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Eva Siebenborn (Bochum)



Thomas Stöber (2006): Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola. Tübingen: Narr.



Thomas Stöber geht in seiner Dissertation von dem Befund aus, dass literarische Texte des Realismus und Naturalismus mit einer auffälligen Dichte vom Bildfeld der wilden Natur, der "sauvagerie", durchzogen sind. Den epistemologischen Ausgangspunkt für die Möglichkeit der Literatur, die Wildheit des Lebendigen auszumalen, sieht Stöber im Wissensumbruch um 1800. Denn während die taxinomisch organisierte Histoire Naturelle der klassischen Episteme keine ontologische Unterscheidung zwischen organischer und anorganischer Welt macht und Lebewesen genauso wie Pflanzen nach gemeinsamen und unterscheidenden Merkmalen in einem Tableau anordnet, avanciert das Lebendige in den Recherches physiologiques sur la vie et la mort (1800) von Bichat zum expliziten Gegenstand des Wissens. Der lebendige Körper wird nicht mehr durch seine äußerlich sichtbaren Merkmale klassifiziert, sondern ihm wird ein Funktionszusammenhang von Organen zugesprochen. In der Tiefe dieser 'organisation' vermutet man eine fundamentale Lebensenergie, die die Körperfunktionen aufrechterhält. Diese eigengesetzliche Lebenskraft avanciert zu Beginn des 19. Jahrhundert zum letztbegründenden Element des biologisch-vitalistischen Diskurses.

Das vitalistische Wissen geht – wie Stöber plausibel argumentiert – mit einer Neukonfigurierung des Verhältnisses von Norm und Transgression einher. Die fundamentale, in der Tiefe des Organismus verankerte Vitalkraft weist ein expansives und transgressives Potential auf, das sich von diesem Zeitraum an aus der diskursiven Ordnung der Taxinomie befreit und den Wandel zu einer Episteme des Lebens herbeiführt. Zum Inbegriff der Vitalkraft wird nun das wilde Tier. Vor diesem Hintergrund formuliert Stöber eine spannende These: Der biologische Diskurs, der die Energie des Vitalen zu seiner Voraussetzung macht, ist gleichzeitig blind für das entgrenzende Potential dieser Vitalkraft; stattdessen sind es die literarischen Texte des Realismus und Naturalismus, die diese transgressive Wildheit umso euphorischer ausgestalten. Dabei stehen Literatur und Medizin in einem komplementären Verhältnis zueinander. Der Literatur kommt das Verdienst zu, einen blinden Fleck der Biologie zu entlarven und das Wissen vom transgressiven Körper als ihren eigenen Erkenntnis- und Darstellungsgegenstand zu entfalten.

Diese faszinierende These wird durch eine ebenso überzeugende Komplementärthese ergänzt: Die literarische Diskursivierung solidarisiert sich im Sinne einer "Poetologie des Wissens" (Vogl) mit dem dargestellten Inhalt, so dass der Text nun selbst exzessiv wird. Die wissenshistorischen Prämissen hierfür sieht Stöber im Rekurs auf Foucault in der Herausbildung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts. Durch Bopps Lautgesetze und Grimms Konzept der Lautverschiebung wird die Sprache aus ihrer repräsentationslogischen Funktion herausgelöst. Dabei wird die Sprache zunehmend selbst als ein lebendiger Organismus betrachtet, dem eine entsprechend wilde Eigendynamik zugestanden wird.




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Diese zwei Thesen wird Stöber im Folgenden anhand literarischer Darstellungen von Festszenen bei Stendhal, Balzac, Flaubert und Zola überprüfen. Die Wahl des Motivs leitet sich dabei aus dem angewendeten theoretischen Rahmen her, denn Stöber will seine Untersuchungen durch Theorien des Festes und des Rituals, bevorzugt Batailles Ausführungen über das entgrenzende Potential des Opferrituals, wie er es in L'Érotisme formuliert, methodisch untermauern.

