PhiN 38/2006: 52



Kirsten Süselbeck (Marburg)



Geschlechterbilder und Fortschrittsglaube: Doña Bárbara von Rómulo Gallegos (1929)



Gender Images and Belief in Progress: Rómulo Gallego's Doña Bárbara
The venezolanian novel Doña Bárbara (Rómulo Gallegos 1929) juxtaposes the image of a savage woman who represents backwardness (the indigenous and violent past of the country) to the image of a man guided by reason who is able to lead the nation into modernity. This essay shows that the novel, read as an allegory, not only draws a vision of a modern Venezuela where the regional, traditional and backward represented by Doña Bárbara is left behind, but also includes a counter-discourse which integrates this criticised aspects of Venezolanian life into the national identity. This happens through maintaining the primitive past as a static, idealized image represented by the savage woman. At the same time the images drawn of both sexes can be read not only as an allegory, but as a concrete model of behavoiur for modern men and women. In the same way as the national identity, the masculine identity defines itself through an ambivalent relation to the feminine.



1 Europa zwischen Kultur und Natur

In den realistischen und naturalistischen Romanen des 19. Jahrhunderts treten vermehrt Frauenfiguren in den Vordergrund der Handlung. Bekanntestes Beispiel ist Gustave Flauberts Madame Bovary (1856/1857): Die gelangweilte Ehefrau hofft, inspiriert von der Lektüre sentimentaler Romane, durch ihre Liebesverhältnisse dem kargen Landleben und der unspektakulären Ehe entfliehen zu können. Madame Bovary verzweifelt jedoch an ihren eigenen Sehnsüchten und begeht Selbstmord. Ebenso wie Madame Bovary scheitern auch die Heldinnen der anderen großen europäischen Ehebruchsromane an dem Wunsch, aus den Konventionen ihrer Gesellschaft auszubrechen: Anna Karenina (Leon Tolstoi, 1877/1878), La Regenta (Leopoldo Alas, 1884/1885) und Effie Briest (Thedodor Fontane, 1895).

Über die Frage, warum männliche Schriftsteller damals für die Beschreibung der gesellschaftlichen Umstände Frauenfiguren wählten (und dies geschieht freilich nicht nur in diesen vier bekanntesten, sondern auch in vielen anderen realistischen und naturalistischen Romanen des 19. Jahrhunderts – man denke beispielsweise an Emile Zolas Nana von 1879/1880 oder an die Romane von Benito Pérez Galdós) ist viel spekuliert worden. Eine mögliche Erklärug ist, dass die rasche Modernisierung und Industrialisierung und volle Entfaltung des sozioökonomischen Stadiums der Moderne damals Unbehagen auslöste.1 Man glaubte einerseits, man habe eine weitere Stufe auf dem Weg hin zur zivilisatorischen Perfektion erreicht. Im wissenschaftlichen Diskurs verstärkte sich die Vorstellung von einer strengen Trennungslinie zwischen Natur und Kultur. Die Etablierung dieser Trennungslinie hatte andererseits allerdings auch die Präsenz zweier gegenteiliger Ängste zur Folge: zum einen die vor der Aufhebung dieser Trennung, also vor dem Rückfall in Natur und Primitivität; zum anderen die vor der Verstärkung dieser Trennung, also vor der absoluten Technisierung und somit Entfremdung und Verlust von Authentizität.




PhiN 38/2006: 53


Nicht nur der Unterschied zwischen Natur und Kultur war daher damals beständiges Thema öffentlicher Diskurse, sondern auch die Geschlechtertrennung. Anhand der Geschlechterbilder konnte die Vorstellung der Grenze zwischen gesellschaftlichen Konventionen und naturhaften Trieben plastisch gemacht werden. 2 Beides, der Wunsch der Überwindung von Primitivität als auch der der Bewahrung von Natürlichkeit wurde durch den von Männern bestimmten öffentlichen Diskurs auf das Frauenbild projiziert. Zum einen wurden Frauen als rückständig – der Natur, Traditionen und Emotionen verhaftet – definiert und Männer dem gegenüber als zivilisiert, kulturell gewandt, diszipliniert und der Vernunft zugetan. Zum anderen wurden Frauen aber auch im positiven Sinne zur Verkörperung all dessen, was dem männlichen, modernisierten, zivilisierten, disziplinierten öffentlichen Leben fehlte: statt Selbstentfremdung Natürlichkeit und Authentizität, statt Vernunft die Gabe zur Sensibilität und Intuition, gegenüber der entfremdeten Arbeitswelt die Idylle des Privatlebens. In diesem Sinne können Frauenbilder als Resultat der Sehnsucht nach der Rückkehr (aus der differenzierten, entfremdeten Moderne) in die Natur, zum Ursprung, zur Einheit, gesehen werden.3

Die Ehebruchsromane thematisieren die unbestimmte Trennung zwischen den beiden Sphären.4 Die Figur der femme fatale spiegelt die Koexistenz von Modernisierungswünschen und -ängsten: Auf der einen Seite ist sie anziehend und faszinierend wie die Natur und ihre Triebe, zum anderen jedoch lauert in ihr die Gefahr des Sieges eben dieser Natur über den disziplinierten männlichen Körper, der Kultur- und somit Männlichkeitsverlust bedeuten würde.


2 Lateinamerika zwischen Identität und Fortschrtitt

Die Gegenüberstellung von Kultur und Natur, hier als Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei inszeniert, ist in der lateinamerikanischen Literatur des 19. und Anfang des 20. Jh. ein häufiges Thema. Allerdings war die Moderne damals in Lateinamerika nicht so sehr ein real existierendes sozioökonomisches Stadium als vielmehr nur eine Idee, eine Zukunftsvision und somit ein rein ästhetisches Konzept.5

Der Diskurs über die Moderne besitzt in Lateinamerika deshalb eine noch viel stärkere Ambivalenz als in Europa: Zum einen wird die noch nicht eingetretene Moderne, der Fortschritt, herbeigesehnt. Zum anderen, so erklärt Alonso, sei die Erfahrung der Moderne in Lateinamerika geprägt von der diskursiven Suche nach einem Raum außerhalb von ihr, denn nur dort könne die Selbstdefinition Lateinamerikas möglich sein (Alonso 1990: 25, 30, 32). Daher wird in identitätsstiftenden Texten die Vision eines modernen Lateinamerika gezeichnet, das sich am Fortschritt und der Modernisierung Europas orientiert.6 Zugleich soll jedoch eine eigene Identität aufgezeigt werden, welche sich in Abgrenzung zu Europa aus der Vergangenheit, dem Rückständigen und Barbarischen ableiten muss. Dies führt laut Alonso zu einem paradoxen 'turning away from itself' lateinamerikanischer Texte (Alonso 1990: 23).

Rómulo Gallegos Doña Bárbara ist hierfür ein exemplarischer Fall. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft, Europa und Lateinamerika scheint auf den ersten Blick zugunsten einer klaren Entscheidung für den europäischen Fortschritt gelöst: Doña Bárbara, weibliche Verkörperung der Rückständigkeit und Barbarei, muss dem europäisierten, disziplinierten, aufgeklärten Zivilisationsbringer Santos Luzardo weichen, der die ungezähmten Weiten Venezuelas, die llanos, modernisieren und technisieren wird.




PhiN 38/2006: 54


Diese Deutung seines Romans möchte Gallegos, wie Alonso nachweist, durch eine geradezu manische Wiederholung der Selbsterklärung hervorrufen.7 Dies könnte laut Alonso darauf hinweisen, dass der Autor fürchtet, man könne seinen Roman anders lesen als er es intendiert und einen unterdrückten, unbewussten Sinn unter der Oberfläche entdecken (Alonso 1989: 424). Gallegos ahnt, die Leser könnten sich dazu verleitet sehen, in seinem Roman zwischen den Zeilen einen geheimen Sieg der Barbarei herauszulesen. Das Bestreben dies zu verhindern, bleibt jedoch vergeblich, denn wie schon Sarmientos geheime Begeisterung für seinen von der Oberfläche des Diskurses so sehr geächteten Helden Facundo (1845), ist auch Gallegos Faszination für die Brutalität der llanos, die männliche Rohheit der llaneros, die Wildheit der venezolanischen Natur und für die Erotik Doña Bárbaras letztendlich nicht zu verbergen. Gegen Gallegos Interpretationsvorgaben steht also ein unterschwelliger Gegendiskurs, der die explizit klar gezeichnete Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei implizit verwischt.8

Die Verwischung der klaren Grenzziehung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Altem und Neuem, Moderne und Tradition findet sich auch in dem im Roman anzutreffenden Geschlechterbild wieder. Mehr noch als über die Dichotomie Mann (Santos) und Frau (Doña Bárbara/Marisela) versucht der Autor durch die Gegenüberstellung von Androgynität (Doña Bárbara) als Unordnung und klarer Geschlechtertrennung (Santos/Marisela) als Ordnung, die Trennung zwischen Barbarei und Zivilisation zu repräsentieren. Jedoch verbirgt sich auch hinter der negativen Darstellung der unsittlichen Frau Doña Bárbara Faszination und kann auch der disziplinierte Mann Santos sich nicht ganz vom Naturhaften und Barbarischen befreien.

