischen Revolution demonstriert der Gewittertopos dann die Kontingenz der politischen Gewalt (Heinrich von Kleist); Ernst Jünger rekurriert auf ihn, um die ganz neue Gewalterfahrung des Stellungskrieges zu beschreiben. In der Gegenwartsliteratur bei Elfriede Jelinek und Wolfgang Herrndorf ist von Medien- und Plüschgewittern die Rede.

39 Schopenhauer sei "der typische Philosoph für die Siebzehnjährigen", statuiert Kehlmann im Requiem für einen Hund (Kehlmann/Kleinschmidt 2008: 110). Er teile mit ihm den "Pessimismus der Weltsicht" (ebd.: 111), nicht aber das Temperament.

40 Zu den philosophischen Implikationen dieser 'Schlamperei' mit Blick auf die Quantentheorie siehe Kehlmanns Spiegel-Interview zur Vermessung der Welt unter dem programmatischen Titel "'Mein Thema ist das Chaos'" (Kehlmann/Matussek et al. 2005: 175f.).

41 Bei den Ausgrabungen des von Cortés zerstörten Tempels sieht der fiktive Alexander von Humboldt "kunstvoll in Stein geritzte Bilder menschlicher Schlachtungen" (V 200f.) und es entspinnt sich hier der folgende Dialog: "Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand der Stadt gereicht.
Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Unsinn.
Der Arbeiter sah ihn beleidigt an.
Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden.
Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheißegal" (V 201f.).
Das satirische Humboldt-Porträt in der Vermessung der Welt steht im markanten Kontrast zur neueren amerikanischen Historiographie, die den historischen Alexander von Humboldt als zentralen ökologischen Vordenker feiert.

42 Die englische Übersetzung dieser Passage von Carol Brown Janeway sucht diese Offenheit zu unterlaufen. Hier also heißt es: "'This is where they killed people,' said Leo. 'Thousands of them. Every month.' // 'And the universe still retains that memory,' said the guide impassively. 'Close your eyes and you can feel it'" (Kehlmann 2010a: 40f.). Zwei Deutungsmöglichkeiten sind hier angelegt: Das Universum als quasi-anthropomorphe Figur wird mit einem dauerhaften Opfergedächtnis ausgestattet oder ein nicht anthropomorph konstruiertes Universum beinhaltet die für die Nachgeborenen nach wie vor spürbare Wunde der vergangenen Leiden. Beide Varianten zielen auf das bleibende Gedächtnis der historischen Gewalt und nicht so sehr auf das aktuell verfügte und akute Leiden, das im offenen Ende dieser Geschichte und des Romans immer schon präsent gehalten wird.