Die Überprüfung seiner Annahmen in den Analysekapiteln zeigt, dass Stöber zwei ertragreiche Thesen aufgestellt hat, die auf die meisten der von ihm untersuchten Texte sehr gut anwendbar sind – vornehmlich auf die Romane Balzacs und Zolas, die in ihre Poetologien tatsächlich explizit vitalistische Prämissen einfließen lassen. Eine Einschränkung ist für das Flaubert-Kapitel zu machen (s.u.). Stöber verfolgt in seinem Durchgang von Stendhal (La Chartreuse de Parme), über Balzac (La Peau de Chagrin) und Flaubert (Salammbô) zu Zola (L'Assommoir) folgende Argumentationslinie: Die literarische Inszenierung des Vitalen als einer euphorischen, exuberanten Fülle im Balzacschen Roman weicht bei Flaubert und Zola zusehends der Darstellung einer Dysphorie und leeren Aggression des Vitalen.

Das Stendhal-Kapitel bildet die Negativfolie für die darauf folgenden Analysen realistischer und naturalistischer Texte. Stöber wählt an dieser Stelle mit Stendhal einen Autor, der wissenshistorisch noch vor den vitalistischen Prämissen anzusiedeln ist und dessen Energie-Begriff noch entsprechend unkörperlich konzipiert ist. Energie bezeichnet bei Stendhal ein seelisches Vermögen, insbesondere dasjenige des Willens und der Passion. Energie kommt dem 'romantischen' Ausnahmeindividuum zu, das sich durch seine Leidenschaftsfähigkeit auszeichnet. Den entscheidenden Unterschied dieses Romans zu den folgenden Romanen sieht Stöber darin, dass die Vorstellung von Energie bei Stendhal noch keine körperliche, vitalistische Dimension aufweist, sondern die emphatische Erfahrung eines leidenschaftsfähigen Individuums bezeichnet. Dies veranschaulicht Stöber an Stendhals Italienroman La Chartreuse de Parme. In der Festszene in Sacca überlagern sich Fest und gewaltsame Revolte. Hier kommt Stöber zu dem Befund, dass die Darstellung entgrenzender Gewalt durch komödiantische Effekte der Diskursivierung überformt wird und damit das Gewaltpotential diskursiv geschwächt wird. Auch stilistisch ist Stendhal noch den repräsentationslogischen Prämissen und dem Stilideal der clarté und netteté verpflichtet. Eine transgressive Eigendynamik des Sprachlichen ist hier noch undenkbar, Sprache bleibt auf den Signifikatehin transparent.

An der Textanalyse des Romans La Peau de Chagrin zeigt sich eindrücklich die Tragfähigkeit der von Stöber aufgestellten Thesen. In der Analyse der Gastmahlszene des Taillefer, einer Schlüsselszene vitalistischer Modellierung, wird aufgezeigt, wie durch Intensivierungsstrategien die Überfülle des vitalistischen Rausches in seiner körperlichen Sinnlichkeit veranschaulicht wird. Der dargestellte Rausch bedeutet dabei keinen Selbstverlust, sondern einer "lustvolle Selbstzufügung", eine euphorische, synästhetische Erfahrung. Auf discours-Ebene wertet Balzac die Eigendynamik der lautlichen Dimension dadurch auf, dass er dem argot eine eigene Energie zuspricht. Diese Eigendynamik manifestiert sich, wie Stöber zeigt, in Phänomenen der Lautmalerei sowie in der Inszenierung gesprochener Sprache. Die Sprache wird bei Balzac in der Metapher eines energetischen Körpers aufgefasst, der sich gegenüber der diskursiv gebundenen, referentiellen Rede verselbständigt.




