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Susanne Kaul (Bielefeld)


Schattenrecht. Zu Wielands abderitischem Eselsprozess


The Shady Law. The Trial of the Donkey in Wieland's Abderites
In Wieland’s novel The Abderites a traveler hires a donkey on a hot day and seeks shelter from the heat under its shadow. A legal dispute arises as the owner of the donkey claims that he let only the donkey, but not its shadow. The quarrel becomes a destructive verification of the whole state Abdera. The thesis of this paper is that Wieland exposes the traditional Latin phrase fiat iustitia et pereat mundus (which means that justice should happen even if the world decays) to be a paradigm of foolishness.


Zerreißprobe

In Christoph Martin Wielands Roman Geschichte der Abderiten (1781)1 wird der Streit um das Mietrecht auf den Schatten eines Esels zur Zerreißprobe für den ganzen Staat Abdera, die nur deshalb glücklich ausgeht, weil durch einen Zufall am Ende nicht der Staat, sondern der besagte Esel zerrissen wird. Zwar zieht Wieland hier mit der antiken Rahmengebung und der erzieherischen Gesellschaftskritik einige traditionell klassizistische und aufklärungspoetische Register, aber der Shakespearesche Humor, mit dem die Geschichte erzählt und gegen den Strich der poetischen Gerechtigkeit aufgelöst wird, ist nicht zu überhören. Was leicht als harmlose Albernheit unterschätzt werden kann – und sowohl Shakespeare als auch Wieland sind in dieser Hinsicht tatsächlich oft unterschätzt worden –, dass hier nämlich aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird, ist in Wahrheit eine handfeste Idealismus- und Rechtskritik in einem. Dogmen, Werte und Prinzipien erscheinen in diesem Licht als Mückenelefanten oder, in Wielands Bildlichkeit, als Schatten von einem Esel. Und je pathetischer sie überhöht werden, desto breiter grinst die Eselhaftigkeit darunter hervor. Besonders deutlich wird dies am Fall des Rechts, das pars pro toto für Moral und soziale Ordnung steht, sowie an der juristischen Haarspalterei, die ums Recht betrieben wird. Das vierte Buch des Abderitenromans ist höchst subversiv: Wieland stellt die althergebrachte Formel Fiat iustitia et pereat mundus, derzufolge Gerechtigkeit geschehen soll, auch wenn die Welt dabei zugrunde geht, als Paradigma der Dummheit dar.





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Veranlassung

Der Prozeß um des Esels Schatten ist die Geschichte davon, wie aus dem dünnsten Stoffe vermeintlicher Ungerechtigkeit durch einen Rechtsstreit ein verworrenes Gespinst von Unrat wird, das ganz Abdera umwickelt und in Flammen gerät. Der kleine dicke und dick betuchte Zahnarzt Struthion mietet einen Esel, um zum Jahrmarkt zu reiten, wo er seine Zahntinkturen verkauft. Die Sommersonne prallt ihm so heiß auf den Schädel, dass er, nachdem weit und breit kein Baum zu finden ist, vom Esel absteigt und sich in dessen Schatten setzt. Der Eseltreiber, der ihn begleitet, protestiert: Er habe ihm den Esel, nicht aber dessen Schatten vermietet. Da der Zahnarzt nicht gewillt ist, für des Esels Schatten extra zu bezahlen, kehren die beiden nach Abdera zurück und bringen die Sache vor den Stadtrichter.


Performative Aufklärung

Die Veranlassung für den Prozess wird so erzählt, dass keiner der beiden Parteien Vorzug gegeben wird. Der Zahnarzt und der Eseltreiber werden als störrisch, um nicht zu sagen als eselhaft charakterisiert und der sich anbahnende Streit als ein heilloses Brimborium, das aus einer Nichtigkeit entsteht. Wieland gelingt hier ein narrativer Coup: Trotz der offenkundigen Distanz des Erzählers zu den sich streitenden Abderiten, die sich im Folgenden rasant vermehren, zieht er den Leser in Bann mit den Argumenten, die ausgetauscht werden, so dass die Verführung groß ist, sich selbst eine Meinung zu bilden und mitzustreiten. Das hieße aber: sich zum Abderiten zu machen. Während Wieland also vordergründig als klassischer Dichter der Aufklärung die Dummheit der Menschen allgemein und nur thematisch schilt, stellt er in Wahrheit die Klugheit und Besonnenheit des Lesers performativ auf die Probe und macht sich damit unauffällig zum Dichter einer aufgeklärteren Aufklärung.


