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Martina Stemberger (Wien)



Eurasische Phantasmagorien oder Im Spiegelkabinett der Identitäten: Andreï Makines Au temps du fleuve Amour



 

Les autres nous font vivre dans des mondes surprenants. Et nous y vivons, ils viennent nous rencontrer là-bas, ils parlent à ces doubles qu'ils ont eux-mêmes inventés. En fait nous ne nous rencontrons jamais dans cette vie.(Makine 1998: 53)

 

Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. (Foucault 2005: 935)

Eurasian Phantasmagorias or In a Mirror Room of Identities: Andreï Makine's Au temps du fleuve Amour
Andreï Makine's novel Au temps du fleuve Amour (1994), ironic requiem of the Cold War period, abounds in strongly stereotyped representations of the Soviet Union and a highly idealized, essentially French Occident. Between the 'magic' of French language with its codes of amour and the Siberian river Amour, it unfolds its Eurasian phantasmagorias. But just the systematic over-fulfilling of stereotypical patterns undermines them from within, destabilizing the binary organisation of a world divided into East and West along an imaginary border. Makine's texts often seem to match perfectly the expectations of a French-identified audience, confirming nostalgic auto-stereotypes from the perspective of the desiring 'other'. This essay deals also with the strategies by which this novel involves its – imaginary and real – audience in its 'mirror game' of identities. Amour might be conceived as a narrative 'trap' for Occidental readers, flattered into narcissistic self-admiration, then forced to assist to the final disillusion, the 'Occident' as well as cliché-conformed 'Russia' being unmasked as mere phantasms, produced by a literary conjuring trick.



1 Einleitung: Stereotype (De)Konstruktionen

Andreï Makines Roman Au temps du fleuve Amour, erschienen im Jahr 1994, bietet zweifellos ein hochgradig stereotypisiertes Bild der Sowjetunion und eines vor allem französischen Okzidents, der bis an die Kitschgrenze und nicht selten darüber hinaus idealisiert wird. Makines großer Erfolg sowohl bei der französischen Kritik als auch beim breiten Publikum mag als charakteristisches Symptom einer Renaissance traditioneller Stereotypien des 'Russischen' nach dem Ende der Sowjetunion gelten; Krauß bezeichnet sein ein Jahr nach Au temps du fleuve Amour erschienenes und mehrfach preisgekröntes Testament français als "le meilleur exemple de cette résurrection de stéréotypes" (Krauß 2007: 7), die sich der Suche nach Neu-Orientierung angesichts der veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verdankt. Makine wurde auch von russischer Seite für sein stereotypes, allzu geflissentlich für ein westliches Publikum adaptiertes Russland-Bild kritisiert (vgl. McCall 2006a: 167). Signifikant ist der Kommentar der russischen Schriftstellerin Tat'jana Tolstaja, die sich in Russkij čelovek na randevu mit Le testament français (1996 unter dem Titel Francuzskoe zaveščanie in russischer Übersetzung erschienen) auseinandersetzt. Tolstaja reflektiert mit einigem Zynismus die märchenhafte Geschichte Makines, dieses russischen "Aschenputtels" in Frankreich: Sie vergleicht den als Franzose "verkleideten" Autor mit einem "wandernden Zirkus-Artisten", der mit dem üblichen griffigen – und abgegriffenen – Repertoire (Sibirien, russischer Sex, Steppe; Stalin, Berija und Gulag, alles gleichermaßen aus "Pappe") in Frankreich Furore gemacht und alle "Jahrmarktpreise" gewonnen hat; sie wundert sich, dass die "naiven französischen Verleger" diesen "Kunststoffköder" ohne weiteres geschluckt haben (Tolstaja 1998; zu Tolstajas Makine-Interpretation vgl. auch Kasper 1999: 54f.).1




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Doch Makines Cliché-Recycling gerät nicht selten selbst-reflexiv bzw. selbst-dekonstruktiv. Immer wieder werden russisch-okzidentale Stereotypien spielerisch demontiert, so die "slawische Seele" und der "seelenlose Okzident": "'[…] Un pays en perdition, mais quelle aptitude au bonheur! En Occident, on aurait…' Abêti par la gaieté, j'allais poursuivre mon analyse comparée de l'âme slave et de l'Occident sans âme quand soudain le bonheur trouva son expression parfaite […]" (Makine 2003: 26). Auch in Au temps du fleuve Amour funktioniert die Renaissance des Russland-Clichés nicht ungebrochen: klassische, längst trivialisierte Stereotypien werden hier fast systematisch 'übererfüllt', doch die naive Exotisierung Russlands aus einer ebenso naiv 'okzidentalen' Perspektive, das florierende Geschäft mit postmodernen 'Kolonialwaren' wie dem "charme slave" wird zugleich ironisiert: "On voit […] beaucoup d'Occidentaux venus goûter du charme slave aux chandelles. […] Oui, en effet, la machine marche bien, me dis-je en pensée. Sacha sait à quel moment il faut servir du charme slave… […]" (Amour 254ff.).

Clément erklärt zu Recht, Makines Werk sei nicht, wie in der Literaturkritik oft geschehen, auf "le thème de la scission et la rencontre Russie-Occident avec celui de la nostalgie pour le pays natal et l'enfance" (Clément 2008: 9) zu reduzieren. Diese Analyse möchte unter anderem zeigen, wie Makines Werk selbst, indem es virtuos mit stereotypen (De)Konstruktionen experimentiert, diese Kategorien, "les limites politico-géoculturelles dans lesquelles les critiques essaient souvent de la confiner" (ebd.: 10), sprengt. Doch der Reiz von Makines Texten für ein französisches – professionelles wie populäres – Publikum besteht offenbar nicht unwesentlich darin, dass sie von einem Nicht-Franzosen geschrieben wurden, dass die Idealisierung alles Französischen aus einer vermeintlich objektiven, des Chauvinismus unverdächtigen (vgl. Porra 2007: 25) Außenperspektive erfolgt.




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Makines literarische Karriere in Frankreich gestaltete sich von Anfang an zum komplexen interkulturellen Versteck- und Verwirrspiel. Sein erster Roman (La fille d'un héros de l'Union soviétique, 1990), den kein Verlag als französisches Originalwerk eines "drôle de Russe qui se mettait à écrire en français" (Makine 1995: 282) akzeptieren wollte, erschien schließlich als "pseudo-traduction" aus dem Russischen (Gourg 1998: 231), sorgfältig mit entsprechenden (Pseudo)Indizien der 'Authentizität' versehen.2 Doch während Gourg an diesem raffiniert mit dem Exotik-Bedarf des französischen Publikums und dem politisch bedingten aktuellen Interesse "in things Russian" (McCall 2006b: 290) kalkulierenden Literatur-Marketing vor allem den Aspekt der Identitätsverleugnung, der Unterwerfung unter das "Marktdiktat" betont (Gourg 1998: 231), wäre vielleicht auch der Aspekt der subversiven Unterwanderung dieses Diktats zu sehen.3 Der Autor, der sich bereitwillig selbst 'exotisiert', lässt französische Verleger und in weiterer Folge das französische Publikum in seine 'Falle' gehen, um sie in einem späteren Roman darüber aufzuklären: Die Geschichte dieser "mystification littéraire pure et simple" (Makine 1995: 282) wird en abyme in Le testament français reflektiert, mit dem Makine den französischen Markt endgültig eroberte (mehr als eine Million verkaufte Exemplare in Frankreich, vgl. Tautz 2007: 75).4 Auch in La terre et le ciel de Jacques Dorme schildert Makines Ich-Erzähler ausführlich seine schwierigen Anfänge im französischen Literaturbetrieb (Makine 2003: 35ff.). Makine – als noch völlig unbekannter Autor nicht-französischer Herkunft mit minimalen Publikationschancen – arbeitet sich auf Umwegen zu seinen französischen Lesern vor: Die Pseudo-Übersetzung La fille d'un héros de l'Union soviétique operiert mit signifikanten Strategien 'indirekter' Adressierung. Gerade die zahlreichen, für ein französisches Publikum 'maßgeschneiderten' Fußnoten der fiktiven Übersetzerin spiegeln vor, dass der Text sich ursprünglich eben nicht an dieses Publikum richtete (vgl. McCall 2006b: 287ff.).

Wie Lotman in Tekst i struktura auditorii erläutert, enthalten Texte immer schon das Bild ihres imaginären Auditoriums, das als eine Art "normierender Code" das reale Auditorium beeinflusst (Lotman 2002b: 169). In literarischen Texten, in denen die Orientierung auf ein bestimmtes Auditorium nicht mehr 'automatisch' vorgegeben ist, wird der "obraz auditorii" selbst Teil des künstlerischen Verfahrens (ebd.: 171), wie jene Pseudo-Übersetzung überzeugend demonstriert. Makines spätere Texte sind direkt und unmissverständlich auf ein französisches Publikum hin orientiert: "[…] their references to a French cultural capital indicate clearly that their primary readership of these novels is that of their adopted country" (McCall 2006a: 168, über Makine und Dai Sijie). Wie französisch, ja hyper-französisch Makines "obraz auditorii" ist, wird auch ex negativo dadurch klar, dass russische – auch 'professionelle' und selbst west-erfahrene – LeserInnen sich damit offensichtlich nicht identifizieren können bzw. wollen. Nach Ansicht der bereits zitierten Tat'jana Tolstaja ist Makine zwar "ein Russe, aber kein russischer Schriftsteller"; er schreibe nicht "für die Russen (für sich)", sondern "für die Franzosen (für 'sie')", er beschreibe Russland so, wie ein "imaginärer Franzose" dies tun würde (Tolstaja 1998); Makines Werke wären also nicht nur (vor allem, wenn nicht exklusiv) für Franzosen, sondern auch von einem Autor, der sich selbst konsequent als Franzose (re)imaginiert, geschrieben.




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Diese doppelt 'franzisierten' Texte enthalten nun ein sehr verführerisches Bild eines 'okzidentalen' bzw. 'französischen' Auditoriums; Makine macht seinem Publikum ein verlockendes Identifikations-Angebot, das dem eigenen Werk angemessene Nachfrage sichern soll (und offenkundig kann). Das von Makines Texten vermittelte Frankreich-Bild entspricht anscheinend meist ziemlich genau dem nostalgischen (Selbst)Idealisierungsbedürfnis einer französischen bzw. französisch identifizierten Leserschaft – aller Altersgruppen: für Le testament français erhielt Makine nicht nur den 'erwachsenen' Prix Goncourt und den Prix Médicis (ex aequo), sondern auch den Goncourt des Lycéens; ein tschechischer Austauschschüler, Gast-Mitglied der Jury des Gymnasial-Goncourt, bemerkte zu dieser Wahl, die "fierté nationale", die seine französischen Kollegen bei der Lektüre Makines empfunden hätten, sei unübersehbar gewesen (vgl. Marin La Meslée 1995).5 Nach diesem franko-russischen Bestseller, "un succès médiatique sans précédent" (Porra 2007: 25), der freilich auch kaum mehr zu erfüllende, geschweige denn zu übertreffende Erwartungen an den Autor generierte, wurde Makines nächster Roman, Le crime d'Olga Arbélina (1998), allerdings von einem Teil der französischen Kritik attackiert; nach Porra vor allem deshalb, weil dieser Text den "domaine de la célébration française" verlässt und eine "identité culturelle et esthétique totalement russe ou tout au moins identifiée comme telle par l'imaginaire français" revalorisiert (ebd.: 27). Porra konstatiert weiter, dass Makine in seinen nächsten Werken offenbar gezielt versuchte, an die 'Erfolgsrezepte' von Le testament français, d.h. an jene Aspekte, die von der damals euphorisierten französischen Kritik besonders hervorgehoben worden waren und im Übrigen klassische "Lieblingsthemen" des französischen Konservativismus darstellen (das französische kulturelle Erbe, die Magie der französischen Sprache etc.), anzuknüpfen (ebd.: 28). Während Requiem pour l'Est (2000) in noch relativ "diskreter" Form diese Themen wieder aufnimmt, werden sie in La terre et le ciel de Jacques Dorme (2003) mit seinem prononciert kultur-konservativen Erzähler weiter intensiviert. In diesem Roman, Makines "most negative portrayal of France to date" (McCall 2005a: 316), wird ein glorifiziertes Frankreich der Vergangenheit systematisch mit dem dekadenten Frankreich der Gegenwart kontrastiert: "Makine is not critical of what France was, but of what it has become" (ebd.: 314). Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die strategische 'Einschreibung' Makines in französische Traditions- und Dekadenz-Diskurse mit dem – vor allem von der konservativen Kritik mit Begeisterung zitierten (vgl. Tautz 2007: 80) – Essay Cette France qu'on oublie d'aimer (2006). Porra, die zwischen "Littératures francophones postcoloniales" und "Littératures de la migration (auteurs originaires d'espaces non francophones)" unterscheidet, wobei sie bei ersteren den Aspekt der "Subversion, contestation" betont, während letztere sich durch "Orthodoxie, adhésion" und nicht zuletzt durch ihren "académisme linguistique" auszeichnen – kurz: "Writing Back" vs. "Writing In" (Porra 2007: 24) –, charakterisiert Makine als "paradigmatischen" Autor der zweiten Kategorie (ebd.: 25). Doch hinter der 'Orthodoxie' lauert eventuell doch wieder die 'Subversion'; der 'Musterschüler' des französischen Literaturbetriebs, der seine Lektion nach medialem Hype, temporärem Misserfolg und erfolgreicher Rehabilitation nur allzu gut gelernt hat, mittlerweile als höchst kompetenter Stratege im französischen literarischen Feld agiert und der französischen Kultur routiniert seine Reverenz erweist, wird womöglich zur subversiven Instanz (halb) wider Willen.




