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Thomas Wegmann (Berlin)



Eine Rose ist keine Rose ist eine @))->->-. Die Zeichen der Netzkultur zwischen Rede und Schrift



A Rose is not a rose is a @))->->-. The Signs of Netculture between Speech and Writing
In the newly developing cultures of electronic communication, of e-mail conversation and chatroom dialogues, both oral and written conventions of language usage overlap, mingle and are merged into something new. But what precisely characterizes the language of the global nets? How do people navigate and negotiate meaning between the demands of writing and the new expressiveness of digital speech? Are we in fact witnessing a major transformation of both speaking and writing, finally combining the two modes within one medium - the computer? The article investigates the significant emergence of a "secondary literality": A kind of writing that is both directed and performed individually - like a speaker's modulation, rhythm and tone of his or her voice - a new literality, moreover, that is permanently changing, dissolving and reemerging at a rapid pace.


Der Titel dieses Textes ist fast unaussprechlich. Oder zumindest ein gewisser Teil davon: "Eine Rose ist keine Rose ist eine At, Klammer, Klammer, Pfeil, Pfeil, Gedankenstrich" - das mag auf Bildschirmen von vernetzten Usern für Klartext sorgen, als Rede hingegen macht das wenig Sinn. Und beschreibt mit dieser Diskrepanz doch genau, worum es im folgenden gehen wird: nämlich um die Spannung zwischen Geschriebenem und Gesprochenem, also zwischen Literalität und Oralität in der sogenannten Netzkultur.

Wird da überhaupt geschrieben oder bloß ununterbrochen gesprochen? Und wodurch zeichnen sich bei genauerem Zusehen - oder müßte man sagen: Hinhören? - eigentlich Schreiben und Sprechen aus? Kann man überhaupt schreiben ohne so dauerhafte Schriftträger wie Stein, Papier oder Pappe? Und handelt es sich bei der elektrifizierten Sprache in den Computernetzen um Schriftsprache und dennoch um Rede? Oder um Redesprache und trotzdem um Schrift? Oder sind gar die alten Grenzen zwischen Rede und Schrift selbst hinfällig geworden?

In den Debatten der kulturellen Bedenkenträger sind die Karten diesbezüglich seit langem verteilt: Für die einen gibt der Computer - zumal im Zustand seiner weltweiten Vernetzung - den bösen Buben, welcher demnächst die gesamte abendländische Schriftkultur in den Orkus befördern wird. Todesursachen: Gebrabbel, Gefummel und Gezappel, Flüchtigkeit, Zerstreuung und Austauschbarkeit, kurz: ein Zuviel von allem möglichen. Zudem blendet uns alle ein "Informations-Disneyland", eine "grelle neue Hyper-Welt", die das Alphabet lediglich vom Hörensagen kennt. So zumindest erst jüngst Sven Birkerts in seinem viel beachteten Buch Die Gutenberg-Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter.




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Neben dem Verfall der Lesefähigkeit und dem Verlust individueller Autorschaft wird darin ein Rückfall in jene voralphabetischen Zeiten prophezeit, in denen Geist und Seele sich noch nicht im Zeichen der Schrift untrennbar mit dem Guten, Wahren und Schönen verbündet hatten.

Für die anderen indes verbergen sich hinter Internet, Hyperkultur und Cyber-Space die Trümpfe, mit denen sich die Kommunikation des nächsten Jahrtausends gestalten läßt. Die Leute, so ihrer euphorischen Weisheit letzter Schluß, sind nicht länger Subjekte in einer objektiven Welt, sondern selbst gewählte Entwürfe in einem Projektionsraum namens Cyber-Space. Herkunft, Geschlecht, Kleidung - alles egal oder alles ganz selbstbestimmt. Gern verweisen sie dabei auf die Parallelen in der Organisation des menschlichen Gehirns und den dezentral vernetzten Strukturen des Internet. Und ganz nebenbei auch darauf, daß in den Netzen doch permanent geschrieben und gelesen würde, mithin von einem Ende der Schreib- und Lesekultur gar nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil: E-Mail, die elektronische Post, ermuntere ebenso zum Schreiben und Lesen wie die zahlreichen Literaturprojekte im Netz irgendwo zwischen Hypertext und Tree-Fiction.