Laut Saladin tritt die femme fatale immer dann auf, wenn der Autor sich zeitweise von seinem eigenen Text distanzieren will, um nicht mehr für seinen Inhalt verantwortlich gemacht zu werden (Saladin 1993: 199). So kann er seine geheime Faszination für etwas ausleben, das er gleichzeitig im Erzählerdiskurs ächten (und kontrollieren) kann.9 Genau dies geschieht bei Gallegos, der in seinem Werk seine Bewunderung für die (weiblich konnotierte) Barbarei auslebt, diese aber gleichzeitig an der Oberfläche stark verurteilt.


3 Doña Bárbara: Überwindung des Weiblich-Barbarischen durch Mythifizierung

Die novela de la tierra hat laut Doris Sommer zum Ziel, den antiimperialistischen und patriotischen Diskurs des Populismus zu stützen. Frauen verkörperten in diesen Romanen das vom Mann gegen die innere (von den jetzigen barbarischen Machthabern ausgehende) und äußere (US-imperialistische) Bedrohung zu verteidigende nationale Territorium (Sommer 1991: 258f.). Ein nationales Projekt werde allegorisch durch die Mann-Frau Beziehung dargestellt:10 die Inbesitznahme der Frau durch den Mann (Sommer 1991: 260) repräsentiere den Wunsch des populistische Patriotismus, eine klare Grenzziehung zwischen den Nationen und eine klare Festlegung von Privatbesitzrechten zu sichern. Wie Sommer aufzeigt, fügt sich Doña Bárbara perfekt in dieses Schema ein: die Frauenfigur verkörpert die ungezähmten llanos, die, wie die Frau selbst, wild aber dennoch anziehend erscheinen (Sommer 1991:276, 280f.).11 Beide müssen gezähmt und in Besitz genommen werden. Da in Santos' Zivilisierungsprojekt die Barbarei durch einen Anstieg der Bevölkerung bekämpft werden solle, sei die Inbesitznahme der Frau vor allem deshalb wichtig, damit sie zur Nachkommenschaft produzierenden Ehefrau und Mutter gemacht werden könne.12 Während Marisela nach diesem Schema in Santos Zukunftsprojekt aufgenommen werde (Sommer 1991: 288), lehne Doña Bárbara die Mutterrolle ab,13 was ihren Mangel an einem produktiven Zukunftsprojekt für die llanos symbolisiere (Sommer 1991: 281).




PhiN 38/2006: 55


Auch Magnarelli sieht Besitznahme und Grenzziehung (nicht nur zwischen eigenem und fremden Besitz, sondern auch zwischen Selbst und Anderem) als grundlegendes Thema Doña Bárbaras (Magnarelli 1985: 11).14 Auch sie zieht eine Parallele zwischen der Eroberung von Frauen und der Inbesitznahme von Land. Dabei macht sie nicht nur darauf aufmerksam, dass Doña Bárbara sich gegen die Inbesitznahme durch Männer sträubt (Magnarelli 1985: 15),15 sondern auch darauf, dass Santos durch die Ehelichung Mariselas gleichzeitig Doña Bárbaras Land in Besitz nimmt, da jene deren rechtmäßige Erbin ist (Magnarelli 1985:9).

Beide Ziele – Zivilisierung und Inbesitznahme von Land und Frau – sind Komponenten, die sich einem bürgerlichen Zukunftsprojekt unterordnen.16 Eine weitere Komponente dieses Projektes deutet Sommer in ihrem vielschichtigen, zu verschiedensten Interpretationen anregenden Text nur an: Die Frauen – Doña Bárbara und Marisela – können nicht nur das Territorium und die Natur darstellen, sondern auch die Bevölkerung, die in den llanos lebt und die sich dem Projekt der Zivilisierung anzupassen hat.

In Bezug auf die Darstellung des Volkes und seiner Traditionen in Doña Bárbara ist festzustellen, dass sich hier der oben beschriebene Widerspruch zwischen Tradition und Moderne wiederfindet: Die Traditionen und das Urwesen des Volkes sollen zwar in das nationale Projekt aufgenommen werden, weil sie die Unterscheidung Venezuelas von Europa, den USA und anderen lateinamerikanischen Ländern beweisen können. Zum anderen soll jedoch das traditionelle Venezuela überwunden und der europäischen Zivilisation nachgeeifert werden. Dies führt zu einer eigenartigen Widersprüchlichkeit zwischen der expliziten Aussage des Romans (Sieg der Zivilisation über die Barbarei) und den Komponenten des Romans, die im Leser die Begeisterung für das typisch Venezolanische wecken sollen.

Jahrzehntelang wurde der Roman eben wegen dieser Komponenten gefeiert: er galt als naturgetreue Darstellung des Lebens der llaneros (Damboriena 1960: 330), die Inbegriff des venezolanischen Nationalbildes sind.17 Zum anderen jedoch werden eben diese Komponenten in dem Roman vehement diskreditiert. Ein hierzu in mehreren Sekundärtexten genanntes Beispiel ist die Darstellung der typisch venezolanischen Sprechweise. Castro Urioste stellt fest, dass die Populärsprache, obwohl sie im Text auftaucht, nicht gleichwertig inkorporiert wird, da primitives Vokabular der llanura in Anführungszeichen gesetzt wird (Castro Urioste 1997: 138). Sommer merkt an, dass die Einwürfe sich lediglich auf einzelne Vokabeln beziehen, die Grammatik jedoch unangetastet bleibe (Sommer 1991: 281). Zudem ist es ja auch Marisela, die als Repräsentantin des Volkes in das Zivilisierungsprojekt von Santos aufgenommen wird, nicht vergönnt, weiterhin ihre wilde Sprache zu sprechen. Die Sprache und auch andere nationale Identitätssymbole werden also lediglich in den Diskurs aufgenommen, um dann vom Erzählerdiskurs zurechtgestutzt zu werden, so dass sie in die Bahnen der Zivilisation gelenkt werden können. Dies führt zu ihrere Mumifizierung und Folklorisierung (vgl. dazu auch Sommer 1991: 282f).18




PhiN 38/2006: 56


Frauenbilder können, wie vorab festgestellt, dem gesellschaftlichen Nostalgiedrang dienen und werden zur versteinerten Verbildlichung von Vergangenem. Es kann also hier die These aufgestellt werden, dass auch in Doña Bárbara die Frauenfigur zur Darstellung des Widerspruchs zwischen Tradition und Moderne dient, der nur dadurch aufgelöst werden kann, dass die zu überwindende Vergangenheit, eine Welt, die von Grund auf verändert werden soll, lediglich als mythifiziertes Bild mit in die Zukunft genommen wird. Doña Bárbara repräsentiert das nationale Element, das sich aus dem Indigen-Barbarischen definiert. Wie dieses ist auch sie verführerisch und faszinierend, wird aber dennoch vom Erzählerdiskurs geächtet. Und so wie das Volk im Modernisierungsprozess muss auch Doña Bárbara sich im Laufe des Romans verändern und an das Zukunftsprojekt anpassen: Am Ende beschließt sie aus eigener Einsicht, ihren Platz zu räumen. Ihr Verschwinden symbolisiert die Tilgung all dessen, was der modernen Gesellschaft unwürdig ist. Am Ende des Romans wird sie in die Vergangenheit verbannt: "las cosas vuelven al lugar de donde salieron" (237). Sie ist damit besiegt, aber sie ist nicht überwunden. Der Platz, der ihr zugewiesen wird, befindet sich im Titel des Romans, im Mythos, in der Legende. Ihr Bild lebt weiter. Möglicherweise gibt es sie sogar wirklich (man denke an den Verweis des Autors auf die Existenz einer wahren Vorlage für Doña Bárbara),19 möglicherweise ist sie nicht gestorben, sondern kehrt eines Tages zurück:

La noticia corre de boca en boca: ha desaparecido la cacica de Arauca. Se supone que se haya arrojado al tremendal, porque hacia allá la vieron dirigirse, con la sombra de una trágica resolución en el rostro; pero también se habla de un bongo que bajaba por el Arauca y en el cual alguien creyó ver una mujer. (242f.)