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In diesem Kontext ist Au temps du fleuve Amour von besonderem Interesse; dieser Roman erschien, wie gesagt, ein Jahr vor dem Bestseller Le testament français, kurz bevor Makine zur exotischen 'Persona' der französischen Literaturszene wurde – und im Jahr 1996 auch zum französischen Staatsbürger, wenngleich er sich weiterhin zum 'Fremden' in Frankreich stilisiert (vgl. Porra 2007: 29). Es scheint in vieler Hinsicht aufschlussreich, diesen zu bzw. knapp vor Beginn seiner eigentlichen literarischen Karriere publizierten und – nach den (pseudo)translatorischen Abenteuern rund um La fille d'un héros de l'Union soviétique und auch noch Confession d'un porte-drapeau déchu (1992) – ersten von vornherein 'offiziell' auf Französisch verfassten und direkt an ein französisches Publikum adressierten Roman mit späteren Texten 'gegenzulesen', anhand einzelner signifikanter Motive auf Kontinuitäten und Brüche in der Repräsentation Russlands und Frankreichs, aber auch in der Konstruktion von Autor-, Erzähler- und Leser-Positionen zu untersuchen.

Auf den ersten Blick bietet auch Au temps du fleuve Amour seinen westlichen Lesern im Wesentlichen eine ästhetisch überhöhte Version ihrer Auto- und Hetero-Stereotype an, erzählt ihnen mehr oder weniger das über Russland und über sie selbst, was sie immer schon hören wollten, immer schon gewusst haben und allenfalls etwas weniger elaboriert formuliert hätten:

Makine schreibt also bewusst für französisches Publikum […]. Indem er lediglich die bereits vorhandenen Kenntnisse des französischen Lesers bestätigt, möchte er diesem nicht etwa Russland nahe bringen, sondern vielmehr ordnet er sich selbst in die französische Gesellschaft ein und beginnt eine neue Existenz als französischer Schriftsteller. […] Andreï Makine stellt Russland französischem Geschmack entsprechend schwarz-weiß dar. (Krauß 2005: 326, über Le testament français)

Mit dieser literarischen Schwarz-Weiß-Malerei lockt schon Au temps du fleuve Amour seine westlichen Leser aber auch geschickt in die Falle narzisstischer Selbstbespiegelung; wie Le testament français stellt auch dieser Text "a complimentary mirror for this target readership" (McCall 2005a: 311) zur Verfügung – bis schließlich der idealisierte 'Okzident' ebenso wie das clichékonform exotisierte 'Russland' als Illusion, als bloßes Phantasma entlarvt wird.

Der Text erscheint als ein einziges großes "reflexives und strategisches" Spiel mit dem russischen Blick auf den Westen und dem westlichen Blick auf Russland:

Dabei wissen auch die Russen seit langem gut genug, was für eine Wirkung ihr Land auf das westliche Ausland ausübt – und spielen ganz bewußt mit diesem Effekt. Der russische Kulturschaffende der letzten hundertfünfzig Jahre gleicht einem afrikanischen Häuptling, der eine kubistische Kunstausstellung besucht hat, oder Ödipus, der bei Freud über den Ödipus-Komplex nachgelesen hat: Er geht reflexiv und strategisch mit dem Blick des westlichen Betrachters um, der auf ihn gerichtet wird. Dieser Blick erreicht das 'Eigentliche' der russischen Kultur nicht, weil er nicht richtig fokussiert ist, sondern weil diese Kultur nichts anderes als Spiel mit diesem westlichen Blick ist. (Groys 1995: 11)




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Die Leserposition selbst wird im Sinne Lotmans Teil des literarischen Verfahrens, die Lesenden müssen an diesem narrativen Experiment und der finalen (Selbst)Demaskierung direkt teilhaben, direkter, als wenn sie 'von außen', aus der sicheren Position des unbeteiligten Beobachters, der nachträglich unweigerlich Recht gehabt und Bescheid gewusst haben wird, einer kritischen Reflexion über Vorurteile, über die wechselseitigen Stereotypisierungen Russlands und des Westens beigewohnt hätten. Dieser franko-russische Text manipuliert sein 'okzidentales' Auditorium möglicherweise sehr elegant, indem er ihm ein allzu verlockendes Selbstbild anbietet – mit einer gewissen Dosis von Ironie, gerade groß genug, um die Manöver der Verführung nicht allzu transparent und damit verdächtig werden zu lassen; die Lesenden, der raffinierten Einladung des Textes folgend, nehmen bereitwillig die für sie vorgesehene Position in Makines literarischem Spiegelkabinett ein. In gewissem Sinn wäre Au temps du fleuve Amour also sogar auf (mindestens) zwei unterschiedliche imaginäre Auditorien orientiert, wobei die einzelne Leserin auch eine Doppelrolle spielen kann – oder soll (Lotman beschreibt auch das Phänomen der gleichzeitigen Orientierung eines Textes auf zwei unterschiedliche Auditorien, die einander in ihrer Funktion gegenseitig bestätigen; vgl. Lotman 2002b: 173): ein Auditorium, das sich naiv auf die 'okzidentale' Position, die der Text bietet, einlässt, sich in dem bewundernden und begehrenden 'russischen' Blick spiegelt – und ein anderes, das diesem ersten Auditorium bzw. sich selbst dabei zusieht, wie es in die 'Falle' des Textes gerät.


2 La profondeur trompeuse du miroir oder West-Östliche Verwirrungen

Dieser Roman erscheint als (inter)textueller Raum der "Spiegelreflexe, die – faktisch richtig oder falsch – das Selbstbild aus Fremdbildern und das Fremdbild aus Selbstbildern projizieren" (Hansen-Löve 1998 / 99: 168), als Spiegelkabinett der Identitäten, in dem Russland- wie Europabilder als reflektorische Phänomene sichtbar werden:

Parallel und – wie mir scheint – komplementär zu den internen und externen Rußlandbildern entfalteten sich die Europabilder in Rußland. Diese können eben nur konterdependent gesehen werden zu ihrem jeweiligen Vis-à-Vis, sind also jeweils für sich genommen kaum verifizierbar. Aber dazu waren und sind sie ja auch nicht da. (Hansen-Löve 1998 / 99: 177)

Makines Text, dessen Erzähler – wie auch der Autor selbst: hier ist nicht nur das Bild des Auditoriums, sondern auch das Bild des Autors wichtiger Bestandteil der literarischen Inszenierung – sich ironisch-sentimental zum 'Russen' stilisiert, spielt mit dem okzidentalen Blick auf Russland, mit dem russischen Blick auf den okzidentalen Blick auf Russland – und so weiter in einer potentiell unendlichen Zirkulation stereotyper Reflexionen, in denen das Fremd- zum Selbstbild und das Selbst- wieder zum Fremdbild wird. Okzidentale Russland-Clichés wurden bzw. werden in Russland oft genug bereitwillig übernommen (vgl. Hansen-Löve 1998 / 99: 172f.); der Westen reimportiert das eigene Hetero- als russisches Auto-Stereotyp und kann sich zu dessen Affirmation nun schon auf entsprechende russische Autoritäten berufen. Derartige paradoxe Autorisierungen (wenn etwa russische Aussagen über die angebliche Irrationalität aller 'Russen' als rationales Argument zitiert werden6) finden sich sehr häufig in französischen Russland-Diskursen, in denen geradezu exemplarisch die diskursive Konstruktion einer für die eigene Identität konstitutiven Alterität demonstriert wird. Auch bei Makine dient Russland nicht zuletzt dazu, kontrastiv ein mehr oder weniger idealisiertes französisches Selbstbild zu bestätigen, indem es "die Funktion des Gegenpols zu Frankreich übernimmt" (Krauß 2005: 324). Erst im Vergleich mit und im Gegensatz zu 'Russen' werden Franzosen so richtig zu 'Franzosen'; in Le crime d'Olga Arbélina schildert Makine einen Apotheker, der so lange in einem russisch dominierten Umfeld gelebt hat, dass ihm seine permanente hyper-französische Selbststilisierung mittlerweile zur zweiten Natur geworden ist; er kann nicht mehr aufhören, die Rolle eines "Français par excellence" (Makine 1998: 81) zu spielen.7




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Au temps du fleuve Amour reflektiert Russlands ambivalente Sehnsucht nach dem Okzident, die hier in eine lange Geschichte eingeschrieben wird. Die ost-westliche Grenzerfahrung, die initiatorische Reise der drei jungen sowjetischen Protagonisten folgt den Spuren der Kosaken des Zarenreichs, der russischen 'Eroberer' Sibiriens – wenn auch mit modernen Verkehrsmitteln – bis nach Vladivostok, an jenen extremen Punkt, an dem der Osten, buchstäblich beherrscht, wieder in den Westen kippt; wie ihre historischen Vorgänger sind auch sie "enttäuschte Liebhaber", die einen Okzident, der sie im Westen zurückweist, auf Umwegen doch noch zu 'erobern' hoffen: "À l'ouest, l'Europe avait marqué des bornes infranchissables en rejetant pour toujours la Moscovie barbare. Ils s'étaient donc rués vers l'est. En espérant rejoindre l'Occident par l'autre bout? Ruse d'un admirateur négligé? Astuce d'un amoureux banni?" (Amour 20). Der Okzident wird heimlich durch die Hintertür betreten, wobei sich Makine die aus klassisch eurozentrischer Perspektive oft ignorierte Tatsache zunutze macht, dass weit im Osten irgendwo wieder der Westen beginnt:8

Ne pouvant pas atteindre l'Occident de nos rêves, nous avions rusé. Nous avions marché vers l'est, jusqu'à sa limite extrême. Oui, jusqu'à cet Extrême-Orient, où l'est et l'ouest se rencontrent dans l'abîme brumeux de l'océan. […] C'est ainsi que, feignant de fuir l'Occident inaccessible, nous nous retrouvâmes dans son dos. (Amour 176f.)

Der sowjetische Ferne Osten wird unvermutet zum äußersten Westen des Okzidents (Amour 195); diese geophantasmatische "Kippfigur" (Hansen-Löve 1998 / 99: 179) destabilisiert schließlich auch die in westeuropäischen Russland-Diskursen obsessiv immer wieder neu gezogene 'eigentliche' Grenze zwischen Russland und dem Okzident im Westen. In Sovremennost' meždu Vostokom i Zapadom stellt Lotman diesbezüglich aufschlussreiche Überlegungen über 'mythologische' und 'reale' Geographie an: Osten und Westen fungieren nach Lotman in der kulturellen Geographie Russlands als "gesättigte Symbole" (Lotman 2002c: 746), die sich zwar auf die geographische Realität stützen, aber de facto "imperativ" über diese herrschen. Lotman weist auf die extreme Beweglichkeit der Dichotomie Osten / Westen hin – und, Heine variierend, auch darauf, dass diese dynamische Grenze mitten durch Russland verläuft: "[…] wenn die Welt sich in Osten und Westen spaltet, geht der Riss durch das Herz der russischen Kultur" (ebd.: 748). Russland wird selbst zum Grenzraum, den Europa und Asien einander von innen her streitig machen:

Die kulturelle Lage Rußlands ist paradox: Es liegt im Osten des geographischen Europas, doch eigentlich entweder in Asien oder in einem gesonderten Raum zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost. […] So würde Rußland zum Grenz-Land, d.h. die Grenze wäre in Rußland allgegenwärtig, an jedem beliebigen Punkt des Landes. (Ryklin 1998 / 99: 161)

In Au temps du fleuve Amour erfolgt erst später, nachdem die Grenze zwischen Russland und dem Westen auf jenem fernöstlichen Umweg 'hintergangen' wurde, die Grenzüberschreitung in konventioneller Richtung – über Petersburg / Leningrad, das bewährte 'Fenster' Russlands nach Europa.9




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Dieser Roman – 1994 erschienen, geschrieben in einer politischen Auf- und Umbruchphase, da das 'Schisma' zwischen Russland und Europa (vgl. Nivat 1993) endlich Geschichte zu werden versprach, spielt zur Zeit des Kalten Krieges: er problematisiert nachträglich jene binär organisierte, säuberlich in 'Ost' und 'West' geteilte Welt. Er zeigt die Bruchlinien auf, die zurückführen in die Vergangenheit, die feinen Risse, die sich immer schon durch jenes pseudo-stabile System von zwei Parallelwelten gezogen haben. Eine Welt der klaren politischen Grenzen und eindeutigen ideologischen Gegnerschaften wird hier zum verwirrenden Spiegelkabinett; Makines Text ist insofern auch zu lesen als Kommentar zur Geschichte des Kalten Krieges, als ein ironisches Requiem auf eine Welt, die aus zwei (Gegen)Welten – mit dem Anhängsel einer 'Dritten Welt' – zu bestehen schien (Makines 'offizielles' Requiem pour l'Est erschien im Jahr 2000).