Der notorische Informations-Junkie, der sowohl den sauertöpfischen Warnern wie den elektrisierten Enthusiasten in die Karten schaut, stutzt spätestens an dieser Stelle. Vernetzte Computer gleichermaßen als Wiederbelebung von Mündlichkeit und Schrittmacher für Schriftlichkeit, für die Insignien des Schreibens wie für die des Plauderns? In der Tat ergibt zusammen Sinn, was sich auf den ersten Blick unversöhnlich gegenübersteht. Denn bis heute läßt sich die Erfolgsgeschichte des Schriftmediums nicht schreiben ohne Rücksicht auf die vielfältige Wechselwirkung mit Formen der Mündlichkeit.

Schon in Platons Phaidros findet sich Vernichtendes über die Schrift. Die stets stummen und niemals rückbezüglichen Texte werden dort zum Ziel einer medialen Grundsatzschelte, welche das gesprochene Wort gegen die vermeintlich toten Buchstaben ausspielt. Vorgetragen wird diese Kritik an der Schrift zwar in Form eines Dialogs. Doch ist dieser Dialog lediglich ein in und mit der Schrift fingierter. Nicht nur, daß seine Schriftkritik schriftlich gespeichert und verbreitet wurde und nur so ihren vermeintlichen Sprecher um Jahrhunderte überdauern konnte; sie wurde auch von Anfang an schriftlich konzipiert. Mit den Kennzeichen oraler Gesellschaften, die ihre Kultur- und Wissensbestände vor allem mündlich tradieren, hat sie wenig gemein. Denn dabei tritt das Wort nicht als Gegenstand von Analyse, Reflexion und sonstigen zeitraubenden Beschäftigungen auf, sondern schlicht als gemeinsames Ereignis von Sprechern und Hörern: Kommunikation unter Anwesenden, bei der Formulierungs- und Übertragungszeit zusammenfallen. Ein solches akustisches Ereignis bietet gar keine Zeit, die Differenz zwischen beobachtetem und beobachtendem System überhaupt zu erzeugen (vgl. Luhmann 1993: 357).

Entsprechend sind auch Wortlaut und Bedeutung nicht ein für allemal außerhalb des Sprechaktes fixiert, sondern müssen in neuen Situationen immer wieder neu entstehen, begleitet von Mimik und Gestik. Sprache selbst war lediglich Ton und Geräusch, also vor Erfindung akustischer Speichertechniken eine höchst vergängliche Angelegenheit, die allein am menschlichen Gedächtnis ihre Möglichkeiten und Grenzen hatte: "Wenn ein alter Mensch starb, brannte eine Bibliothek ab." (Lévy 1996: 60)

Zuvor jedoch dienten gerade die von literalen Kulturen so wenig geschätzten Formeln, Floskeln und Wiederholungen in der Rede als Gedächtnisstützen, als Techniken gegen das Vergessen. Die jeweilige Gegenwart war dabei das alleinige Maß für Speichern oder Löschen: "Was von sozialer Bedeutung bleibt, wird im Gedächtnis gespeichert, während das übrige in der Regel vergessen wird." (Goody / Watt / Gough 1986: 68)




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Was die allmähliche Einführung von Schrift vor allem einführte, war mithin eine Unterscheidung, welche die Gemüter bis heute bewegt, nämlich die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. So paradox es klingen mag: Erst mit und in der Schrift war die Differenz von Geschriebenem und Gesprochenem überhaupt beobachtbar geworden. Und erst mit der Schrift entstanden Techniken der Distanzierung, wurde die Grenze zwischen beobachtendem und beobachtetem System allmählich trennschärfer: Schrift macht Informationen mehr oder weniger unabhängig von Raum und Zeit, von Rezeptionsbedingungen und von der Anzahl der Leser.

