PhiN 46/2008: 14



Steffen Greschonig (Berlin)



Amok und Literatur.
Zur fiktionalen Ästhetisierung eines sozialen Risikos bei Hermann Hesse und Stefan Zweig



Amok and Literature. On the Fictional Aestheticisation of a Social Risk in Texts by Hermann Hesse and Stefan Zweig
This interdisciplinary paper has two major objectives. First, it attempts to describe and discuss the representation of the phenomenon Amok ('running amok') in two German short novels: Klein und Wagner by Hermann Hesse and Der Amokläufer by Stefan Zweig. Second, it examines the question to what extend these literary texts can be regarded as readings of extreme social discontinuity and, precisely, how they transform the phantasm of (running) amok into an aesthetic category.



Dieser Beitrag hat im Wesentlichen zwei Erkenntnisinteressen. Zum einen extrahiert er die Explikation des Phänomens 'Amok' in zwei Novellen – Klein und Wagner aus der Feder Hermann Hesses und Der Amokläufer aus der Stefan Zweigs.1 Zum anderen geht er der Frage nach, inwieweit diese literarischen Texte Amok als Kategorie extremer sozialer Diskontinuität lesbar machen und ästhetisch modifizieren.

Hans-Joachim Neubauer erkennt im Amokläufer, im "Rasenden", den pervertierten Bruder des Flaneurs,2 der als personifiziertes Risiko der Berechenbarkeit des Alltags widerspricht. Joseph Vogl subsumiert den Amokläufer "als Sinngeber und Apokalyptiker des Risikos" (Vogl 2000: 87), dessen Handeln "weder […] ruhmreiche Tat noch schlichte Verworfenheit, weder in Psychoneurosen auflösbar noch bloßes Verbrechen" (Vogl 2000: 87) ist, sondern schlichtweg "Risiko"; ein Risiko, das die statistisch beschreibbare Normalität des Alltags zwar konterkariert, gleichwohl aber aus dieser hervorgeht.

Wer […] plötzlich und fast ohne Anlass aus dem gleichmäßigen Takt heraus gefallen ist und nun blind und unbeirrt zugleich eine andere Bahn zieht, der hat sich in ein Projektil verwandelt, gegossen aus den Elementen der Normalität. (Vogl 2000: 77)




PhiN 46/2008: 15


Literatur ist diesbezüglich jenes Laboratorium, in dem vermeintlich ohne weitere Konsequenzen durchgespielt werden kann, was jedweder außerliterarischen Logik zu widersprechen scheint. In literar-ästhetischer Hinsicht repräsentiert 'Amok' den gewalttätigen Einbruch des Unerwarteten in das Kalkül des literarischen Texts und unterminiert damit statistische Kategorien wie Plausibilität der Handlung, Stilsicherheit und Werktreue. Das Schreiben über Amok korreliert das Risiko, das, worüber geschrieben wird, mit dem Produkt des Schreibenden, dem Text, und wird zum punctum (vgl. Barthes 1989) gleichermaßen für den Rezipienten wie den 'Autor' und dessen 'Werk'. Für Roland Barthes ist das punctum

Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das 'punctum' […], das ist jenes Zufällige […], das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). (Barthes 1989: 35-36)

Die "zeitweilige Leere" die das punctum generiert, das "blinde Feld", das es hinterlässt (vgl. Barthes: 66), lässt einer expansiven Kraft zum Wirken, die Barthes als eine metonymische beschreibt (vgl. Barthes 1989: 55). In diesem Sinne wird der (über) Amok Schreibende zum Amokläufer der Textproduktion und stellt seinen Autorennamen grundsätzlich zur Disposition, wird zum Risiko für das eigene Werk.3 Andererseits ist Amok bisweilen aber auch das aufgehende Kalkül des Schreibenden, das – hält das geneigte Lesepublikum eine entsprechende poetische Distanzierung für plausibel – Autor und Werk erst gerade voranbringen.

Für Hermann Hesses Lebenskrise, die sich biographisch in der Trennung von seiner Familie ausdrückt, wird der Fall des Amokläufers Wagner zum point de départ der Expressionierung des eigenen Schreibstils. Stefan Zweigs großer literarischer Erfolg stellt sich mit einem Novellenband namens Amok ein, dessen zuvorderst exponierte Novelle mit "Der Amokläufer" betitelt ist. Und bereits mehr als ein Jahrhundert zuvor setzt Heinrich von Kleist in Michael Kohlhaas einen Amoklauf avant la lettre4 , der als F(r)iktion einer widerstreitenden Gerechtigkeitsutopie mit den realen Wirklichkeitsverhältnissen beschreibbar ist und ganz nachhaltig seinem literarischen Erfolg vorarbeitet.

Bevor die Mechanismen dieser Poetisierung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen werden, zunächst zur Frage, was Amok von anderen Gewalthandlungen absetzt, was unter Amok – sich kulturgeschichtlich wandelnd – im zunächst außerliterarischen Sinne verstanden werden muss.

Trotz des starken kulturgeschichtlichen Wandels lässt sich das Phänomen in sozialwissenschaftlicher Hinsicht recht deutlich von anderen (Selbst-)Tötungshandlungen absetzen (vgl. Sofsky, Wolfgang 2002). Die moderne Klassifikation der Todesraserei in Abgrenzung zu anderen Tötungsdelikten greift dennoch – mangels eines fachterminologischen Begriffs – auf die malaiische Bezeichnung 'Amok' zurück.