Philippides’ Güte

Der Stadtrichter Philippides sagt das Klügste, was zu diesem Vorfall gesagt werden kann. Man solle sich in Güte miteinander abfinden, der Zahnarzt soll eine Kleinigkeit zahlen und der Eseltreiber ihm erlauben, sich in den Schatten des Tieres zu setzen. Möglicherweise deutet der Name des Stadtrichters auf seine Liebe für das Reittier, so als hätte er geahnt, dass es am Ende zum unschuldigen Opfer der Streitenden gemacht wird.




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Es wäre aber etwas voreilig, den Vorschlag zur Güte und die Tierliebe als Wielands Antwort auf unnötige Rechtsstreitereien zu setzen. Denn der Stadtrichter ist auch ein Abderit und entsprechend der allgemeinen Kennzeichnung der Abderiten mit Dummheit geschlagen. Seine spezifische Torheit besteht allerdings nur darin "daß, sooft zwei Parteien vor ihn kamen, ihm allemal derjenige recht zu haben schien, der zuletzt gesprochen hatte" (Wieland 2003: 218). Dieser Fehler gestaltet sich aber als das richtige Leben im falschen, denn selbst wenn die Güte nur aus mangelnder Urteilskraft resultiert, so ist sie doch ein Segen, weil sie Frieden stiften möchte, wo gestritten wird. Aber die Ruhe des Richters kann gegen die immer lauter werdenden Schreihälse nichts ausrichten, weil sich die Fronten schon allein dadurch verhärten, dass ihnen Fürsprecher beispringen, die aus der Angelegenheit einen Testfall für das Rechtssystem in Abdera machen.


Shakespearesche Stilmittel

Sie treten mit einer ähnlich pathetischen und feindseligen Rhetorik auf wie Shakespeares Shylock, der sein Recht fordert und behauptet, dass das Rechtssystem in Venedig hinfällig sei, wenn er sein Recht nicht bekommt. Möglicherweise wollte der Shakespeare-Übersetzer Wieland hier die so genannten Sykophanten mit ähnlichen Sympathien ausstatten. Shylock missbraucht bei Shakespeare das Recht, um seinen Konkurrenten, den reichen Kaufmann Antonio, auszuschalten. Die Sykophanten sind im Athen der Antike Rechtsstreiter, die durch falsche Anklagen andere Bürger verleumden; bei Wieland sind sie die in verunglimpfender Absicht so benannten Advokaten: die "Sachwalter" (Wieland 2003: 288) der Parteien. Sprachliche Anleihen bei Shakespeare finden sich auch in den Malapropismen, die dazu gebraucht werden, Figuren zu karikieren, die sich gewählt ausdrücken möchten und knapp daneben liegen. Der Zunftmeister Pfriem, der für den Zahnarzt Struthion das Wort ergreift, ist Schustermeister – die Zahn- und Schuhflicker hat man in Abdera zu einer Zunft zusammengefügt – und möchte wie ein gelehrter Anwalt sprechen, indem er "Saxfation" (Wieland 2003: 225) für seinen Schützling verlangt. Wie bei Shakespeare dient dieses Mittel der Sympathielenkung. Dem Leser wird klar gemacht, wie es um den Geisteszustand der einflussreichen Männer von Abdera bestellt ist.






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Sprachliche Komik

Die sprachliche Komik erzeugt zwar nur den impliziten, aber dennoch wesentlichen Teil des spöttischen Erzählerkommentars, da diese bissiger ist und auf subtilere Weise Kritik übt als die explizite Schelte des Unverstands – obwohl auch diese häufig köstlich spöttisch formuliert ist wie in der folgenden Auskunft über die ältesten Ratsherrn Abderas:

Es ist eine alte Bemerkung, daß verständige Leute durchs Alter gewöhnlich weiser und Narren mit den Jahren immer alberner werden. Ein abderitischer Nestor hatte daher selten viel dadurch gewonnen, daß er zwei oder drei neue Generationen gesehen hatte; und so konnte man ohne Gefahr voraussetzen, daß die Zehnmänner von Abdera, im Durchschnitt genommen, den Ausschuß der blödesten Köpfe in der ganzen Republik ausmachten. (Wieland 2003: 268f.)

