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Christine Henschel (Saarbrücken)




Brigitte Jostes (2004): Fremdheit. Historisch-anthropologische Erkundungen einer linguistischen Kategorie. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh. (Humboldt-Studien)




In ihrer 2004 in der Reihe der Humboldt-Studien des Schöningh-Verlags erschienenen Dissertation Fremdheit. Historisch-anthropologische Erkundungen einer linguistischen Kategorie (betreut von Jürgen Trabant, FU Berlin) befasst sich Brigitte Jostes mit der Frage nach Fremdheit der Sprache und Fremdheit in der Sprache.

Die Autorin eröffnet dem Leser ein breitgefächertes Panorama, indem sie in den Kapiteln 1 bis 3 zunächst zahlreiche sprachphilosophische, sprach-, literatur- und kulturtheoretische Ansätze zum Thema Sprache und Fremdheit beleuchtet und auf gekonnte Weise vergleichend miteinander in Verbindung setzt, stets vor dem Hintergrund der Fragestellung, in welcher Art und Weise diese den Aspekt der Fremdheit behandeln und wo sie ihn verorten.

Ausgehend von der humboldtschen Auffassung von Sprache und seinem Konzept des Fremden in der Sprache, das eingangs vorgestellt und in Kapitel 3 in Vergleich und Auseinandersetzung mit heutigen Theorien ausführlicher behandelt wird, schlägt sie einen Bogen zu Konzepten der Sprachverschiedenheit in heutigen Experten- und Alltagskulturen und beendet ihren 'Rundgang' bei dem in Deutschland bislang wenig bekannten französischen Sprachtheoretiker Henri Meschonnic und seinem Ansatz der anthropologie historique du langage, der in Kapitel 4 kritisch diskutiert wird. Für Meschonnic, Jahrgang 1932, dessen Werk die Autorin als einen "der konsequentesten Versuche" betrachtet, "der Linguistik der langue eine Linguistik der parole entgegenzusetzen" (156), ist Sprache reduziert auf die "Gesamtheit individueller Sprechereignisse mit ihrem je eigentümlichen Rhythmus" (219). Diesen versteht er als kontinuierliche individuelle Bewegung des Sprechens auf allen sprachlichen Ebenen. Für ihn kann und darf Sprache nicht statisch als ergon bzw. langue beschrieben werden; in diesem Punkt distanziert er sich deutlich von Humboldt, auf den er sich ansonsten explizit stützt (169). Da er die Beschreibung von Sprachen und somit den Sprachvergleich als nicht legitim ablehnt, begegnet bei ihm sprachliche Fremdheit nur noch in zwei Punkten: einerseits "zwischen einem jeden Sprechen und einer nur noch als Schatten vorhandenen langue, andererseits zwischen Ich und Du" (20). Meschonnics Werk, das in Frankreich auf vielfältige Kritik gestoßen ist, wird auch in seinem Wirkungs- und Rezeptionskontext eingeordnet. Kritisiert werden, auch von der Autorin, vor allem die begriffliche Unschärfe der meschonnicschen Konzeption und seine bisweilen rigorose Polemik gegen Vertreter anderer Theorien, die den Blick auf den eigenen Ansatz oftmals verstellt: "[M]an versteht, was Sprache alles nicht ist" (195).




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In Kapitel 2.2. untersucht die Autorin die Semantik des deutschen Adjektivs fremd, indem sie diese anhand von Wörterbucheinträgen und Belegen aus den Archiven des Grimm-Wörterbuchs, die sich auf das 20. Jh. beziehen, und mit einem kurzen Rückgriff auf historische Sprachstufen des Deutschen zunächst in kritischer Aneignung verschiedener Kategoriebildungen (u.a. absolute vs. relative, semantisch-qualitative vs. semantisch-relative Adjektive, noun-neutrality, stative Prädikate vs. Prozessprädikate) ausleuchtet und anschließend auf die sprachliche Ausdeutung dieses Begriffsfeldes in anderen Sprachen eingeht. Ausgewertet werden hier Daten zum Französischen, Italienischen, Englischen, Griechischen und Lateinischen. Der Sprachvergleich funktioniert in erster Linie über den Übersetzungsvergleich, wobei bei einem verhältnismäßig schmalen Korpus möglicherweise nicht in ausreichendem Maße sichergestellt ist, dass es tatsächliche strukturelle Eigenschaften der Sprachen sind, die hier erfasst werden – ebenso gut könnte es sich einfach um stilistische Vorlieben des jeweiligen Übersetzers handeln. Die Analyse zeigt, dass in den verschiedenen Sprachen der Bedeutungsrahmen unterschiedlich ausdifferenziert und lexikalisch besetzt ist. Die Untersuchungsergebnisse münden in den Thesen, dass einerseits fremd, oft als relativer oder relationaler Ausdruck gedeutet, mit dem traditionell verwendeten Aspekt der Relativität nicht ausreichend fassbar gemacht werden kann (40) und dass sich andererseits, trotz aller Unterschiede in der lexikalisch-semantischen Differenzierung des Begriffsfeldes "fremd" in den verschiedenen Sprachen, parallele Entwicklungen und "Konvergenzen im Hinblick auf die metonymischen Bedeutungserweiterungen" finden. Diese Beobachtung veranlasst die Autorin zu der Annahme "allgemeine[r] Muster menschlicher Erfahrungen" (91).

Die Autorin plädiert in ihrem Schlusswort für eine vielseitige Herangehensweise an das Phänomen Sprache, das weder mit der reduktionistischen rythme-Theorie Meschonnics noch mit strikt einzelsprachlich fokussierten Einzelanalysen, sondern nur durch eine "Vielfalt der Perspektiven" (219) umfassend beschreibbar ist. Die historische Anthropologie der Sprache wird somit – anders als von Meschonnic – als ein Beschreibungsansatz unter vielen verstanden, die allesamt ihre Daseinsberechtigung haben und nur im 'Zusammenspiel' dem komplexen Phänomen Sprache gerecht werden können.