Diese Ausdehnung in Raum und Zeit, von Bedingungen und Quantitäten unterbricht die Rückbezüglichkeiten, die der mündlichen Kommunikation eigen sind, und muß sie durch andere Bedingungen ersetzen. (Luhmann 1993: 364) Seitdem gedeiht die Mimikry ans Mündliche in der Schrift. Das reicht von der Notation bloßer Laute - erinnert sei nur an das unter deutschen Klassikern so geschätzte "Ach!" - über eine Fülle von Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen, die einem Text wie Goethes Werther geradezu mimische Qualitäten verleihen, bis zu Bert Papenfuß-Goreks listigem Bekenntnis "ich schreibe so laut ich kann". Vor allem vor ihrer medialen Verdoppelung durch Grammophon oder Rundfunk war die Stimme den Schreibenden das ganz andere der Buchstaben, galt sie Sprachtheoretikern wie Rousseau oder Herder als die unmittelbare, natürliche und direkte Bezeichnung des Sinns (vgl. Derrida 1990: 54).

Die Rede, das war die sich selbst gegenwärtige Stimme, und der Gesang, das war der Ursprung von Dichtung überhaupt. Die Schrift fristete demgegenüber nur ein nachgeordnetes Dasein. Sie war das Medium, von dem aus sich ein anderes Medium idealisieren ließ.

Das änderte sich spätestens mit der Etablierung von Fernsehen und Rundfunk. Da wurde - vor allem in den Anfangszeiten - plötzlich gesprochen wie gedruckt. Da wurde linear und langsam formuliert, was zuvor umständlich zu Papier und erst danach zu Gehör gebracht wurde. Und da gebärdeten sich Leute vor dem Mikrophon, als ließen sie sich amtlich verlautbaren. Kurz: den Radiohörern und Fernsehern wurde häufig einfach vorgelesen. Erst nach und nach entdeckte man auch außerhalb der Live-Reportage, was der Schrifttheoretiker Walter J. Ong als "sekundäre Oralität" unseres elektronischen Zeitalters bezeichnet hat: Sekundäre Oralität befördert die Spontaneität, weil wir durch analytische Reflexion erkannt haben, daß Spontaneität eine gute Sache ist. Wir planen unsere Happenings sorgfältig, um sicher zu sein, daß sie von Grund auf spontan sind. (Ong 1997: 137)

Gerade das scheinbar Unkontrollierte, Nicht-Diskursive entpuppt sich so als Diskurs-Effekt. Seitdem gilt für zahlreiche Moderatoren in TV und Radio der paradoxe Befehl: Sei spontan! Das Ergebnis mag manchem als Logorrhöe daherkommen. Es demonstriert aber auch, wie sich bei der hochtourigen Anverwandlung von Elementen mündlicher Kultur durch die Sender Kompetenzen verschoben haben: statt Sachkenntnis ist Fernsehförmigkeit bzw. Medientauglichkeit gefragt. So ist eine Bildschirmexistenz wie Jörg Wontorra flexibel einsetzbar als Sportreporter, Margarethe-Schreinemakers-Ersatz und Sonne-Sommer-und-Sat1-Moderator. Einiges spricht dabei dafür, daß zumindest die Wontorras dieser Welt, die Sprechsituation vor der Kamera gar nicht mehr als sekundäre und gespielte erleben, sondern sie ihnen gleichsam zur ersten Natur geworden sind (vgl. Winkels 1996: 132f.).