PhiN 46/2008: 16


Ursprünglich keine individuelle Kategorie unbändiger Todesraserei bezeichnete Amok zunächst eine alte Kriegstradition. Sich unter dem Motto 'Sieg oder Tod' mit Todesverachtung in die feindlichen Reihen zu werfen, folgte zwar keinem taktischen und schon gar keinem strategischen Kalkül, gereichte aber sowohl dem religiösen Eiferer als auch dem seinem Fürsten in bedingungsloser Loyalität ergebenen Krieger zu einer letzten Ehre; vor allem dann, wenn andere Wege bereits aussichtslos erschienen waren (vgl. Sofsky 2002: 41 und Adler 1999: 10).

Eine Individualisierung von Amok außerhalb des Kriegskontextes beschrieb erstmals der Portugiese Nicola Conti im frühen 15. Jahrhundert. Menschen, vorwiegend Männer, die nach überstandener Krankheit sich selbst opfern wollten, stürzten sich mit dem Kampfgeschrei 'amuco' auf andere, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten und töteten diese – solange, bis sie selbst getötet wurden (vgl. Adler 1999: 12). Allein der Ausruf 'Amok' genügte, dass jemand in den Zustand eines homo sacer5 gesetzt wurde, d.h. fortan außerhalb des Rechts stehend rechtmäßig von jedem anderen getötet werden konnte. So beschrieben nicht zuletzt europäische Reisende, Ethnologen und Kolonialbeamte im 19. Jahrhundert den Amoklauf in Südostasien, der sich, soziokulturell wandelnd, zunehmend von seinen religiösen und kulturellen Ursprüngen entfernend nahezu zu einem Massenphänomen gewandelt hatte. So wurden an Straßenkreuzungen und Polizeistationen häufig "spezielle forkenähnliche, spitze Geräte deponiert" (Adler 1999: 14), um Amokläufer abzuwehren und gegebenenfalls auch töten zu können.

Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, versteht heute unter Amok

eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d.h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid (Selbsttötung). (WHO 2001)

Diese Definition beschreibt das Phänomen in nüchternen Worten. Literatur dagegen verschlüsselt es nicht nur, sondern konstituiert auch eine negative Ästhetik, die im Fortfolgenden expliziert werden soll.

Zunächst aber zu einem weiteren Konnex von Amok und Literatur; eine Verbindung, die mitunter über die Ästhetik hinausgehende, weitreichende Folgen hat. Die Phänomenologie von Amok als literarisches Prinzip, die einen Codierungsprozess, eine Entpragmatisierung –meist männlicher – Aggressivität beschreibt, hat über ihre negative Ästhetik hinausgehend eine noch dunklere Seite, in der es im Folgenden nur in Parenthese – vor allem aber zur Verdeutlichung der Relevanz des Konnexes von Amok und Literatur – gehen soll: die literarische Antizipation von Amok bzw. die Dokumentation eines pathologischen Entwicklungsprozesses anhand fiktionaler Texte vor einem tatsächlichen Amoklauf.




PhiN 46/2008: 17


Als der dreiundzwanzigjährige Anglistikstudent Cho Seung-Hui am Morgen des 16. April 2007 auf dem Campus der "Virginia Polytechnic Institute and State University" (Virginia Tech) in Blacksburg 32 Menschen tötete, 29 weitere verletzte und anschließend Suizid beging, gab es medial gleich zwei traurige und beängstigende Rekorde zu vermelden. Zum einen handelte es sich um den im Hinblick auf die Opferzahl folgenschwersten Amoklauf seit Menschengedenken6 , zum anderen um den wohl auch bestdokumentierten. Seung-Hui hatte umfangreiches Videomaterial namhaften Fernsehsendern zugesandt. Überdies hatte er als Teilnehmer eines Kurses für dramatisches Schreiben Theaterstücke verfasst, die – von Kommilitonen und Kursleiterin als verstörend, als "morbid" und "grotesk" empfunden – als Dokument seiner voranschreitenden psychosozialen Entwurzelung im Sinne einer phantasmatischen Antizipation seines Amoklaufs gelesen werden können und tatsächlich auch wurden. So äußert unter anderem ein Protagonist in einem dieser Stücke den Wunsch, während eines Amoklaufs einen seiner Lehrer und seinen Stiefvater zu töten.

Nach Rezeption dieser Texte versuchte die Kursleiterin, die Englischprofessorin Lucinda Roy, Einfluss auf Seung-Hui zu nehmen und ihn dazu zu bewegen, die psychologische Beratungsstelle der Universität aufzusuchen. Ferner informierte sie sowohl die Universitätspolizei als auch die Verwaltung, die aber ob des Ausbleibens konkreter Drohungen seitens Seung-Hui keine Veranlassung und Handhabe sah, gegen ihn etwas zu unternehmen (vgl. ffr/Reuters/AFP/dpa/AP 2007).

Fiktionale, also literarische Texte – welcher Qualität auch immer, sei dahingestellt – waren im Falle des Virginia-Tech-Massakers die Vorboten eines in seiner Radikalität plötzlich auftretenden Ereignisses. Ein tatsächlich realisierter Amoklauf wurde im Gewand des fiktionalen Texts – wenn auch in abweichender Ereignishaftigkeit – antizipiert.

Die Historiographie des Amok weist aber auch Fälle auf, bei denen der Tat die literarische Rezeption folgt; sei es durch den Täter selbst oder durch andere, die sich des entsprechenden Stoffes annehmen. Ersteres geschah im Falle des schwäbischen Lehrers Ernst August Wagner, der im Wahn zunächst seine eigene Familie auslöschte, nach einer sich anschließenden Bahnfahrt in Mühlhausen bei Vaihingen an der Enz mehrere Brände legte und wahllos auf die vor den Flammen Flüchtenden schoss.7 Wagner wurde überwältigt. Ermittlungen und ein darauf folgender Prozess förderten zu Tage, dass er ferner noch geplant hatte, die Familie seiner Schwester auszulöschen, das Ludwigsburger Schloss niederzubrennen und sich im Bett des Fürsten Carl Eugen von Württemberg zu erschießen. Ein Urteil erging dennoch nicht. Vielmehr wurde der Prozess – erstmalig in der württembergischen Rechtsgeschichte – wegen Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten eingestellt. Kurioserweise war einer der Gründe für Wagners Amoklauf wohl auch seine Kränkung darüber, als literarisches Genie verkannt worden zu sein. Insbesondere während seiner Haftzeit versuchte er dann verstärkt aber vergeblich, selbst geschriebene Theaterstücke zur Aufführung zu bringen, in denen er seine Taten verarbeitet hatte.