Dieser populistische Roman des Venezuela der 20er Jahre scheint somit das Frauenbild für ähnliche Zwecke zu nutzen wie der europäische Roman zu Ende des 19. Jahrhunderts. Das Frauenbild ermöglicht in beiden Fällen die Beschreibung einer ambivalenten Beziehung zur Moderne: Es kann das Rückständige, Naturhafte verkörpern, das zum einen überwunden, zum anderen in mythifizierter Form festgehalten werden muss. In Europa dient dies entweder der Beschreibung der Sehnsucht nach der Vormoderne und somit der Kritik an der real eingetretenen Moderne oder repräsentiert die Furcht vor dem Rückfall in die Vormoderne. In Lateinamerika dient es der Selbstdefinition der Nationen: zum einen über ihre eigene Vergangenheit und damit über die Identifikation mit dem Weiblichen, zum anderen über die Vision einer noch nicht eingetretenen Moderne, die die Überwindung desgleichen verlangt.





PhiN 38/2006: 57


4 Von Doña Bárbara zu Marisela: Die Verwandlung zur Frau als Machtverlust

Rómulo Gallegos sah den Sinn von Literatur nicht nur in der Beschreibung sondern auch in der Konstruktion von Realität. "[...] [A]spiro a que mi mundo de ficción retribuya a la realidad y sus préstamos con algo edificante", erklärte er (Gallegos 1954: 416). Dies begründet sich aus der generellen Logik der Gründungsromane, die laut Sommer nicht so sehr Kunstprojekte sind, als vielmehr das Ziel haben, einen Effekt in der Gesellschaft hervorzurufen. Ihr Ziel sei die Legitimation der kulturellen Hegemonie des modernen Staates und seiner Werte. Wichtig sei für sie daher vor allem die Erziehung zum Patriotismus und, parallel dazu, zum heterosexuellen Begehren, das als für die Erzeugung nationaler Einheit und Produktivität, als für das Erlernen von assoziativem Verhalten und Marktbeziehungen notwendig angesehen werde (Sommer 1991: 31 –35). Sommers Ausführungen beinhalten zwar den Gedanken, dass die Romane, die in dieser Weise wirken wollen, auch einen ganz bestimmten Verhaltenkodex für Geschlechter propagieren, den die Leser (über das Mitbegehren) verinnerlichen sollen, verzichtet jedoch auf eine konkrete Beschreibung dieses Verhaltenkodexes. Vor allem Doña Bárbara kann jedoch in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen nicht nur in der Sommerschen Manier einer nationalen Allegorie gelesen werden, sondern auch als konkret auf die Realität anzuwendender Regelkatalog für Männer und Frauen, wie sie sich Gallegos für die Zukunft des modernen Venezuela erträumt.

Auch deshalb muss Doña Bárbara am Ende verschwinden. Nicht nur als Repräsentantin des Barbarischen und Indigenen, sondern auch als Repräsentantin des Gegenbildes zum neuen Frauenideal. Beide, das Indigene und das Weibliche, – in der lateinamerikanischen fiktionalen Geschichtsschreibung schon immer metaphorisch verbunden – gelten als erobert, vergewaltigt und damit schandbefleckt. Auch Doña Bárbara wurde vergewaltigt: Gegen Ende des Romans sitzt Doña Bárbara in weiß gekleidet auf einer Hotelveranda (235). Während sie selbst wie "una jovencita ante su primer amor" von einem neuen Leben träumt, tummeln sich auf der anderen Straßenseite Menschen, die ihre Geschichte kennen: "Fue [...] la ciudad que quería hacerla recordar la historia que ella se empeñaba en olvidar" (236). Ihr erscheint es, als flüstere ihr eine Stimme ins Ohr: Para ser amada por un hombre como Santos Luzardo es necesario no tener historia (236).20 Diese Szene zeigt: Die befleckte Vergangenheit Doña Bárbaras ist gemäß dem patriarchalen Code der untilgbaren Schande von sexuell befleckten Frauen nicht mehr auszuradieren. So sehr sich Doña Bárbara auch wünscht ein neues Leben zu beginnen (der Erzähler spricht von "ansias de vida nueva", 173) und obwohl sie sich in weißer Unbeflecktheit kleidet, ist das Geschehene nicht mehr rückgängig zu machen und die Aufnahme des einmal Beschmutzten Weiblich-Indigenen in die zivilisierte Gesellschaft unmöglich. Doña Bárbaras Vergewaltigung und ihr daraufhin entwickelter Männerhass, der gleichzeitig die indigene Barbarei repräsentiert, machen sie unrein.




PhiN 38/2006: 58


Doña Bárbara stellt das Bild einer Frau dar, deren Geschichte nicht in die Moderne passt. Sie repräsentiert all das, was die zukünftige Frau nicht sein sollte. Quintessenz ist dabei die Aussage, dass Frauen nicht männlich sein dürfen, wobei Männlichkeit Synonym für Unabhängigkeit, Gewalttätigkeit und Aktivität, vor allem aber für Recht auf Macht und Besitz ist. Doña Bárbara nimmt all diese männlichen Rechte für sich in Anspruch: Sie lebt in Unabhängigkeit, sie entscheidet, sie gibt Befehle, Gewalt auszuführen, sie nimmt immer mehr Geld und mehr Land in Besitz. Diese Eigenschaften vermännlichen sie, machen sie zur "marimacho" (z.B. 29) und "mujerona" (z.B. 62). Santos besitzt im Grunde genommen die gleichen Eigenschaften. Was, wie sowohl Magnarelli als auch Lavou feststellen, bei Santos jedoch als Tugend gilt, gilt bei Doña Bárbara als unrechtmäßiges Vergehen: Während z.B. die Geschicktheit in der doma Santos Männlichkeit beweist, ist es bei Doña Bárbara genau der Besitz dieses Talents, das sie suspekt macht (Magnarelli 1985:14f.). Selbst die Barbarei, die Doña Bárbara so verabscheuungswürdig macht, wird an anderer Stelle von Santos selbst als männliche Tugend definiert (Lavou 1996: 213): "Después de todo – se decía – la barbarie tiene sus encantos, es algo hermoso que vale la pena vivirlo, es la plenitud del hombre rebelde a toda limitación" (164).

Da sie ihnen ihre Männlichkeit und somit Macht streitig machen will, stellt eine Frau wie Doña Bárbara eine Bedrohung für Männer dar. Von Anfang an wird Doña Bárbara deshalb als "devoradora de hombres" (z.B. 21) bezeichnet, deren einziges Ziel es ist, "la voluntad de los hombres auszulöschen" (25). Dies ist ihr bei Lorenzo Barquero, den sie zum "ex hombre" (z.B. 68) degradiert hat, gelungen.

Das Musterbild der zukünftigen Frau wird hingegen durch Marisela eingeführt. Jedoch nicht nur anhand ihrer, sondern auch der Wandlung Doña Bárbaras im Laufe des Romans werden Eigenschaften, Verhaltensweisen und Wesenszüge als natürlicherweise typisch weiblich festgelegt. Grundereignis in Doña Bárbaras Verwandlung, ausgelöst durch Santos Ankunft in Altamira, ist, dass die ungezähmte, unabhängige Frau, die den Männern den Krieg erklärt hatte, plötzlich lernt zu lieben. Der Text zieht hier eine auffällige Parallele zwischen Liebesfähigkeit und dem Wunsch nach freiwilliger Unterwerfung: Doña Bárbara beginnt in dem Moment ihre Macht aufzugeben, als sie sich in Santos verliebt. "Si quieres que él venga a ti, entrega tus obras", sagt der socio zu Doña Bárbara (174), was sie sodann auch zu tun beschließt. Die Liebe bekehrt sie zum Guten. Plötzlich hat sie den Wunsch, "actos generosos" auszuüben und verteilt Geld unter ihren Arbeitern (126). Der socio prophezeit ihr: No matarás. Ya tú no eres la misma (130). Am Ende macht sie sich daraufhin frei von ihren boshaften Untertanen, vererbt ihr Grundstück an Marisela und räumt freiwillig das Feld. Die Entdeckung, dass sie einen Mann begehrt, bringt Doña Bárbara auch von ihrer Abwehr gegen das Besessen-werden ab (zunächst heißt es, sie verabscheue die Idee, ein Mann könne sie "su mujer" nennen (26). Plötzlich scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Sie sehnt die Unterwerfung geradezu herbei: "[...] quería pertenecerle, aunque tuviera que ser como le pertenecían a él las reses que llevaban grabado a fuego en los costillares el hierro altamireño." (126)