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Doch auch die Schrift - zumal in ihrer anvancierteren Variante als Literatur - vermag bestimmte Muster anderer Medien nachzuahmen und für eigene Formexperimente zu nutzen. Das reicht von sogenannten filmischen Schreibweisen in Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz' über die sich zum Teil wie gesprochen lesende Prosa eines Peter Kurzeck oder Christian Kracht (vgl. Döring 1996: 226ff.) bis zu den Gedichten eines Thomas Kling, deren simulierte Mündlichkeit aber immer als Schrifteffekt erkennbar bleibt: eine reflektierte Inszenierung von Literatur und Medienmündlichkeit, die sich hören und sehen läßt. Schrift also als eine durchaus multimediale Angelegenheit. Das gilt mit anderem Akzent auch und gerade für elektronische Post: Durch The Sunday Times und DIE ZEIT gelangte im letzten Jahr eine an sich harmlose E-Mail-Affäre zu einer gewissen Berühmtheit. Unter dem Titel "Nimm mich online" bekannte dort die weibliche Seite des elektronischen Flirts: An E-Mail finde ich drei Dinge richtig gut. Erstens schreibt man genauso, wie man spricht, es ist also wie Plaudern. Zweitens die Geschwindigkeit, in der die Mitteilungen hin- und hersausen. Drittens finde ich das Kurzgefaßte und die Tippfehler gut. Das gibt E-Mail etwas von Nimm-mich-wie-ich-bin. (Wells 1996: 75)

Schreiben wie gesprochen, Geschwindigkeit, Kürze und scheinbar Absichtsloses - auch in dieser digitalen Liaison ist Liebe noch eine Verbindung, die vom Zufall gestiftet und von Medien gesteuert wird. Neu justiert werden muß dabei jedoch die Differenz von Geschriebenem und Gesprochenem. Beides fließt in die Elektropost mit ein. Als allgemeine Reminiszenzen an Schriftlichkeit bleiben die Visualisierung von Sprache, die räumliche Distanz und - zumindest beim E-Mail - das Asynchrone, Zeitversetzte der Kommunikation. Was hingegen in den Netzen verschwindet, ist die - beim Blättern und Transport - so träge Seite als gemeinsame Grundeinheit von Büchern, Briefen und Zeitschriften. Kurz: Es fehlt der beschriebene Körper und sei dieser auch nur aus Papier. Die dadurch gesteigerte Immaterialität der Sprache erinnert in der Tat eher ans Sprechen denn ans Schreiben: Anfassen zumindest läßt sich da nichts mehr. Und jener Werther, dem vom Sand in Lottes Briefen buchstäblich die Zähne knirschen, weil er die Buchstaben eben auch, aber nicht nur gelesen hat, erweist sich unter solchen Bedingungen als medialer Schwärmer aus einer anderen Zeit.

Kürze und Übertragungsgeschwindigkeit wiederum sind die Kennzeichen elektrischer Kommunikation, die in Telegraphie und Telegramm ihre frühesten Modelle hat. In Abhängigkeit von der Kanalkapazität der verfügbaren Kabel setzte hier die Preisstandardisierung von Nachrichten überhaupt ein. Als jedes gesendete Wort, unabhängig von Güte und Klasse, seinen Preis bekam, lernten auch Alltagsschreiber eine historisch neue Geschicklichkeit: Wörterzählen (vgl. Kittler 1986: 358ff.). Marshall McLuhan erinnert in diesem Zusammenhang an eine Gruppe junger Oxforder Studenten, die erfuhr, daß der Schriftsteller Rudyard Kipling für jedes Wort, das er schrieb, zehn Shilling bekam. Darauf sandten "sie ihm während eines Treffens telegraphisch zehn Shilling mit der Bitte: ‚Schicken Sie uns eins ihrer besten Wörter.' Und ein paar Minuten später war das Wort da: ‚Danke.'" (McLuhan 1968: 278)

Elektrisch aufgeladen vermag auch ein Minimum an Wörtern ein Maximum an Effekten zu erzielen. Während Schreiber wie Peter Altenberg die so entstandenen technischen Folgekosten der Wörter gleich in eine neue Ästhetik ummünzten und einen "Telegrammstil der Seele" propagierten (vgl. Asendorf 1984), gab es auf der traditionsbewußten Seite des Schreibens weitaus mehr Zurückhaltung. "Es ist mit dem Telegraphieren solche Sache," läßt der schriftstellernde Theodor Fontane seinen alten Stechlin sinnieren, "schon die Form, die Abfassung. Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen, heißt meistens auch, sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort..." (Fontane 1983: 27f.)