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Die Gewalt- und Exzessdarstellungen in Flauberts Roman Salammbô nehmen sicherlich eine Sonderstellung unter den von Stöber analysierten Texten ein. Die These einer in den literarischen Texten ausgeschriebenen Wildheit scheint hier nicht vollständig aufzugehen. Stöber stellt zunächst dar, dass sich in Flauberts Roman Salammbô der Stil gerade nicht wie bei Balzac durch ein entgrenzendes Schreiben mit dem Exzess solidarisiert, sondern im Gegenteil Begrenzungen, Zäsuren und Disjunktionen einführt, um damit auf Ebene der Syntax den semantischen Gehalt zu zersetzen. Er argumentiert, dass sich der Exzess von der Ebene des Erzählten auf jene des Stils verschiebt, wobei der Stil in der paradoxalen Unabschließbarkeit seiner Serialität und Diskontinuität selbst wieder exzessiv wird. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine epistemologische Differenz hinsichtlich der Vitalität zwischen Flauberts Werk einerseits und dem Werk Balzacs und Zolas andererseits bestehen muss, weil man es bei Flaubert mit einer Fragmentierung des Organischen durch eine anonyme Instanz zu tun hat. Hier hat man jedoch den Eindruck, dass der vitalistische Ansatz nicht vollständig greift; möglicherweise wäre es interessant gewesen, diesen Befund auch tatsächlich an poetologische Konzeptionen Flauberts zurückzubinden und dem Kapitel eine Einleitung über Flauberts Haltungen zu vitalistischen Diskursen voranzustellen. Obwohl hier offenbar ein Bruch in den vitalistischen Diskursen herrscht, problematisiert Stöber diese Sonderstellung, die Flaubert offensichtlich unter den von ihm gewählten Autoren einnimmt, nicht. Möglicherweise wäre Flauberts Absage an romantische, affektgebundene Poetologien mit einer Dekonstruktion des Vitalen verrechenbar gewesen.

Die Besprechung des Zola-Romans L'Assommoir ist dann wieder sehr aufschlussreich für die Modellierung vitalistischer Energetik. Stöber stellt einleuchtend dar, wie die 'sauvagerie' bei Zola zur Norm der menschlichen Natur wird (wofür paradigmatisch auf die "Bête humaine" verwiesen wird). Für den Roman L'Assommoir konstatiert Stöber eine Inversion der vitalistischen Energetik: das delirium tremens des alkoholisierten Coupeau wird zu einem Fest pathologischer Energien; die vitalistische Energie wird in ihrer Zerstörungskraft zum Faszinosum stilisiert. An dem Festmahl der Protagonistin Gervaise stellt Stöber dar, wie durch den Rückgriff auf die Umgangssprache, der "langue verte", und über die Kontamination der Erzählerrede durch die Figurenrede eine entsprechend hypertrophe écriture entsteht. Das Vitale erscheint hier in seiner pathologischen und monströsen Gewalttätigkeit, womit Stöber seine Ausgangsthese bestätigt, dass es zwischen Balzac und Zola in der Ausgestaltung vitalistischer Transgression eine Verschiebung von einer euphorischen Entgrenzung zu einem gewalttätigen Exzess gibt; sein Argumentationsgang ist hiermit beschlossen.




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In einem Schlusskapitel bringt Stöber das vitalistische Denken des französischen Romans der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Kontinuität zur Lebensphilosophie (Bataille, Bergson) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während Bergson in seiner Évolution créatrice von einem schöpferischen Potential des élan vital ausgeht, betont Bataille im Gegensatz dazu den gewaltsamen Charakter des Vitalistischen und stellt die Transgression in den Horizont des Todes. Dies veranlasst Stöber dazu, mit dem Blick des 20. Jahrhunderts zurück auf das 19. Jahrhundert eine mortalistische Perspektive zu eröffnen. Diese Schleife in seiner Argumentation ist nicht nur als Ausblick auf weitere mögliche Fragestellungen zum Vitalismus im 19. Jahrhundert zu verstehen, sondern bietet Stöber auch die Möglichkeit, den Flaubert-Roman Salammbô, auf den die vitalistische Perspektive sicherlich am wenigsten anwendbar war, aus der Sicht des Mortalismus neu zu perspektivieren. Leider gelingt diese Argumentationsschleife nur bedingt, deckt sie doch ein Problem auf, das in Stöbers Studie von Beginn an angelegt ist. Denn die These, dass die literarischen Texte eine euphorische Transgressivität ausschreiben, weist einen blinden Punkt auf: Stöber vermeidet es, die Konfiguration zwischen Biologie und Literatur weiter zu vertiefen, um es bei dem ebenso einschlägigen – für die Literaturwissenschaft günstigen – wie doch letztlich relativ pauschalen Befund des Komplementärverhältnisses zwischen beiden Diskursen zu belassen. Es wird nicht weiter berücksichtigt, dass Biologie und Medizin Strategien ausprägen, um das Wilde wieder diskursiv zu binden und der normierenden Kontrolle zugänglich zu machen, so dass man eine Antwort auf die folgenden Fragen in Stöbers Studie vergeblich sucht: In Bezug auf welche Norm findet die Transgression statt? Welche neuen Begrenzungen seitens der Biologie und der Medizin werden in der neuen Episteme des Lebens eingerichtet, um das Vitale zu begrenzen? Welcher Preis ist für die Entlassung des Vitalen aus der taxinomischen Ordnung zu bezahlen? Ist die vitalistische Transgression ungebrochen euphorisch? Der blinde Fleck besteht darin, dass der Vitalismus vornehmlich in seiner euphorisch-exuberanten Version aufgefasst wird. Die Kehrseite des Vitalismus, der Mortalismus, der die euphorische Transgression begrenzt, wird nur ansatzweise für Zolas Gewaltdarstellungen berücksichtigt. Um die enge Verstrickung des Vitalismus mit dem Mortalismus aufzudecken, hätte Stöber nicht erst bei Bataille ansetzen müssen; denn dass der Vitalismus auf der Kehrseite auch immer mit einem Verlust oder eine Ökonomie des Mangels einhergeht und dass das Transgressive leicht ins Pathologische umschlagen kann, hätte man schon mit Bichat belegen und für Balzac ausführen können.