Makines Text reflektiert die gegenseitigen Projektionen radikal verschiedener Gesellschaften – und vor allem auch die Enttäuschung, die sich einstellt, sobald der jeweils Andere sich als gar nicht so anders erwiesen hat. Der Westen erfüllt bei Makine gerade in seiner vermeintlich totalen Alterität seine utopische Funktion; in Le testament français wird Frankreich konsequent als mythisches 'Atlantis' metaphorisiert und damit zeitlich / räumlich maximal verfremdet (Makine 1995: 26; dann leitmotivisch wiederholt). Der Okzident wird schon in Au temps du fleuve Amour imaginiert als alternative Welt, in der alles möglich ist, die nur dem paradoxen Gesetz der Gesetzlosigkeit gehorcht (Amour 109), die sich der trügerischen Sinn-, Zweck- und Ernsthaftigkeit des sowjetischen Lebens verweigert: "Nous redécouvrions l'Occident. Ce monde où l'on vivait sans se soucier de l'ombre lugubre des cimes ensoleillées. Le monde de l'exploit pour la beauté du geste"; (Amour 161). Der okzidentale acte gratuit erscheint als verführerischer Ausweg aus einer in ihrem hyper-ideologisierten Messianismus zusehends unerträglichen sowjetischen Realität, die die Gegenwart im Namen einer ungewissen Zukunft zum Verschwinden bringt:

Le monde dans lequel nous vivions reposait sur la finalité écrasante de l'avenir radieux. […] Mais vint Belmondo avec ses exploits pour rien, avec ses performances sans but, son héroïsme gratuit. […] Sans aucune arrière-pensée messianique, idéologique ou futuriste. Désormais, nous savions que ce fabuleux en-soi s'appelait 'Occident'. (Amour 129)

Die Initiation in die okzidentale Philosophie des l'art pour l'art findet im Kino statt: ein paar französische Filme beschwören in Sibirien eine schöne neue Welt herauf. Mit 'Belmondo' – dieser Name allein transportiert in diesem Text schon eine ganze okzidentale Utopie10 – beginnt in Sibirien ein neues Leben; die Kinoséance wird zum fast täglichen Ritual (Amour 117ff.), das der eigenen Existenz ungekannte, beinahe surreale Intensität verleiht. Der Kinosaal des Octobre rouge, faszinierendes "entre-deux-mondes", funktioniert als Heterotopie im Sinne Foucaults11 – Heterotopien stiften einen "zugleich mythischen und realen Gegensatz zu dem Raum, in dem wir leben" (Foucault 2005: 936); sie "besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen" (ebd.: 938). Die sibirischen Bewohner dieser kinematographischen Zwischenwelt übernehmen nicht nur bestimmte Posen und Formulierungen aus den Belmondo-Filmen, die sie mittlerweile auswendig können; sie werden durch diese filmische 'Leseanleitung' auch in Stand gesetzt, die eigene Realität neu wahrzunehmen – 'Russland auf Französisch zu sehen', wie es in Le testament français heißt: "Je voyais la Russie en français!" (Makine 1995: 51). Es gibt jetzt plötzlich Wörter für längst Vorhandenes, das bisher nicht – zumindest nicht als relevant – erkannt und benannt werden konnte. Gesichter und Körper werden im kinematographischen Spiegelkabinett neu beleuchtet:




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Et plus j'examinais son profil dans la lumière changeante et multicolore de l'écran, plus un étrange air de ressemblance se dégageait de ses traits. […] Ahuri et n'osant pas croire à mon intuition, je regardai l'écran. […] Je me tournai vers mon voisin. Puis vers l'écran. Et de nouveau vers l'homme en peau d'ours... Oui, c'était bien lui... La magie n'a pas d'explications. Aussi n'essayai-je pas de comprendre. Je restai dans un étrange entre-deux-mondes, entre ces deux visages parfaitement semblables réunis dans le matras d'alchimiste qu'était devenue la salle obscure de L'Octobre rouge. (Amour 126f.)

Im Spiegel Belmondos erkennen die heranwachsenden Protagonisten sich endlich selbst: "[…] il s'assit devant un miroir et se dévisagea longuement. […] Il lança un clin d'œil amical à celui qui le regardait dans le miroir. Il l'avait reconnu. Il s'était reconnu… Jamais notre fabuleux Occident ne lui avait paru aussi proche!" (Amour 143). Kinematographische Selbst-Erkenntnis auf Umwegen: Belmondo hat seine Rolle als "Identifikationsfigur" (Schmitt 2007: 113ff.), als "Initiationshelfer" (ebd.: 117ff.) und als "Kulturvermittler" (ebd.: 121ff.) erfüllt. McCall weist dabei zu Recht darauf hin, dass der – seinerseits nicht immer unproblematische – ideologische Gehalt der fraglos als überlegen und nachahmenswert akzeptierten westlichen (Populär)Kultur, die als Kontrastfolie die kritische Distanzierung von der offiziellen sowjetischen Ideologie erlaubt, hier systematisch ignoriert wird (McCall 2006a: 163f.), wobei dieser zunächst noch völlig unkritische Enthusiasmus in Au temps du fleuve Amour freilich der Perspektive der jugendlichen Protagonisten entspricht und narrativ insofern durchaus konsequent ist. McCall äußert in diesem Zusammenhang auch die Vermutung, dass der Autor in diesem noch relativ frühen Stadium seiner literarischen Karriere Kritik an seiner neuen Heimat Frankreich gezielt vermeidet (ebd.: 161), während er sich in seinen späteren Werken frankreich-kritischer zeigt: "There is a distinct evolution in Makine's attitude towards France in his fiction […] in his later works, Makine is more overtly critical of his 'pays d'accueil'" (ebd.: 169) – wobei die Kritik am 'realen' Frankreich allerdings im Namen eines 'idealen' (bzw. "virtuellen", McCall 2005a: 318), von den Franzosen selbst vernachlässigten, ja verratenen Frankreich artikuliert wird: "La France est haïe car les Français l'ont laissée se vider de sa substance, se transformer en un simple territoire de peuplement, en un petit bout d'Eurasie mondialisée" (Makine 2006: 99, zit. in Porra 2007: 30).




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Wie hinzuzufügen wäre, wird in späteren Werken Makines auch die in Au temps du fleuve Amour noch quasi-exklusive Identifikation 'Okzident = Frankreich' (vgl. Gourg 1998: 232) ansatzweise relativiert, auch wenn Frankreich der 'Okzident' in seiner prototypischen Form bleibt. So erscheint etwa in La femme qui attendait ein amerikanischer Journalist im Milieu der Leningrader Dissidenten als "l'incarnation suprême de l'Occident rêvé" (Makine 2004: 30), Regisseur und Richter der kulturellen Inszenierung, unter dessen strengem Blick die Einheimischen verkrampft versuchen, mehr oder weniger glaubwürdige 'Westler' darzustellen: "Médiocres acteurs, nous jouions à l'Occident et lui, en metteur en scène (un vrai Stanislavski!), nous jaugeait, prêt à lancer le célèbre et terrible verdict: 'Je n'y crois pas!' Et c'eût été juste, nous étions des Occidentaux peu crédibles, cette nuit-là" (ebd.: 31).

Bei der Dekonstruktion einer binär organisierten Welt kommt Frankreich in Au temps du fleuve Amour jedenfalls noch eine besondere Rolle zu. Die Glorifikation alles Französischen dient vor allem der Inszenierung eines alternativen Okzidents, der Sprengung des vermeintlich homogenen 'Westblocks', der Entdeckung der inneren Komplexität einer zunächst unerreichbaren westlichen Welt. Frankreich wird als 'dritter Raum' ins Spiel der Identitäten gebracht, in dem politische und kulturelle Symbole wieder in Bewegung versetzt werden:

Das Dazwischentreten des Dritten Raumes der Äußerung, das die Struktur von Bedeutung und Referenz zu einem ambivalenten Prozeß macht, zerstört diesen Spiegel der Repräsentation, der kulturelles Wissen gemeinhin als integrierten, offenen, sich ausdehnenden Code zeigt. […] Eben jener Dritte Raum konstituiert, obwohl "in sich" nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können. (Bhabha 2000: 56f.)

Frankreich erfüllt hier die Funktion "eines dritten Repräsentationsraumes" (Bhabha 2000: 330); es verspricht einen Ausweg aus der erstarrten Ost / West-Dichotomie und ermöglicht damit auch eine kulturelle / persönliche 'Entwicklung' anstatt einer 'Explosion'. Makines Text scheint insofern Lotmans kultursemiotische Theorie des 'vzryv' und seine Reflexionen über die spezifische Rolle 'dualer Modelle' in der russischen Kultur, die traditionell von Antithesen wie Neues / Altes, Russland / Westen strukturiert sei, zu illustrieren. Während Lotman in Rol' dual'nych modelej v dinamike russkoj kul'tury den zeitlichen Horizont seiner Untersuchung ausdrücklich mit dem Ende des 18. Jahrhunderts begrenzt (vgl. Lotman 2002a), stellt er in Kul'tura i vzryv den Konnex zur postsowjetischen Gegenwart her; er hält wiederum fest, dass die russische Kultur sich selbst "in Kategorien der Explosion" begreife (Lotman 2000a: 148). Die aktuelle "grundlegende Veränderung in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa" böte vielleicht auch Russland die Möglichkeit, zum "allgemein-europäischen ternären System" überzugehen und die radikale Total-Destruktion der jeweils alten nicht mehr als unbedingte Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Welt zu betrachten: "Diese Möglichkeit zu versäumen wäre eine historische Katastrophe" (ebd.).




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In Makines Roman wird die drohende – gesellschaftliche, psychologische, für die pubertierenden Protagonisten nicht zuletzt auch sexuelle – Explosion durch die temporäre Evasion in eine französische Gegenwelt vermieden; dank Belmondo entgeht der geschilderte sibirische Mikrokosmos dem 'schizophrenen' Zusammenbruch ("Pourquoi Belmondo? Parce qu'il arriva au bon moment. […] Il arriva au moment où la coupure entre l'avenir promis et notre présent était prête à nous rendre irrémédiablement schizophrènes"; Amour 130).

Während die 'absolute' Grenze zwischen dem Okzident und Russland relativiert wird, werden die Bruchlinien innerhalb des Westens betont. Frankreich wird systematisch gegen die angloamerikanische Welt ausgespielt; letztere steht für einen kulturell und sprachlich minderwertigen Westen, dem gegenüber Frankreich und Russland bzw. die Sowjetunion sich plötzlich in neuer Solidarität verbünden. Makine setzt dabei raffiniert auf einen in Frankreich wohl nach wie vor weithin konsensfähigen und auch in intellektuellen Kreisen etablierten Anti-Amerikanismus; eine Geste, die dem Autor und seinen Figuren zweifellos die Sympathie zahlreicher französischer Leser zu sichern vermag, gerade weil die französische Superiorität hier aus einer 'objektiven' Außenperspektive so überaus bereitwillig, ja enthusiastisch bestätigt wird:

La langue des Américains nous répugnait. […] Non, pour nous, la seule vraie langue de l'Occident était celle de Belmondo. […] L'anglais, mes chers amis, ce n'est rien d'autre que du français abâtardi. […] Quant aux Américains, n'en parlons pas. Les quelques pensées qui leur restent, ils parviennent très bien à les exprimer à l'aide des interjections les plus sommaires... (Amour 218f.)

Die Auseinandersetzung mit dem Westen bleibt von einer signifikanten Asymmetrie geprägt: Während die anfänglich grenzenlose Verehrung der jugendlichen Protagonisten für den 'Okzident' exklusiv Frankreich zugute kommt, treffen Enttäuschung und Spott nach erfolgter Desillusionierung vor allem die angloamerikanische Welt. Die Kritik der in mehrfacher Hinsicht erwachsen gewordenen sibirischen Frankophilen an der westlichen Kulturindustrie schont Frankreich und richtet sich umso schonungsloser gegen die USA:

[…] les Américains me rappellent souvent des singes s'amusant avec un jouet mécanique. Ils appuient sur un bouton, le ressort fonctionne, le bonhomme en plastique se met à faire des culbutes. Le résultat est atteint... Et dans leur Culture, c'est pareil. Ils fabriquent un nouveau génie, le gonflent par la télé, tout le monde se fiche de ses livres, pourvu que la machine marche. Le bouton, le ressort, le bonhomme en plastique gigote. Tout le monde est content. (Amour 258f.)

Der westliche Kulturbetrieb wird in Makines früheren Werken zwar durchaus kritisch hinterfragt; die französische Literaturwelt bleibt jedoch immun. Tat'jana Tolstaja, die selbst längere Zeit in den USA gelebt hat, zielt mit ihrem sarkastischen Makine-Kommentar dagegen auch bzw. vor allem auf die französische Literaturszene ab, die derart 'naiv' auf Makine hereingefallen sei; ihr Spott über den franko-russischen "Zirkusartisten" und sein französisches Publikum weist bis ins Detail frappierende Parallelen zu Makines obiger US-Kulturkritik auf. Erst in Requiem pour l'Est wird auch bei Makine das Pariser intellektuelle Milieu der neunziger Jahre mit seinen stereotypen Figuren (à la "grande prêtresse de la culture parisienne", Makine 2000: 257) parodiert – und wiederum nostalgisch mit einem besseren Frankreich der Vergangenheit kontrastiert (vgl. McCall 2005a: 314).