PhiN 46/2008: 18


Gleich zwei Autoren widmeten sich wiederum der fiktionalen Auseinandersetzung mit dem Fall Wagner. Neben Franz Werfel, der ihn 1923 in seinem Drama Der Schweiger verarbeitete, war es anno 1919 Hermann Hesse, der ihn zunächst rezipierte.


Hermann Hesse: Klein und Wagner

In seiner Novelle verquickt Hesse die Biographien zweier Männer, die, beide straffällig geworden, sich jeweils eines Verbrechens – der Eine äußerst fatal, der Andere minder gravierend – schuldig gemacht hatten. Dem Einen werden dabei Erinnerungen an die Berichterstattung über den Anderen eingeschrieben. Der Familienvater und Bankbeamte namens Friedrich Klein flieht nach Unterschlagung und Urkundenfälschung, Heimat und Familie verlassend, mit dem Zug in Richtung Süden. Nachdem er von Verzweiflung und Grübelei in Mitleidenschaft gezogen in einer italienischen Stadt ankommt, trifft er alsbald auf die Tänzerin Teresina, die als Projektionsfigur unbewusster Sehnsüchte und Wünsche mit seinen bürgerlichen-moralischen Wertvorstellungen einen zusätzlichen Konflikt herauf beschwört. Zudem befällt Klein immer wieder eine Erinnerung an den Schullehrer Wagner, der in einem Amoklauf seine Familie umgebracht hat, und mit dem sich Klein nun immer enger verbunden fühlt. Lebenszweifel, begleitet von Angst- und Schuldgefühlen, werden immer stärker. Eine Woche nach seiner Flucht gibt Klein seinen Suizidphantasien nach und ertränkt sich in einem nahe gelegenen See.

Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit gleich in dreifacher Hinsicht kennzeichnet den Text als Werkbestandteil des 'Autors' Hermann Hesse. Zum ersten war es das Sujet des Verbrechens, das die vormals von ihm bearbeiteten Stoffe konterkariert. Zum zweiten zeigt der Text im Vergleich mit vorangehenden Texten eine Abkehr von der "neoromantischen Schreibart" (Singh 2006: 129), die gleichzeitig eine Hinwendung zum Expressionismus impliziert. Zum dritten zeichnet in biographischer Hinsicht die Trennung des Verfassers von seiner Familie für den Text verantwortlich (vgl. Singh 2006: 130).

Ich habe […] eine Novelle geschrieben, die den meisten meiner frühern Freunde Bauchweh machen wird, die aber gut und wichtig ist, zum Teil ein Bruch mit meiner Vergangenheit, zum Teil ein Neubeginn, in noch nicht betretene Gebiete hinein. (Hesse 1985: 76)

Dieser Bruch wird als Allegorie auf das kollektiv verdrängte Unbewusste exemplarisch an der Selbstentfremdung des Individuums in der Moderne lesbar gemacht. Der historische Stoff wird dabei auch im Hinblick auf den Amokläufer Wagner fiktional modifiziert.




PhiN 46/2008: 19


Hesses Wagner wird eben nicht als erster schuldunfähiger Mörder Württembergs zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt, sondern richtet sich selbst und geht dem suizidgefährdeten Klein in diesem Tun voran.

Die Koinzidenz gemeinsamen Fühlens und Handelns beginnt mit einer Zwangsvorstellung über das Töten der eigenen Familie und erweckt erstmalig eine vage Erinnerung an den Amokläufer W., der Jahre zuvor seine Familie ausgelöscht hatte und von dem Klein zu entsprechender Zeit in der Zeitung gelesen hatte (vgl. Hesse 2001: 220). Alsbald kann sich Klein dann auch an den Namen des Amokläufers erinnern, allerdings ohne ihn sogleich zuordnen zu können. "Plötzlich fand er den Namen 'Wagner' auf seinen Lippen." (Hesse 2001: 223); einen Namen, der bei ihm zunächst Assoziationen an den Komponisten Richard Wagner evoziert – dessen Werk im Romankontext als folgenreicher Amoklauf der Musikgeschichte erscheint und an dem Klein in seiner Jugend außerordentlichen Gefallen gefunden hatte. In späteren Jahren verkehrt sich die Schwärmerei in Hass; einen Hass, den Klein in ähnlicher Form auch seiner Frau entgegenbringt, die er im Gegensatz zu Richard Wagners Musik allerdings nie geliebt hatte. Mittels inneren Monologs lässt Hesse Klein über Mordgedanken sinnieren und dabei auch an seine Frau denken, als ihn eine assoziative Eingebung just zusammen schrecken lässt.