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Was bei Altenberg und Fontane in den Blick kommt, sind die beiden großen und oft konkurrierenden Utopien, denen sich mediale Innovationen verdanken: Dauerhaftigkeit und Schnelligkeit. Während Altenberg die Literatur auf die technischen Standards seiner Zeit zu beschleunigen suchte, setzte Fontane ganz auf Verlangsamung. Indem er die eigene Zeit schriftlich still stellte, stellte er sie unter eigenem Namen in den literarischen Pantheon ein. Die erwähnten Verbindlichkeiten erweisen sich somit als Verbindlichkeiten gegenüber einer langen Schrifttradition mit ihrem Versprechen von medialer Ewigkeit.

Mit den vernetzten Computern erfährt nun die Geschwindigkeit eine erneute Steigerung und die Dauerhaftigkeit eine neue Akzentuierung. Der Sprachfluß in den Netzen kann, wie der Lebensfluß vor dem Objektiv einer Fotokamera, ständig beobachtet und archiviert werden, ohne daß es der reglementierenden Kraft herkömmlicher Archive und Bibliotheken bedarf. Es genügt einfach die Operation ‚Speichern', die jedem eine eigene Bibliothek in den Grenzen der jeweiligen Festplatte beschert - eine Bibliothek jedoch, die keinerlei Anspruch auf Universalität und Verbindlichkeit erhebt, wie er noch älteren Buchbeständen oftmals zu eigen war. Wie dabei der Unterschied zwischen ungedruckten Manuskripten und gedruckten Büchern potentiell schwindet, nimmt auch die Differenz zwischen Geschriebenem und Gesprochenem ab (vgl. Groys 1996).

Schon weil der direkte Dialog in den Netzen von Anfang an als geschriebener und digitaler geführt wird, entgeht er dem alten Dilemma mündlicher Rede, von der zumeist nichts übrig bleibt, nachdem sie einmal verklungen ist. So werden Chats und Mails zwar schriftlich fixiert, aber gern im Plauderton mündlicher Rede verfaßt. Oder mit den Worten von Michael Heim: "The immediacy of formulation in digital writing is akin to the immediacy of speaking." (Heim 1987: 154)

Das dauernde Parlando, die Spuren der Unmittelbarkeit und die Kürze der Formulierungszeit sind es denn auch, die der Schrift in den Netzen typische Kennzeichen oraler Kulturen implantieren. Und für eine erhebliche Beschleunigung der Schrift sorgen, schon weil ein Imperativ der E-Mail-Kultur dahin geht, Mails möglichst umgehend und sofort zu beantworten. Wer das Online tut, schreibt kurz und schnell, will er nicht mit der nächsten Telefonrechnung die Quittung für sein Zaudern bekommen. Der gemächlich bis bedächtig Formulierende hingegen bleibt ebenso besser Offline wie der ewig um und mit dem Text Ringende. So berichtet der Journalist Linus Reichlin von seinen Streifzügen durch diverse Chat-Rooms: Kürzlich hatten wir in WorldsAway einen Schweizer, der viel zu langsam tippte. Man fragte ihn etwas, aber bis seine Antwort auf dem Bildschirm erschien, hatte man vergessen, was, und war schon längst bei anderen Themen. Er wurde dann auch nicht mehr angesprochen und verschwand. (Reichlin 1996: 66)

Nun mag jenes Prinzip, das Schreiben dem Sprechen anzunähern, durch E-Mail effektiviert worden sein, neu ist es hingegen nicht. Der beispiellose Erfolg des Briefmediums im 18. Jahrhundert etwa verdankt sich nicht zuletzt der Rückbesinnung auf die antike Bestimmung des Briefes als Hälfte des Gesprächs. Und so fielen die barocken Schnörkel und Formeln weg zugunsten einer als natürlich propagierten Schreibweise. Am besten schrieb, wer gar nicht merkte, daß er schrieb. Entsprechend mühelos und leicht sollten am Ende die Briefe wirken, auch wenn gerade das anfangs die größte Mühe gekostet hat. Private Briefe und öffentliche Literatur standen in enger Verbindung. Ihre gemeinsame Satzung lautete: Kunst als gewollte Kunstlosigkeit.