PhiN 38/2006: 59


Es heißt hier auch im Text, zum ersten Mal fühle sie Respekt vor einem Mann: "un respeto que Doña Bárbara nunca había sentido." (103). Es ist plötzlich, als habe sie ihr Leben lang eine autoritäre Behandlung, der sie sich unterwerfen kann, herbeigesehnt: "experimentaba placer en hallar autoritario a ese hombre" (128).21 Dieser Unterwerfungswunsch wird im Text direkt mit dem Sich-als-Frau-fühlen in Verbindung gebracht: Im gleichen Kontext heißt es über Doña Bárbara: "Por primera vez se había sido mujer en presencia de un hombre" (126). So möchte der Text den Leser davon überzeugen, dass in jeder Frau der natürliche Wunsch nach Unterwerfung schlummere und nur die Fähigkeit zur als solche verstandenen Liebe, Frauen zu wahren Frauen mache. Und nur wahre, also liebesfähige und unterwerfungswillige Frauen erscheinen auch nicht mehr als Gefahr für Männer. Daher kann Santos sich nach längerem Zweifel,22 erst in dem Moment endgültig dafür entscheiden, Marisela zu heiraten, als er sieht, wie sie "con verdadero amor filial" um den toten Vater weint (206) und somit Zeuge ihrer Liebesfähigkeit wird.

Eine Entdeckung der neueren Sekundärliteratur zu Doña Bárbara ist es, dass diese von der Erzählerstimme nicht nur verurteilt wird, sondern es auch Momente des Verständnisses für sie gebe (z.B. Sommer 1991: 283f., Lasarte 2000: 179ff.). Hierbei wird jedoch nicht darauf hingewiesen, dass nur in solchen Momenten Mitgefühl für die Figur aufkommt, in denen sie typische Frauenrollen annimmt, die allesamt Machtverlust bedeuten: die der Liebenden, die des Opfers (als vergewaltigte Barbarita) und die Rolle der selbstlosen Mutter, die Doña Bárbara am Ende des Romans und ihres Transformationsprozesses hin zur Frau anzunehmen bereit ist, als sie für Marisela das Feld räumt und ihr die Ländereien vererbt.

Zu lieben bedeutet nach der Logik des Romans für Frauen die Annahme der Leitung durch den Mann. Frauen werden als ambivalente Wesen dargestellt, die gute und schlechte Seiten haben und nicht in Selbstbestimmung, sondern lediglich über die positive oder negative Beeinflussung durch Männer die eine oder andere Seite in sich ausprägen. Doña Bárbara hat die Möglichkeit gut zu werden verpasst, weil sie nach dem Tod von Asdrúbal ("amor frustrado que pudo hacerla buena" (29)) keinem Mann mehr begegnet ist, der sie hätte zum Guten führen können. Dies stellt sie auch selbst fest als sie zu Santos sagt: "Si yo me hubiera encontrado en mi camino con hombres como usted, otra sería mi historia (129). Auch der Vergleich des Aufeinandertreffens von Santos und Marisela mit dem Märchen von Dornröschen (das Kapitel heißt La bella durmiente") weist darauf hin, dass Frauen nur dank der Intervention des Mannes aus einer Traumwelt ("las palabras le despertaron el alma dormida", 77) in ein zivilisiertes Leben erwachen können. Santos verleiht der identitätslosen Marisela ein Selbstbild: einem Schöpfungsakt ähnlich nennt er sie bei ihrem Namen ("¿Eres tú, Marisela?" (74)) und leitet sie an, ihr Gesicht zu waschen und erstmals im Wasser ihr Spiegelbild zu betrachten und somit sich selbst zu erkennen (77).23 Während Doña Bárbara in ihrem Leben nur auf "amantes torpes groseros" (127) stieß, wird Marisela durch Santos Liebe, also Leitung und Erziehung, gefügig gemacht und so sehr unter männliche Kontrolle gebracht, dass sie letztendlich von Santos als sein eigenes Werk und sein Spiegelbild betrachtet werden kann: "Era la luz que él mismo había encendido en el alma de Marisela, [...] la obra –su verdadera obra [...] esta confianza era algo suyo, lo mejor d esí mismo, puesto en otro corazón." (229) Die Macht, die Doña Bárbara gerade über ihre Undurchschaubarkeit, Unberechenbarkeit und Rätselhaftigkeit erlangt (la superioridad de aquella mujer [...] y el temor que inspiraba parecían radicar, especialmente en su saber callar y esperar [...]", 63), ist damit in Marisela dank der klar definierten Identität, der Transparenz und Vernunft, die sie durch Santos Beeinflussung gewinnt, gebannt.




PhiN 38/2006: 60


Das Frauenideal, das Marisela verkörpert, hat Rómulo Gallegos offensichtlich der positivistischen Doktrin entnommen.24 Diese sah Mann und Frau als sich gegenseitig ergänzend an: Während der Mann als Erzieher Beschützer und Ernährer der Frau fungiert, soll diese ihn beraten, trösten, stützen und sein Privatleben im Haus strukturieren (Guerra 1994: 22, 68–71).25 Auch sieht das positivistische Ideal Frauen, sind sie einmal erzogen und auf die rechte Bahn gebracht, als Wächterinnen über Moral und Sentimentalität. Entgegen der Behauptung ihrer Naturnähe, bewahren sie dann den zur Wildheit neigenden Ehemann vor dem Verfall in die Brutalität (Guerra 1994: 68–71).

Diese Verteilung der Funktionen findet sich in Gallegos Beschreibung der Beziehung zwischen Santos und Marisela. Santos, der Marisela Lesen und Schreiben lehrt, ist nach der anfänglichen Erwägung, sie auf eine Mädchenschule zu schicken, bald davon überzeugt, dass der beste Lehrer für Frauen der Mann des Hauses sei, und befestigt an ihrer Zimmertür ein Schild mit der Aufschrift "Colegio de Señoritas. El mejor de la república" (159). Marisela hingegen putzt, kocht und steht Santos zu Diensten:

¿Está en la cocina preparándole la comida como a él le agrada? [...] Es casi seguro que por allí cerca esté una flor que ella ha puesto. [...] Buscas algo y apenas mueves un brazo, allí lo encuentras, porque todo está en su sitio y al alcance de la mano. [...] ¿Quieres reposar la siesta? Ni el vuelo de las moscas te molestará porque tal es la guerra que les ha declarado Marisela que ya no atreven a meterse en la casa [...]. (158)

Doña Bárbara wird somit in Marisela von der öffentlichen Machtsphäre auf den reproduktiven häuslichen Raum zurückgewiesen (vgl. auch Sommer 1991: 278). Durch den Einfluss des Mannes von ihrer Wildheit befreit, ist auch Marisela plötzlich Moralwärterin und bewahrt Santos vor dem Sittenverfall: "Marisela alegraba la casa y le llenaba una necesidad de orden personal. [...] Así pues mientras él iba desbastando su condición silvestre, Marisela le servía contra la adaptación a la rustiquez del medio." (107).


5 Santos: Machtübernahme durch Barbarisierung und Disziplinierung

Aufschlussreich ist auch das von Gallegos propagierte Männerbild. Sommer glaubt, dass die frühen Gründungsromane (1850 –1880) dem brutalen kriegerischen Macho, der dem zu überwindenden Zeitalter der Barbarei angehört, als neues Modell feminisierte sensible Männer entgegen stellen, die lieben lernen müssen, weil sie die Frau und mit ihr das Land produktiv machen sollen (Sommer 1991: 14ff.). Obwohl auch in Doña Bárbara die Dichotomie Macho (Mr. Danger etc.) versus liebevoller, sensibler Ehemann (Santos) greift, stellt Sommer jedoch hier bereits eine Veränderung fest: die Unterscheidung zwischen Macho und Mann wird unklarer. Sommer spricht von einer Rückkehr des autoritären Vaters und erklärt, dass sein Bild benötigt werde, weil es, anders als im frühen Gründungsroman, nicht mehr um die Harmonisierung der heterogenen Nation (Heirat über Klassengrenzen und ethnische Grenzen hinweg), sondern um die bedingungslose Verteidigung der Nation gehe, die kompromissloser sei und eine Machtteilung (mit den Imperialisten oder Barbaren) ausschließen solle. Deshalb träten Männer jetzt entschlossener und autoritärer auf (Sommer 1991: 22f.).