Meistens steht die Gelehrsamkeit vorspiegelnde Sprache der Rechtsvertreter in einem komisch wirkenden Gegensatz zur Nichtigkeit des Inhalts. Da der Gegenstand der Verhandlungen der Schatten eines Esels ist, wird zumeist auch mit der Konnotation des Eselhaften gespielt, so dass Rechtsgelehrsamkeit und Blödigkeit Hand in Hand gehen. Es beginnt harmlos mit dem gemäßigten Gerichtsreferenten Miltias, der versucht, den Fall in aller Sachlichkeit darzulegen und abzuwägen:

"Auf der einen Seite scheine nichts klärer", sagte er, "als daß derjenige, der den Esel, als das Prinzipale, gemietet, auch das Akzessorium, des Esels Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder, (falls man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben wollte) daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht, auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne weitere Beschwerde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst dadurch an seinem Sein und Wesen nicht das mindeste benommen werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht weniger einleuchtend, daß, wiewohl der Schatten weder als ein wesentlicher noch außerwesentlicher Teil des Esels anzusehen sei, folglich von dem Abmieter des letztern keineswegs vermutet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem stillschweigend habe mieten wollen; gleichwohl, da besagter Schatten schlechterdings nicht für sich selbst ohne besagten Esel bestehen könne, und ein Eselsschatten im Grunde nichts andres als ein Schattenesel sei, der Eigentümer des leibhaften Esels mit gutem Fug auch als Eigentümer des von jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs angehalten werden könne, letztern unentgeltlich an den Abmieter des erstern zu überlassen. [...]" (Wieland 2003: 229)




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Der Kanzleistil mit langen Schachtelsätzen (es sind nur zwei in diesem Zitat), labyrinthischen Rückbezügen auf "letzteres", "dieses" und "jenes", mehrfach in dem gerichtlichen Gutachten verwendeten lateinischen Phrasen und juristischen Termini steht im Missverhältnis zur Sache, die trivial und lächerlich ist. (Zudem behauptet der Erzähler ironisch, dass er dem Leser sogar eine Menge scharfsinniger Induktionen erlassen habe.) Diese Diskrepanz erzeugt eine Komik, durch die der hohle Chauvinismus einer selbstzweckhaften Juristerei entlarvt wird. Dabei ist das hier noch harmlos gegen die pathetische Rhetorik der Schlussplädoyers. Es wird leeres Stroh gedroschen. Und genau das ist es, was Wieland mit der ganzen Geschichte enthüllt. Aus dem Schatten als Akzessorium des Esels kann, so will es der Abderitenstreich, etwas Wesenhaftes gezaubert werden: ein Schattenesel.


Vom Schattenesel zum Schattenrecht

Analog lässt sich sagen, dass das Recht hier zum Schattenrecht gemacht wird oder sogar, dass es sein Wesen als Schattenrecht enthüllt, insofern es etwas Aufgebauschtes ist, das eigentlich keine Substanz hat. Dies wird im Laufe der Eskalation des Streits und der argumentativen und tatsächlichen Aufrüstung der beiden Parteien zunehmend deutlicher. Recht sollte vernünftigerweise ein Hilfsmittel sein, das soziale Ordnungen unterstützt. Es provoziert aber im abderitischen Klima egoistischer und lobbyistischer Unbesonnenheit eine Lust am Streiten und Rechthabenwollen, so dass es zum Selbstzweck und zur Hauptsache gemacht wird. So gesehen wird das Recht als Schattenrecht dargestellt, also als etwas, das künstlich zum Prinzipalen gemacht wird – eben wie ein eigens zu vermietender Schattenesel. Diese Analogie stimmt allerdings nur, insofern Wieland die Überhöhung und das friedenstörende Potenzial des Rechts verpönt, nicht insofern damit einer Partei Recht gegeben werden kann, denn die Emanzipation des Schattenesels, die der Eseltreiber betreibt, ist ebenso eselhaft, wie die selbstgefällige Argumentation für die Einheit von Esel und Schatten schattenhaft ist; anders gesagt: Wielands Kritik richtet sich gegen beide Parteien, die Esel und die Schatten, - denn in solche spaltet sich namentlich binnen kurzem ganz Abdera – und lässt seinen Erzähler, den selbsternannten unparteiischen Geschichtsschreiber, kaum mehr zwischen Esel- und Schattenhaftigkeit unterscheiden. Die Parteien nennen sich selbst metonymisch "Esel" und "Schatten", wobei auf Anhieb gar nicht so klar ist, welcher Name für die Anhängerschaft des Zahnarztes und welcher für die des Eseltreibers steht.




