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Annette Gerstenberg (Bochum)



Jürgen Trabant (Hg.) (2005): Sprache der Geschichte. München: Oldenbourg. (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien, 62)



Der Band versammelt die Beiträge zum Münchner Kolloquium Sprache der Geschichte, abgehalten am 5. Juli 2002 im Historischen Kolleg, initiiert von Jürgen Trabant, im Kollegjahr 2001/2002 dort Stipendiat.

Trabant skizziert als Ausgangsbefund das fast unverbundene Nebeneinander von Geschichts- und Sprachwissenschaft, auch im Kontext von Projekten wie den Geschichtlichen Grundbegriffen (GGB), die er mit Lindorfer als eine "rencontre manquée" zwischen Geschichte und Linguistik bezeichnet (VII), und im Zeichen des linguistic turn (Einführung, VII–XXII). Angesichts dieser Sprachlosigkeit versteht sich der Band einerseits als Antwort auf die Herausforderung, "Einsichten anderer Disziplinen in die Linguistik zu integrieren" (XIV) und andererseits als Forum, spezifisch sprachwissenschaftliche Herangehensweisen an die Geschichtlichkeit von Sprache für Angehörige anderer Disziplinen nutzbar zu machen.

Trabant entwickelt einleitend das Paradigma des linguistic turns aus den Schlüsseltexten von Hayden White, Roland Barthes und Jacques Derrida und differenziert zwischen der philosophischen und der historischen Konzeption: "Als ästhetisch-literarische Hinwendung auf den Text unterscheidet sich der linguistic turn der Historiographie dann allerdings profund vom linguistic turn der Philosophie. Er ist nicht kritisch gegenüber der Sprache (White war dies noch am Anfang), sondern propagiert geradezu das Verbleiben in der sprachlichen Immanenz" (XII). Beide wiederum grenzt er von der linguistischen Auffassung in der Tradition Saussures ab: "es ist allen Linguisten klar, daß, wenn Sprache als Rede vorkommt, diese in der Welt steht und auch auf diese referiert" (XII).

Angesichts dieser klaren Standortbestimmung überrascht es, dass die meisten Beiträge mehr oder weniger explizit um das Verhältnis von Geschichte und Schreiben kreisen, im engeren Sinne sprachliche Probleme kaum thematisiert werden. Eine mögliche Erklärung ist, dass es sich bei der Hälfte der Beiträge (Borsche, Kittsteiner, Meier, Otto, Raulff) um Versionen bereits andernorts publizierter Beiträge handelt.

Zur Vermittlung sprachwissenschaftlicher Positionen verweist Trabant auf den Artikel des Romanisten und Sprachwissenschaftlers Wulf Oesterreicher, gewidmet der Konzeption der Diskurstraditionen, ein zumindest in der romanischen Sprachwissenschaft etablierter Ansatz.1




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Oesterreicher differenziert in seinem Beitrag Über die Geschichtlichkeit der Sprache (3–26) nach den Aspekten des aktuellen, historischen und universellen Sprechens in der Nachfolge Eugenio Coserius; Diskurstraditionen versteht er als "nicht mehr einzelsprachlich zu fassende Diskursmuster" (14) und in ihrer Analyse sieht er die Kernaufgabe der Sprachwissenschaft – auch in einer sich wandelnden Forschungslandschaft und einer möglichen Auflösung der bestehenden Fachstruktur: "Es gibt nämlich keine andere wissenschaftliche Disziplin, deren Erkenntnisziel die Analyse und Beschreibung von Sprachen und Varietäten als historische Techniken wäre; als genuin sprachwissenschaftliche Gegenstände des Forschens, als linguistische Formalobjekte 'gehören' diese damit allein der Sprachwissenschaft" (14). Bezeichnenderweise verzichtet der Autor auf Präsentation und Analyse von Beispielen. Die forschungspraktische Ergiebigkeit des theoretischen Postulats bleibt daher unbestimmt. Entsprechend verzeichnet die umfassende Bibliographie, die Oesterreicher seinem Beitrag zur Seite stellt (19–26), unter den zahlreichen Arbeiten, die den theoretischen Anspruch formulieren und re-formulieren (allein 17 Beiträge des Autors zum Thema) kaum materialbasierte, schlagkräftige Fallstudien.2