Und dann die Mordgedanken. Und hatte nicht der Haß, der ihm selber hätte gelten sollen, auch gegen jenen Schullehrer –––
er schrak plötzlich zusammen. […] Der Schullehrer und Mörder hatte ja – Wagner geheißen! (Hesse 2001: 224)

Diese Assoziation trifft Klein wie der "Wurf der Würfel"(Barthes 1989: 35). Sie ist als Geistesblitz jener "Stich", den Barthes als punctum beschreibt. Die hinterlassende Leere, jenes "blinde Feld" offenbart "üble Schatten", die ihm seine Irrtümer und Lebenslügen gedanklich präsent werden lassen. Obschon Klein Amok in seiner bürgerlichen Existenz stets abgelehnt hatte, "hatte sein Innerstes den Schullehrer Wagner verstanden und seinem entsetzlichen Schlachtopfer zugestimmt." (Hesse 2001: 225)

Das punctum ist Ausgangspunkt eines allmählichen Erwachens, ein Beginn des Bewusstwerdens des eigenen Unbewussten. Eine fortan immer wieder auftauchende Hell-Dunkel-Metaphorik beansprucht und ästhetisiert dabei den ihr eingeschriebenen Wahrheitsanspruch: "es blieb alles Wichtige noch so dunkel, aber eine gewisse Helligkeit, eine gewisse Wahrheit war doch gewonnen." (Hesse 2001: 226) Die sich aufhellende Wahrheit geht einher mit der Verdunklung der eigenen Weltsicht und steht im Zeichen einer negativen Dialektik, die in sozialpsychologischer Hinsicht – Jahre später – Adorno und Horkheimer als Dialektik der Aufklärung beschreiben werden (vgl. Adorno/Horkheimer 1944).




PhiN 46/2008: 20


Die der Aufklärung erwachsende Erleuchtung ist stets mit der dialektischen Reaktion einer drohenden Verdunklung verbunden. Sie zeitigt im psychosozialen Sinne pathologische Reaktionen wie Suizid und Amok.

Diese der – so gesehen – negativen Dialektik erwachsende Differenz wird als Delinquenz, als 'Verbrechen', zum ausgegrenzten Eingegrenzten. Der Verbrecher ist als solcher immer noch Teil der Gesellschaft und bisweilen nicht zu erkennen. Mithin weiß er selbst nicht, wer oder was er ist. Wagner wird für Klein immer mehr zur Projektionsmatrix eigener Delinquenzphantasien. Und Teresina bringt auf den Punkt, was Klein mittlerweile selbst für möglich hält. "Einen Augenblick lang hielt ich es für möglich, daß Sie ein Verbrecher sind." (Hesse 2001: 246)

Die entsprechend negative Dialektik nimmt zunehmend Besitz von Kleins Denken und Fühlen, obschon der Duktus pantheistischen, eine Magie von Zahlenordnungen einbeziehenden Weltempfindens retardierend entgegen wirkt: "Dunkles wurde hell, und das Einmaleins wurde zum mystischen Bekenntnis." (Hesse 2001: 253) Letztlich nimmt Klein die Welt zunehmend in Kategorien wie Gut und Böse, Warm und Kalt sowie Hell und Dunkel als Ausdruck einer manichäischen Sichtverdunklung wahr; Oppositionen, die sich ob ihrer schwarzen Mystik willen dekonstruieren.

das wenige dünne Licht floß über einen roten steinernen Boden und verlief sich, ehe es die Wände und Decke erreichte, in dichte warme Dämmerung, und von dem ungeheuer und tiefschwarz herabhängenden Rauchfang schien eine unerschöpfliche Quelle von Finsternis auszufließen. (Hesse 2001: 255)

In einer Suizidphantasie, für deren martialische Drastik die Morgue-Gedichte Gottfried Benns wie expressionistische Prätexte anmuten, parallelisiert Hesse das Leiden Kleins und den Amoklauf Wagners:

Tief fraß sein Leid sich in diese Visionen ein, mit Beifall und Wollust hörte, sah und schmeckte er die gründliche Zerstörung des Friedrich Klein, fühlte sein Herz und Gehirn zerrissen, verspritzt, zerstampft, den schmerzenden Kopf zerkracht, die schmerzenden Augen ausgelaufen, die Leber zerknetet, die Nieren zerrieben, das Haar wegrasiert, die Knochen, Knie und Kinn, zerpulvert. Das war es, was der Totschläger Wagner hatte fühlen wollen, als er seine Frau, seine Kinder und sich selbst im Blut ersäufte. (Hesse 2001: 260)

Der sich anbahnende Sommer und die aufkeimende Liebesbeziehung zu Teresina ist angesichts derartiger Phantasien nunmehr retardierendes Moment. Die Angebetete kommentiert schließlich die Krise des mittlerweile seit mehreren Tagen schlaflosen Kleins mit der Aufforderung: "nimm Veronal, wenn du es brauchst. Du lebst wie ein Selbstmörder" (Hesse 2001: 273); Veronal, jenes Schlafmittel, das für gewöhnlich paradoxerweise gerade nicht den Suizid verhinderte,8 sondern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradewegs im Schlaf Selbstmörder machte.




PhiN 46/2008: 21


Als Klein eines Nachts wachend neben der schlafenden Teresina liegt, erhebt er sich plötzlich, um ein Messer zu suchen, findet aber einen Spiegel; jenes Dazwischen, das den Lebendigen vom Toten scheidet. Als er sich in diesem betrachtet, bemerkt er seinen, den Identitätsverlust Kleins, und erkennt stattdessen die Züge Wagners wieder.