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Beide Namen sind unschmeichelhaft, und diese Verwirrung hat die Funktion, den Unterschied zu nivellieren, um die Dummheit der Spalterei und Eskalation des Streites zu bloßzulegen. So gesehen gilt die Kritik hier nicht in erster Linie dem Recht an sich als einer fragwürdigen Institution – so radikal ist Wieland, im Unterschied zu Kleist (vgl. Kaul 2006), dann doch nicht -, sondern nur dem abderitischen Umgang mit dem Recht. Letztlich bietet sich das Recht aber zumindest in paradigmatischer Weise als Projektionsfläche für Schattenboxkämpfe an. Der Zahnarzt hätte ja mit dem Schatten seiner Drachmen für die Benutzung des Eselschattens zahlen können und die Schattenaffäre hätte sich in warme Luft aufgelöst, stattdessen wird er mit dem "Schatten eines Rechts" (Wieland 2003: 296) für die verweigerte Bezahlung angeklagt, und der luftige Rechtsfall droht zur alles zersetzenden Staatsaffäre zu werden.


Abdera ist überall

Ob nun Rechtskritik oder Kritik der Dummheit – darüber dass es Wieland um mehr ging als eine Karikatur bestimmter historischer Personen, ist man sich in der Forschung einig. Zwar hatte die zeitgenössische Rezeption die Erzählung als satirischen Schlüsselroman gelesen, weil sich einige Biberacher darin verspottet wieder fanden (vgl. Zaremba 2007: 181), es wird aber deutlich, dass es weder um ein historisches Abdera noch um ein historisches Biberach geht, wenngleich der Erzähler sich als Historiker gibt und die Ähnlichkeit mit Zeitgenossen Wielands nicht zufällig gewesen sein mag. Die Ironisierung der Rechthaberei ist jedoch von anthropologischer Tragweite.2 In diesem Sinne kommentiert auch Wieland selbst seine Abderiten: "Man kann nicht sagen, hier ist Abdera, oder da ist Abdera! Abdera ist allenthalben, und – wir sind gewissermaßen alle da zu Hause." (zitiert nach Brender 1990: 109) Auch an diesem Umstand ist zu erkennen, dass die Komik nur vordergründig vom hohen Ross daherkommt und aus dem Spott über den warmköpfigen Pöbel gewonnen wird. Natürlich besteht ein großer Teil des Humoristischen aus dem Überlegenheitsgefühl des Erzählers, mit dem sich die Leserschaft gern identifiziert und durch das sie sich bestätigt fühlt. Das entspricht sowohl der aristotelischen Komödientheorie als auch der hobbesschen Affektlehre. Indes zielt der Spott gleichzeitig auf die Ähnlichkeit des Lesers mit dem Abderiten, der prahlerisch, rechthaberisch, störrisch, heuchlerisch, pathetisch usw. daherkommt. Als Stadt "halbmythologischer Herkunft" und ohne "topographische Verbindlichkeit" bietet Abdera den abstrakten Raum für eine allgemeine gesellschaftliche Charakteristik.3





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Äsop

Für die philosophische Dimension der Darstellung und die versteckte performative Kritik des Lesers spricht auch die Herkunft des Stoffs: Eine der Äsopischen Fabeln handelt davon, dass Demosthenes seinen Mitbürgern eine wichtige Rede hält und diese mit der Anekdote über den Prozess um des Esels Schatten unterbricht, um ihnen zu zeigen, dass sie bei unwichtigen Dingen aufmerksam und neugierig sind, während sie die wichtigen Gedanken über die Wohlfahrt des Staates verschlafen:

Des Esels Schatten
Der Politiker Demosthenes versuchte einmal, zur athenischen Volksversammlung zu sprechen. Man wollte ihn aber nicht zu Wort kommen lassen; da sagte er, er wolle ihnen nur kurz etwas sagen. Man schwieg still, da sprach er: "Ein junger Mann mietete einmal im Sommer einen Esel für die Strecke Athen-Megara, wobei der Eseltreiber mitging. Als nun am Mittag die Sonne sehr heiß war, wollten sich beide in den Schatten des Esels setzen, aber jeder verwehrte es dem anderen: Der Vermieter sagte, er habe den Esel, aber nicht dessen Schatten vermietet, der Mieter aber behauptete, ihm stehe alles zu." Nach diesen Worten trat Demosthenes ab. Die Athener waren gespannt und baten ihn, doch zu sagen, wie die Geschichte ausgegangen sei; da sprach er: "Von eines Esels Schatten wollt ihr hören, aber nicht von ernsten Angelegenheiten?" (Äsop 1985: 82f.)

