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Paola Quadrelli (Mailand)



Angelika Winnen (2006): Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Mit dem provokatorischen Gegensatz "Faust oder Gregor Samsa", den der Kultur-Minister der DDR, Klaus Gysi, am 28. August 1968, d.h. wenige Tage nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, in einer Rede zur Eröffnung des Nationaltheaters in Weimar vorschlug, sollte festgesetzt werden, welche literarische Tradition in den sozialistischen Erbe-Kanon einzubeziehen war: Mit dieser rhetorischen Alternative wollte Gysi klar stellen, dass in der sozialistischen Gesellschaft der strebsame, lebensstarke Goethesche Held, als Vorläufer des siegenden Proletariats, den "dekadenten", "pessimistischen" und "klein-bürgerlichen" Protagonisten der Romane von Franz Kafka vorzuziehen sei. Die Formel bestätigte die negative Einstellung gegenüber Kafkas Werk, die sodann in Form von Ablehnung oder Misstrauen die ganze kulturelle Geschichte der DDR durchlief. Eduard Goldstücker, der Prager Germanist, der 1963 die legendäre Kafka-Konferenz in Liblice organisierte, die später als eine Art 'Vorspiel' des Prager Frühlings gedeutet wurde, stellte 1993 das Paradox einer politischen Macht fest, die  auf literarische Werke verunsichert und bedroht reagierte : "Die Macht, welche die ganze Welt beherrschen wollte", – schrieb Goldstücker 1993 und meinte damit die Macht des Sowjetkommunismus – "fühlte sich von einem einsamen, seit Jahrzehnten toten Schriftsteller bedroht".1

Ausgehend vom pionieristischen Aufsatz Klaus Hermsdorfs in den "Weimarer Beiträgen" (1978) über die Rezeption Kafkas in der sozialistischen deutschen Literatur und von den späteren Studien Karl-Heinz Fingerhuts zu demselben Thema, untersucht Angelika Winnen in ihrer dicht dokumentierten und spannenden Dissertation, wie ostdeutsche Schriftsteller der 70er und 80er Jahre die biographische Figur Kafkas und sein Werk als literarisches Vorbild und Vorlage für ihre Texte 'produktiv' machten. Am Anfang der Analyse von Angelika Winnen, die auf die Methode der Intertextualitätstheorie zurückgreift, steht das 1962 in Sinn und Form erschienene Gedicht "Interfragmentarium" von Günter Kunert, dessen Untertitel – "Zu Franz K.s Werk" – einen direkten Bezug auf den Prager Schriftsteller nimmt. Die Kunertschen Verse evozieren das Leben eines einzelnen, namenlosen Protagonisten, der einem anonymen System von 'Gewalt' gegenüber steht und erzeugen die für Kafkas Texte typische beklemmende Atmosphäre – nicht zufällig wurde deshalb das Gedicht von den Kulturfunktionären der DDR als subtile Allegorie des Lebens in einem Überwachungsstaat gelesen und dementsprechend scharf abgelehnt. Mit der Anspielung auf Kunerts Gedicht stellt die Autorin fest, wie in der DDR eine literarische Auseinandersetzung mit Kafka von vornherein und per se dem Verdacht des Subversiven unterlag.




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Die erste 'produktive' Lektüre, in die Winnen den Leser einleitet, ist die berühmte Erzählung Reisebegegnung von Anna Seghers (1973), in der die Schriftstellerin Franz Kafka, E.T.A. Hoffmann und Gogol Anfang der 20er Jahre in einem Prager Café zusammentreffen lässt. Anna Seghers, die schon am Ende der 30er Jahre in einem Briefwechsel mit Lukács für die Aufnahme der romantischen und phantastischen Literatur in den sozialistischen Erbe-Kanon plädiert hatte und die 1963, allerdings zunächst als vorsichtige Zuhörerin, an der Kafka-Konferenz in Liblice teilgenommen hatte, erörtert in dieser komplexen Erzählung das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit, die Rolle des Phantastischen und die Darstellung der Zeit in der Erzählliteratur. Darüber hinaus geht sie auf die soziale Aufgabe des Schriftstellers ein. Indem die Erzählerin die Argumentationen der drei Schriftsteller entfaltet und zusammenprallen lässt und indem sie fünf Texte Kafkas vorstellt (wobei nicht zu vergessen ist, dass Kafkas Werke in der damaligen DDR kaum veröffentlicht wurden) sowie gleichzeitig Bezug auf weitere literarische Traditionen nimmt (die Märchen der Brüder Grimm, Puschkin, Kierkegaard, die chassidischen Legenden), antwortet sie indirekt auf gängige Vorurteile über Kafka und erweitert die in der DDR festgeschriebene Einordnung des Kafkaschen Werks in den Kontext der 'Dekadenz'. Gleichzeitig verschweigt Seghers jedoch nicht ihre Kritik an der Perspektivlosigkeit des späteren Werks des Prager Autors. Die Seghers-Rezeption, so Winnen, "bleibt innerhalb eines sozialistischen Deutungsmusters" und ist in die Linie der "positiven Weiterschreibung" Kafkas einzuordnen. Der Welt ohne Utopie, in der Kafkas Helden verloren und verlassen dahinleben, stellt nämlich Seghers die Utopie des Sozialismus als Gemeinschaft und Rettung alternativ gegenüber.