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In Au temps du fleuve Amour jedenfalls wird Frankreich als der eigentliche 'Okzident' in seine kulturellen Vorrechte (wieder)eingesetzt; diese Re-Etablierung der französischen Dominanz erlaubt nicht zuletzt die Anknüpfung an eine russische Geschichte, in der Frankreich als kulturelles / sprachliches Vorbild der privilegierten Schichten traditionell eine Sonderrolle spielte. Dieser 'wahre' (französische) Westen steht nicht unbedingt in totaler Opposition zum eigenen sowjetischen Leben: Die so ausführlich geschilderte "épidémie belmondophile" (Amour 123) bzw. regelrechte "belmondomanie" (Amour 124), die die Einwohner einer sibirischen Kleinstadt erfasst und sie einige Monate lang in einer imaginären franko-sowjetischen Zwischenwelt leben lässt, kann sich nur entfalten, weil die 'Sowjetmenschen' in diesen Filmen zwar etwas faszinierend Anderes erfahren, aber etwas doch nicht so völlig Anderes, dass kein Konnex zu ihrem eigenen Leben herzustellen wäre. Im Gegenteil: zwischen der vorgeführten französischen Filmwelt und der sowjetischen Realität besteht eine (un)heimliche Affinität. Der europäische Film wird nur scheinbar auf eine leere russische Leinwand projiziert, im Sinne "jener radikalen Position, Rußland hätte gar nichts Eigenes, oder präzise: Rußland wäre dieses "Gar-Nichts", eine unendliche Leere und Steppe, auf die all die anderen, der Westen die Europäer, ihre Filme und Lichtbilder projizieren können" (Hansen-Löve 1998 / 99: 169); dieser Film macht vielmehr die vermeintliche Leere selbst lesbar, ihre latenten Strukturen sichtbar: "Belmondo est le visage de l'entre-deux-mondes. L'icône qui rend visible l'invisible" (Clément 2008: 225).

Belmondo liefert den passenden Kommentar zum Leben in einer sibirischen Kleinstadt zu Sowjetzeiten; Belmondo spricht endlich das aus, was seine neuen sibirischen Fans bisher nicht zu sagen vermochten oder nicht zu sagen wagten. Auch wenn das sibirische Publikum an seiner schönen neuen Kino-Welt vor allem den (trügerisch) 'unpolitischen' Charakter schätzt, wird Belmondo hier doch auch zum Sprachrohr hochpolitischer Anliegen; der westliche Film, als Interpretationsschema auf die sowjetische Realität angewandt, erfährt durch diese wiederum eine semantische Verdichtung, wird mit Bedeutungen aufgeladen, über die er zuvor nicht verfügte:

Mais le héros se relevait après sa terrible chute pour annoncer:
– Non, je n'ai pas encore fumé mon dernier cigare!
Cette réplique, répétée quatre ou cinq fois, trouva un étonnant écho dans l'âme des spectateurs de L'Octobre rouge. […] La réplique concentra en elle ce que beaucoup de spectateurs tentaient depuis longtemps d'exprimer. «Non, non, voulaient dire bon nombre d'entre eux, je n'ai pas encore...» Et ils ne trouvaient pas un mot juste pour expli­quer que même après dix ans de camps on pou­vait essayer de refaire sa vie. Que, même veuve depuis la guerre, on pouvait encore espérer. […]
Non, je n'ai pas encore fumé mon dernier cigare!
L'expression fut trouvée. (Amour 162f.)12




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3 Ni l'un ni l'autre oder Eurasische (Des)Identifikationen

Au temps du fleuve Amour ist gewiss alles andere als aufdringlich theoretisch; doch auch wenn dergleichen im Text kaum explizit thematisiert wird, ist bei der Lektüre dieses Romans mit seinen eurasischen Phantasmagorien doch ein Stück europäisch-russische Kultur- und Ideengeschichte als Hintergrund mitzudenken. Der 'eurasischen' Bewegung gehörten in der Zwischenkriegszeit Theoretiker vom Rang eines Nikolaj S. Trubeckoj (2005) an, dessen Nasledie Čingis Chana. Vzgljad na russkuju istoriju ne s Zapada, a s Vostoka (Das Erbe Dschingis Chans. Ein Blick auf die russische Geschichte nicht vom Westen, sondern vom Osten, 1925) – nach Nivat "le plus éclatant manifeste des Eurasiens" (Nivat 1993: 300) – die zentralen Thesen des Eurasismus ebenso prägnant wie provokant formuliert. Ein anderer "Eurasien notoire" (ebd.: 294) war Roman Jakobson, der auch in seinen späteren Dialogen mit Krystyna Pomorska auf seine Rolle in der eurasischen Bewegung eingeht (vgl. Jakobson / Pomorska 1982: 77ff.). Der Eurasismus stieß zunächst in weiten Kreisen der Emigration auf große Resonanz, da er wohl nicht zuletzt das Bedürfnis nach einem "substitut organique au communisme bolchévique" (Nivat 1993: 303) befriedigte. Das Verhältnis eurasischer (Vor- und Nach)Denker zur Sowjetunion war ausgesprochen ambivalent: während die einen das bolschewistische Regime ablehnten, waren andere geneigt, die Sowjetunion als Manifestation des wahren 'eurasischen' Russland zu akzeptieren; unter anderem wegen dieser Diskrepanz kam es 1929 zur Spaltung verschiedener eurasischer Gruppen, die den Niedergang der Bewegung einleitete (vgl. Wiederkehr 2007: 58ff.).13 Ein berühmter abtrünniger Eurasier, Georgij V. Florovskij, fasste die Kernfrage der Bewegung 1928 in den Sovremennye Zapiski folgendermaßen zusammen: "Eurasien – das heißt: weder Europa noch Asien, eine dritte Welt. Eurasien – das ist Europa und Asien, eine Mischung oder Synthese aus beidem, mit Dominanz des letzteren. Zwischen diesen beiden Auffassungen schwanken die Eurasier" (zit. in Struve 1996: 46). Im postsowjetischen Russland erlebte die eurasische Philosophie unter dem Schlagwort des 'Neo-Eurasismus' eine Renaissance "als imperiale Legitimations- oder als antiokzidentale Abgrenzungsideologie" (Wiederkehr 2007: 7), als identifikatorische Alternative sowohl zur kommunistischen Vergangenheit als auch zur bedingungslosen 'Okzidentalisierung' Russlands. Den 'Neo-Eurasiern' zufolge verlangt Russland als 'dritter Kontinent' zwischen Europa und Asien auch politisch und ökonomisch nach einem dritten Weg; die neo-eurasische Ideologie fungiert damit als überaus taugliche Basis für die Ablehnung von Demokratie und Marktwirtschaft nach westlichem Muster in Russland.14




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In Au temps du fleuve Amour artikuliert Samouraï klassische eurasische Positionen: "Tu sais, Canardeau, être ni l'un ni l'autre, c'est déjà un destin..."; (Amour 190). Der hier apostrophierte Outkine findet im amerikanischen Exil seine "racines eurasiennes" (Amour 258) wieder, indem er – auf der Suche nach seinem ganz persönlichen Wilden Westen – eine schöne "Indienne" (Amour 257) heiratet. Russland ist weder Europa noch Asien, Russland ist sowohl Europa als auch Asien; gegen dieses Schicksal des ewigen Dazwischen rebelliert Makines Ich-Erzähler, der endgültig die imaginäre Grenze in den Westen überschreiten und ein eindeutig 'okzidentales' Wesen werden möchte. Auf seiner initiatorischen Reise in einen Osten, der schon wieder Westen wird, stellt er "une fois pour toutes" fest, dass man nicht hier und dort zugleich sein könne (Amour 190). Die Notwendigkeit – und also die Möglichkeit – einer Wahl wird konstruiert, die die Illusion zweier tatsächlich 'anderer' Welten aufrechterhält: "Je ne supportais plus le destin de 'ni l'un ni l'autre'. II fallait faire un choix. On ne pouvait pas vivre en balançant […] entre l'Orient et l'Occident"; (Amour 202). Mit der Notwendigkeit der Entscheidung für die eine oder die andere Welt sieht der Held sich nicht zufällig während seiner Fahrt mit der Transsib konfrontiert. Die Transsib wird in Makines Roman zum fahrenden Spiegelkabinett der Identitäten; die jugendlichen Protagonisten zirkulieren in diesem geophantasmatischen Mikrokosmos auf Schienen zwischen verschiedenen Waggons, die 'Asien' ("Ce wagon bondé est l'Asie") resp. den 'Okzident' repräsentieren ("À l'autre bout du train […] c'était l'Occident que Belmondo nous avait fait découvrir"; Amour 190).

Das Leben in Sibirien bedeutet bei Makine einen ständigen Kampf gegen die 'Natur', den 'wilden', nur prekär und punktuell zivilisierten Raum. Nur die Transsib zieht eine einigermaßen verlässliche räumliche und zeitliche Spur durch die sibirische terre vierge, deren 'Jungfräulichkeit' die paradoxe Eigenschaft besitzt, sich selbst zu erneuern. Die Zeitwahrnehmung orientiert sich an der Eisenbahn: Der Tag wird strukturiert durch das Warten auf den Zug, "son fulgurant passage" (Amour 57), die vage Nostalgie, die sein Entschwinden begleitet und dann wieder in Erwartung umschlägt. Indem der Zug – nach Foucault an und für sich "ein außergewöhnliches Bündel von Relationen" (Foucault 2005: 934), hier metaphorisch mit einem unheimlichen Eigenleben ausgestattet – immer wieder die gleiche Spur 'bahnt', wird er zur Instanz des Gedächtnisses, an der sich Zeit und Erzählungen orientieren. Die Transsib durchquert die Landschaft wie "un fantôme, un rêve, un extraterreste" (Amour 57); mit ihrer "mythenbildenden" Funktion (Wagner 1996: 137) erscheint sie als doppeltes (Transport)Medium der Imagination: Hier überkreuzen und verfehlen einander die Blicke der Reisenden, die die Landschaft – und die 'Einheimischen' als Teil dieser Landschaft – durch das Zugfenster betrachten, und derer, die der Passage der Transsib von außen beiwohnen und mit ihrer Phantasie die okzidentalen Fabelwesen im Zug zu geheimnisvollem, quasi-mythischem Leben erwecken (Amour 59). Das durch die Transsib Tag für Tag erneuerte Versprechen des Transfers in eine andere Welt wird lange Zeit nicht eingelöst; der Erzähler, dessen sehnsuchtsvollem Blick niemals ein Blick aus dem Inneren des magischen fahrenden Mikrokosmos zu begegnen scheint, rebelliert endlich gegen die Asymmetrie des täglichen transsibirischen Rendezvous: "L'attente du train de nuit me parut stupide. Oui, les yeux écarquillés, le cœur palpitant, attendre ce fameux Transsibérien pour entrevoir une ombre qui ne se doutait même pas de mon existence, quelle bêtise!" (Amour 62). Später beginnen die Protagonisten, heimlich in auf Abstellgleisen stehenden Waggons zu übernachten und dort Geschichten zu erzählen, das 'Zuggefühl' zu erproben; schließlich folgt ihre eigene – anfangs nicht ganz freiwillige – Zugfahrt, die nach allen Regeln der Kunst zur wahren Initiationsreise stilisiert wird. Es scheint zunächst, es müsste ausreichen, die Transsib zu betreten, um direkt in eine 'andere Welt' transportiert zu werden. Doch der Zug, mobile Heterotopie, erschließt sich nicht ohne weiteres, löst das Glücksversprechen 'okzidentaler' Evasion nicht sogleich ein: "Andere Heterotopien wirken dagegen vollkommen offen, sind aber in Wirklichkeit auf seltsame Weise verschlossen. […] Man glaubt, den Ort zu betreten, und ist gerade deshalb schon ausgeschlossen" (Foucault 2005: 940).