Es wird außerdem nicht berücksichtigt, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des Wissenschaftsgefüges die Prämissen hinsichtlich des Vitalismus verschieben. Um die Mitte des Jahrhunderts wird der Vitalismus von experimentellen Methoden und einer Neuorientierung der Physiologie an physikalischen Theorien verdrängt; mit dieser Konstellation setzt sich, wie man vermuten muss, auch die literarische Darstellung von vitalistischer 'sauvagerie' auseinander. Möglicherweise zeichnet sich schon in Flauberts Roman Salammbô ab, dass der Vitalismus einen anderen Stellenwert im Wissensgefüge einnimmt und dass Flauberts Stil sich gerade durch die Eindämmung von Gefühlsströmen charakterisiert.




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Im Anschluss an Stöbers Studie lassen sich in diesem Zuge viele weiterführende Fragen aufwerfen, die hier nicht im Fokus standen: Was passiert, wenn Mitte des Jahrhunderts im Zuge einer neuen Physiologie der Vitalismus wissenschaftlich obsolet wird und die Experimentalmedizin eines Claude Bernard den Menschen zum Wissensgegenstand macht, der geregelten Determinismen unterliegt? Muss nicht Zolas Vitalismus in einer Spannung zu seinem Projekt des "roman expérimental" stehen? Wie verhält sich der Vitalismus außerdem zu den dégénérescence-Diskursen und der dort bezeugten Angst vor der restlosen energetischen Verausgabung der 'race'? Was sagt es über den Stellenwert des Vitalismus aus, dass in dem Roman La Bête humaine – der paradigmatisch immer wieder anzitiert wird, um die Präsenz der 'sauvagerie' im naturalistischen Roman zu plausibilisieren – die 'sauvagerie' mit technizistischen Maschinenmetaphern überformt wird? Welches Verhältnis besteht zwischen der Transgression und dem Pathologischen? Wird nicht gerade die transgressive Energetisierung zusehends Bestandteil eines pathologisierenden Frauenbildes?

Trotz aller Einwände hat Stöber eine bereichernde Monographie vorgelegt, die auch an ihrer Inspirationsleistung gemessen werden wird. Dass sie anregend ist und anschließbare Studien verlangt, hat sich jüngst in der Sektion 2 des Augsburger Frankoromanistentages 2008 erwiesen ("Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen"). Die dort geführten Diskussionen um die neuen Lebensdiskurse konnten sich wiederholt auf Stöbers Studie berufen und auf dieser Grundlage die Formierung eines nunmehr philosophischen und nationalen Vitalismus bis ins 20. Jahrhundert weiterverfolgen und ausdifferenzieren.