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Eva Kimminich (Bayreuth)



Dietmar Hüser (2004): Eine RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag.



Mit Dietmar Hüsers "rapublikanischer Synthese" liegt nicht nur eine weitere von vielen Studien1 zum Phänomen des Rap als Bestandteil der Hip-Hop-Kultur vor, sondern eine profunde, materialreiche und anregende Analyse, die die kulturpolitischen Spezifika der französischen Szene vor dem Hintergrund ihrer heterogenen und mehrdeutigen Verflechtungen aufarbeitet. Das Buch bietet daher eine vielseitige Annäherung an das Phänomen, deren Ziel es ist, seinen zeitgeschichtlichen Kontexten gerecht zu werden. Dabei werden Aspekte der Produktion im Sinne einer appropriativen Artikulation und solche der Rezeption im Sinne von Prozessen aktiver Sinngebung gleichermaßen berücksichtigt.

Der gewinnbringende Schwerpunkt der thematisch gegliederten Studie liegt daher nicht allein auf der Sichtung und Durchdringung kultur- und medienpolitischer Hintergründe, sondern auf der gleichberechtigten Zusammenschau von populärer Musik und politischer Kultur bzw. der dadurch in den Blickpunkt rückenden Wirkungskreise und -möglichkeiten. Rap wird dadurch als populärmusikalische Ausdrucksform ernst genommen, denn: "Sparten populärer Kultur speisen politische Diskurse, formen politische Sprache, beleben politische Symbole, stiften politische Bedeutung. Sie prägen die Art und Weise, wie Menschen die 'Große Politik' in 'kleine' Horizontausschnitte des eigenen Lebensalltags übersetzen, und strukturieren damit politische Teilhabe wie gesellschaftliche Konfliktaustragung." (40)

Hüsers Studie folgt daher nicht der chronologischen Entwicklungsgeschichte des Rap, sondern konzentriert sich auf die Themenschwerpunkte der Songtexte der 1980er und 1990er Jahre. Berücksichtigt werden die Texte der zum damaligen Zeitpunkt bekannten Rapgruppen wie Assassin, La Brigade, La Cliqua, Fabe, Fonky Familiy, IAM, KDD, Ministère A.M.E.R., N.A.P., La Rumeur, MC Solaar, Sniper, Stomy Bugsy, Suprême NTM und weiterer Gruppen bzw. Rapper und Rapperinnen.




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Einerseits liest der Autor die Themenschwerpunkte aus den Texten heraus. Das gilt für die ersten drei Teile der Studie. Im ersten Teil werden auf diese Weise zunächst die Produktions-, Diffusions- und Rezeptionsprozesse des Mediums Rap vor dem Hintergrund der transatlantischen und vorstädtischen Spannungspolen von Zentrum und Peripherie beleuchtet. Im zweiten wird auf die kulturellen, musikalischen und verbalen Artikulationen der Hip-Hop-Bewegung insgesamt eingegangen, die für das (Selbst)Verständnis des Rap grundlegend sind, und im dritten Teil widmet sich Hüser den Beschwerden und Stellungnahmen verschiedener Rapgruppen zur Sozial- und Integrationspolitik, ihrer Diskussion der republikanischen Werte und ihren Fragen zur nationalen Einheit. Andererseits werden die Texte in die Themen hineingelesen. D.h. im vierten Teil wird der Rap-Diskurs auf seine Erkenntnisgewinnung im Hinblick auf die hegemoniale Darstellung des Algerienkrieges und der Kolonialgeschichte sowie auf Modelle und Praktiken republikanischer Integration und Nationenbildung untersucht, aus denen, wie auf diese Weise gezeigt werden kann, "eigensinnige" (ein Begriff, der von dem Cultural Studies-Forscher John Fiske geprägt wurde) staatsbürgerliche Partizipationsformen abgeleitet werden.