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4 Des mots, des mots, des mots oder Kulturelle (Trans)Formationen

Ein privilegiertes Motiv der stereotypen Re-Inszenierung der Opposition Russland / (West)Europa ist in Makines konsequent eklektischem Text die klassische Dichotomie von 'Geist' und 'Materie', wobei der Okzident traditionskonform die Position des schöpferischen, formenden, kritischen Geistes und Russland jene der amorphen Materie besetzt. Diese Opposition wird überdies als dynamisch wahrgenommen; der okzidentale 'Geist' strebt nach Unterwerfung und Formung der 'Materie'; er schafft sich also mit einem imaginären Russland, das nur 'Rohstoffe', diese dafür aber in scheinbar unendlichen Quantitäten zu bieten hat,15 ein ideales Experimentierfeld, auf dem er sich seiner Macht nach Belieben vergewissern kann. Der 'Materie' wiederum wohnt ihre eigene Dynamik inne:

Wenn im Abendland aus Materie Geist entsteht, Quantitäten in Qualitäten umschlagen […] dann geht es in Rußland genau umgekehrt zu […] In Rußland springt nämlich die Qualität um in Quantität; das einzig Qualitative ist hier das Quantitative: Rußlands enorme, flache Weite und Breite, seine Endlosigkeit und Unstrukturiertheit. (Hansen-Löve 1998 / 99: 179)

Der in Makines Roman unablässig betonten überwältigenden 'Materialität' des sowjetischen Lebens gegenüber steht der 'Okzident' als formendes Prinzip. Die französische Sprache vermag selbst die "verworrene", "dunkle", "amorphe" sowjetische Realität zu strukturieren und zu klassifizieren: "Mais surtout son langage! C'était un monde où tout pouvait être dit. Où la réalité la plus embrouillée, la plus ténébreuse trouvait son mot […] La réalité amorphe, innommable, qui nous entourait, se mettait à se structurer, à se classifier, à révéler sa logique"; (Amour 161f.). Der Erzähler, beunruhigt von seinen eigenen 'formlosen' asiatischen Anteilen, besessen von seinem okzidentalen Kult der 'Form', wird zum paradoxen (Trans)Formator, zum Bildhauer seiner selbst: "Il me fallait tout de suite comprendre qui j'étais. Faire quelque chose avec moi-même. Me donner une forme. Me transformer, me refondre"; (Amour 65). In Sibirien, der Heimat der Helden, setzt sich das 'ursprüngliche' Chaos immer wieder durch: Wiederholt werden ganze Dörfer unter einer Schneedecke begraben; in den völlig zugeschneiten Häusern warten die Bewohner vergebens auf den Tagesanbruch (Amour 27). Das hier geschilderte sowjetische Universum, beherrscht von gerade in ihrer kompromisslosen Strenge fragilen ideologischen Strukturen, ist permanent vom (Wieder)Überhandnehmen der Formlosigkeit, von 'Liquidation' bedroht; der Roman, reich an entsprechenden Metaphern, spielt mit Wasser in all seinen Erscheinungsformen (im sibirischen Ambiente 'naturgemäß' häufig als Schnee und Eis).16




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Es finden sich etliche Szenen der Initiation, in denen sich die Protagonisten im Kampf mit einem dieser Elemente zu bewähren haben. Samouraï durchschwimmt auf der Flucht vor zwei homosexuellen Vergewaltigern den mächtigen Fluss Oleï, seine Männlichkeit verteidigend und bestätigend (Amour 136ff.); Outkines Leben nimmt eine neue Wendung mit einem Unfall während der Eisschmelze, der den Jungen mit einem verstümmelten Bein und einer mit seinem Namen traurig harmonierenden "démarche de canardeau", aber auch mit der besonderen Luzidität des literarisch begabten Außenseiters zurücklässt (Amour 144ff.). Der Ich-Erzähler Mitia muss sich mehrmals unter größter physischer Anstrengung aus einer eingeschneiten Izba einen Weg ins Freie bahnen, wobei mit uterinen Metaphern nicht gespart wird (Amour 28). Wasser, in der einen oder anderen Form, ist in sämtlichen Schlüsselszenen des Textes präsent – als Element des Übergangs, der Auflösung in all ihrer Ambivalenz zwischen Bedrohung und Befreiung. Asien wird bei Makine buchstäblich 'liquidiert'; im Wasser und im Schnee verlieren sich die Spuren; Geschichte und Geschichten sind dazu verdammt, immer wieder von vorne zu beginnen. 'Asien' steht hier für einen fatalen historischen und narrativen Kreislauf. Als Inkarnation Asiens erscheint ein chinesischer Transsib-Passagier, so alt, dass er schon wieder alterslos wirkt, mit seiner ebenso (w)irren wie uninteressanten Erzählung, die sich ewig im Kreis dreht – eine absurde Erzählung im Stillstand, die niemals zu Ende gehen kann: "Je savais que j'allais retrouver l'Orient, l'Asie et l'interminable conte du Chinois sans âge. Cette vie où tout était fortuit et fatal en même temps, où la mort, la douleur étaient acceptées avec la résignation et l'indifférence de l'herbe des steppes"; (Amour 189).17 Der Okzident wird dagegen imaginiert als 'orientierte' Welt, in der (Lebens)Geschichten einen Anfang und ein Ende haben; eine Welt, in der Neues – und sei es um seiner selbst willen – sich ereignen kann. Die Protagonisten sind von der Obsession beherrscht, rechtzeitig vor dem destruktiven (Anti)Text 'Asien' fliehen zu müssen, bevor dieser ihre so mühsam aufgebaute und kultivierte okzidentale Identität wieder zerstören kann: "[…] il fallait partir. Quitter le village, fuir Nerloug, ne plus voir ces lieux où le conte du vieux Chinois l'emporterait finalement sur l'élégance de l'aventure occidentale"; (Amour 234).


5 Cette argile de chair, ce magma corporel oder Gender-Fiktionen

Die hier mit extremer Konsequenz ausgestaltete stereotype Opposition 'okzidentaler Geist / asiatische Materie' wird mit einer nicht minder clichéhaften Gender-Metaphorik kombiniert. Als Inbegriff jener "unüberwindlichen Materialität", die das sowjetische Leben prägt, erscheint der (russische, asiatische) weibliche Körper: "[…] la chair blanche, pulpeuse d'une prostituée vieillissante me hantait par sa matérialité infranchissable"; (Amour 227). Die sexuelle Bedrohlichkeit der amorphen weiblichen 'Materie', die das (noch) fragile männliche Subjekt zu verschlingen droht, ist nur allzu offensichtlich: "Je me tortillai entre ses grosses cuisses. Je m'accrochai à ses seins qui se livraient avec une résignation molle, paresseuse. Mon ventre semblait élargir sous le sien une grande plaie gluante, chaude. La matière de l'amour était donc telle: glissante, visqueuse"; (Amour 75f.). Die imaginäre 'okzidentale' Identität ist aus der Sicht der drei jungen Helden vor allem auch verführerisch 'männlich': der Kult des Okzidents befriedigt auch das Bedürfnis nach maskuliner Selbst-Identifikation und -Glorifikation. Die Protagonisten partizipieren dabei an einer langen Tradition von 'Gender-Fiktionen', die das Verhältnis zwischen Europa und ('altem' wie 'neuem') Russland strukturieren. In französischen Diskursen über Russland erscheinen Imaginationen des russischen und des weiblichen Anderen vielfältig ineinander verwoben; in literarischen Texten werden nicht selten paradigmatisch eine russische Frau – als Typus spätestens seit Stendhals Armance bekannt (vgl. Robel 1994: 134) – und ein französischer Mann kontrastiert.18 Serge de Chessin – als franko-russischer Autor ein ferner Vorgänger Makines – charakterisiert Russland unter Berufung auf Dmitrij Merežkovskij als "passive und feminine" Ebene, die sich, bereits von zu vielen Invasionen zerwühlt, von zu vielen Vergewaltigungen zerrissen, dem jeweils aktuellen Eroberer demütig unterwirft:




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Elle a été asiatique avec les Khosars, les Tartares et les Soviets; elle a été européenne avec Rurik et tout un cortège de grands Romanof, Pierre, Catherine, Alexandre […] elle est devenue, peu à peu, un simple réceptacle historique, une terre toujours vacante à l'usage de nouveaux maîtres. Pour hausser la Russie au rôle de sujet, il avait toujours fallu l'impulsion d'une volonté étrangère; par définition, elle restait confinée au rôle mélancolique d'objet et de proie, une plaine «passive et féminine» comme disait Merejkovsky, labourée par trop d'invasions, déchirée par trop de viols, pour pouvoir constituer un patrimoine de traditions, une personnalité indépendante. (Chessin 1929: 247)19

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Makines sibirische Teenager so sehr darauf bedacht sind, es rechtzeitig auf die 'andere Seite' zu schaffen, sich selbst zu Repräsentanten eines einigermaßen naiv heroisierten 'männlichen' Okzidents à la Belmondo – "l'idéal masculin à imiter, une idole" (Clément 2008: 232, 326) – zu stilisieren. Im Roman wird das 'feminine' Russland allegorisch durch die gutmütige und geschlechtskranke 'prostituée r(o)usse' (eine Figur in bester stereotyper Dostoevskij-Tradition) repräsentiert; auch sie ist dem jeweiligen 'Eroberer' weitgehend hilf- und sprachlos ausgeliefert. In ihrer stolzen okzidentalen Männlichkeit sind die Protagonisten schließlich aber auch in der Lage, dieses triste Bild Russlands – nicht zuletzt vor sich selbst – zu beschützen. Samouraï – zunächst Beobachter aus einer schon räumlich superioren Position – rettet besagte Prostituierte vor einer Quasi-Vergewaltigung durch Klienten, die sich zu zahlen weigern, und holt sich eben dabei "ce nez de boxeur" (Amour 261), der ihn wiederum Belmondo frappant ähneln lässt. Die Prostituierte selbst in ihrer 'russischen' Resignation wäre offensichtlich nicht in der Lage bzw. kaum willens, sich zu verteidigen:

Il jeta un coup d'œil du toit et vit trois hommes s'en prendre à une femme. Elle se débattait, mais mollement […] De leurs exclamations, Samouraï comprit que ce n'était pas tout à fait un viol: les types ne voulaient tout simplement pas payer. Sinon, elle n'aurait rien eu contre. Bref, elle se résigna… (Amour 261).




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Die obsessive Konfrontation von 'Geist' und 'Materie' bestätigt die maskuline Überlegenheit über das weibliche "Körpermagma"; am weiblichen Körper, "matière amorphe", wird auch der noch unerfahrene und ungeschickte jugendliche Liebhaber, bewaffnet mit "le ciseau de l'esprit occidental", zum Künstler, der sich, 'Gott' eines Augenblicks, selbst in einem Akt der "sculpture amoureuse" (Amour 201) neu erschafft:

La femme rousse devenait la matière de ces fantasmes – cette argile de chair, ce magma corporel que je voulais anonyme. […] C'est cette masse que je sculptais indéfiniment en lui imprimant la forme de mes rêves d'Occident. Oui, c'était la matière amorphe qui se laissait modeler par le ciseau de l'esprit occidental. […] je ressentais la nécessité de revenir la voir […] Refaire provision de magma charnel pour mes fantasmes. […] Oui, il me fallait mépriser ce grand corps amorphe, l'humilier, lui imposer ma force dédaigneuse. […] je m'excitais à l'image de cette chair-argile. […] Je me sentais sculpteur, artiste puisant son matériau dans la nature généreuse mais privée du sens de la forme. Et aussi un Occidental – un être donnant à son désir, à son amour, au corps féminin l'orgueilleuse clarté de la pensée. (Amour 200ff.)

In einem Rausch der 'Materialität' wird der weibliche Körper, passives Objekt der zum männlichen Privileg erklärten Obsession der Form, (re)imaginiert als amorphes Etwas, das dank seiner immanenten Tendenz zur Auflösung, zur Re-Deformierung dem männlichen Formtrieb ein sich selbst erneuerndes Betätigungsfeld garantiert. Die Grenzen zwischen diesem 'formlosen' weiblichen Körper und der ihn umgebenden Natur verschwimmen bzw. werden verwischt. Auf die 'prostituée rousse' folgt in der amourösen Biographie des Erzählers eine schöne, geheimnisvolle, irritierend schweigsame junge Asiatin, deren Körper metaphorisch mit der wilden Vegetation des sommerlichen Sibirien verwächst: "Son corps […] avait les réflexes d'une liane. […] Et je ne pouvais plus distinguer où sa chair devenait l'herbe emplie du vent des steppes […]" (Amour 230f.). Jedoch erweist sich auch dieser weibliche Körper bei aller enigmatischen Schönheit als unbefriedigend; dem heranwachsenden Helden, für den Sexualität im Wesentlichen einen rituell wiederholten Akt der Formung bedeutet, die im Medium der Sprache mit- und nachvollzogen werden muss, reicht diese stumme Liebe nicht: "[…] j'avais déjà fait mon éducation européenne. J'avais déjà goûté à la terrible tentation occidentale du mot. […] J'aspirais à une histoire d'amour. Dite avec toute la complexité des romans occidentaux. […] Je rêvais des 'mots d'amour'. Je rêvais des mots…" (Amour 235). Der metaphorische Austausch zwischen dem weiblichen Körper und der Natur funktioniert in beide Richtungen; aus der pansexuellen Perspektive des pubertierenden Protagonisten ist nicht nur die Frau Natur, sondern auch die Natur Frau: "Dans chaque mouvement d'air la femme était présente. La nature était femme! […] La neige molle, les cris d'oiseaux, l'écorce rouge mouillée, tout était femme"; (Amour 64f.). Landschaften, Flüsse, der erotische vielversprechende 'Amour' vor allem, werden als weibliche Körper metaphorisiert: "Oui, je murmurais le nom de ce fleuve – Amour – en plongeant dans sa sonorité fraîche comme dans un corps féminin rêvé, conçu d'une même matière souple, douce et brumeuse"; (Amour 16).20