Im zweiten sprachwissenschaftlichen Beitrag, 'dabar' und 'logos'. Kursorische Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichte (27–39) führt Konrad Ehlich eine Wortexegese vor, welche er epistemologisch in die israelitische und griechische Historiographie einbettet. Damit wendet er sich den "kategorialen Gewohnheiten" (27) zu, und wagt einen Blick "auf aufgegebene und vergessene Aspekte aus dem, was in der Bildung der heutigen versprachlichten Denkverfahren eingegangen ist" (ib.). Ehlich konstatiert nach seiner geistesgeschichtlichen Ausleuchtung der Facetten von hebr. dabar und gr. logos, welche beide nicht nur den Sprech- (Darstellungs-, Schreib-)akt, sondern auch den Gegenstand dieser Beschäftigung bezeichnen (29): "Im hebräischen Ausdruck dabar ist ein Zusammenhalt semantisch aufbewahrt, in dem Wort und Sache, Geschehen und das Reden darüber, als Zusammengehöriges konzeptualisiert werden. Im griechischen Logos ist dieser Zusammenhang zwar zu Beginn des Philosophierens, bei Heraklit, auch greifbar. Er ist im logos aber nicht dauerhaft präsent" (37). Was ist eine "semantische Aufbewahrung"? Wem ist sie zugänglich – außer den Philologen?

Der zweite Abschnitt des Sammelbandes ist mit Fakten und Worte überschrieben; in diesem Zusammenhang stellt Stephan Otto die scheinbar harmlose Frage: Können Tatsachen sprechen? Überlegungen zur Darstellbarkeit historischer Faktizität (65–74). Er setzt sich mit der Faktizität historischer Ereignisse auseinander, dem unzugänglichen factum est. Mit einnehmender Klarheit führt Otto auf den Begriff der Widerfahrnis hin, das "irreduzibel Tatsächliche", welches "Geschichte sprachlich darstellbar werden und narrativ zur Darstellung kommen" lässt (74).

Eine Gruppe von Beiträgen widmet sich Problemen des historisch orientierten Schreibens seit dem 19. Jahrhundert, lesbar auch als eine Vorgeschichte des linguistic turn: Tilman Borsche weist in seiner Nietzsche-Lektüre (Die Fakten der Geschichte, 43–53) nach, wie dieser auf die Veränderlichkeit der immer neuen "geschichtlichen Wahrheit" und den Einfluss der Kräfte, sie zu interpretieren, hinweist. Borsche skizziert im Anschluss daran neue Horizonte der Geschichtsbildung, ausgehend von der Verantwortung, die Darstellungsmacht der Geschichtsschreibung auszuüben.




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Giuseppe Cacciatore widmet sich Leben und Struktur. Dilthey und die Zweideutigkeit der Sprache der Geschichte (55–64) und findet bei Dilthey die Auseinandersetzung mit der Rolle des Individuums im Prozess der historischen Erkenntnis, welcher durch die Wechselwirkung "zwischen der unmittelbaren Erfahrung der persönlichen Lebensbedingungen und den umfassenden Systemen der Kultur und der Gesellschaft" (63) gekennzeichnet ist.

Der Beitrag von Ulrich Raulff (Der Teufelsmut der Juden: Warburg trifft Nietzsche, 135–148) bemerkt die mimetische Funktion der Metapher bei Warburg, die er geradezu zukunftsweisend einsetzt: "Gewiß: Warburg schreibt zu einer Zeit, die – am Vorabend der analytischen Philosophie, Wittgensteins und des lingustic turn – noch unerschüttert auf die epistemologische Leistung der Metapher baut. Dennoch haben ihr nur wenige Autoren so viel zugemutet und so viel abverlangt wie Warburg" (137).