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Die Verächter der Elektropost hingegen, die gern die hehren Inhalte der alten Briefkultur gegen das Gefasel des digitalen Zeitalters ausspielen, seien an die Zeilen eines damaligen Vielschreibers erinnert: "Ich schreibe heute an die ganze Welt, um gelesen und beantwortet zu werden. Ich habe heute an Cramer zwei Bogen freundschaftliches Nichts geschrieben; nach Kopenhagen, nach Hamburg, nach Braunschweig, nach Dresden, nach Bernstadt in Schlesien habe ich nichts wichtiges geschrieben, und nun fange ich auch an, mit Ihnen zu plaudern. Ist dieser Tag nicht ein vergnüglicher Tag?" (Wittmann 1985: 10)

Kommunikation selbst ist der Kult, bei dem nicht zuvörderst Botschaften oder Inhalte zählen, sondern Geschwindigkeit, Genauigkeit und Machbarkeit, kurz: Medientechnik als Faszination. Und Briefe schreiben war damals ein probates Mittel, den anderen zu zeigen: Ich bin in der ganzen Welt zu Hause und nicht nur auf dem kleinen Fleck, von dem aus ich plaudere. An die Stelle anwesender Körper tritt die unaufhörliche Zirkulation von Schriften und Briefen, welche den Zusammenhang zwischen den einzelnen Schreibern herstellt - und zwar unter bewußtem Absehen von Gesichtern, Körpern und Kleidung. Zumindest darin entsprechen die elektronischen Briefkästen exakt der Briefkultur des 18. Jahrhunderts. Auch letztere knüpfte ein virtuelles Netzwerk, allerdings in den medialen Grenzen von Post und Papier. Deren Welt ist jedoch längst zu klein, zu langsam und zu verstaubt geworden im Vergleich mit der digitalen "Jetzt-sofort-alles-Maschine" (Peter Glaser).

Doch wie bei oben erwähnter E-Mail-Affäre gab es auch damals Dutzende von Brieffreundschaften, die auf der Unsichtbarkeit von Gesichtern und Körpern beruhten; man sieht sich nie und schreibt sich trotzdem. Oder gerade deshalb. Aus realer Abwesenheit wird schreibend eine ideale Präsenz. Und der andere dabei zu einer Art umgekehrter Black-Box, bei der man weiß, was drin ist, aber allenfalls ahnt, was drumherum ist. Entsprechend groß konnten und können damals wie heute die Enttäuschungen bei der ersten Face-to-face-Begegnung ausfallen.

Elektropost also als Update der Briefkultur? Das wäre denn doch zu simpel. Denn jedes Medium bildet seinen speziellen Fetisch aus, eine Art Ausweis der Persönlichen. Beim Telefon ist es die drahtig oder drahtlos übertragene Stimme, beim Brief die Handschrift, um die zahlreiche Phantasien und Begehrlichkeiten kreisten und kreisen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wird sie als unwillkürliche Botschaft traktiert, die - über Buchstaben und Wortfolgen längst hinaus - Hinweise auf die innere Verfaßtheit ihres Absenders erlaubt, eine Art Jenseits der Zeichen. So notierte angesichts zweier Briefe des frühen Goethe dessen späterer Adlatus Eckermann: "Die Handschrift der Briefe war ruhig, rein und zierlich, und schon zu dem Charakter entschieden, den Goethes Hand später immer behalten hat." (Eckermann 1981: 339)

Mit ihrer materiellen Unverwechselbarkeit liefert die jeweils eigene Handschrift den Nachweis einer ebenso unverwechselbaren Person. Und erzeugt so Individuen, die sich schreibend ihrer Individualität versichern. Das Klassenziel ist erreicht, wenn den Schreibenden die doch an sich fremden Buchstaben als die eigenen erscheinen. Bis heute bestätigen die Namenlosen mit ihrem Namen und die Stars mit ihrem Autogramm dieses kulturelle Konstrukt. In beiden Fällen kann die Unterschrift als eine Art Minimalbiographie gelesen werden (vgl. Hahn 1993: 203).