Er hatte ein Ding in die Hand genommen, das auf einem Tische lag, und sah es an. Es war ein silberner ovaler Handspiegel, und aus dem Spiegel schien ihm sein Gesicht entgegen, das Gesicht Wagners, ein irres verzogenes Gesicht mit tiefen schattigen Höhlen und zerstörten, zersprungenen Zügen. […] Dies Gesicht des ehemaligen Friedrich Klein hatte ausgedient, Untergang schrie aus jeder Falte. (Hesse 2001: 277)

Der sich bald anschließende Selbstmord ist in diesem Sinne dann auch nicht die Auslöschung des eigenen Selbst, sondern die Entledigung von jenem Anderen, jenem Fremden, das Tod und Vernichtung über die Grenzen der eigenen Psyche hinaus in die Welt zu tragen trachtet: "Nun mochte Wagner sterben! Er, Klein, würde leben." (Hesse 2001: 281)

Der Schatten des Mörders Wagner, der "über Kleins Leben gefallen war" (Hesse 2001: 281), dessen Amoklauf selbst, hatte über die Jahre hinweg immer stärker von Letzterem Besitz ergriffen, ihn in den Wahn getrieben und erschien ihm als Ausgangspunkt all seiner Ängste und seines Leids. Der Amoklauf Wagners wird von Klein als auslösender Faktor für seinen Suizid gedeutet und damit auch zum Katalysator einer Poetik des Todes (vgl. Mayer 1997), die in einer Epiphanie als Erlösung wirkt und weltliche Oppositionen wie Gut und Böse endgültig aufzulösen vermag. Nietzsches Konzept des Dionysischen wird hier virulent, der Rausch des Todes, die Agonie, führt Klein dann letztendlich aber doch zu Gott: "Mit einer neuen, gewaltigen, hellen, hallenden Stimme sang er laut und hallend Gottes Lob, Gottes Preis." (Hesse 2001: 283)

Klein und Wagner konstituiert schon aus diesem Grunde keine Poetik des Amok, sondern allenfalls eine der suizidalen Selbstauslöschung, die vom drohenden Damoklesschwert eines nachvollzogenen Amoklaufs entwaffnet. Der Fall Wagner ist und bleibt lediglich fragmentarischer Prätext und wird nicht zum poetologischem Programm einer Literatur des Amok. Eine Poetik des Todes, an der die prätextuelle Einschreibung des Wagner-Stoffes maßgeblich teilhat, konstituiert der Text nichtsdestoweniger.

Stefan Zweig dagegen radikalisiert schon in der Wahl des Titels Der Amokläufer sein Unterfangen, Amok als Ästhetik des sozialen Risikos virulent werden zu lassen. Eine Position, die Hesse seinerseits zu riskant gewesen sein mochte. Schließlich war er alles andere als ein enthusiastischer Erstleser des Zweigschen Novellenbandes. Im Briefwechsel mit dem vier Jahre älteren Hesse insistiert der junge Zweig und legt dem von ihm so geschätzten, bereits etablierten Autor die Lektüre seiner Amok-Novellen9 zum wiederholten Male und recht nachdrücklich ans Herz. Hesse hatte diese nicht zum Gegenstand seines vorangegangenen Briefes vom 27. November 1922 gemacht:




PhiN 46/2008: 22


Vielleicht werden Sie in meinen neuen Novellen Amok, die Ihnen hoffentlich von der Insel zugegangen sind – wenn nicht, bitte ich um Verständigung! –, einiges lesen, was den andern verdunkelt oder verschlossen bleibt. (Zweig 2006: 116)

Verdunklung und Erhellung sind dann auch wie schon bei Hesse jene Mechanismen, die Zweig in ästhetischer Hinsicht zum Katalysator der – gemäß der klassischen Goetheschen Definition – "unerhörten Begebenheit" seiner zuvorderst exponierten "Novelle der Leidenschaft" – so der Untertitel des Bandes Amok – macht.


Stefan Zweig: Der Amokläufer

Eine Passagierschifffahrt von Kalkutta nach Neapel bildet die Rahmenerzählung der Novelle. Der Ich-Erzähler derselben trifft auf einen sich auf der Flucht befindenden Arzt, der gleichfalls Ich-Erzähler seines Schicksals in der Binnenerzählung ist.

Alsbald generiert der Text eine negative Ästhetik des Lichts. Dessen punctum ist die Erhellung des Dunklen in einer durch Amok verdunkelten Umgebung. (Zweig 1931: 12) Wie bei einem Photonegativ verkehren sich unter dem Vorzeichen von Amok die Lichtverhältnisse.

Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten, aber doch: er strahlte, es war, als verhüllte ein samtener Vorhang ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen durch die jenes unbeschreiblich Helle vorglänzte. (Zweig 1931: 12)

Und auch der Beginn der Binnenerzählung weist durch ein im Zwielicht der Mondnacht stehendes Arrangement in diese Richtung. Nachdem der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung des Nachts auf den Arzt als Ich-Erzähler der Binnenhandlung trifft, schickt sich Letzterer an, aus dem Dunkel heraus seine Geschichte zu erzählen. In seiner Tropenpraxis hatte ihn vor einiger Zeit eine wohlhabende Engländerin aufgesucht und in hochmütigem Ton aufgefordert, an ihr eine Abtreibung vorzunehmen. Allerdings hatte sie es abgelehnt, ihn darum zu bitten; auch dann noch, als dies der Arzt zur notwendigen Bedingung für den Eingriff gemacht hatte: "Nein – ich werde sie nicht bitten. Lieber zugrunde gehen!" (Zweig 1931: 44) Als Reaktion auf die Kränkung der hochmütigen, ihn nicht bitten wollenden Frau verfällt der Arzt einer innerlichen Raserei – "Da packte mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn!" (Zweig 1931: 44). Dennoch bzw. gerade deswegen kann er sich einer seltsamen Faszination nicht erwehren.