PhiN 38/2006: 61


Tatsächlich ist es genau diese Wandlung, die Santos im Laufe des Romans durchlebt: Zu Anfang heißt es über Santos, er sei durch den Aufenthalt in der Stadt zu einem "espíritu fino y reflexivo" (18) mutiert, und habe sich emotional von den llanos entfernt: "la tierra natal ya no le atraía" (19). Da das Leben in der llanura (also das Dominieren der Gefahren, die von dem weiblich konnotierten Territorium ausgehen) im Roman stets mit Männlichkeit in Verbindung gebracht wird (z.B.: "la llanura semibárbara, tierra de los hombres machos" [...] (40) oder "la vida del llano, ese exagerado sentimiento de la hombría [...]" (45)), kommt dieser Verlust seiner "sentimientos de patria" und damit der Tendenz zur "vida libre y bárbara del hato" (19) einem Männlichkeitsverlust, gar einer Kastrierung gleich:

Estaba enmatado, como dice el llanero del toro que busca el refugio de las matas, y allí permanece días enteros, echado, sin comer ni beber y lanzando de rato en rato sordos mugidos de rabia impotente, cuando ha sufrido la mutilación que lo condena a perder su fiereza y el señorío del rebaño. (18)

Die Entfernung Santos von den llanos und seine dadurch ausgelöste Feminisierung lässt den Leser die Furcht der llaneros teilen, Santos könne zu lasch auftreten: nur mit dem Gesetzbuch würde er gegen Doña Bárbara wohl kaum etwas ausrichten können.26 Aber Santos lernt schnell. Nicht nur gewinnt er bald wieder volle Begeisterung für die llanura ("Le entró el deseo de amarla tal como era, bárbara pero hermosa [...]" (168)), und damit einhergehend auch wieder an Männlichkeit, wie er bei der doma beweist (59f.). Als er feststellen muss, dass seine friedlichen Rechtsmethoden in dem Kampf gegen die Barbarei nicht fassen, kann er diese Begeisterung auch genügend gerechtfertigt ausleben:

[...] si no pudo vindicar ante su justicia subordinada a la violencia sus derechos atropellados, sí sabría defenderlos en lo sucesivo con la fiera ley de la barbarie: la bravura armada. (212)

Pero, ¿no se había propuesto, [...] convertirse en caudillo de la llanura para reprimir el bárbaro señorío de los caciques, y no era con la gloria roja de la hazaña sangrienta como tenía que luchar con ellos para exterminarlos? (215)

Dem Leser wird suggeriert, dass der Barbarei nur mit Gewalt beizukommen sei. Die Durchsetzung Santos geschieht somit letztendlich durch dessen Hinwendung zu den gleichen Gewaltprinzipien, die eigentlich vom Text kritisiert werden.

Was viele als Überwindung des alten Machtsystems hin zum emanzipatorischen Fortschritt interpretieren27 und als Synthese zwischen Barbarei und Zivilisation, die den Widerspruch zwischen Tradition und Moderne, zwischen lateinamerikanischer Identität und europäischer Zivilisation auflösen soll, sehen andere als Ausdruck von Gallegos Sympathien für die positivistische Ideologie der eisernen Hand, die wünscht, dass ein Repräsentant der aufgeklärten Elite das 'barbarische' Venezuela und das hierzu allein nicht fähige Volk, notfalls auch mit Gewalt, in den Fortschritt leiten soll. Santos Sieg käme der Durchsetzung eines bürgerlichen Hegemonialprojektes gleich, dessen Methoden und dessen Diskurs sich von denen des Diktators Gómez nicht sonderlich unterschieden.28




PhiN 38/2006: 62


Es stellt sich die Frage, was überhaupt letztendlich den Sieg von Santos rechtfertigt, wenn er doch am Ende ebenso handelt wie Doña Bárbara und auch die gleiche Herrschaft und den gleichen Besitz übernimmt.29

Meines Erachtens zeigt sich daran, dass Santos' Barbarisierung und Doña Bárbaras Zähmung keine Aufhebung, sondern eine Umkehrung von Macht darstellen. Nimmt man die Symbolik des Buches als Gallegos' Formulierung seiner politischen Zukunftswünsche, so soll die Macht übergehen von der landbesitzenden Aristokratie oder der in einer Subsistenzwirtschaft organisierten indigenen Bevölkerung auf das Bürgertum, von den alten caudillos auf die neuen bürgerlichen caudillos. Der Roman propagiert also ein gesellschaftliches Machtgefüge und, da die Macht auch vom Weiblichen auf das Männliche übergeht, eine Geschlechterhierarchie, die beide von den Lesern verinnerlicht werden sollen.30

Tatsächlich soll der Leser die Hierarchie verinnerlichen, also auch innerhalb seiner Persönlichkeit umsetzen: Denn die Gefahr der erneuten Machtübernahme des Anderen (indgenen, weiblichen, barbarischen, emotionalen) muss nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene, sondern auch in jedem Einzelnen gebannt werden. Gallegos selbst sagte über seinen Roman:

[...] no he compuesto a Doña Bárbara sino para que a través de ella se mire un dramático aspecto de la Venezuela en que me ha tocado vivir y que de alguna manera su tremenda figura contribuya a que nos quitemos del alma lo que de ella tengamos. (Gallegos 1954: 404, meine Hervorhebung)

Ähnliches drückt Lorenzos Ausspruch "Es necesario matar al centauro que todos los llaneros llevamos por dentro" aus, den Santos sich als junger Mann zum Leitsatz erklärt (69). Der centauro, das ist die geheime Leidenschaft, die Faszination für das Wilde, Barbarische und Erotische, die in jedem schlummert und die Teil des 'typisch venezolanischen' Wesens ist. Er ist auch die weibliche Seite, die Emotionalität und Leidenschaft, die in jedem Mann hervorzutreten droht und daher gebannt werden muss. Laut Lasarte will Santos den centauro (der Symbol für Brutalität, Rückständigkeit aber auch Tradition und nationale Eigenheit, und als Vereinigung von Tier und Mensch schon an sich Bild von Synthese sei) nicht töten, sondern akzeptieren (Lasarte 2000: 174). Wie alles typisch Venezolanische wird jedoch m.E. auch das (zwar durchaus mit positiv und negativ bewerteten Elementen ausgestattete) Bild des centauro nur in dem Sinne mit in das neue Projekt aufgenommen, wie es zum Machtgewinn verhilft (wo es Gewaltbereitschaft und somit Autorität und damit Männlichkeit bedeutet), nicht aber als Ursache von Machtverlust. Machtverlust bedeutet der centauro dann, wenn er zu viel Emotionalität beinhaltet, wodurch die Persönlichkeit die dies zulässt, weibliche Züge annimmt und in die Natur zurückfällt, wie Lorenzo Barqueros Verwahrlosung zeigt. Auslöser für Lorenzos Verweich- und Verweiblichung, seinen Disziplin- und somit Kulturverlust ist seine Liebe zu Doña Bárbara. Bringen also, statt umgekehrt, Frauen Männer durch ihre erotische Anziehungskraft dazu, sie zu lieben, bedeutet dies nun für den männlichen Liebenden (ebenso wie für die Frau im umgekehrten Falle) Machtverlust.31




PhiN 38/2006: 63


Im Gegensatz zum leidenschaftlich-sensiblen Verliebten (Lorenzo Barquero) und auch zum emotionsgeladenen Macho (Balbino Paiba, Mr. Danger) kann der zukünftige Mann Santos sich der weiblichen Anziehungskraft entziehen. Gegenüber Doña Bárbara verspürt Santos anstatt erotischem Begehren nur ein "sentimiento de repulsión, allenfalls curiosidad, meramente intelectual" (120). Santos Luzardo hat seine Leidenschaften im Griff. Wiederholt wird seine Eigenschaft der Selbstbeherrschung ("dominio de sí mismo", z.B. 127) gelobt. Santos ist stets kühl, auch gegenüber Marisela, zu der er eher eine väterliche Beziehung hat. Seine Gefühle zu ihr studiert Santos "con la fría imparcialidad que se revestía para analizar sentimientos suyos [...] sentándose al escritorio" (156).