Da wir alle ein wenig wie die Athener Demosthenes’ sind, wollen wir natürlich auch wissen, wie die Geschichte ausgeht.


Wie die Geschichte ausgeht

Wieland lässt sich allerdings Zeit mit der Geschichte. Die Anekdote wird mit merklicher Lust an detaillierten Charakterisierungen und szenischen Darstellungen ausgearbeitet. So werden die Figuren ganz anschaulich und fassbar bis hin zur in Falten gelegten Miene des Priesters Strobylus, die dazu dienen soll, vom großen Haufen für einen weisen Mann gehalten zu werden (vgl. Wieland 2003: 239). Es wird von vornherein deutlich, dass die Anekdote nicht nur zur Unterhaltung ausgeschmückt wird, sondern dass die Kennzeichnung des Abderitentums das Wesentliche ist.




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Daher hält sich der Erzähler lange damit auf, die Beweggründe für die Parteienbildung bloßzulegen und lässt keinen Zweifel daran, dass es den meisten weniger um die Sache geht, als viel mehr darum, diese zum Anlass für das Ausleben persönlicher Ressentiments und alter Feindschaften zu nehmen. Die Geschichte geht jedenfalls so aus, dass nach einigen Eskalationen, Intrigen, Verzögerungen und Nachforschungen die Fürsprecher beider Parteien ihr Plädoyer halten, die Richter in Verlegenheit bringen und nur der Zufall, "der zu allen Zeiten der große Schutzgott aller Abderiten gewesen ist" (Wieland 2003: 307), dieselben vor der Katastrophe rettet. Als der Disput heftig anschwillt und die Situation ausweglos erscheint, taucht plötzlich der Esel auf, um den sich alles dreht. Anstatt übereinander herzufallen und sich gegenseitig mit den Dolchen zu erstechen, die heimlich unter den Mänteln mitgebracht worden sind, fallen die Abderiten über den unschuldigen Esel her und zerreißen ihn in tausend Stücke, weil er der Anlass für den Streit gewesen ist: "Bei einigen ging die Wut so weit, daß sie ihren Anteil auf der Stelle roh und blutig auffraßen" (Wieland 2003: 308). So barbarisch und archaisch dieser an ein Sündenbockritual erinnernde Gewaltakt von statten geht, er ist der Grund für das Happy End der Geschichte, denn mit dem Esel wird die Eselssache beseitigt und der Tag der Entscheidung wird zum "Tag der Freude und Wiederherstellung der allgemeinen Ruhe" (Wieland 2003: 309). Kompositorisch mag das plötzliche, rettende Auftauchen des Esels an einen ‚deus ex machina’ erinnern, der für poetische Gerechtigkeit sorgt, aber weder Gott noch Gerechtigkeit manifestieren sich hier, außer als Parodie.


Pathos der Gerichtsrede

Bevor es zur überraschenden Wendung kommt, werden noch die Gerichtsreden in größter Peinlichkeit ausgebreitet. Die Sykophanten sind mit allen trickreichen Wassern der Rhetorik gewaschen und dabei besonders auf Schwarz-Weiß-Malerei und Pathos spezialisiert. Physignatur, der Sykophant des Zahnarztes, singt zunächst ein Loblied auf die abderitische Gerechtigkeit, die mit dem Prozess um des Esels Schatten stehe und falle, diffamiert dann den Eseltreiber, der nicht zur Klasse der abderitischen Bürger gehöre, sondern aus der dicksten Hefe des Pöbels hervorgegangen sei (vgl. Wieland 2003: 292), schildert ferner das Schattensuchen Struthions als letzte Rettung aus dem glühenden Backofen, um schließlich den Eseltreiber als Unmenschen hinzustellen, der seinen Nächsten kaltblütig verdorren lässt. Ein Appell an die Menschlichkeit und das Mitgefühl gibt seiner Rede den Anstoß: "Stellet euch, ich bitte, an den Platz eures guten Mitbürgers Struthion, und - fühlet!"