PhiN 46/2008: 23


Das Verhalten der Frau weckt seine Leidenschaft und bringt ihn zum Äußersten. "Eine Stunde im ganzen, nach dem diese Frau in mein Zimmer getreten, hatte ich meine Existenz hinter mich geworfen und rannte Amok ins Leere hinein…" (Zweig 1931: 51) Der innere Monolog des Ich-Erzählers beschreibt den sich verfestigenden Zustand des 'Amok' als dauerhafte Raserei, als "Anfall mörderischer sinnloser Monomanie" (Zweig 1931: 49)

Obschon der Arzt von sich behauptet "ich lief Amok, ich sah nicht nach rechts und nicht nach links." (Zweig 1931: 58), ist dieser Amoklauf zunächst mitnichten einer, der die Grenzen von Phantasie und Vorstellung überspringen würde. Zwar hegt er Amokphantasien und schlägt dem "Boy", dem einheimischen Dienstboten der Engländerin ins Gesicht, als dieser sich ihm in den Weg stellt. Der Amoklauf selbst aber bleibt auch in dieser Situation ein Irrealis: "Zum Glück hatte ich keinen Revolver bei mir. Ich hätte ihn sonst niedergeknallt." (Zweig 1931: 47) Zweifelsohne aber bricht der Arzt mit den gesellschaftlichen Konventionen, als er jene Kultur der Lüge in Frage, die ihm trotz des gesetzlichen Verbotes von Abtreibung dieselbe geboten hätte. Gesetzestreue vortäuschend gibt er nicht nur seiner tiefen Kränkung nach, sondern macht sich selbst die "Tollheit", jene "Hundswut" zu eigen, die er mit chauvinistisch imperialem Unterton – kulturhistorisch durchaus nicht unadäquat – den Malaien zuschreibt und mit deren Raserei er sein eigenes Tun im Ansinnen der Selbsterniedrigung vergleicht.

Als er als Folge dieser Krise den Vizeresidenten um Versetzung bittend wenig später auf einem Bankett der Engländerin wieder begegnet, wachsen sich Angst, Gier und Bewunderung weiter ebenso aus wie Leidenschaft und Unbeherrschtheit. Seine Reaktion auf ihre Hochmütigkeit wird zunehmend zum gesellschaftlichen Amok, zum Fauxpas eines "mit polternden Schuhen" lärmenden Laufs durch das "im grellen Licht" hell erleuchtete Regierungsgebäude. "Ich hörte meine Schritte, ich sah alle Blicke erstaunt auf mich gerichtet …" (Zweig 1931: 61)

Der Arzt wird dabei zum schwarzen, negativen punctum eines grell ausgeleuchteten Gesellschaftsbilds, zum Vorboten eines Unheils, das sich durch Konvention und Humor nicht mehr aufhalten lässt. Das vermeintlich "helle[…], unbesorgte[…], herzliche Lachen" (Zweig 1931: 61) und der Versuch der Engländerin, die Situation mit einem flapsigen "ja, die Herren der Wissenschaft" zu retten, verdeckt mehr schlecht als recht ihren Blick, der das Aggressionspotential einer sich zunehmend in Gewalt entäußernden spätkolonialen Gesellschaft offenbart: "ihre Augen stießen wie ein grauer Stahl in mich hinein." (Zweig 1931: 61)10

Amok- und nun auch vermehrt Suiziderwägungen lassen den Arzt nicht mehr los. In seinem Entschluss, sich entgegen erster Erwägungen nun doch nicht unverzüglich zu erschießen, will er keine Feigheit sehen, sondern das Pflichtbewusstsein, der hochmütigen Engländerin noch helfen zu wollen. Er "begann ihr zu schreiben … alles zu schreiben … einen hündisch winselnden Brief" (Zweig 1931: 63), in dem er sich selbst als "Wahnsinnigen" und "Verbrecher" bezeichnend zu erklären versucht und




PhiN 46/2008: 24


schlussendlich – hier setzt er seinen sozialen Amoklauf fort – damit droht, dass er sich, sollte sie ihn nicht um Verzeihung bitten, erschießen werde.

In diesem Ansinnen beschreibt er das sich anschließende Warten: "gewartet, gewartet, gewartet ... aber eben gewartet wie … wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch, mit dieser rasenden geradlinigen Beharrlichkeit" (Zweig 1931: 65)

Die Botschaft der Engländerin ist mitnichten ein Wort der Verzeihung, sondern nach wie vor in hochmütig herrschaftlichem Ton gehalten: "Zu spät! Aber warten Sie zu Hause! Vielleicht rufe ich sie noch." (Zweig 1931: 66) Der plötzlich eintreffende "Boy" führt den Arzt zu einer Kurpfuscherin. Nach missglücktem Abort liegt dort die Engländerin im Sterben. Die Dunkelheit, in die der Arzt durch seinen 'Amok' die Beteiligten geführt hat, offenbart nun wiederum die negative, schwarze Ästhetik des Todes.

Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte mit zitternden Händen eine rusende Petroleumslampe … ich mußte mich halten, um der gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen […] das Lichtlein fiel gelb und hell über den gemarterten Leib. (Zweig 1931: 69)

Dass nun das Pflichtbewusstsein des Arztes für einen retardierenden Moment ebenso zurückkehrt wie ein schwaches Lichtlein den Körper der Sterbenden kurz erhellt, vermag der schwarzen Ästhetik des Todes, die mit der Raserei des Arztes einhergeht, nicht dauerhaft Einhalt zu gebieten. In der Rahmenhandlung glimmen die Brillengläser des ich-erzählenden Arztes. Seine gebleckten weißen Zähne lassen im fahlen Mondlicht das Bezugssubjekt wechseln. Nun ist es der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung, der das von heulendem Zorn gekennzeichnete Erzählen des Arztes veranschaulicht.

Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einemmal fratzenhaft nah. Ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten in plötzlichem Ausbruch, sah die Augengläser im fahlen Refler (sic!) des Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugen glimmen. (Zweig 1931: 70)

Als der Tod der Engländerin eintritt, beginnen sich am Tiefpunkt der Erhellung die Lichtverhältnisse zu wandeln. "Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle zitterte schon unsicher in der Luft" (Zweig 1931: 75) Die Poetik des Amok allegorisiert über den Tod hinaus durch nahenden Morgen und Erhellung zwar das Ende der Verdunklung und der Schatten, markiert aber nicht das Ende des sozialen Amoklaufs. Dieser setzt sich weiter fort. Zur Ehrenrettung der Engländerin muss der Arzt – so glaubt er zumindest in seiner Perspektivenverengung – nun die tatsächlichen Geschehnisse verdunkeln. Schließlich hatte die Engländerin vor ihrem Tod noch gebeten, die wahren Vorkommnisse ihrer Ehre wegen nicht ans Licht gelangen zu lassen.




PhiN 46/2008: 25


Den bald nach ihrem Tod eintreffenden Amtsarzt bringt der Amokläufer durch seine Ankündigung, sich zu erschießen, falls dieser keine falsche Sterbeurkunde ausstellen sollte, zur Klitterung der Wahrheit und dazu, entgegen dessen ursprünglicher Ankündigung eine "Lüge [zu] unterschreiben" (Zweig 1931: 79).

All dies erkauft er sich durch die Ankündigung, "noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien" (Zweig 1931: 80) zu verlassen. Das Ende des sozialen Amoklaufs markiert ein Ticken in seinen Schläfen, eine körperlicher Reaktion: "so wie der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten Nerven." (Zweig 1931: 81)

Dennoch steht der eigentliche, über die Dimension sozialer Beziehungen hinausgehende Amoklauf noch aus. Doch zuvor scheint sich der Arzt noch einmal zu besinnen. Dem Schmerz gepeinigten jungen Offizier, der – selbst fast noch Kind –als Geliebter der Engländerin der Kindsvater gewesen wäre, enthält er die Wahrheit vor: "Ich erzählte eine lange Lüge." (Zweig 1931: 85) Der junge Geliebte seinerseits hingegen verhilft ihm zur Flucht vor dem angereisten Ehemann, der wiederum nicht an einen natürlichen Tod glauben will.

So ist es dann auch bloßer Zufall, dass die Überführung der Leiche nach Europa auf dem gleichen Schiff erfolgt, auf dem auch der Ehemann mit von der Partie ist. Wähnt der Leser den Amoklauf zu diesem Zeitpunkt als bereits beendet, glaubt er noch daran, dass dieser ausschließlich eine Allegorie auf ein soziopathisches Verhalten und dessen Folgen ist, ist es nun die sich den Weg bahnende Paranoia, der Verfolgungswahn des Arztes, der zum Auslöser eines tatsächlichen, die Grenzen von ich-erzählerischer Selbstwahrnehmung überschreitenden Amoklaufs wird: "sie hat mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte" (Zweig 1931: 86). Das Versprechen, ihr Geheimnis der Ehrenrettung halber zu bewahren, ist durch sein Erzählen der Vorkommnisse gebrochen worden. Des Arztes Phantasie der Selbstauslöschung offenbart Perspektivenverengung wie getrübtes Urteilsvermögen. So glaubt er, das dem Ich-Erzähler in der Rahmenhandlung anvertraute Geheimnis nur noch durch seinen eigenen Tod retten zu können: "…noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet … sie gibt mich noch nicht frei" (Zweig 1931: 89). Als er sich wenig später vom Schiff stürzt, von dem aus der Ehemann der Engländerin den Sarg gerade an Land zu bringen gedenkt und diesen samt Trägern mit ins Meer reißt, läuft er – über Selbstwahrnehmung und -einschätzung hinausgehend – nun durchaus im definitorischen Sinne (selbst-)mörderischen und (fremd-)zerstörerischen Verhaltens tatsächlich Amok.

Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung weiß davon zu berichten, dass die italienischen Zeitungen zwischen dem Tod des Arztes und "dem romantisch reportierten Unfall" (Zweig 1931: 91)




PhiN 46/2008: 26


keinen Zusammenhang herstellten. Dieser Ich-Erzähler ist es auch, der als Chronist gleichsam von der Vollendung des Amoklaufs erzählt und damit noch einmal das punctum der entsprechenden Todespoetik aufruft. Seine Rede schließt mit den Worten:

mir aber war, als starre mir plötzlich hinter dem papierenen Blatt das mondweiße Antlitz mit den glitzernden Brillengläsern noch einmal gespenstisch entgegen. (Zweig 1931: 91)



Bibliographie

Adler, Lothar (1999): Amok. Eine Studie. München: Belleville.

Adorno, Theodor W./Horkheimer, Hans (1944): Dialektik der Aufklärung. [1944] New York, Frankfurt: Suhrkamp.

Agamben, Giorgio (2002): Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Barthes, Roland (1989): Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, aus dem Französischen von Dietrich Laube, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Christians, Heiko (2000): "Der verweigerte Bildungsroman. Amok zwischen Avantgarde, Genre und Ritual", in: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 143, 151-164.

Christians, Heiko (2006): "Wissen Sie, was Amok ist? Eine kleine Literatur- und Mediengeschichte der grenzenlosen Wut", in: Ette, Ottmar/Lehnert, Gertrud (Hg.): Große Gefühle. Ein Kaleidoskop. Berlin: Kadmos, 225-242.

Eisenberg, Götz (2000): Amok – Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Haß. Reinbek: Rowohlt.

ffr/Reuters/AFP/dpa/AP (2007): "Amokläufer Cho-Seung-Hui. Wie ein Einzelgänger zum Massenmörder wurde", in: Spiegel-Online. [17.04.2007]

Foucault, Michel (1974): "Was ist ein Autor?", in: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7-31.