Während Sommer meint, Santos müsse lernen, leidenschaftlich wie eine Frau ("as passionate as a woman") zu werden, um über die Liebe zur Frau die Produktivität der Nation zu garantieren (Sommer 1991: 288), ist m.E. genau das Gegenteil der Fall: Der neue Mann Santos soll gerade durch seine Leidenschaftslosigkeit nicht nur die Machtübernahme des Weiblichen, des Anderen verhindern, sondern gar seine freiwillige Machtaufgabe herbeiführen. Doña Bárbaras Unterwerfung aus Liebe und Respekt vor Santos wird so auch im Text explizit als Resultat eben dieser neuen Männlichkeit frei von Emotionalität (weder im Sinne von Sensibilität noch im Sinne von Brutalität) erklärt:

La trastornaba la idea de llegar a ser amada por aquel hombre que no tenía nada en común con los que había conocido: ni la sensualidad repugnante que desde el primer momento vio en las miradas de Lorenzo Barquero, ni la masculinidad brutral de los otros. (127)

Die Synthese des Zivilisierten mit der Barbarei wird in Doña Bárbara nur in dem Maße zugelassen, wie sie dem Mann der Zukunft Macht, das Recht zur Gewalt und Autorität verleiht. Das Element der Barbarei jedoch, das den Verlust von Selbstkontrolle bedeutet, muss diszipliniert werden, da es die Machtübernahme des Anderen, der Frau, der Unordnung, des Indigenen, Emotionalen und Modernisierungshemmenden möglich macht.

Dass die Sekundärliteratur sich nicht einig ist, ob in Gallegos Roman die Barbarei verurteilt oder gepriesen wird, ob sie eine Synthese mit der Zivilisation eingeht oder deren Gegenpol darstellt, liegt in der Widersprüchlichkeit des Diskurses selbst, der nur dadurch zu funktionieren scheint, dass er auf Geschlechterbilder zurückgreift, die diese Widersprüchlichkeit spiegeln können. Lateinamerika nimmt in der Logik der Moderne die weibliche Position des Rückständigen ein und muss diese noch forcieren, um seine Selbstdefinition zu sichern. Gleichzeitig sieht es eine zukünftig zu realisierende männlich definierte Moderne ebenso als Bestandteil seiner Selbstdefinition. Gallegos' Roman spiegelt die daraus resultierende Unentschlossenheit: Zum einen wird das Weibliche verworfen, zum anderen macht es die Faszination des Textes aus. Das Männlichkeitsbild bleibt hin- und hergerissen zwischen reiner emotionaler Brutalität, die dem Mann Autorität verleiht und die Selbstdefinition Venezuelas als Land der 'hombres machos' erlaubt, und emotionsloser Vernunft, welche als fortschrittlich gilt und den Einzug in die Moderne verheißt.





PhiN 38/2006: 64


Literaturverzeichnis

Alonso, Carlos J. (1989): "'Otra sería mi historia Allegorical exhaustion in Doña Bárbara'", in: Modern Language Notes 104/2, 418–439.

Alonso, Carlos J. (1990): The Spanish American regional novel. Modernity and autochtony. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Alonso, Carlos J. (1998): The Burden of Modernity. The rhetoric of cultural discourse in Spanish America. New York/Oxford: Oxford University Press.

Bovenschen, Silvia (1979): Die imaginierte Weiblichkeit: exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Calinescu, Matei (1987): Five faces of Modernity. Modernism, Avant–Garde, Decadence, Kitsch, Post–modernism. Durham: Duke UP.

Castro Urioste José (1997): Voz, letra e imágenes contradictorias en Doña Bárbara, in: Revista de Investigaciones Literarias y Culturales 5/10, 129–145.

Damboriena, Angel (1960): Rómulo Gallegos y la problemática venezolana. Caracas: Universidad Católica Andrés Bello.

Felski, Rita (1995): The Gender of Modernity. Cambridge u.a.: Harvard University Press.

Gallegos, Rómulo (1954): Una posición en la vida. Mexico: Ed. Humanismo.

Gallegos, Rómulo (1985): Doña Bárbara/ Rómulo Gallegos. Pról. Juan Liscano. Notas y cronología Efraín Suberto. Caracas: Biblioteca Aracucho.

Guerra, Lucía (1994): La mujer fragmentada: historias de un signo. La Habana: Casa de las Américas u.a.

Labanyi, Jo (2000): Gender and Modernization in the Spanish Realist Novel. Oxford: Oxford University Press.

Lasarte Valcárcel, Javier (2000): Mestizaje y populismo en Doña Bárbara: de Sarmiento a Martí , in: Iberoamericana 24, 78–79, 164–186.




PhiN 38/2006: 65


Lavou Zoungbo, Victorien (1996): Discurso burgués y legitimación machista en Doña Bárbara de Rómulo Gallegos, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, 43–44, 211–225.

Liscano, Juan (1980): Rómulo Gallegos y su tiempo. Caracas: Monte Ávila.

Liscano, Juan (1985): Prólogo, in: Gallegos, Rómulo: Doña Bárbara/ Romulo Gallegos. Pról. Juan Liscano. Notas y cronología Efrain Suberto Caracas: Biblioteca Ayacucho, IX–XXIX.

Magnarelli, Sharon (1985): Woman and Nature in Doña Bárbara, in: Revista de Estudios Hispánicos 19/2, 3–21.

Miliani, Domingo (1997): Prólogo, in: Gallegos, Rómulo: Doña Bárbara/ Rómulo Gallegos. Ed. de Domingo Miliani. Madrid: Cátedra, 11–87.

Saladin, Linda A. (1993): Fetishism and Fatal Women. Gender, Power, and Reflexive Discourse. New York u.a.: Lang.

Sommer, Doris (1991): Foundational Fictions: the National Romances of Latin America. Berkeley u.a.: University of California Press.

Tanner, Tony (1979): Adultery in the Novel. Contract and Transgression. Baltimore u.a.: Johns Hopkins UP.


Anmerkungen

1 Die Moderne als sozioökonomisches Stadium ist strikt zu unterscheiden von der Idee der Moderne als ästhetischem Konzept. So Calinescu: "What is certain is that at some point during the first half of the nineteenth century an irreversible split ocurred between modernity as stage in the history of Western civilization – a product of science and technological progress, of the industrial revolution, of the sweeping economic and social changes brought about by capitalism – and modernity as aesthetic concept." (Calinescu 1987: 41).

2 Die Vorstellung der Geschlechtertrennung hatte sich zudem als Reaktion auf eine, zwar minimale, aber dennoch als bedrohlich empfundene Frauenemanzipation, die seit der Romantik stattgefunden hatte, verstärkt. In dem Bestreben, die Geschlechtertrennung zu rechtfertigen, wurde vor allem auf die Natürlichkeit des Patriarchats verwiesen. Auch wurde jedoch die vormalige Existenz eines Matriarchats konstatiert, das als primitives Stadium galt. Ihm gegenüber wurde die patriarchale Geschlechtertrennung als Errungenschaft der Kultur gefeiert. Dies wiederum ließ das Patriarchat zum einen nun zwar als fortgeschrittenes Entwicklungsstadium erscheinen, zum anderen jedoch auch als gesellschaftlich konstruiert, was somit seine Legitimation als 'natürlich' untergrub (Labanyi 2000: 45). Dieses diskursive Dilemma wurde nie aufgelöst und ist exemplarisch für die damaligen beständigen Zweifel darüber, was 'natürlich' sei und was von der Gesellschaft künstlich geschaffen, und ob das 'Natürliche' in der Moderne zu überwinden oder zu bewahren sei.




PhiN 38/2006: 66


3 Dies bestätigen die Erkenntnisse verschiedenster Geschlechterstudien. Vgl. z.B. Felski: "Increasingly, images of feminity were to play a central role in prevailing anxieties, fears, and hopeful meanings about the distinctive features of the modern age" (Felski 1995: 19). "By being positioned outside the dehumanizing structures of the capitalist economy as well as the rigorous demands of public life, women became a symbol of nonalienated, and hence nonmodern, identity. A proliferating body of scientific, literary and philosophical texts sought to prove that women were less differentiated and less self-conscious than men and more rooted in an elemental unity." (Felski 1995: 18). Vgl. ebenso Bovenschen: "Die beständige Beschwörung weiblicher Naturpotenz verrät eine Verschiebung. Die Sehnsucht nach der Versöhnung mit der Natur, nach einem nichtentfremdeten Dasein wird, ideologisch verzerrt, auf das Weibliche projiziert" (Bovenschen 1979: 32.). Zugleich werde in der Domestizierung der Frau die Angst vor dem Rückfall in die Natur gebannt: "So kann es [das Weibliche], indem ihm noch immer ein Bündnis mit der Natur unterstellt wird [...], in seiner imaginierten Gestalt die Versöhnung mit der Natur erhoffen lassen und zugleich in seiner realen domestizierten Erscheinung die Angst vor der Rache der Natur bannen" (Bovenschen 1979: 243).