Unter Rückgriff auf verschiedene fachdisziplinäre Forschungsansätze wird Rap u.a. im Rahmen seiner Entstehungs- bzw. Abwandlungsgeschichte aus der schwarz-amerikanischen Protestmusik vor dem Hintergrund der Globalisierung als Poesie des Lokalen bzw. der Emanzipation diskutiert und die kulturelle Offenheit des sich durch Bereicherung am Fremden und Anderen ständig wandelnden Genres erörtert. Seine aus der Hip-Hop-Bewegung stammenden Werte und Ehrbegriffe werden im Rahmen einer "Soziokultur der Straße" erläutert, deren Träger nicht nur nach Selbstverwirklichung, sondern auch nach neuen Wegen der Partizipation am Kultur-, Bildungs- und Sozialsystem suchen, was sie in eine politische und moralische Aufklärungsarbeit hineingleiten und zu Katalysatoren massenhafter Mobilisierungen werden lässt. Rap wird daher auch vor dem Hintergrund der politisch engagierten Chansontradition Frankreichs beleuchtet und als brauchbares Verfahren demokratischer Willens- und Meinungsbildung erörtert. Im Rahmen des mit dem Rap-Boom in Frankreich zusammenfallenden Republik-Comebacks widmet sich Hüser v.a. der rap-spezifischen Auseinandersetzung mit den Konzepten von Nation, Republik und Staatsbürgerlichkeit. Er zeigt wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung und Volkssouveränität als republikanische Ziele und Werte ernst genommen und ihre aktuelle politische Umsetzung oder Handhabung beobachtet, kritisiert und eingefordert werden. Diese Auseinandersetzung lässt gerade in der viel diskutierten Banlieue republikanische Zwischenräume entstehen, die dem Integriert-sein-wollen von Einwandererkindern und Minderheiten einen pluri-ethnischen Raum der Selbstfindung bieten.




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Die sich darin entfaltenden, auf sozialem Engagement aufbauenden Selbstbilder und von hohem Problembewusstsein geleiteten, konstruktiven Handlungsalternativen haben nichts mehr mit den vereinfachenden Verzerrungen ihrer gesellschaftlichen Repräsentationen in den sensationshungrigen, durch Moralismus und Klischees gezeichneten Medien gemein, die bis zur "öffentlichen Verschurkung" einer populärmusikalischen Stilrichtung führen können, wie Hüser am Beispiel der Affäre NTM aufzeigt.2

So wie Hüser es versteht, unter Berücksichtigung kolonialer und postkolonialer Kontexte sowie spezifisch französischer Nationalgeschichte historische Horizonte zu eröffnen, so gelingt es ihm auch, deren Bedeutungsdimensionen in ihrer gegenwärtigen Rekonfiguration aufzuzeigen und verkürzte Sichtweisen mit Eigenlogiken und Selbstwahrnehmungen der Rap- und Hip-Hop-Welt zu konfrontieren. Daher wird die Trägergruppe dieser politisch-kulturellen Praxis nicht als "Nur-Opfer" einer mehr oder weniger erfolgreichen Integrationspolitik beschrieben, sondern v.a. als "Auch-Aktanten" derselben. Als solche haben sie sich im Schatten der politisch instrumentalisierten Bilder, die in den Medien über Hip Hop, Jugend und Gewalt sowie ihre Verbindung mit Banlieue, Immigration und Integration verbreitet werden, zu "erzfranzösischen" Verteidigern republikanischer Werte entwickelt. Sie nörgeln und kritisieren oder bemitleiden sich nicht nur selbst, sondern erarbeiten, wie der Autor an griffigen Beispielen zeigt, eine abgleichende Synthetisierung von Zielen der Vergangenheit und Gegenwart, über die sie nicht nur ihre eigenen Identitäten her- und darstellen, sondern auch vorsätzlich und gezielt handlungsanleitendes Liedgut zur Daseinsbewältigung ihrer heterogenen Zuhörerschaft erzeugen.

Alles in allem bietet das auf umfangreiche Primär- wie Sekundärquellen zurückgreifende Buch mit umfassendem Literaturverzeichnis und hilfreichem Register sowie zahleichen Zitaten aus Songs und Interviews einen vielschichtigen, informativen, detailreichen und v.a. gut lesbaren Einblick in die Komplexität des Phänomens, der verschiedensten Interessenten verwertbares Material und durchdachte Argumente bietet.


Bibliographie

Androutsopoulos, Jannis (Hg.) (2003): Hip Hop: Globale Kultur – lokale Praktiken. Bielefeld: Transcript.

