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Annette Endruschat (Leipzig)



Martin Hummel (2002): Der Grundwert des spanischen Subjunktivs, Tübingen: Narr.



Die Suche nach dem Grundwert sprachlicher Größen, lexikalischer wie grammatischer, hat in der Linguistik eine lange Tradition. Mit dem Strukturalismus und dem Aufstellen von Merkmalsoppositionen erreichte diese Tradition sicher einen Höhepunkt (vgl. Schifko 1967, demzufolge jede grammatische Kategorie ihren eigentlichen Wert erst in der Konfrontation mit anderen erhält).

Dies steht im direkten Widerspruch etwa zu Wittgensteins These, daß Bedeutungen und Funktionen erst in der Verwendung zutage treten. Beide Positionen lassen sich miteinander versöhnen, indem man davon ausgeht, daß sich in jeder aktuellen Bedeutung auch die virtuelle, grundlegende Bedeutung (vgl. die Gegenüberstellung Bezeichnung versus Bedeutung in Coseriu 1970) erkennen läßt. In diesem Sinne verstehe ich auch Geckeler (2000), wenn er in den sprachlichen "Ausnahmen" das Allgemeine hervorhebt. Hummel sieht das ebenso und geht von folgender Prämisse aus:

An einer Beteiligung des (oder eines) Grundwerts des Subjunktivs bei allen tatsächlichen oder sogenannten Ausnahmen kann kein Zweifel bestehen (25).

Die Bestätigung dieser These möchte das hier zu rezensierende Buch liefern. Daß es dabei ohne Abstraktion nicht geht, macht Hummel in dem nur vier Seiten umfassenden zweiten Kapitel deutlich (zur Notwendigkeit der Abstraktion vgl. auch Schifko 1967, 176). Bewußt blendet er aus seinem Corpus, das sich v.a. auf die in Schifko (1967), Togeby (1953) und Cartagena/Gauger (1989) gegebenen Beispiele für den subjuntivo-Gebrauch gründet, diachronisch überholte Verwendungen aus, denn stilistisch intendierte, aber ansonsten unübliche oder veraltete Belege könnten nicht den gleichen Status beanspruchen wie die "Normalfälle" (52). Diese rigide Sicht irritiert etwas. Gehören denn nicht auch unübliche Verwendungen zum Usus (wenn auch nicht zur Norm) und müßten nicht auch sie bei entsprechender Abstraktion auf den Grundwert zurückzuführen sein? Wäre es denn sonst ein Grundwert?

Dennoch ist Hummels konsequentem und restriktivem Vorgehen zuzustimmen, da es zielgerichtet und begründet ist: Die Beispiele aus den o.g. Untersuchungen werden auf der Basis der eigenen Sprachkompetenz des Autors ausgewählt und akademisch gebildeten Muttersprachlern zwischen 20 und 40 Jahren zur Evaluierung vorgelegt. So sollen diachronische Schwankungen erkannt und eliminiert werden. Erst anschließend werden sie hinsichtlich des Grundwerts analysiert.




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Hummel ist nicht der Erste, der sich auf die Suche nach dem Grundwert des subjuntivo bzw. des Konjunktivs begibt (Hummel verwendet im Deutschen den Begriff "Subjunktiv"). Dies erfahren wir im ersten Kapitel, welches einen ausführlichen Überblick über den Forschungsstand dazu gibt. Weil sich der spanische subjuntivo nicht aus dem Gesamtkontext des romanischen Konjunktivs lösen läßt, werden hier auch Untersuchungen zu anderen romanischen Sprachen vorgestellt, wobei immer wieder deutlich wird, daß besonders das Problematische, nicht nur aus der Sicht des Spracherwerbs, am Konjunktiv thematisiert worden ist (vgl. Lerch 1931 und De Jonge 1999). Das Fazit des tour d'horizon ist zugleich Rechtfertigung für Hummels Untersuchung: auch wenn viele Linguisten schon danach gesucht haben und einen Grundwert des Konjunktivs a priori voraussetzen, so liegt bzw. lag bis zum Erscheinen des hier besprochenen Buchs noch keine einheitliche Grundregel vor (49). Die Metapher vom Gespenst Konjunktiv, das immer wieder entwischt oder sich in Luft auflöst (ebd.), steht für das wissenschaftliche Forschungsdilemma, das Hummel nun durchbrechen will.