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"Die Sonne flammt über seiner Scheitel, saugt das Blut aus seinen Adern, das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung’ am Gaumen, mit trüben, von Hitze und Glanz erblindenden Augen, sieht er sich nach einem Schattenplatz, nach irgend einem einzelnen mitleidigen Baum um, unter dessen Schirm er sich erholen, er einen Mundvoll frischerer Luft einatmen, einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen Apollo sicher sein könnte. Umsonst! [...]" (Wieland 2003: 292f.)

Proportional zu der dramatisch übertrieben und einseitig dargestellten Not Struthions (der ja genauso der Sonne ausgesetzt gewesen ist wie der Esel und der Eseltreiber) wird die Rohheit des Anthrax dämonisiert und verurteilt: Er sei ein unglaublich felsenherziges Ungeheuer, das in schamloser Frechheit auch noch behaupte, recht daran zu tun, dem leidenden Mitmenschen den Schatten des Esels zu versagen (vgl. Wieland 2003: 293).

Es werden auch allerlei juristische und beinahe philosophisch bzw. ontologisch anmutende Spitzfindigkeiten ausgebreitet, etwa der Einwand, dass der Schatten seinen Grund nicht in der "Eselheit", sondern bloß in der Körperlichkeit des Esels habe und daher der Klient nur in einem zufälligen Körperschatten, nicht in einem explizit zu mietenden Eselschatten, also einem Zubehör oder einer Verwendbarkeit des Esels, gesessen habe – und wenn doch, so habe er ihn selbstverständlich mitgemietet (vgl. Wieland 2003: 295f.).

Der Hauptvorwurf gegen den Eseltreiber ist jedoch die "verweigerte Menschlichkeit" (Wieland 2003: 294). Das ist sehr bemerkenswert, denn man wäre versucht zu glauben, dass ein Dichter, der wie Wieland das Recht oder zumindest eine bestimmte Rechtspraxis parodiert, auf der Seite der Menschlichkeit steht und so gewissermaßen Moral gegen Recht (oder eine höhere gegen eine barbarische Gerechtigkeit) stellt, wenn die Menschlichkeit hier nicht einem schmierigen Sykophanten mit ebenso fettigem Pathos in den Mund gelegt werden würde. Es wird mit Kanonen auf Spatzen und Spatzenhirne geschossen, denn der Sykophant macht die Zukunft des ganzen Staates Abdera von der mehrfach als gerecht beschworenen Verurteilung des Eseltreibers abhängig. Die Unmenschlichkeit müsse im Keim erstickt werden, damit der Staat gerettet und sein blühender Wohlstand auf ewige Zeiten sichergestellt werden könne (vgl. Wieland 2003: 298). Diese mit größtem Ernst dargebrachte Rede bezieht ihre selbstentlarvende Komik aus dem Kontrast zwischen der Nichtigkeit der Rechtsangelegenheit und dem hier skizzierten sprachlichen Aufstand.





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Kritik und Ideal

Angesichts der Abderitengeschichte ist es zweifelhaft, ob Staat und Recht für Wieland die Aufgabe haben, den einzelnen im Sinne des Humanitätsideals der Aufklärung zur sittlichen Vervollkommnung zu führen.4 Aber die Frage muss ja dennoch sein, was bei Parodie und Kritik herauskommen soll und ob es ein positives Gegenbild zu den Abderiten gibt. In den ersten drei Büchern des Romans sind Demokrit, Hippokrates und Euripides die Gegenbilder, aber erstens wird mit diesen Figuren kein klassischer Griechenkult nach der Art Winkelmanns betrieben5 und zweitens fehlen sie im vierten Buch, das den Prozess um den Eselsschatten erzählt – das heißt, sie fehlen nicht ganz, denn Demokrit taucht ganz am Ende auf und hat sogar das Schlusswort. Er gibt kein Ideal ab, aber einen Schlüssel zur Deutung der Geschichte:

Demokrit, der sich von dem Erzpriester hatte bereden lassen mit in dies Schauspiel zu gehen, sagte beim Herausgehen:

"Diese Ähnlichkeit mit den Athenern muß man den Abderiten wenigstens eingestehen, daß sie recht treuherzig über ihre eignen Narrenstreiche lachen können. Sie werden zwar nicht weiser darum, aber es ist immer schon viel gewonnen, wenn ein Volk leiden kann, daß ehrliche Leute sich über seine Torheiten lustig machen, und mitlacht, anstatt, wie die Affen, tückisch darüber zu werden." (Wieland 2003: 311)

Die Treuherzigkeit der Abderiten wird hier nicht ironisiert, die bisher so scharfe Kritik der Torheit erhält vielmehr eine Milde durch Demokrits Urteil. Für ein Bildungsideal ist die Substanz dieser Lebewesen zu dünn, aber die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können, ist eine Tugend, durch die die bisher geschilderte Dicktuerei erträglich wird, auch wenn die plötzliche Wendung am Schluss psychologisch wie dramaturgisch eher komisch als überzeugend wirkt. Wielands Empfehlung ist anscheinend die, dass über sich selbst lachen zu können und sich aus düsterstem Himmel zu versöhnen besser ist als auf vermeintlichen Rechten oder sonstigen Prinzipien zu beharren oder mit vorgeblichen Idealen zu prunken.

Das würde auch zu dem Bild passen, das Goethe von Wieland hat, wenn er sagt, dass er allem, "was sich in der Wirklichkeit nicht immer nachweisen läßt, den Krieg" ankündige, also allem geistigen Dogmatismus und religiösen Fanatismus, zugleich aber "einen Kampf gegen die gemeine Wirklichkeit" führe:





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Er lehnt sich auf gegen alles, was wir unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterei, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde, und wie diese Ungeister, deren Name Legion ist, nur alle zu bezeichnen sein mögen. (Goethe 1893/1987: 321f.)

In den Abderiten ist es sogar eine unheilvolle Mischung aus beidem, d.h. aus geistesarmer Spießigkeit und hochtrabendem Idealismus, die dazu führt, dass sich alle ereifern, lieber den ganzen Staat in "Feuer und Flammen" zu sehen als nur den "Schatten einer tauben Nuß" einem Mitbürger willkürlich abzusprechen (vgl. Wieland 2003: 247). Die Fiat-iustitia-Formel wird hier als Musterbeispiel der Unbesonnenheit vorgeführt – ähnlich wie später bei Brecht, wo das Beharren auf Gerechtigkeit zur Folge hätte, das Kind zu zerreißen. Kluge Richter gibt es bei Wieland allerdings nicht, nur den unfreiwillig klugen Stadtrichter Philippides, der mit einem versöhnlichen Vergleich die Sache friedlich abkühlen will, bevor sie juristisch Feuer fängt.

Es wäre allerdings zu defätistisch, aufgrund dieser ‚Rechtskomödie’ eine Menschenfeindlichkeit oder einen gesellschaftlichen Pessimismus zu diagnostizieren.6 Wieland ist eher das, was er über Shakespeare sagt: ein Sittenlehrer aus wärmster Empfindung für seine Mitmenschen (vgl. Wieland 1939: 66). Seine Selbsteinschätzung stimmt damit ebenfalls überein. An Sophie La Roche schreibt er 1769:

Die Ironie, die, ich gestehe es, meine Lieblingsfigur ist, und für die ich einiges Talent zu haben mir schmeichle, ist freilich ein ziemlich gefährliches Talent; zum Glück aber hat mich die Natur mit einem guten und redlichen Herzen begabt; Mein Menschenhass ist nur gemacht; ich liebe von Natur die Menschheit, und wenn ich auch über die Gebrechen der einen und über die Schwachheiten der anderen spotte, so geschieht’s in der Regel freundlich und in der Absicht, ihnen scherzend heilsame Wahrheiten zu sagen, die man zuweilen geradezu nicht zu sagen wagt. (Zitiert nach Martini 1963: 65)

Daher löst er das Rechtsproblem, ähnlich wie Shakespeare, mit menschenfreundlicher Ironie und komödienhaftem Humor.7 Das Komische ist gewissermaßen ein bodenloser Ausgang aus allen selbstverschuldeten Verstrickungen, wo es keine ideale Lösung und kein Ideal als Lösung gibt.





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Bibliographie

Äsop (1985): "Des Esels Schatten", in: Fabeln der Antike. Hg. und übersetzt Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, 2. verb. u. erw. Aufl., München: Artemis-Verlag, 82–85.