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Der hier beschriebene Weg einer männlichen intellektuellen und amourösen Selbst(er)findung, dieser sibirisch-französische maskuline (Ein)Bildungsroman ist gesäumt von konkreten und metaphorischen weiblichen Körpern als dem 'Rohmaterial', an dem sich der jugendliche Erzähler in seiner okzidentalen Maskulinität zu beweisen hat. Der Okzident selbst manifestiert sich in Gestalt einer weiblichen allegorischen Figur; vorerst verführerisches Phantasma, das der Protagonist hinter den Fenstern der vorbeifahrenden Transsib zu erblicken glaubt, verkörpert sich die "belle Occidentale" (Amour 88) später in einer anonymen Reisenden. Hier ist es anfangs nicht der sibirische 'Eingeborene', sondern die westliche Touristin selbst, die wie ein exotisches Tier im Zoo betrachtet wird: "Occidentale! C'est une Occidentale… J'ai vu une Occidentale vivante!" (Amour 186). In dieser Szene extrem intensiven 'Blickverkehrs' zwischen dem Ich-Erzähler und der 'Westlerin' wird die etablierte visuelle Ökonomie – männliches Subjekt, weibliches Objekt des Blicks und des Begehrens –, bis zum Exzess in der Relation zwischen den drei Protagonisten und der 'prostituée rousse' durchexerziert, subtil subvertiert. Der Amour selbst, allzu durchschaubares amouröses Versprechen, verweigert sich gleich eingangs diesem hoch sexualisierten Spiel der Blicke: "Non, l'Amour ne se souciait pas de la présence des contemplateurs. Il paraissait immobile […]" (Amour 187). Der Blick des jungen 'Barbaren', der seine Potenz am gehorsamen Körper der Prostituierten schon zur Genüge erprobt hat, durchdringt scheinbar mühelos den "Nimbus" auch der Frau aus dem mythischen Westen: "Je la regardais et je sentais que son nimbe protecteur se dissipait lentement"; (Amour 186). Doch wird die Kontemplation allmählich dem männlichen Subjekt des Blicks selbst zur Qual: "Ma torture contemplative devenait insoutenable" (ebd.). Der junge Mann, der in stummer Verzückung die faszinierende Fremde betrachtet, glaubt zumindest visuell die Kontrolle über die Situation zu haben, bis ihm der Verdacht kommt, dass sein eigener begehrlicher Blick ein amüsantes Spektakel für die Frau selbst sein könnte. Deren "transparenter Nimbus" erweist sich als undurchdringlich, das vermeintlich passive Objekt seines Blicks als sehr viel resistenter als erwartet: "Revenant peu à peu à moi, je regardai l'Occidentale. […] Le spectacle, semblait-il, l'amusait. Pas davantage. Je l'observais et, presque physiquement, je sentais que son nimbe transparent était bien plus impénétrable que je ne l'avais cru"; (Amour 188). Die Macht der klassifizierenden Wörter, die der Held an seinen bisherigen 'asiatischen' Sexualpartnerinnen genussvoll erfahren hat, wendet sich unversehens gegen ihn selbst. Die 'Occidentale' kommt ihm mit ihrer routinierten Etikettierung der Situation zuvor; bevor er den Moment noch hat auskosten können, ist dieser aus der Perspektive der Frau intellektuell und ästhetisch abgehakt: "'C'est la débâcle sur le fleuve Amour', pouvait-on lire sur ses lèvres. Oui, cette nuit était nom­mée, comprise, prête à dire" (ebd.). Der männliche Protagonist ist nun plötzlich derjenige, der nichts mehr versteht und seinerseits kategorisiert wird; bezeichnenderweise widerfährt in eben dieser Passage nun erstmals auch dem maskulinen Ego jene ambivalente Fusion mit der Natur: "Et moi, je ne comprenais rien! Je ne comprenais pas où finissait le souffle titanesque du fleuve et où commençait ma respiration, ma vie"; (Amour 187). Der adoleszente Held fühlt sich in seiner Männlichkeit bedroht; während er sie immer ratloser betrachtet, spielt die Frau mit ihrer Zigarette, einem provokant offensichtlichen phallischen Symbol, das sie schließlich im Aschenbecher zerdrückt (Amour 189), woraufhin der Held den Schauplatz mehr oder weniger fluchtartig verlässt. Es scheint gerechtfertigt, diese Szene als subtile Dekonstruktion der zuvor mehrfach reinszenierten stereotypen visuellen / sexuellen Gender-Rollenverteilung zu lesen.




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Wenn zunächst noch ganz Russland / Asien als monströser multipler Körper mit der Figur der 'Occidentale' kontrastiert wird ("Mais j'ai vu une femme... une femme! […] Au-delà des amas de sacs sales, de filets dégoulinants de poisson fondu, des centaines de corps ruminant leurs guerres et leurs camps. Cette femme […] c'était l'Occident […]" Amour 190), so wird später, aus einer brüchig gewordenen okzidentalen Perspektive, die vermeintlich unüberwindliche, erdrückende 'Materialität' des sowjetischen Lebens und des sowjetischen (Frauen)Körpers selbst problematisch. Nachträglich erkennt der Protagonist, dass der abjekt-amorphe Körper der 'prostituée rousse' möglicherweise immer schon ein Phantasma war. Diese Frau, paradigmatisches Objekt eines sich männlich und (all)mächtig wollenden Blicks, wird – wie Russland selbst – erst jetzt, aus der Perspektive des Emigranten, in ihrer potentiellen Autonomie, ihrer Subjekthaftigkeit denk- und wahrnehmbar: "Moi, dans la profondeur trompeuse du miroir, je la vois peut-être mieux que les autres. […] Elle chante comme pour elle-même […] pour quelqu'un d'invisible. Comme chanta une femme, un soir, devant le feu, dans une isba enneigée…"; (Amour 260).

Der Körper der 'Occidentale', den der Erzähler im 'westlichen' Waggon der Transsib begehrlich betrachtet, scheint von seiner Umgebung isoliert durch eine in all ihrer Transparenz undurchdringliche Schicht. Eine motivische Spur führt von dieser Passage zurück zur Eingangs-Szene des Romans, in der ein weiblicher Körper aus flüssigem Glas von männlichem Atem belebt wird. Doch dieses Glas ist womöglich ein Spiegel: Das scheinbar transparente Bild der 'Weiblichkeit', das doch nur maskuline Phantasmen reflektiert, erweist sich als ebenso trügerisch wie die allzu transparenten Bilder 'Asiens' und des 'Okzidents', die vielleicht nur 'traumhafte' Reflexe in seltsam getrübten Spiegeln sind: "'Asie… Occident'… tout cela était donc un rêve"; (Amour 191).


6 Un souffleur de verre oder Literarische Glasbläsereien

Au temps du fleuve Amour beginnt mit einer Phantasie der 'Glasbläserei', die bereits jene stereotype Rollenverteilung von 'formendem' männlichem Geist und 'geformtem' weiblichem Körper vorgibt. Dieser gläserne Frauenkörper ("ce cristal amolli et brûlant sur la canne d'un souffleur de verre" Amour 13) besiegelt einen Pakt männlicher Freundschaft und Solidarität; doch am Schluss des Romans wird die maskuline Ekstase der Form, die über jenen Körper triumphiert, nachträglich als Illusion entlarvt: das angebliche erotische Rohmaterial, mit dem der attraktive Ich-Erzähler seinen Jugendfreund, den körperbehinderten und sexuell entsprechend defavorisierten Schriftsteller, zu versorgen versprochen hat ("Moi, je n'affine pas. Je lui livre ma masse de verre brûlante telle quelle. Sans la ciseler avec la pointe de mon ciseau, ni la gonfler par mon souffle. Telle quelle […]" Amour 16), war von Anfang an mehr oder weniger elaborierte Fiktion; der 'Dichter' hat jenes aber ohnedies nicht als Quelle literarischer Inspiration, sondern als Grundlage für die Produktion pornographischer Comics verwendet (Amour 255ff.). In dem Raum, in dem die gegenseitige Entlarvung der beiden Freunde, des 'Liebhabers' und des 'Poeten', stattfindet, hängt jener große Spiegel an der Wand, in dessen "trügerischer Tiefe" (Amour 260) sich Zeit, Raum und Identität(en) verwirren. Diese Szene ist eventuell auch als ironische Selbstreflexion des postmodernen russischen Schriftstellers in der Emigration zu lesen, der die Position seiner Texte in der westlichen Literaturlandschaft hinterfragt. Sind seine okzidentalen Phantasmagorien vielleicht doch eher in pornographischen Comics – und hierarchischen Äquivalenten auf dem Kulturmarkt – zu verorten als in 'ernsthafter' Literatur? In einer weiteren Wendung erklärt Outkine – vor seiner Emigration stolzer Verfasser eines Romanfragments "[d]ans la tradition de L'Archipel du Goulag" (Amour 250) – freilich, besagte Comics richteten jedenfalls weniger Schaden an als "tout ce kitsch", der – "en Amérique" wohlgemerkt, wieder formuliert Makines Figur ihre Kulturkritik in sicherer Distanz zum französischen Kulturbetrieb – als Literatur verkauft werde (Amour 258).




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Das Glas steht in Makines Roman auch für die verführerische Klarheit des Okzidents, für die Sehnsucht nach einem 'klar geschliffenen', durchschaubaren Universum. Durch das okzidentale Prisma wird die eigene opake Welt den jungen Protagonisten zum ersten Mal transparent (Amour 220). Später wird detailliert beschrieben, wie der Okzident in vitro entsteht – unter Laborbedingungen, in der 'gläsern' reinen Imagination der Helden bzw. in einem wiederum einigermaßen clichéhaften russischen Wodkaglas:

Oui, l'Occident était né dans le pétillement du champagne de Crimée, au milieu d'une grande isba noyée dans la neige, après un film français vieux de plusieurs années. C'était l'Occident le plus vrai, car engendré in vitro, oui, dans ce verre à facettes lavé de flots entiers de vodka. Et aussi dans notre imagination vierge. Dans la pureté cristalline de l'air de la taïga. L'Occident était là. (Amour 113)

Die mehrfach überdeterminierte Gender / Kolonial-Metapher der terre vierge wird in Au temps du fleuve Amour – vor allem in den historischen Passagen des Romans, die die Erschließung bzw. 'Eroberung' Sibiriens evozieren – wiederholt auch auf das asiatische Russland angewandt: "Dans notre imagination, les cosaques n'en finissaient pas de se frayer le passage au travers de la taïga vierge"; (Amour 21). Das Bild wird auf die Imagination der Jugendlichen, gleichfalls 'jungfräuliches' Terrain, das darauf wartet, vom Okzident erobert und kultiviert zu werden, übertragen. Der äußeren terre vierge korrespondiert die innere: die imagination vierge wird explizit mit dem 'virginalen' Raum der Taiga assoziiert. In einem Akt doppelter kultureller Transplantation wird der Okzident erfolgreich in den sibirischen Permafrost-Boden und zugleich in die Herzen der Helden verpflanzt: "[…] l'Occident qu'il [Belmondo, m. A.] avait voulu acclimater sur le permafrost de nos terres semblait prendre racine. […] Oui, l'Occident paraissait désormais bien implanté dans nos cœurs"; (Amour 216). Zumindest aus der Perspektive der drei Protagonisten ist der in Sibirien imaginierte, in vitro erzeugte Okzident – "notre Occident" (vgl. etwa Amour 123, 264) – wahrer als jede westliche Realität. Diese geheimnisvolle interkulturelle Alchimie, die die "Quintessenz des Okzidents" erst hervorbringt, beschäftigt Makine auch in seinen späteren Werken, so in La femme qui attendait: "[…] tous les éléments de l'Occident étaient en notre possession […] En alchimistes pressés, nous mélangions toutes ces matières pendant nos nuits de beuverie et de déclamations. La quin­tessence de l'Occident allait naître" (Makine 2004: 32). Auch in diesem Roman erscheint der in der Sowjetunion inszenierte "Occident d'opérette" als in gewisser Hinsicht wahrer als der reale Westen, die Kopie echter als das vermeintliche Original (ebd.: 33f.).




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Nicht mehr der Okzident, Euro-Zentrum der Welt, imaginiert (s)ein Anderes; er wird vielmehr selbst zum 'Gespenst', dessen faszinierende Irrealität auf alle ausstrahlt, die es zu Gesicht bekommen haben: "Olga est une noble. Et elle a vu Paris… […] La réalité d'un être qui avait vu Paris nous dépassait"; (Amour 195). Unter dem Vorwand der grenzenlosen Bewunderung werden raffiniert etablierte kulturelle Hierarchien umgekehrt; während der Okzident den jugendlichen Helden als "planète interdite" erscheint, zugänglich allenfalls über die kinematographische Zauberwelt Belmondos, wird er in den Erinnerungen und Erzählungen Olgas zu "une sorte de banlieue pittoresque de Saint-Pétersbourg" (Amour 196). Die Protagonisten, die sich den Westen in einer Geste der bewundernden Unterwerfung zu eigen gemacht haben und mittlerweile in der Lage sind, das interkontinentale Rollenspiel 'Orient / Okzident' in Eigenregie aufzuführen, imitieren ihrerseits aus einer hybriden Perspektive den Blick der 'Westler' auf ihre eigene 'wilde' Heimat, den Blick der 'Zivilisierten' auf die 'Barbaren' ("Tout jeune sauvage que j'étais […] ce jeune barbare" Amour 186) – und geben diesen Blick in einer ironischen Reflexion zurück. Deutlich wird hier auch das Begehren nach phantasmatischer Gegenseitigkeit; symptomatisch ist die immense Befriedigung der sowjetischen Kinobesucher, die plötzlich den unverhofften Beweis dafür geliefert bekommen, dass nicht nur sie selbst sehnsüchtig nach Westen blicken, sondern dass man in diesem Westen von ihrer Existenz weiß und sie mit einem Wort in ihrer Sprache anspricht: "Et ce fut un... karavaï; cette miche de pain noir russe, on ne peut plus russe, et appelée en russe dans un film français! Un hur­lement de plaisir et de fierté nationale parcourut les rangs du cinéma L'Octobre rouge... […] donc, là-bas, en Occident, ils savaient un peu que nous existions!" (Amour 130).