Umgekehrt findet sich bei einem Vordenker des linguistic turns die Vision einer Übereinkunft von Ereignishaftigkeit und Schreiben, wie sie Barthes im japanischen Haiku findet, so arbeitet es Bettina Lindorfer (Der Diskurs der Geschichte und der Ort des Realen, 87–105) heraus.

Explizit auf die Praxis des historischen Schreibens bezieht sich Tim B. Müller, welcher seine Ausführungen zugleich als "praktische Einführung in diese [von LaCapra und dem linguistic turn geprägten] Form der Geschichtsschreibung" versteht (Der 'linguistic turn' im Jenseits der Sprache, 107–132).

Heinz Dieter Kittsteiner fragt: Dichtet Clio wirklich? (77–85); zu seiner verneinenden Antwort findet er in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Habilitationsschrift, deren hermeneutische Herangehensweise er als "gebrochen" und "dialektisch" beschreibt – doch in seiner "Ahndung des verschwundenen Zusammenhangs des Gewesenen" entschieden von der Dichtung abgrenzt.

Das abschließende Programm einer Geschichtsschreibung (149–164) von Christian Meier entwirft eine "neue Geschichtsschreibung durch Historiker" – eine Geschichtsschreibung, welche die großen Linien kenntnisreich und lesbar nachzeichnet, so dass sie "in der Öffentlichkeit präsent sein kann" (151). Diese Überlegungen können als eine Explizierung der Maßstäbe gelesen werden, die der Althistoriker mit seinen Gesamtdarstellungen gesetzt hat.

Der hier vorgestellte Sammelband erhellt schwerpunktmäßig die Grundlagen des Schreibens historisch arbeitender Fächer und stellt die Reflexion darüber in einen weiten wissenschaftshistorischen Kontext; der sprachhistorische Ansatz, die Geschichte von Diskurstraditionen zu untersuchen, steht unverbunden daneben, das traditionsgesättigte und jüngst theoretisch neu modellierte Arbeitsgebiet der Historischen Semantik bleibt außen vor. Ohne akzentuierte sprachwissenschaftliche Methodenreflexion im Bereich der lexikalischen Semantik bleibt eine wichtige Chance dieses interdisziplinären Bandes ungenutzt – dabei könnte die philologische Erfahrung, Wortgeschichten lexikographisch zu erschließen und in den jeweiligen Text- und Lebenswelten zu situieren, zur Titel gebenden Fragestellung Entscheidendes beitragen.




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Neuere Modelle des Bedeutungswandels hätten dem Konzept der Diskurstraditionen als zu vermittelndes Forschungsparadigma mit guten Gründen zur Seite gestellt werden können. In diesem Rahmen hätte auch die Diskussion der Frage, ob mit den Mitteln der Historischen Semantik Begriffsgeschichte zu schreiben sei, stattfinden können,3 nimmt doch Trabant die GGB zum Ausgangspunkt seiner Analyse.

Der Gesprächsstoff des interdisziplinären Dialogs scheint also nicht auszugehen.



Bibliographie

Blank, Andreas (2001): Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten. Tübingen: Niemeyer.

GGB = Brunner, Otto; Werner Conze; Reinhart Koselleck (1972ff.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 9 Bde.

Lebsanft, Franz (2006): "Linguistische Begriffsgeschichte als Rephilologisierung der historischen Semantik", in: Danneberg, Lutz, et al.: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften, Band 10. Berlin, New York: de Gruyter, 138–168.

Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. München: Kohlhammer.

Wilhelm, Raymund (2005): "Diskurstraditionen", in: La lingua italiana 1, 157–161.



Anmerkungen

1 Für seine Grundlage verweist Trabant zu Recht auf Schlieben-Lange 1983.

2 Vgl. ergänzend Wilhelm 2005.

3 Eine Frage, die Blank (2001: 69) verneint. Perspektiven einer "linguistischen Begriffsgeschichte" diskutiert hingegen Lebsanft (2006).