Béthune, Christian (2003): Le rap, un esthétique hors la loi. Paris: Autrement.

Boucher, Manuel (1998): Rap: Expression de Lascar. Paris: L'Harmattan.




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Jacob, Günther (1993): Agit-Pop: Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin / Amsterdam: Edition D-Archiv.

Karrer, Wolfgang und Ingrid Kerkhoff (2001): Rap. Berlin / Hamburg: Argument-Verlag.

Klein, Gabriel und Friedrich Malte (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Mikos, Lothar (2000): "Vergnügen und Widerstand. Aneignungsformen von HipHop und Gangsta Rap." In: Udo Göttlich / Rainer Winter (Hg.), politik des vergnügens: zur diskussion der populärkultur in den cultural studies. Köln: Herbert von Halem Verlag, 103-123.

Rose, Tricia (1994): Black Noise: Rap Music & Black Culture in Contemporary America. Hannover / London: University Press of New England.

Shusterman, Richard (2001): Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus. Übers. Heidi Salaverría. Berlin: Akademie Verlag.

Vicherat, Mathias (2001): Pour une analyse textuelle du RAP français. Paris: L'Harmattan.


Anmerkungen

1 Als eine Auswahl der inzwischen umfassenden Anzahl wissenschaftlicher Studien über amerikanischen Hip Hop und Rap und seiner ersten Rezeptionswelle in Europa sei wenigstens auf einige der grundlegenden Studien von Jacob (1993) und Rose (1994) sowie auf die erste in Deutschland erschienene richtungweisende Fachaufsatzsammlung von Karrer und Kerkhoff (1996) und auf die werkintern verstreuten Reflexionen Richard Shustermans (v.a. Shusterman 2001: 185-221) hingewiesen. Sie alle haben auf viele wesentliche Aspekte aufmerksam gemacht, die in der nachfolgenden Forschung teilweise aufgegriffen und vertieft, aber auch weiterentwickelt und durch neue Akzentsetzungen ergänzt wurden. Günter Jakob rekonstruierte die diskursiven Praktiken und metaphorischen Sinnverschiebungen des ideologischen Feldes Hip Hop, wies auf die Rezeptionsweisen und Aneignungsdiskurse der europäischen Szene hin, die Lothar Mikos (2000) im Rahmen der Cultural Studies untersuchte. Diese Thematik wird in der Aufsatzsammlung von Androutsopoulos (2003) wieder aufgegriffen, mit einigen bereits andernorts erschienen Beiträgen. Gabriel Klein und Friedrich Malte (2003) verhandeln die Hip Hop-Kultur auf theoretischer Ebene, vor allem im Rahmen des Performativitätsbegriffs von Judith Butler, der Feldtheorie Pierre Bourdieus und anderer kulturwissenschaftliche Modelle. Dabei gerät der eigentliche Forschungsgegenstand, der zwar teilweise auch mit Szenevokabular beschrieben wird, bisweilen in den Hintergrund und bleibt stumm. Für die französische Rap-Szene sind v.a. die Studien Hugues Bazins zu erwähnen, die soziologische Arbeit von Manuel Boucher (1998) , die Themenanalyse von Mathias Vicherat (2001) und die Studie von Christian Béthune (2003).




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2 Joey Starr, Rapper dieser in Frankreich bekanntesten Gruppe (Suprême NTM) wurde Mitte der 1990er Jahre auf Betreiben rechtsextremer Politiker wegen seines Songs "Niques les fliques" und beleidigenden Verbalattacken der öffentlichen Ordnungskräfte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im Anschluss an die Unruhen des vergangenen Jahres (2005) hat sich mit der Anklage des UMP-Politikers Daniel Mach gegen Monsieur R. und andere Rapper, diese "Verschurkung" wiederholt. Sie wurden als Verursacher der Aufstände verantwortlich gemacht, was Hüsers Befund bestätigt. Wurde das Urteil Starrs durch Druck der Öffentlichkeit gemindert, so wurde die Anklage gegen Monsieur R. aufgrund der durch neue Gesetzesänderungen erneut angespannten Lage in Frankreichs Vorstädten im Juni 2006 abgewiesen.