Brender, Irmela (1990): Christoph Martin Wieland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Dreger, Johannes-Heinrich (1973): Wielands 'Geschichte der Abderiten'. Eine historisch-kritische Untersuchung. Göppingen: Kümmerle.

Goethe, Johann Wolfgang (1893/1987): "Zu brüderlichem Andenken Wielands" (1813), in: Goethes Werke, Bd. 36, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimarer Ausg., fotomech. Nachdr. d. Ausg. Weimar: Böhlau/ München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 311–346.

Kaul, Susanne (2008): Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare – Kleist. München: Fink.

Kaul, Susanne (2006): "Radikale Rechtskritik bei Kleist", in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 31: 1, 212–222.

Klotz, Volker (1969): Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans. München: Hanser.

Martini, Fritz (1963): "Wieland. Geschichte der Abderiten", in: von Wiese, Benno (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf: Bagel, 64–94.

Sengle, Friedrich (1949): Wieland. Stuttgart: Metzler.

Walter, Torsten (1999): Staat und Recht im Werk Christoph Martin Wielands, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.

Wieland, Christoph Martin (2003): Geschichte der Abderiten, Stuttgart: Reclam.

Wieland, Christoph Martin (1939): Gesammelte Schriften. 1. Abt. Bd. 21. Berlin: Weidmann.

Wolffheim, Hans (1949): Wielands Begriff der Humanität. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Zaremba, Michael (2007): Christoph Martin Wieland: Aufklärer und Poet. Eine Biografie, Köln: Böhlau.





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Anmerkungen

1 Der Roman ist 1774-1780 in Fortsetzungen in der von Wieland herausgegebenen Zeitschrift Der Teutsche Merkur erschienen, 1781 als eigenständige Publikation.

2 Siehe auch Martini (1963: 69); vgl. Dreger (1973: 32): "Vielmehr hebt er die Grundzüge allgemeinmenschlichen Fehlverhaltens hervor und entlarvt Institutionen an sich, wo immer sie sich unfähig erweisen, richtig zu entscheiden oder zu handeln." Maßstab sei Selbstreflexion als Prinzip der Humanität, verkörpert in Demokrit, Hippokrates und Euripides (Dreger 1973: 33); ebenso Wolffheim (1949: 63f.); ähnlich auch Klotz (1969: 77). Er nennt den Roman sowohl eine Gesellschaftssatire als auch ein ironisches Spiel, welches das historische Material übersteigt. Wieland selbst hat mit dem "Schlüssel zur Abderitengeschichte" (Anhang am Ende des Romans) über die Ähnlichkeiten mit lebenden Personen hinwegzutäuschen versucht, aber nur zum Selbstschutz.

3 So Volker Klotz, der im Vergleich mit anderen Stadtromanen feststellt , dass es sich bei Wielands Abderitengeschichte eher um ein allgemeines "Sittenbild" als um ein historisch konkretes "Sinnenbild" handelt (Klotz 1963: 67).

4 Zu diesem Schluss kommt hingegen Torsten Walter (Walter 1999: V), allerdings bezeichnenderweise nicht am Material der Abderiten – und mit der Spezifizierung, dass eine "antiabsolutistische Wendung" bei Wieland auszumachen sei (Walter 1999: 225).

5 So auch Fritz Martini: "Im Gegensatz zu dem ästhetischen und empfindsamen Griechenkultus, dem J.J. Winkelmann eine beherrschende Autorität gegeben hatte, bewahrte Wieland eine Freiheit des skeptisch-kritischen Urteils. Er las das Buch der Geschichte gleichsam von der Kehrseite und entdeckte, feind jeder Mythisierung, in den Griechen ein nicht eben zu hoch achtbares ‚wahres luftiges Lumpengesindel’. " (Martini 1963: 76)

6 Friedrich Sengles Urteil, Wieland stelle die Machtlosigkeit der Vernunft dar (Sengle 1949: 334), ist überzogen.

7 Es gibt einige Parallelen zu Shakespeares Measure for Measure, sowohl auf der Ebene der Metaphorik, beispielsweise wird das Gesetz bei beiden als Vogelscheuche oder als schlafender Löwe bezeichnet, als auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition (zur humoristischen, aber dennoch problematischen Auflösung des Gerechtigkeitskonflikts bei Shakespeare siehe Kaul 2008: 131ff.).