4 Tony Tanner stellt in seiner 1979 veröffentlichten Analyse der Ehebruchsromane des 19. Jh. die These auf, dass das Thema Ausdruck der Sorge um den Zusammenbruch der Trennung zwischen Natur und Kultur sei. Der Ehebruch als Durchbruch der Triebe symbolisiere den Rückfall in die Natur. Die Ehebrecherin sei deshalb so interessant, weil sie sich innerhalb und außerhalb der Ehe befinde, und somit die Grenze zwischen beiden Sphären überschreite (Tanner 1979). Jo Labanyi wendet die These Tanners auch auf Spaniens realistische Romane an. Sie glaubt, dass das Ehebruchsthema die Schwierigkeit der damaligen Gesellschaft darstellt, die Trennung zwischen Natur und Kultur, auch aber zwischen privat und öffentlich zu definieren (Labanyi 2000).

5 Im Sinne von Calinescu, vgl. Fußnote 1 und Alonso (1998: 32).

6 Bereits die Befreiung aus der Kolonisierung war in Lateinamerika nicht mit der Idealisierung der präkolonialen Vergangenheit verbunden. Die Kreolen und Mestizen, die die Unabhängigkeit anstrebten, definierten sich selbst als weiß und westlich und wollten eine Anerkennung der indigenen Bevölkerung (und deren Rechte) vermeiden. Lateinamerikas Selbstdefinition ist daher laut Alonso eine, die sich vielmehr aus einer Zukunftsvision als aus einem nostalgischen Blick in die Vergangenheit speist. Die nationale Identität lateinamerikanischer Länder werde daher auch vielmehr als Prozess begriffen, als eine die sich erst in der Zukunft realisieren und ausbilden wird, und sei daher weitaus dynamischer als die statische Nationalidentität in Europa (Alonso 998: 10 –17).

7 Immer wieder werden die allegorischen Bezüge vom Erzähler selbst erläutert: so begnügt er sich nicht mit der offensichtlichen Namensgebung von Doña Bárbara (bárbara=barbarisch) und Santos Luzardo (santo=heilig, Luz=Licht), auch nutzt er z.B. Metaphern, die den Figuren ihre klare Symbolhaftigkeit zuweisen: Doña Bárbara sei "personificación de los tiempos que corrían" (20), Marisela "una personalidad del alma de la raza" (106; alle Seitenangaben zu Doña Bárbara stammen aus Gallegos 1985).

8 Dies ist in der Sekundärliteratur zu Doña Bárbara erst kürzlich entdeckt worden, da lange die von Gallegos vorgegebene Interpretation seines Werkes hofiert wurde. Frühe Kritiker sahen als Grundaussage des Romans den Sieg der Zivilisation über die Barbarei (z.B. Damboriena 1960, weitere Analysen in diesem Sinne sind aufgelistet in Alonso 1989: 421, Fußnote 9). Heute tendieren die Kritiker zu der Sichtweise, dass Gallegos eine Synthese zwischen beiden darstellen wollte. So glaubt z.B. Lasarte, der Roman vertrete die Theorie des mestizaje (Lasarte 2000: 168), die nicht nur als Vermischung der Ethnien zu verstehen sei, sondern auch als Zusammenführung deren verschiedener Prinzipien (Zivilisation und Barbarei, symbolisiert auch in Marisela, "pero no tanto porque haya en ella mezcla de sangres sino porque es la fusión en positivo de la civilización y la barbarie" (Lasarte 2000: 181)). Daher veränderten sich sowohl Doña Bárbara als auch Santos im Laufe des Romans und glichen sich aneinander an (Lasarte 2000: 176 –181).

9 "Textual control is instituted through the feminine as a polarized force that can be evoked conceptually in order to amplify male power and abandoned in moments of representational danger." (Saladin 1993: 37).




PhiN 38/2006: 67


10 Den populistischen Romanen wird damit bescheinigt, dass in ihnen die Allegorie zwischen Politik und Erotik ebenso funktioniere wie in den frühen Gründungsromanen, welche laut Sommers Grundthese die Nationenbildung über die allegorische Verknüpfung von Politik und Erotik beschreiben (Sommer 1991: 5ff.). Die Allegorie baue in den Romanen ein doppeltes Begehren auf: Vereinigung in der Liebe und politische Veränderung gingen Hand in Hand. Das eine hänge vom anderen ab: die romantische Liebe brauche die Nation, um wahr zu werden, die erotische Frustration sei Hindernis für die nationale Entwicklung. Der Gründungsmoment der Nation sei im Roman der Moment der Vereinigung der Liebenden (Sommer 1991: 49f.).

11 Die llanura ist "bella y terrible a la vez" (55), Doña Bárbara hat "[...] algo de salvaje, bello y terrible a la vez" (29).

12 Zwischen der Produktivität von Land (Erträge) und Frau (Reproduktion) besteht hier nicht nur eine allegorische Parallele. Die Beziehung zwischen beiden bestand in vielen Ländern Lateinamerikas, unter die Venezuela fällt, auch tatsächlich, weil der Bevölkerungsmangel Mangel an Produktivität und Modernisierung nach sich zog.

13 "Ni aún la maternidad aplacó el rencor de la devoradora de hombres; por lo contrario, se le exasperó aún más: un hijo en sus entrañas para ella era una victoria del macho, una nueva violencia sufrida, y bajo el imperio de este sentimiento dio luz a una niña, que otros pechos tuvieron que amamantar porque no quiso verla siquiera" (26).

14 Laut Magnarelli thematisiert Doña Bárbara einen Selbstdefinierungsprozess (der Männer, der Zivilisation), der über das Sich-vom-Anderen-Abgrenzen (Einzäunen und in Besitz nehmen) stattfindet. Das Andere (Frauen, Natur) erscheine in diesem Prozess als Bedrohung für das männliche zivilisierte Selbst (Magnarelli 1985: 12).

15 Wie die uneingezäunten llanos hat sie keinen Besitzer: jeder Mann, der mit ihr zusammen ist, lebt in der "incertidumbre perenne de poseerla realmente" (63), ihre Sexualität ist "más hombruno tomar que femenino entregarse" (29) (Magnarelli 1985: 15f.).

16 Der Roman vermittelt laut Lavou Werte, die die damaligen Werte des nationalen Bürgertums waren: Arbeit als soziale Integration, Bildung des Volkes, Privateigentum, Kapitalakkumulation (Lavou 1996: 220ff.). Laut Sommer vertritt der Roman auch die später von der Partei Gallegos (Acción Democrática) aufgenommenen Prinzipien: Respekt vor dem Gesetz, Bildung als Grundlage der Demokratisierung und industrielle Modernisierung (Sommer 1991:280).

17 Nicht nur bei Gallegos werden, wie Miliani erläutert, die llanos zum Ausdruck venezolanischer Nationalidentität. Diese Tendenz zeichnet sich auch schon in Texten vor Doña Bárbara ab: so in einigen cuadros de costumbres von Daniel Mendoza (z.B. Un llanero en la capital von 1849), in dem Aufsatz El llanero von Victor Manuel Ovalles (1905) und in dem Text El gaucho y el llanero von Luis Manuel Urbaneja Achelpohls (1926) (Miliani 1997: 76f.).

18 Hierzu passt auch die Feststellung von Liscano, dass Gallegos die llanos in genau dem Moment zum Schauplatz seines nationalen Gründungsromans wählt, als sie längst nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Abwanderung in die Städte, Ölförderung und Modernisierung hatten längst eingesetzt. Gallegos zeichnet also ein nostalgisches mumifiziertes und folklorisiertes Bild der llanos, das längst Vergangenheit ist (Liscano 1980: 141).

19 Wie Gallegos von Doña Francisca Vásquez de Carrillo hörte, die er als Vorlage für Doña Bárbara nahm, berichtet er in dem Prolog zur einer Neuveröffentlichung zum 25jährigen Jubiläum des Buches (Liscano 1985:XI).




PhiN 38/2006: 68


20 Im Spanischen heißt es von Frauen, denen Männergeschichten nachgewiesen werden können, die sie 'beschmutzen': tiene historia.