Dazu werden zunächst im dritten Kapitel prototypische Verwendungen des subjuntivo (nach Verben des Wünschens, Wollens, Befehlens, Befürchtens, Zweifelns; nach unpersönlichen Ausdrücken, nach Konjunktionen, im Relativsatz und in Sätzen des Typs sea lo que sea) hinsichtlich eines Grundwerts überprüft und mit dem, bereits argumentativen, Ergebnis zusammengefaßt,

daß der Gebrauch des Subjunktivs bei allen [...] untersuchten Fällen konstant mit der Thematisierung des (vorgestellten) Eintretens eines Ereignisses verbunden ist (72).

Sodann wird im vierten Kapitel der Grundwert definiert, noch bevor im fünften Kapitel die sogenannten Problemfälle behandelt werden. Worin besteht nun für Hummel der Grundwert des subjuntivo? Ausgehend von Satzpaaren wie etwa Los chicos que estudian/estudien ganarán un premio läßt sich, folgt man Hummels Argumentation, nachvollziehen, daß der Unterschied in beiden Aussagen nicht in der Existenz fleißiger Kinder an sich liegt, sondern vielmehr darin, ob das Ereignis Fleißigsein eingetreten ist oder eintreten kann. Der Subjunktiv erfaßt Ereignisse unter dem Aspekt ihres möglichen Eintretens, das Eintreten dieses Ereignisses ist eine Möglichkeit unter vielen. Hierin liegt Hummel zufolge der Unterschied zu den bisherigen Theorien, welche z.B. Sprecherhaltung und Subjektivität fokussieren: es geht wirklich um ein Merkmal des subjuntivo selbst und nicht um eine Haltung (90).

Bestätigung findet Hummel durch ähnliche Gedanken von Guillaume (1965), der den subjonctif als ein zwischen temps in posse und temps in esse sich ereignendes Ereignis begreift, das noch nicht die Realität erreicht hat.




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Auch Hilty (1965) sieht im Konjunktiv einen Ausdruck von Handlungen, deren Prozeß nicht zum Abschluß kommt (284–285). In die gleiche Richtung zielt auch Tobler (1906), wenn er meint, der Konjunktiv fordere zur Verwirklichung heraus (20). So ist Hummels ontisch angelegtes Inzidenzmodell nicht gänzlich neu, neu ist aber die konsequente Anwendung des Prinzips auf alle Fälle und Problemfälle. Daß prinzipiell auch grammatikalisierte Verwendungen nicht gegen das Inzidenzmodell sprechen, sei mit folgenden Worten Hummels verdeutlicht:

Gerade der Subjunktiv nach bestimmten Haltungen verliert seinen optionalen Charakter nie völlig, auch wenn Abweichungen vom Usus den Status mehr oder weniger seltener Ausnahmen haben. Starke Auslösungsstrukturen wie der Gebrauch des Subjunktivs nach Konjunktionen wie para que fokussieren naturgemäß den inzidentiellen Charakter von Ereignissen. Sie korrelieren deshalb mit dem Subjunktiv, weil der Grundwert des Subjunktivs zu ihnen paßt. (91)

Der Gebrauch des subjuntivo nach para que ist zwar stark grammatikalisiert, dennoch aber bleibt der Grundwert, und zwar geradezu in prototypischer Weise, bestehen. Das deckt sich mit Annahmen aus der Grammatikalisierungsforschung, wonach Grammatikalisierung in der Regel mit einem semantic bleaching einhergeht, nicht aber mit Bedeutungsverlust gleichzusetzen ist (vgl. Blank 1997). Somit ist Hummel Recht zu geben, wenn auch in den grammatikalisierten Verwendungen nach bestimmten Verben und Konjunktionen der Grundwert des subjuntivo bewahrt bleibt.

Damit ist auch gleichzeitig ein überzeugendes Argument gegen die sogenannten Auslösungshypothesen gegeben (Bello 1981, Imbs 1953), welche ja keinerlei Variation oder Option, sei sie nun diasystematischer, diskurspragmatischer oder konzeptioneller Natur, akzeptieren.