7 L'Occident se lisait! oder Trans-Sibirische Lektüren

In Au temps du fleuve Amour wird ebenso wie in anderen Texten Makines ein regelrechter Kult der französischen – der okzidentalen – Sprache inszeniert. Die Leidenschaft für diese Sprache geht bei den drei jugendlichen "amants de l'Occident" (Amour 220) ihrer Beherrschung voraus; die französischen Wörter sind zunächst freundliche Gespenster, tröstlich noch in ihrer Fremdheit, die erst allmählich aus ihrer Spektralität erlöst und verständlich werden (Amour 218). Das Französische – "[u]ne langue qui n'exige pas la compréhension, juste la plongée dans son rythme ondoyant, dans la souplesse veloutée de ses sons" (Makine 2000: 23) – wird zur Sprache 'an sich', in magischen Augenblicken der Initiation scheinbar völlig transparent; nach der ersten Vorlese-Séance französischer Literatur hat der Erzähler bezeichnenderweise keine Erinnerung mehr daran, in welcher Sprache jener Text, der ihn verzaubert hat, eigentlich gelesen wurde: "Lisait-elle en français en nous donnant une traduction, un résumé? Ou était-ce un texte en russe? Je ne me souviens plus. […] Nous vivions dans l'intense éblouissement des images qui avaient tout à coup inondé la pièce de l'isba enneigée"; (Amour 197).




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Die via regia in den Okzident führt über seine Sprache, über seine Literatur; der Okzident kann, wie die Protagonisten euphorisch entdecken, 'gelesen' werden: "L'Occident se lisait!" (Amour 162). Die drei stürzen sich, nachdem die erste Bekanntschaft mit dem Westen dank Belmondo geschlossen ist, unter Anleitung der frankophilen Aristokratin Olga21 auf die französische Literatur, die taugliche Interpretationsmodelle auch für die eigene Existenz bietet. So wird die 'prostituée rousse', jene allegorische Frauenfigur, der alle drei Protagonisten ihre ersten Erfahrungen mit dem "magma effrayant et indicible de l'amour" (Amour 133) verdanken, endlich 'lesbar' dank Zolas Nana. Doch der Erzähler, der inzwischen – dank seiner intensiven hermeneutischen Arbeit am okzidentalen Text – schon an Autorität auch und gerade gegenüber dem Okzident gewonnen hat, stellt die literarische Interpretation, die ihm den Schlüssel zur Geschichte der Prostituierten geliefert hat, anhand dieser wiederum in Frage; er wird bereits zum besseren Leser des Okzidents: "j'apercevais ce que beaucoup de lec­teurs occidentaux n'avaient même pas remar­qué"; (Amour 228). Erst viel später wendet sich die mit so viel Enthusiasmus erworbene okzidentale Kulturkompetenz – "toute ma sagesse occidentale" (Amour 264) – gegen ihren stolzen Inhaber, wobei allerdings noch die 'definitive' Zerstörung des Mythos von der (All)Macht der okzidentalen Wörter auf eben diese angewiesen bleibt, im Medium der Sprache stattfindet. Doch anstatt die Wirklichkeit erst 'wirklich' werden zu lassen, ersticken die Wörter schließlich das Leben selbst;22 im "Gelobten Land des Okzidents" (Amour 135) arbeitet unablässig eine monströse Wörtermaschine an der Vernichtung von 'Realität'. Der Okzident, einst aus der Ferne als utopischer Evasionsraum imaginiert, erscheint jetzt als geschlossenes System, in dem ewig die gleichen Diskursfragmente zirkulieren: 'Wörter, Wörter, Wörter…', wie der Schriftsteller unter den Protagonisten in Hamlet-Manier klagt, auch in seiner Rebellion freilich noch Komplize der okzidentalen (inter)textuellen Maschinerie: "Des mots, des mots, des mots... […] Oui, la vie n'est plus là, mais la machine marche! […] C'est le lierre mortuaire qui se referme sur l'Occident. Le lierre des mots qui a tué la vie"; (Amour 259).

Die konsequente Literarisierung des Okzidents bei Makine ist als reflektorisches Phänomen von besonderem Interesse; hier wird ein klassisches westliches Russland-Stereotyp gegen den Westen selbst gewendet:

Rußland ist Literatur: Rußland ist Dostojewski und vice versa. Auch dieser Zirkel wird in der Rußlanddeutung des Westens ad infinitum ausgereizt […] In diesem Sinne wird Rußland identisch mit seiner eigenen Literatur […] Rußland gibt es nicht – außerhalb der Rußland-Dichtung. Rußland ist ein Gerücht, das man nur imaginär bereisen kann. Erlesen – weil erlesen. (Hansen-Löve 1998 / 99: 180)

Russland wurde aus (west)europäischer Sicht traditionell stark literarisiert; die Literatur liefert nicht zuletzt Lese-Anleitungen für eine fremde Realität, die die eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnis-Kapazitäten oft zu überfordern scheint. Auch in non-fiktionalen Texten wird Russland als hoch literarischer (Text)Raum imaginiert, der am besten, vielleicht überhaupt nur über russische bzw. 'russische' Literatur adäquat zu 'lesen' ist. Die literarische Autorität, auf die man sich in allen Fragen russischen und sowjetischen Lebens bevorzugt beruft, ist, wie Hansen-Löve bemerkt, der aus westlicher Perspektive 'russischste' aller russischen Schriftsteller, Dostoevskij: dieser Fixstern im stereotypen Repertoire stiftet das Prisma, durch das Russland als fremd, irrational, mystisch etc. interpretiert wird.23




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Gourg betont zwar den "eminent literarischen" Charakter auch von Makines Russland (Gourg: 1998: 236); doch auch, ja vor allem Frankreich, der Inbegriff des Okzidents, wird zum essentiell literarischen Phänomen stilisiert, so in Le testament français: "Car la France […] devait sa naissance aux livres. […] La France se confondait pour nous avec sa littérature" (Makine 1995: 292). Auch wenn der identifikatorische Zirkel hier nicht so perfekt etabliert ist wie im Fall Russland / Dostoevskij, erschließt sich Makines Frankreich doch wesentlich über Proust – in Le testament français ein Jahr später endgültig eine Schlüsselfigur der okzidentalen Initiation, Führer nach / durch Frankreich-Atlantis.24 Nachdem die drei Protagonisten dank Belmondo eine gewisse interkulturelle Routine erworben haben, experimentieren sie mit der Transplantation der mémoire involontaire in eine scheinbar völlig kunst- und anspruchslose sowjetische Realität, versuchen den Proustschen Zauber der Erinnerung mit den "rudimentären" Ingredienzien ihres eigenen Lebens nachzuvollziehen:

Et si l'image cent fois revue, celle de la tisseuse, l'odeur fraîche des chapkas couvertes de neige fondue, l'obscurité de la salle de L'Octobre rouge, si tout cela pouvait remplacer le gâteau du jeune esthète français, si nous aussi nous pouvions accéder à cette mystérieuse nostalgie occidentale avec nos moyens de bord rudimentaires? (Amour 217)

Während die kinematographisch gestützte Idealisierung des Okzidents aber noch weitgehend ungebrochen funktioniert hat, gerät die Apotheose der über ihre Literatur rezipierten francité zugleich schon wieder zu deren Dekonstruktion. Anstatt das verführerisch einfache Bild des Okzidents, das die Belmondo-Filme suggeriert haben, zu bestätigen, übt die Literatur von Anfang an eine subtil irritierende, identifikatorische (Pseudo)Evidenzen unterminierende Wirkung aus. Der gelesene / erlesene Westen erweist sich als sehr viel komplexer als zunächst vermutet; hinter dem ersten clichéhaften Belmondo-Okzident wird durch literarische Vermittlung ein anderer – nicht unbedingt weniger, aber quasi auf höherer Ebene stereotypisierter – Okzident sichtbar. Die dekonstruktive Bewegung, einmal initiiert, kann ad infinitum weitergehen; hinter Belmondos "Occident balnéaire des belles antilopes dorées" und "Occident héroïque et aventurier des cascades vertigineuses" tut sich "un Occident voluptueux, un royaume d'inimaginables perversions sensuelles, de fioritures érotiques raffinées, d'enchevêtrements affectifs capricieux" (Amour 199) auf, der seinerseits nur darauf wartet, als Illusion durchschaut zu werden und einer weiteren imaginären Hypostase des Okzidents zu weichen. Der okzidentale Mythos wird derart im Text selbst wieder demontiert; auch Au temps du fleuve Amour bleibt, entgegen dem ersten Anschein und bei aller (unübersehbaren) Freude am kunstvoll ornamentierten franko-russischen Cliché, nicht bei der Glorifikation des französischen 'Atlantis' stehen.




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8 Schluss

Mit Belmondo nach Vladivostok, in einen Fernen Osten, der unversehens zum Wilden Westen wird: Zwischen der 'Magie' der französischen Sprache mit ihren Codes des amour und dem sibirischen Fluss Amour entfalten sich die eurasischen Phantasmagorien in Makines Text. Dieser Roman schwelgt in teilweise extrem clichéhaften Bildern Russlands und des Okzidents; doch gerade in der beinahe systematischen Über-Erfüllung stereotyper Schemata werden diese heimlich ausgehöhlt. Zugleich wird die binäre Organisation einer Welt, die einer imaginären Grenze entlang in 'Ost' und 'West' zerfällt, nachträglich problematisiert. In diesem eurasischen Spiegelkabinett der Identitäten werden stereotype (Miss)Identifikationen, werden auch die allegorischen Subjekte / Objekte dieses literarischen Verwirrspiels als reflektorische Effekte dekonstruiert, wird nicht nur 'Russland',25 sondern auch der 'Okzident' als 'Gespenst' (un)sichtbar. Boris Groys' raffinierte Frage "Du meinst also, daß Rußland einfach ein Gespenst ist, daß es in Wirklichkeit nicht existiert? Rußland ist nichts als die Angst vor Rußland?" (Kabakow / Groys 1996: 82, zit. in Hansen-Löve 1998 / 99: 182) wird hier elegant variiert zu einem 'Du meinst also, dass der Westen einfach ein Gespenst ist, dass er in Wirklichkeit nicht existiert? Der Westen ist nichts als die Bewunderung für den Westen?'.


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Anmerkungen

1 Hier wie im Weiteren wurden russische Zitate, so nicht anders angegeben, von der Autorin übersetzt.

2 Dem Text wurde eine Danksagung Makines und der fiktiven Übersetzerin "Françoise Bour" an "M. Georges Martinowsky, agrégé de russe" für seine kritische Lektüre des Manuskripts und der Übersetzung vorangestellt (dieser Hinweis wurde nach Makines Enthüllung der 'Mystifikation' aus späteren Editionen entfernt, vgl. McCall 2006b: 296); zahlreiche erläuternde Fußnoten zu russischen Begriffen und sowjetischen Realien sorgen dafür, dass die fiktive Übersetzerin – "a highly visible translator" (ebd.: 287) – im Text sehr präsent bleibt; sprachliche couleur locale in Form 'unübersetzbarer' russischer Ausdrücke, wörtliche Übersetzungen russischer Idiome (vgl. etwa "la pauvre orpheline de Kazan", Makine 1990: 101; "Vous tombez comme de la neige sur le crâne", ebd.: 199) perfektionieren die Illusion. Clément zitiert allerdings auch jenen Georges Martinowsky selbst, der erklärt, La fille d'un héros de l'Union soviétique sei tatsächlich zuerst auf Russisch verfasst und mit seiner Hilfe ins Französische übersetzt worden; Makine zufolge handelt es sich dabei freilich um pure "affabulation". Dennoch, so Clément: "[…] il n'est pas clair si Andreï Makine a écrit ses premiers romans en français ou en russe. […] Relation complexe, s'il en fut, à la langue d'écriture: Traduction? Pas traduction?" (Clément 2008: 49).

3 Dieses subversive Potential bestätigt indirekt auch das weitere Schicksal des Romans: so wurde die englische Fassung (A Hero's Daughter, 2004) – im Gegensatz zur deutschen (Tochter eines Helden, 2002) – systematisch von sämtlichen pseudo-translatorischen Elementen befreit, der Text damit erfolgreich "domestiziert", wie McCall schreibt (McCall 2006b: 293).

4 Le testament français spielt raffiniert mit autofiktionalen Elementen, mit der (Des)Identifikation von Autor und Protagonist; der Roman, "barely disguised autobiography" (McCall 2006b: 297), "fordert den Leser dazu auf, Autor und Protagonisten zu vergleichen" (Krauß 2005: 310). Letzterer trägt zwar einen anderen Vornamen als der Autor, hat aber nicht nur die gleichen Initialen, sondern auch eine bis ins Detail frappierend ähnliche Biographie. Hinter dem Romanhelden lugt immer wieder der Schriftsteller Makine selbst hervor, so etwa, wenn jener in einer französischen Buchhandlung seine eigenen Werke in der Abteilung "La littérature de l'Europe de l'Est" zwischen Lermontov und Nabokov entdeckt (Makine 1995: 282).