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In der computerisierten Netzkultur hingegen schreiben Leute permanent an Leute, ohne daß deren Handschrift oder Stimme als Distinktionsmerkmal auf den Plan tritt. Bei einem Brief oder einer Postkarte kann auf den ersten Blick schon die Handschrift Rückschlüsse auf den Absender zulassen. Beim E-Mail geben allein Header, der Kopf oder Vorspann der Nachricht, und Signature, der Nach- oder Abspann, Hinweise auf den Absender. Und selbst die können auf eigens dafür eingerichteten Programmen verschlüsselt werden. Über die Eingabe eines selbstgewählten Codeworts verwandeln sich dabei Texte in unleserliche Buchstaben- oder Zahlensalate. Erst wenn der Empfänger das gleiche Codewort eingibt, kann er die E-Mail lesen. Die maschinisierte Schrift auf dem Monitor erlaubt so keine sicheren Rückschlüsse auf den Sender, zumal der auch nicht mehr mit seiner Unterschrift den Schreibakt beendet und bestätigt.

Mit solchen Veränderungen ändert sich notwendigerweise auch das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Luhmann 1993: 353). Beide Parameter sind weder platonische Ideen noch anthropologische Konstanten, sondern befinden sich in einem Prozeß, der mit jeder Medieninnovation neu zu bestimmen ist. Walter J. Ong hat das mit der Formel von der "sekundären Oralität" zu markieren versucht. Auch das Schreiben hat sich in und durch vernetzte Computer gewandelt. Manche mögen da eine Uniformierung und Verarmung von Sprache beobachten - ein Vorwurf, der bis auf die Einführung der Schreibmaschine zurückgeht (vgl. Schütz 1991).

Daran ist nichts Verwerfliches zu finden, beruht es doch einzig auf der Entscheidung, bestimmte Unterscheidungen vorzunehmen und andere eben nicht. Das heißt für unser Thema, ob man beispielsweise zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder zwischen Handschrift und elektronischer Schrift oder zwischen der Schrift auf dem Bildschirm und der Programmiersprache dahinter unterscheidet, führt jeweils zu anderen Beobachtungen, anderen Beschreibungen und anderen Bewertungen. An solch simple Operation dann das Orakel vom Untergang der Schriftkultur anzuschließen, vermag jedoch allenfalls diejenigen zu überzeugen, die dafür bezahlt oder belobigt werden, den medialen Status quo zu sichern und denen schon von daher Unterschiede zwischen E-Mail und E-Mail, Chat und Chat, Online-Literatur und Online-Literatur gar nicht in den Blick kommen dürfen. Der Rest wird vielleicht Nietzsches Ehrfurcht vor der Maske teilen und an der digitalen Schrift in den Netzen gerade auch das anonyme, uniformierende und nivellierende Moment schätzen.

Schließlich stellt es gerade im Umgang mit Unbekannten einen Zugewinn an spielerischen, das heißt nicht unmittelbaren Verkehrsformen zumindest in Aussicht. Und auch die scheinbar unterschiedslose Maschinenschrift hat bereits eine bescheidene Kultur der Unterscheidung entwickelt. So stehen die zahlreichen und vermeintlich absichtslosen Tippfehler für das Unmittelbare und Authentische ein. In Michael Heims jubilatorischer Variante: "My stream of conciousness can be paralleled by the running flow of the electric element." (Heim 1987: 152)




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Die einzelnen Buchstaben folgen dabei nicht mehr exakt einer festen Vorschrift, einer Schrift vor der Schrift, sondern variieren je nach Situation und Kontext. Sie erzählen dem Empfänger von E-Mail, daß der Absender beinahe so geschrieben hat, als hätte er gesprochen. Gegenüber ihrer streng normierten Typographie besondern sie sich durch Abweichung von einer anderen Norm. Und unterlaufen so in ihrer Flüchtigkeit und Fehlerhaftigkeit gerade die Fehler- und Makellosigkeit ihrer maschinellen Übertragung und Erscheinung: "Nimm mich, wie ich bin."