In derselben Traditionslinie steht Christa Wolf mit der Erzählung Unter den Linden (1974), die gleichzeitig als Vorlage für Die Spaltung des Erwin Racholl diente, eine Erzählung von Klaus Schlesinger aus der Sammlung Berliner Traum (1977), die Angelika Winnen im folgenden Kapitel untersucht. Protagonist der Erzählung, als dessen intertextuelle Folie Kafkas Roman Der Prozeß zu erkennen ist, ist ein gewöhnlicher Mensch von 35 Jahren, der unter merkwürdigen Umständen von Ost- nach West-Berlin gelangt und dort einem Prozess unterworfen ist. Die Handlung, die zwischen Traum und Wirklichkeit schwebt und deren zeitliche Koordinaten unsicher bleiben, bewegt sich, wie bei Kafkas Prozeß, innerhalb des Komplexes 'Gericht-Schuld-Urteil'. Anders als bei Josef K., dessen Schuld unklar bleibt, wird das Vergehen von Erwin Racholl konkret benannt: Racholl wird vorgeworfen, "vor zwölf oder dreizehn Jahren" einem Freund bei der Republikflucht geholfen zu haben. Die Gerichtsinstanz, die wie bei Kafka als allwissend und allmächtig dargestellt wird, ist allerdings nicht wie im Falle von Josef K. anonym: Erwin Racholl steht nämlich als Angeklagter seiner eigenen Partei gegenüber. Parallel zu diesem ersten Prozess entwickelt sich der Erkenntnisprozess Erwin Racholls, der seine Biographie durchforscht und infolgedessen seine Anpassungsfähigkeit und Feigheit erkennt. Die Figur von Erwin Racholl, der aus Angst große Teile seiner Vergangenheit aus der Erinnerung gestrichen hat, enthüllt "die latente Schizophrenie" (Winnen), die jedem totalitären System innewohnt.  Die Konstellation des doppelten Prozesses (als Schauprozess einerseits und als Erkenntnisprozess andererseits)  weist auffallende Parallelen zwischen Schlesingers Erzählung und Arthur Koestlers Sonnenfinsternis (1944) auf, der in der Zeit der Moskauer Schauprozesse spielt. Ähnlich Rubaschow, dem Protagonist von Koestlers Sonnenfinsternis, hat auch Erwin Racholl, die eigene Identität zu großen Teilen zugunsten des Systems aufgegeben. Während Seghers' Reisebegegnung noch als "positives" Weiterschreiben Kafkas gelesen werden konnte, stellt Schlesingers Erzählung in ihrer alptraumhaften Realität die sozialistische Utopie grundsätzlich in Frage.




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Als Aktualisierung Kafkas für die Darstellung des 'beschädigten' Lebens in einer Diktatur kann auch die Erzählung Der Heizer (1980) von Wolfgang Hilbig interpretiert werden, die nur im Westen (beim Fischer Verlag, im Prosaband Unterm Neomond, 1982) erschien. Die Erzählung, die schon im Titel auf das erste Kapitel von Kafkas Romanfragment Amerika hindeutet, weist mehrere Analogien zu der Figur des Kafkaschen Schiffheizers auf und zeigt, allgemeiner formuliert, Ähnlichkeiten zu Kafkas Prosa in ihrer Grundstimmung (Orientierungslosigkeit, Wirklichkeitsverlust, Verlust des Zeitgefühls, Angstzustände und Ohnmachtsgefühl des Einzelnen). Der Protagonist, der (ebenfalls in Kafkascher Manier) nur über den Buchstaben H. betitelt wird, arbeitet in einem öden Industriebetrieb, der als eine tote, neblige und gespenstische Anlage dargestellt wird: Als H. zum Empfang der "Jahresendprämie" gerufen wird, will er die Gelegenheit nutzen, um bei seinem Vorgesetzen gegen die unmöglichen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Als sich H. im Büro seines Chefs befindet, wird er allerdings von einer sprachlichen Ohnmacht überfallen, die den Plan des sonst beredten Heizers (der genau wie der Autor Hilbig auch als Schriftsteller arbeitete) scheitern lässt: Das Bewusstsein der Existenz von gedanklichen und psychologischen Brücken zwischen ihm und seinem Vorgesetzen überzeugt den Heizer von der Unmöglichkeit, ein richtiges Gespräch zu führen. Die Sprechunfähigkeit bewirkt gleichzeitig beim Heizer eine Identitätskrise, so dass er selbst im Laufe des Gesprächs mehr und mehr als 'fiktive' Figur erscheint. Der schwer zu entziffernde Traum, mit dem die Erzählung endet, thematisiert die Spaltung des Heizers in zwei sich gegenüberstehende Ichs und suggeriert die Zuflucht in die Sprache der Literatur als einzig möglichen Weg, sich einer von der Macht dekretierten Wirklichkeit zu entziehen.