5 Auch Tautz weist darauf hin, dass nostalgisch überhöhte Selbstbilder in der französischen Rezeption von Autoren wie Makine (den sie gemeinsam mit Milan Kundera analysiert) eine große Rolle zu spielen scheinen (vgl. Tautz 2007: 83).

6 Paul Morand etwa lässt in seiner Novelle La nuit turque (1920/22) seine russische Protagonistin – unter impliziter Berufung auf jenes berühmte Gedicht Fëdor Tjutčevs vom 28. November 1866, dem zufolge man Russland 'nicht mit dem Verstand begreifen kann' – selbst erklären, dass in und an Russland prinzipiell alles irrational sei: "On ne com­prend pas la Russie avec la raison, on ne peut que croire à la Russie" (Morand 2001: 65).

7 Das subtile Ineinander von Auto- und Heterostereotypie wird auch in späteren Texten Makines immer wieder thematisiert. In La femme qui attendait wird das Rollenspiel eines im Norden Russlands lebenden Georgiers geschildert, der sich selbst zur clichégetreuen "Karikatur" stilisiert: "Il jouait cette caricature, comme il arrive souvent aux étrangers de mimer les clichés touristiques de leur pays d'origine. Pour ne pas décevoir la galerie" (Makine 2004: 16).

8 Diese phantasmatische Re-Organisation des Raums durch die Annäherung Russlands an den Okzident im Osten statt im Westen findet sich auch bei früheren Autoren – etwa bei Joseph Kessel (wie Makine ein französisch schreibender Autor russischer Herkunft). Auch bei Kessel wird die europäisch-russische Grenzziehung kritisch reflektiert: in jenen Texten Kessels, die im Fernen Osten angesiedelt sind, wird Russland selbst radikal 'europäisiert', als Vorposten Europas gegenüber Asien und den – teilweise sehr negativ stereotypisierten – Asiaten geschildert (vgl. etwa die Erzählung La colère de Seu-Lan-Hi aus der Sammlung der Quatre contes, 1927).




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9 Makines Text ist auch in dieser Hinsicht prononciert eklektisch; er übernimmt traditionelle Elemente der klassischen Petersburger 'Symbolik' (Lotman 2000b: 320ff.) ebenso wie die etablierte Opposition zwischen Moskau, der 'russischen' bzw. 'asiatischen', und Petersburg, der 'westlichen' bzw. 'europäischen' Stadt (Amour 242). Petersburg / Leningrad, die einzige 'europäische' Stadt Russlands, erscheint als kultureller Zwischenraum, der aus sibirischer Perspektive selbst schon "à l'autre bout du monde" liegt (Amour 237).

10 Der Name 'Belmondo' mit seinem 'wandernden' franko-italienischen Akzent markiert auch den Beginn eines fröhlichen Verwirrspiels der sprachlichen, der kulturellen und nicht zuletzt der Gender-Identitäten:
– Nous allons voir… Belmondo!
– Bel-mon-do, le corrigea Outkine en riant.
– Non, Belmon-do! Tais-toi, canardeau, tu es nul en cinéma!
C'est l'air de la taïga qui dut les enivrer. Car ils se mirent à rire, à crier ce mot incompréhensible, de plus en plus fort, chacun insistant sur son accent. […]
– Belmon-do!
– Bel-mon-do! En italien on dit Bel-mon-do…
– C'est un homme ou une femme? demandai-je […] confondu par ce 'o' final du neutre. Leur rire devint torrentiel. […] Ils riaient comme des fous […] Ce nom sonnait si étrange en pleine taïga… (Amour 98f.)

11 Foucault definiert Heterotopien als "reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden […] Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen" (Foucault 2005: 935).

12 Clément macht darauf aufmerksam, dass die betreffende Szene aus Claude Zidis L'Animal (1977) in der Wahrnehmung der Protagonisten in signifikanter Weise verzerrt wird: Belmondo alias 'Bruno Ferrari', eine eher "effeminierte" Figur, raucht in der zitierten Film-Szene en abyme gar keine Zigarre, sondern eine – weit weniger 'männlich' konnotierte – Zigarette. Das kinematographische Vor-Bild wird jedoch den Vorstellungen der adoleszenten Helden entsprechend 'virilisiert', der okzidentale Film ihrem imaginären Skript gemäß 'umgeschrieben': "[…] le film est, pour ainsi dire, réécrit […]" (Clément 2008: 219).

13 Ein Teil der 'Eurasier' entwickelte sich in Richtung Nationalbolschewismus, mit teilweise tragischem Ausgang (der Historiker Nikolaj V. Ustrjalov etwa kehrte aus der Emigration in die Sowjetunion zurück, wo er 1937 verhaftet und exekutiert wurde).

14 Der derzeit wohl bekannteste – und medial sehr präsente – Ideologe des 'Neo-Eurasismus' ist Alexander Dugin, Verfasser u. a. des Evrazijskij put' kak Nacional'naja Ideja (Der eurasische Weg als nationale Idee, 2002) und Gründer der Politischen Partei "Eurasien" (2002). Dugin und seine Gesinnungsgenossen verbinden eine gewisse Verwandtschaft zu westlichen Theoretikern der 'Neuen Rechten' mit einem ausgeprägten Anti-Okzidentalismus (zu der bzw. den "Ideologie(n) Dugins" vgl. Wiederkehr 2007: 248ff.).

15 "La Russie manque à peu près de tout, sauf de matières premières […]" (Royer 1932: 180 ).




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16 Vgl. zu dieser spezifischen Liquida-Metaphorik auch Mateiu 2005.

17 Erzählt wird hier die Endlos-Geschichte der ewig vergeblich auf die Rückkehr des Geliebten wartenden Frau ("Et elle, elle l'attend chaque soir sur la rive. […] Depuis la guerre, elle l'attend... L'attend... L'attend..." Amour 191), die später zum Sujet der Femme qui attendait entfaltet wird und dabei eine signifikante Umdeutung erfährt. Die Protagonistin dieses Romans ist nicht hilfloses Opfer ihrer 'asiatischen' Resignation; sie hat dieses scheinbar absurde Leben (das ihr unter dem Vorwand des Wartens auf jenen einzigen Mann nicht zuletzt beträchtliche persönliche Freiheit und die respektvolle Distanz aller anderen Männer garantiert) gewählt und kultiviert ihren privaten Mythos – auch wenn der junge Kriegsheld niemals wiederkehren wird und nicht einmal einen heroischen Tod gestorben ist, sondern vielmehr eine brillante Politkarriere gemacht und sich samt neuer Familie in der sowjetischen Nomenklatura komfortabel etabliert hat.

18 In früheren französischen Texten über Sowjetrussland tritt die politisch aktualisierte Hypostase dieser 'russischen Frau' häufig als stereotype Trägerin der Erlösung oder des Verderbens auf, der ein französischer Mann – je nach ideologischer Tendenz – als zu bekehrender Individualist oder als stolzer Verteidiger des Abendlandes gegenübersteht; oft wird das Gender-Thema explizit zwischen beiden diskutiert – so etwa in Pierre Mac Orlans La Cavalière Elsa (1921), in André Salmons / René Sauniers Natchalo (1922), in Paul Morands Je brûle Moscou (aus L'Europe galante, 1925) oder auch in Romain Rollands L'Ame enchantée IV: L'Annonciatrice (1933). Manchmal wird die angebliche Bedrohung für die europäische Kultur, die von der Sowjetunion ausgeht, in einer weiblichen Figur 'inkarniert' und eliminiert; so in Morands Novelle La mort du cygne (aus Rococo, 1933).

19 Die Überzeugung, dass es diesem melancholisch-femininen Russland an jedem eigenen Charakter, an jeder eigenen Initiative mangle, zieht sich leitmotivisch durch französische Diskurse über Russland – schon vor Custines Klassiker La Russie en 1839, nach Ryklin der "Urtext der russisch-europäischen Grenzziehung" (Ryklin 1998 / 99: 159), der diese Clichés endgültig als Evidenzen etabliert. Masson erklärt schon 1800 in seinen Mémoires secrets sur la Russie: "Le caractère russe, a-t-on dit, est de n'en avoir aucun, mais de savoir merveilleusement s'adapter celui des autres nations" (zit. in de Grève 2002: 1187). Nach Custine sind und bleiben die Russen "hommes d'apparence" (zit. ebd.: 1222), bloße "Marionetten", deren groteske Imitation "französischer Grimassen" beim Autor den heftigen Wunsch weckt, ihnen die Masken herunterzureißen: "Si je séjournais ici un peu de temps, j'arracherais leur masque à ces marionnettes; car je m'ennuie de les voir copier les grimaces françaises" (zit. ebd.: 985).

20 Die metaphorisch-metonymische Affinität zwischen dem Fluss 'Amour' und dem weiblichen Körper beschwört schon Joseph Delteils Sur le fleuve Amour (1927; zu Delteils "syntopischem" Roman vgl. Wagner 1996: 143ff.: "Syntopische Prosa: Sur le fleuve Amour (Joseph Delteil)").

21 Olga – die Aristokratin mit französischer Vergangenheit, die Exzentrikerin in der sibirischen Provinz, die stolz erklärt: "Ma folie est d'avoir vu Paris…" (Amour 196) – ist als jene quasi-(groß)mütterliche Initiationsfigur, die die Jugendlichen in die französische Sprache und Literatur einführt, eine Vorgängerin der geheimnisvollen, seit Jahrzehnten im russischen Exil lebenden Französin, die in Le testament français als 'Charlotte', in Requiem pour l'Est als 'Sacha', in La terre et le ciel de Jacques Dorme als 'Alexandra' auftritt – wobei Alexandra ursprünglich wohl ebenfalls 'Charlotte' hieß und über die Kosenamen 'Choura' und 'Sacha' zu ihrem neuen Namen gekommen ist (Makine 2003: 56); auch Charlotte in Le testament français wird gelegentlich 'Choura' genannt (Makine 1995: 30f.).

22 Dieses Motiv der 'erstickenden' Wörter, die sich schließlich selbst in jene amorphe Materie zu verwandeln scheinen, die sie doch eigentlich überwinden sollten, findet sich auch in anderen Texten Makines: "ce liquide verbal dont on se sent obligé, on ne sait pourquoi, de remplir le silence" (Makine 1995: 156); "cette bouillie vocale qui englue tout objet et tout être" (ebd.: 158); "l'incessant brouhaha de mots […] une interminable bouillie verbale" (Makine 1998: 18).




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23 In seinem berühmten Playboy-Interview aus dem Jahr 1964 betont Vladimir Nabokov, der seine 'idiosynkratische' Aversion gegen Dostoevskij ein ganzes literarisches Leben lang kultivierte, die Differenz zwischen der westlichen und der russischen Dostoevskij-Rezeption: er erklärt spöttisch, die Russen liebten Dostoevskij längst nicht so sehr wie die Amerikaner (oder auch die Nabokovs Roman Podvig (1932) zufolge in ihn regelrecht 'verliebten' Deutschen; vgl. Nabokov 1989: 235); wenn überhaupt, verehrten sie ihn als Mystiker und nicht als Künstler. Nabokov selbst charakterisiert Dostoevskij als "Propheten", als "schwülstigen Journalisten" und "Schaubudenkomiker", dessen ewige "sentimentale Mörder und seelenhafte Prostituierte" absolut unerträglich seien (Nabokov 1997: 585). In eine ähnliche Richtung weist der Kommentar einer russischen Figur in Martin Amis' House of Meetings: "Your peers, your equals, your secret sharers, in the West: the only Russian writer that still speaks to them is Dostoevsky, that old gasbag, jailbird, and genius. You lot all love him because his characters are fucked-up on purpose. This, in the end, was what Conrad couldn't stand about old Dusty and his holy fools, his penniless toffs and famished students and paranoid bureaucrats" (Amis 2007: 57). Der Philosoph Michail Ryklin reflektiert die Doppelbödigkeit des westlichen Enthusiasmus, der Künstler oder Schriftsteller, die sich auf ganz anderem Terrain einen Namen gemacht haben, nachträglich zu 'repräsentativen' Instanzen Russlands stilisiert – Ilja Kabakov ebenso wie Dostoevskij. Letzterer sei im Gegensatz zur weit verbreiteten Ansicht, "daß er das Geheimnis der russischen Seele enthülle", vielmehr "der europäischste aller russischen Schriftsteller", in Wirklichkeit auch in (West)Europa anerkannt "aufgrund einer bestimmten literarischen Technik" und nicht aufgrund eines mystisch überhöhten 'Russentums' (Ryklin 2006: 247).

24 Zu Makines virtuosem Spiel mit seinem Proustschen Intertext vgl. McCall (2005b: 984): "[…] Makine has created an A la recherche of another era, a novel which by its prolific references to its intertext and its author also highlights its differences and originality."

25 In Requiem pour l'Est problematisiert Makine die westliche Verachtung für ein postsowjetisches Russland, das angeblich nur mehr ein "Gespenst" seiner selbst sei: "'Non, écoutez, soyons sérieux, politiquement ce pays est un cadavre. Ou plutôt un fantôme. Un fantôme qui espère encore faire peur mais qui fait plutôt rire.' […] Ce jour-là, la Russie fantôme fit mouche. […] il fallait dénigrer le pays fantôme. […] Le sobriquet de 'pays fantôme' me poursuivit quelque temps à la manière d'un obsédant refrain court-circuité par la mémoire" (Makine 2000: 255ff.).