Daneben können in der Sprache der Netzkultur kryptisch anmutende Zeichen mittelgroße Gefühle abkürzen. Solche einfachen Punkt-Klammer-Strich-Zeichnungen, im Jargon Smilies oder Emoticons genannt, werden ergänzt durch eine Fülle von Abkürzungen aus Buchstaben, die unter dem Stichwort ‚Akronyme' bei Internet-Freaks ebenso beliebt wie berüchtigt sind. Das Fehlen von Stimme, Mimik und Gestik wird so kompensiert, ohne gegen die Gebote von Schnelligkeit und Kürze zu verstoßen und in allzu wortreiche Beschreibungen abzudriften. Diesem Zweck dienen auch Soundwörter wie ‚haha', ‚bäh' oder ‚huch' und sogenannte Aktionswörter wie ‚schlotter' oder ‚taumel' (vgl. Wetzstein 1995: 75ff.).

Gerade in den unzähligen Chatboxes im Netz, diesen permanenten Live-Talk-Shows für alle und über alles, wird mit solchen Mitteln eine Mündlichkeit inszeniert, die per Maus und Tastatur doch eine geschriebene bleibt. Schon die Bezeichnung ‚Chatten', abgeleitet von to chat = plaudern, verweist auf den Stand solcher Kommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Auf der einen Seite simuliert vor allem das sogenannte ‚Quoten', das ausschnittweise Zitieren des Bezugstextes im eigenen Beitrag, das Dialogische und Rückbezügliche von Gesprächen.

Auf der anderen Seite aber wird der einzelne User allein durch seinen getippten Text entdeckt und erkannt. Nur daß sein Text nicht mehr heroisch vereinzelt und ehrwürdig lange dasteht, sondern in einem sich stetig verändernden Zusammenhang mit anderen Texten von anderen Usern. Durch Digitalisierung und Vernetzung erreicht das Geschriebene dabei die Transportgeschwindigkeit gesprochener Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte der Schrift können dadurch Schreiben und Lesen nahezu gleichzeitig erfolgen - allerdings ohne die Möglichkeit der vorherigen Re-Lektüre und Korrektur des eigenen Textes. Das nutzen auch die sogenannten MUDs (Multi User Dungeon), imaginäre Spielräume in den Netzen, wo sich die Teilnehmer mit fiktiven Identitäten und Geschlechtern auf abenteuerliche Rollenspiele einlassen können. Zahlreiche dieser MUDs basieren ausschließlich auf Texten. Sowohl räumliche Umgebung als auch Handlung und Verständigung der Mitspieler werden dabei durch Schrift entworfen.

Wie Vergänglichkeit unter hochtechnischen Bedingungen längst nicht mehr notwendiges Kennzeichen mündlicher Rede ist, gehört umgekehrt Unvergänglichkeit nicht mehr bedingungslos zur Schrift. Man könnte vielmehr - in Anlehnung an Walter J. Ong - von einer "sekundären Literalität" sprechen, von einer multimedial eingeübten und inszenierten Schrift, einer Schrift, die sich manch Mündlichem verschreibt und dennoch geschrieben bleibt.




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Und man könnte zeigen,wie diese sekundäre Literalität nicht mehr nur traditionsreich den Imperfekt beraunt und beschwört, sondern alle Zeitdimensionen unseres irdischen Daseins gleichsam in Sekundenschnelle verklickt: erstens die Vergangenheit in Form von externen Datenbanken und internen Festplatten, zweitens die Gegenwart durch Chats und drittens die Zukunft durch E-Mail, weil jede Message bekanntlich nur Vorläufer und Generator jenes Wunsches ist, die nächste möglichst bald zu empfangen. Der Ästhetik des Haltbaren konkurriert so eine Ästhetik des Verschaltbaren. Und mögen einst Dichter gestiftet haben, was bleibt, heute bedarf es vom Schreiben zum Bleiben nur eines kurzen Befehls. Der Traum allen Schreibens heißt dann nicht mehr Ewigkeit, sondern immer öfter auch Echtzeit. Nur daß die bisweilen noch ewig lang dauert.

 

 

Bibliographie

 

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