Jostes' Arbeit ist flüssig und gut lesbar geschrieben, wenngleich der Zugang durch die Komplexität und Fülle der diskutierten Themen und Theorien zuweilen Schwierigkeiten bereitet. Erschwert wird er vor allem dadurch, dass die Kapiteleinteilung nicht immer eine unmittelbare Orientierungshilfe an die Hand gibt. Problematisch ist dies etwa in Hinsicht auf die Stellungnahmen der Autorin zu Thema und Erkenntnisziel ihrer Studie: Diese werden zwar in den Eingangskapiteln umrissen, erst in den Folgekapiteln an wenig prominenter Stelle jedoch näher eingegrenzt. So verweist die Autorin z.B. auf Seite 37 auf die Formel "Fremdheit ... ist ein Interpretament der Andersheit" von Harald Weinrich, die sie zu ihrer Arbeitshypothese für die folgende semantische Beschreibung des Adjektivs fremd erhebt. Ähnlich 'versteckt' folgt an späterer Stelle (155) eine weitere, zentrale These der Arbeit:




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Ergänzt um die Ebene der Diskurstraditionen, die auch die Ebene der Schlüsselwörter ist, wäre das umfassende Model Coserius in besonderer Weise geeignet, als grundlegendes Modell einer historisch-anthropo­logisch ausgerichteten Sprachwissenschaft zu fungieren, das auch die Aspekte umfasst, die gegenwärtig vom naturwissenschaftlich geprägten Zweig der Sprachwissenschaft erforscht werden.

Da die Arbeit sich zentral auf den historisch-anthropologischen Ansatz der Sprachwissenschaft stützt und dessen Aufgaben und Möglichkeiten kritisch beleuchtet, darf eine solche, derart bedeutende Aussage nicht auf diese Weise Gefahr laufen 'unterzugehen'. Inmitten der Fülle der zur Sprache kommenden Themen und Wissenschaftstraditionen wird es dem Leser so erschwert, durchgängig die eigene Position und eigentliche 'Denklinie' der Verfasserin herauszulesen. Gerade angesichts der Dichte der behandelten Thematik wäre erstens eine dezidiertere Stellungnahme zu ihrem Arbeitsansatz inklusive der Nennung aller zentralen Hypothesen gleich zu Beginn der Arbeit wünschenswert gewesen, zweitens eine allgemein stärkere Konzentration auf zentrale Themen und Fragestellungen.

Nicht ganz klar wird darüber hinaus, inwieweit die von der Autorin vorgelegte semantische Analyse dem Untertitel Historisch-anthropologische Erkundungen einer linguistischen Kategorie gerecht werden kann. Der historisch-anthropologische Ansatz, dessen Grundannahmen und -gedanken sie zu Beginn ihrer Arbeit (Kapitel 1.1.) umreißt und an späterer Stelle (z.B. Kapitel 3) näher ausführt, ist zwar in ihren theoretischen Ausführungen stets präsent, verbindet sich jedoch nicht zwingend mit ihrer sprachlichen Analyse. Der zentrale Begriff der historischen Anthropologie der Sprache fällt z.B. auch im Schlusswort gänzlich unter den Tisch, ebenso fehlt ein abschließendes Resümee zu der Frage, ob und inwiefern Meschonnics Theorie, die sich ja gerade als eine anthropologie historique du langage versteht, diesem Anspruch in ausreichendem Maße gerecht werden kann. Die detaillierte Behandlung des Werks von Meschonnic, der das Moment Fremdheit bewusst an den Rand seiner Sprachreflexion drängt, scheint zudem mit dem Titel der Arbeit, der gerade den Begriff Fremdheit in den Mittelpunkt rückt, nicht ohne weiteres vereinbar.

Zu hinterfragen sind auch einige Einzelaussagen, die, polemisch-überspitzt formuliert, wie sie sind, Stoff zu Diskussionen liefern. So spricht die Autorin von der Gefahr, die Sprachwissenschaft könne im Zuge des "Wandel[s] von der deskriptiven zur explikativen Linguistik ... tatsächlich zunehmend als Forschungsgegenstand die Sprachen ausschließen" und die "kognitive Dimension der Sprachwissenschaft" damit völlig aus dem Blick der Forschung geraten (30), gerade so, als gäbe es im Rahmen der Einzelphilologien und der vergleichenden Sprachwissenschaft keinerlei Ansätze mehr zur Beschreibung von einzelsprachlichen Strukturen und der kognitiven Dimension von Sprache und Sprechen sowie zum Sprachvergleich. Auch davon, dass die Sprachwissenschaft "das sprechende Subjekt als zentrale Größe" (29) aus den Augen verlöre (was bei einem einseitigen Verharren bei strukturalistischen oder generativistischen Beschreibungsmethoden möglicherweise hätte geschehen können), kann angesichts jüngerer Ansätze wie der linguistischen Pragmatik und der Varietätenlinguistik, die zunehmend versuchen, sich auch historischen Ausprägungsformen zu öffnen, keine Rede sein.




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Insgesamt ist die Lektüre dieser anspruchsvollen Arbeit, die viele Denkanstöße gibt und interessante Fragen aufwirft, die sie in einem breiten theoretischen Kontext diskutiert, jedem, der sich für Sprache, Sprachphilosophie und Sprachtheorie interessiert, sehr zu empfehlen, insbesondere, weil sie zahlreiche Theorien kritisch miteinander in Verbindung setzt und dabei auch Ansätze zur Sprache bringt, die bislang in der deutschen Forschung wenig bekannt sind.

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