21 Während Doña Bárbara sich bevor sie Santos kennen lernt, jede Infragestellung ihrer Befehle noch untersagt ("Bien sabes que no consiento que se discutan mis ordenes", 64), unterwirft sie sich auf einmal Santos Anweisungen: "Se hará como usted lo disponga" (116) / "Era la primera vez que se tenían noticias de que doña Bárbara diese su brazo a torcer" (116). Da sie nun besessen und erobert werden will, beginnt sie sich jetzt auch als Schönheitsobjekt zu begreifen, was sie ebenfalls zuvor ablehnte. Nachdem sie Santos kennen gelernt hat, stellt Balbino am nächsten Morgen fest: "[...] de la noche a la mañana se había operado [un cambio] en el aspecto de la mujerona. Ya no llevaba aquella sencilla bata blanca cerrada hasta el cuello y con mangas que le cubrían completamente los brazos, que era el máximo de feminidad que se consentía en el traje, sino otra, que nunca le había visto usar Balbino, descotada y sin mangas y adornada con cintos y encajes. Además llevaba el cabello mejor peinado, hasta con cierta gracia que la rejuvenecía y la hermoseaba" (62). Auch Santos sieht: "[...] era casi otra mujer muy distinta de aquella de desagradable aspecto hombruno que días antes había visto por primera vez en la Jefatura Civil. Brillantes los ojos turbadores de hembra sensual, recogidos, como para besar, los carnosos labios con un enigmático pliegue en las comisuras; la tez cálida entrino y lacio el cabello abundante. [...] usaba una falda amazona [...]. Finalmente montaba a mujeriegas, cosa que no acostumbraba en el trabajo y todo esto hacía olvidar la famosa marimacho" (117).

22 [...] "Marisela, fruto de una unión inmoral y acaso heredera de las funestas condiciones paternas y maternas, no podía ser la mujer en quien pusiera su amor un hombre sensato" (161).

23 Santos zeigt Marisela nicht nur ihr Spiegelbild, er lehrt sie später auch die zivilisierte Sprache. Durch das Betrachten seines Spiegelbildes und durch das Erlernen einer Sprache erkennt ja auch bekanntlich (laut Lacan) ein Kleinkind erstmals seine Identität.

24 Der Gruppe um die Zeitschrift La Alborada, zu der Gallegos zählte, wird eine Nähe zu den Werken Comtes und Spencers nachgesagt. Miliani erläutert zudem: "A Rómulo Gallegos se le ubica como un positivista inclinado al reformismo social con tinte conservador" (Miliani 1997: 56).

25 Auch hier wird die Frau zum imaginierten Bild der unverdorbenen, natürlichen vormodernen Harmonie. So Bovenschen: "Während der Mann eine sehr konkrete und hautnahe Beziehung zu seiner Arbeitssphäre hat, wird in seiner Feierabendwahrnehmung der häusliche Tätigkeitsbereich der Frau zu einer quasi vorbürgerlich strukturierten Zone der Ruhe und Harmonie" (Bovenschen 1979:38). "Die Frau, ausgeschlossen aus den Geschäften, aber auch nicht mehr involviert in die außerhäuslichen Tätigkeiten des agrarischen Erwerbslebens, steht nun bildhaft für das Private schlechthin, für jene erträumte Harmonie und idyllische Befriedung, die der Mann feierabendlich, nach vollbrachter Tagesarbeit, genießen möchte" (Bovenschen 1979: 180).

26 V.a. Carmelito zweifelt zu Anfang an Santos Männlichkeit und somit Durchsetzungsfähigkeit: "Pero del concepto que tenía Carmelito de hombría estaba excluido todo lo que descubrió en Santos Luzardo [...] – Hum! – murmuró entre dientes –¿Y éste es el hombre de quien tanto esperábamos? Con este patiquincito presumido no se va aninguna parte" (31).

27 Lasarte z.B. sieht den Roman als "una respuesta claramente diferenciada de la imperante ideología cesarista y gendarmerista de la época" (Lasarte 2000: 182, Fußnote 16). Er propagiere nicht Ausschluss, sondern die Anerkennung des Anderen ("reconocimiemto del otro social y/o cultural", Lasarte 2000: 183) und, wie der Populismus generell, eine "apertura democrática y el fomento de fraternas y solidarias relaciones sociales" (Lasarte 2000: 184).




PhiN 38/2006: 69


28 Lavou sieht die Machtübernahme Santos' als die eines sich weiterhin in der Logik des feudalen Systems befindlichen "cacique ilustrado" (Lavou 1996 :223). So hieße es im Text selbst auch: "Era el comienzo del buen cazigazo" (201) (Lavou 1996:219). Dies deutet Lavou als Folge der historischen Situation: Tatsächlich wurde damals in Venezuela zunächst eine Kapitalismus eingeführt, der auf der feudalen Ausbeutung fußte (Lavou 1996:223). Vielleicht konnte der Diktator aufgrund dieser Auslegungsmöglichkeit des Romans in diesem, anders als erwartet, keine Kritik an sich und seinem System erkennen. Als man ihm das vermeintlich oppositionelle Buch vorgelesen hatte, sagte er: "Este bachiller sí sabe como trabajan los hombres" und beschloss bald darauf, Gallegos zum Senator der Region Apure zu ernennen (was dieser jedoch ablehnte) (Alonso 1989: 418).

29 Sommer verweist auf die Analyse González Echeverrías, der feststellt, dass es dem aufmerksamen Leser als Unrecht erscheinen müsse, dass Santos sein Besitzrecht auf ein Land einfordert, dass, wie der Text explizit erklärt, von seinen Vorfahren selbst unrechtmäßig den dort lebenden indígenas entrissen wurde (Sommer 1991:285).

30 Hier kann eine Kritik an Sommers Interpretation angesetzt werden: Sie glaubt den Konflikt, dass Santos zu dem mutiert, was er selbst bekämpft, dadurch gelöst, dass Santos eine zivilisatorische Mission, ein Zukunftsprojekt besitze, aus dem sich seine Legitimation gegenüber Doña Bárbara, die kein solches habe, speise (Sommer 1991: 288f.). Dabei grenzt sie sich von Gallegos Zukunftsbegeisterung in ihrer Analyse kaum ab, und auch in ihrem Text scheinen daher am Ende die Konflikte des Romans durch die Annahme gelöst, dass die Heirat von Marisela und Santos zur Schuldverwischung, zum geglückten Auffüllen von Geschichtslücken führe (Die Gründungsliteratur füllt laut Sommer erfolgreich Geschichtslücken mit glücklichen Liebesgeschichten auf, Sommer 1991: 7ff.). Ebensowenig stört es Sommer, dass Santos Zukunftsprojekt auf Konstrukten (Nation, Moderne, Geschlecht) beruht, die das jeweils andere ausschließen. Vielmehr rechtfertigt für Sommer die Zukunftsfähigkeit von Santos Projekt auch dessen Konstruktcharakter. Um diesen wüssten zwar alle Beteiligten, aber sie würden ihn als notwendig für Stabilisierung und Fortschritt erachten (Sommer 1991: 286f.). Bei der Beschäftigung mit den Effekten von Literatur auf die Realität sollte jedoch m.E. die Frage nach der Legitimität von Diskursen nicht ausgeblendet werden, was Sommer bewusst tut. Ihre Hauptfragestellung, so Sommer, sei: wie haben es die Diskurse geschafft zu überzeugen, warum wurden sie angenommen, nicht aber: hatten sie das Recht, dies zu tun? (Sommer 19091: 45). Damit begibt sie sich in die von ihr selbst beschriebene Logik der Vertreter der Liebe-Patriotismus-Allegorie, die bewusst konstruieren und statt zurück nur nach vorne schauen ("look relentlessy forward", Sommer 1991: 46). Daher möchte Sommer Walter Benjamins Idee der Allegorie als Ruinen der Erinnerung "absichtlich falsch verstehen". Den kritischen Moment der Hinterfragung des Funktionierens einer Allegorie für die Wirklichkeit möchte sie lieber ausblenden: "If however we care to willfully misread Benjamin in order to sustain the possibility of mutually constructing terms without looking back at the crumbling structure of bad fits [...]." (Sommer 1991:45).

31 Die erotische Anziehungskraft der Frauen wird deshalb zur Bedrohung für die Männer. Daher wird im Roman auch wiederholt Doña Bárbaras Schönheit hervorgehoben. Diese ist ihr zu diesem Zwecke absichtlich angedichtet, denn die reale Doña Pancha Francisca Vásquez de Carrillo soll alles andere als verführerisch gewesen sein, sondern "feúcha, aindiada y pequeña" (Liscano 1985:XII). Die männliche Angst vor der erotischen Macht von Frauen tritt auch in den Alpträumen der Nebenfigur Juan Primito auf: er fühlt sich von Frauen verfolgt "que corrían desnudas detrás de él" (112f.).