Die sprachkritische Thematik steht auch im Zentrum der Tagebucheintragungen, die Gert Neumann 1981 in der BRD beim Fischer Verlag unter dem Titel Elf Uhr veröffentlichte, und die aus den Notizen bestehen, die der Autor jeden Tag, vom 24.2.1977 bis 27.2.1978, jeweils um "elf Uhr", i.e. während der Pause von seiner Arbeit als Schlosser in einem Leipziger Kaufhaus niederschrieb. Mit Feingefühl analysiert Angelika Winnen die komplexen sprachphilosophischen Reflexionen Neumanns, der den Namen Kafkas in seinen "Kampf um die Sprache"2 hinzuzieht. Die Gegenüberstellung von einer verborgenen Wahrheit und der ideologisch dekretierten Wirklichkeit sowie die ethische Bedeutung der dialogischen Haltung, die in der Tradition des Buberschen Gesprächs gefördert wird, stellen die Merkmale der Poetologie Neumanns dar. Winnen befasst sich in einigen dichten Abschnitten mit dem Bezug auf Kafkas Erzählung Entlarvung eines Bauernfängers in dem Tagebucheintrag "Zweiter Juni 1977" und mit der Darstellung der Räume in Neumanns Texten, die in ihrer labyrinthischen und hierarchischen Struktur sowie in ihrem Verfall und Schmutz deutlich an die Räume in Kafkas Romanen Das Schloss und Der Prozeß erinnern. Weiterhin setzt sich die Autorin mit der zentralen Rolle der Gestik der Figuren bei Neumann auseinander, die die Körpersprache von Kafkas Figuren wachrufen. Die Gebärden als "schweigende Ausdrucksform" (Winnen) entziehen sich der durch die Sprache vermittelten "Wirklichkeit", lassen sich im Gegensatz zu der sprachlichen Kommunikation schwer kontrollieren sowie manipulieren und bewahren daher einen intakten Kern von Wahrheit. Elf Uhr von Gert Neumann sowie Hilbigs Der Heizer werden von Angelika Winnen in die Tradition der "utopischen" Aktualisierung von Kafka eingeordnet, deren Erzählkunst im Kampf gegen ideologische Sprachmuster benutzt werden kann.




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Außer den vier genannten Autoren bietet Winnen wichtige Hinweise auf die Kafka-Lektüren von Brecht, Heiner Müller, Christa Wolf, Franz Fühmann (insbesondere zu der Erzählung Pavlos Papierbuch) und Jurek Becker. Der Band, der sich durch Genauigkeit, methodologische Strenge, sowie durch die scharfsinnigen und unabhängigen Urteile und die lobenswerte Fähigkeit der Autorin auszeichnet, die gewonnenen Erkenntnisse in aufschlussreiche Fazite zusammenzufassen, bildet zweifellos eine unabdingbare Studie für jede weitere Forschung zur Kafka-Rezeption.


Bibliografie

Goldstücker, Eduard (1993): "Warum hatte die kommunistische Welt Angst vor Franz Kafka?", in: Winkler, Norbert (Hg.): Franz Kafka in der kommunistischen Welt. Kafka-Symposium Klosterneuburg 1991. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 21–31.

Hermsdorf, Klaus (1978): "Anfänge der Kafka-Rezeption in der sozialistischen deutschen Literatur", in: Weimarer Beiträge 24.9, 45–69.

Hilbig, Wolfgang (1991): "Der Heizer", in: ders.: Das Meer in Sachsen. Prosa und Gedichte. Frankfurt am Main / Wien: Büchergilde Gutenberg, 11–51. [1982]

Kunert, Günter (1962): "Interfragmentarium", in: Sinn und Form 14.3, 371–373.

Neumann, Gert (1990): Elf Uhr. Rostock: VEB Hinstorff. [1981]

Schlesinger, Klaus (1977): "Die Spaltung des Erwin Racholl", in: ders.: Berliner Traum. Fünf Geschichten. Rostock: VEB Hinstorff, 5–103.

Seghers, Anna (1973): "Die Reisebegegnung", in: dies.: Sonderbare Begegnungen. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand, 111–152.

Wolf, Christa (1974): "Unter den Linden", in: dies.: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Berlin / Weimar: Aufbau, 7–60.


Anmerkungen

1 Vgl. Goldstücker (1993: 21).

2 Vgl. den Tagebucheintrag "Zweiter Juni 1977" in Neumanns Elf Uhr (Winnen 2006: 189), wo diese Bezeichnung wörtlich auftaucht.