PhiN 46/2008: 27


Hesse, Hermann (1985): "Brief an Helene Welti vom 28. Juli 1919", zitiert nach: Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk- und Wirkungsgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hesse, Hermann (2001): "Klein und Wagner", in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8, Die Erzählungen, hg. von Volker Michels, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lucas, Ryan (2007): "Ein Killer, wie er im Buche steht", in: Spiegel-Online.[http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,504048,00.html]

Mayer, Mathias (1997): Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg im Breisgau: Rombach.

Neubauer, Hans-Joachim (2001): "Amok-Variationen", in: Vorlesungsverzeichnis – Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin

Singh, Sikander (2006): Hermann Hesse. Stuttgart: Metzler.

Sofsky, Wolfgang (2002): Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt am Main: Fischer.

Vogl, Joseph (2000): "Gesetze des Amok. Über monströse Gewöhnlichkeiten", in: Neue Rundschau 111/4, 77-91.

Weilbach, Karl (2004): Aktionsmacht Amok. Eine kriminologische Studie. Münster: LIT.

WHO (2001): Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber.

Zweig, Stefan (1931): "Der Amokläufer", in: ders.: Amok. Novellen einer Leidenschaft. Frankfurt am Main: Fischer.

Zweig, Stefan (2006): "Brief an Hermann Hesse vom 13. Dezember 1922", in: Hesse, Hermann/Zweig, Stefan: Briefwechsel. hg. von Volker Michels, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 23-24.




PhiN 46/2008: 28



Anmerkungen

1 Außer Hermann Hesse (Klein und Wagner, 1919) und Stefan Zweig (Der Amokläufer, 1922) haben sich noch Franz Werfel (Der Schweiger, 1923), mehr als ein Jahrhundert zuvor bereits Heinrich von Kleist (Michael Kohlhaas, 1810), oder in neuerer Zeit Harry Thürk (Amok, 1972) und Feridun Zaimoglu (German Amok, 2002) damit thematisch in Erzählungen, Novellen, Romanen und Dramen auseinander gesetzt oder zumindest ihre Texte mit entsprechend provokanten Titeln dazu in ein Verhältnis gesetzt.

2 Vgl. den Ankündigungstext des von Hans-Joachim Neubauer 2001 am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin gehaltenen Hauptseminars. Zur Bedeutung von Amok als zunehmend relevante literarische Kategorie: Christians 2006: 225-242 und Christians 2000: 151-164.

3 Unter 'Autor' soll im Folgenden jenes von Michel Foucault beschriebene diskursive Zuschreibungsprodukt verstanden werden, dass zwischen demjenigen, der im Text das Wort führt, und demjenigen, der den Text verfasst hat, positioniert ist. 'Autor' ist in diesem Sinne also weder alter ego im Text noch Verfasser des Textes, sondern "Angelpunkt für die Individualisierung in Geistes, […] Philosophie und Wissenschaftsgeschichte"; ein Zuschreibungsbegriff, durch den Texte zu größeren diskursiven Formationen wie 'Werk' zusammengefasst werden: vgl. Foucault 1974: 7-31.

4 Vgl. Weilbach 2004: 79-85, der zeigt, dass der Aktionsmacht Amok mitunter ein langer Prozess innerer wie sozialer Eskalation vorausgeht.

5 Vgl. Giorgio Agambens Verweis auf einen ganz ähnlichen Fall im mitteleuropäischen Kontext. So beschrieb der Germanist Rudolf von Ihring im 19. Jahrhundert eine Konfiguration des altgermanischen Rechts, in der die Figur des homo sacer mit der des Wolfsmenschen, des wargus, verwoben wurde; eine mythische Gestalt, die ob ihrer Friedlosigkeit außerhalb des Rechts stehend von jedem erschlagen werden konnte: Agamben 2002: 114.

6 Der gemessen an der Anzahl der Opfer folgenschwerste Amoklauf fand am 18. Mai 1927 in Bath, Michigan statt. 45 Menschen verloren dabei ihr Leben.

7 Ein diesbezüglich aktuelles Beispiel der polnischen Literaturgeschichte verdeutlicht vor allem anhand des Romantitels Amok das Ineinandergreifen von Literatur und Amok mit anderen Tötungsdelikten. So wurde der polnische Schriftsteller Krystian Bala von einem Gericht in Breslau der Beteiligung des Mordes an dem Geschäftsmann Dariusz Janiszewski für schuldig befunden. Vgl. Lucas 2007. Die entscheidende Differenz zu Hesses und Werfels Rezeption liegt in der persönlichen Verstrickung des Autors in die realen Ereignisse. Trotz oder möglicherweise sogar gerade wegen der fiktionalen Verfremdung – im Roman lässt Bala den Protagonisten eine Frau ermorden – mag man hier von einer literarischen Beichte des Autors sprechen. Der Titel Amok wirkt ex post in dieser Hinsicht ganz und gar apologetisch.

8 Hesse selbst hatte einige Jahre nach Entstehung des Textes im Zuge seiner 'Steppenwolf-Krise' versucht, sich mit Veronal das Leben zu nehmen und Stefan Zweig starb 1942 im brasilianischen Exil den Freitod durch die Einnahme dieses Schlafmittels.

9 Erstmals publiziert wurde Der Amokläufer 1922 in der Wiener Tageszeitung Neue freie Presse. Die Erstausgabe des Novellenbandes folgte noch im selben Jahr. In diesem Beitrag zitiert nach folgender Ausgabe: Zweig1931.

10 Das Riskantwerden der Blickverhältnisse in Gesellschaften weist darauf hin, dass Amok zunehmend wahrscheinlich wird: Eisenberg 2000: 72-74.