Im fünften Kapitel, welches den zweiten Teil des Buchs einleitet, wird das Inzidenzmodell an weniger prototypischen Verwendungen erprobt. Zu den "Problemfällen" zählt Hummel den Modusgebrauch nach alegrarse, aunque, porque, el hecho de que, como und ähnlichen Satzteilen, die teilweise auch bei Fish (1963) zum "subjunctif of fact" gerechnet werden, dort jedoch in einen sprecherorientierten (Fish geht es um Äußerungsabsichten wie affektiv, neutral, informativ etc.) Kontext gestellt werden. Der Gebrauch des subjuntivo nach kausalem como ist Hummel zufolge in der modernen Umgangssprache ganz selten anzutreffen und der lateinischen Rhetoriktradition verhaftet (cum causalis, 123), so daß das Inzidenzmodell – gemäß seiner synchronischen Restriktion – davon nicht beeinträchtigt werden sollte.

Auch die Behandlung des Modusgebrauchs nach Verben der Äußerung bestätigt das Inzidenzmodell und macht dem Autor zufolge Hilfsgrößen wie Affektivität (vgl. Schifko 1967) überflüssig.




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Mit großer Sachkenntnis prüft Hummel zahlreiche diesbezügliche Belege und gelangt zu dem Ergebnis, daß der Gebrauch der Modi "sich entweder auf die Äußerung als solche (primäre Ebene) oder auf das bezeichnete Ereignis (sekundäre Ebene) beziehen kann" (141).

Diese Differenzierung wird offenbar im Spanischen streng eingehalten. Wie das Beispielpaar Dice que viene (Bezug auf die Äußerung) und Dice que venga (Bezug auf das Ereignis) zeigt, ist der subjuntivo insbesondere auf der sekundären Ebene anzusiedeln; prinzipiell, so Hummel, stehen ihm jedoch beide Ebenen zur Verfügung, wodurch es zu Schwankungen im Gebrauch der Modi kommen kann.

Von besonderer Relevanz für die Bestimmung des Grundwerts ist die klare Abgrenzung von Modus und Modalität, wie sie im 7. Kapitel vorgenommen wird. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Modus und Modalität im Grunde semantisch gleichrangige Phänomene sind. So erklärt sich, warum z.B. tal vez sowohl mit dem Indikativ als auch mit dem Konjunktiv verbunden werden kann. Tal vez beinhaltet nämlich von sich aus bereits modale Eigenschaften, die nicht unbedingt mit der zusätzlichen Verwendung des subjuntivo verstärkt werden müssen. Wenn dies geschieht, liegt Redundanz vor. Hummel warnt daher davor, den subjuntivo als reinen Modalitätsmarker zu sehen (175). Dies gilt im übrigen für die gesamte Romania: Der Konjunktiv bestimmt oder beeinflußt nicht unbedingt von sich aus die Geltung der gesamten Äußerung.

Kapitel 8 unternimmt einen kurzen Exkurs zum Imperativ, der ja in der hispanistischen Grammatiktradition oft als eigenständiger Modus behandelt wurde. Unter onomasiologischem Aspekt ist jedoch der subjuntivo die prototypische Ausformung von Imperativität (als Exhortativ); der Indikativ wirkt lediglich verstärkend, weil er das geforderte Ereignis als faktisch bereits gesichert präsentiert (187). So gesehen steht der subjuntivo auch in der imperativischen Verwendung wieder für eine mögliche intendierte Inzidenz und entspricht dem definierten Grundwert.

Daß der Gebrauch des subjuntivo von diaphasischen und diastratischen Faktoren abhängen kann, scheint zunächst im Widerspruch zum Inzidenzmodell zu stehen, da ja an der Ereignishaftigkeit an sich nicht gerüttelt werden kann, egal in welcher Situation man sich dazu äußert. An ausgewählten Beispielen wie dem Modusgebrauch nach dudar que oder creer que zeigt Hummel aber, daß sich die Option für den subjuntivo im ersten Fall verstärkend und im zweiten Fall abschwächend auswirken kann, und zwar im Einklang mit dem Grundwert. Daraus erwachsen mitunter Gebrauchsnormen, die bspw. auch das Auftreten des subjuntivo in rhetorisch markierten Textsorten erklären.




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Hinsichtlich der dialektalen Ebene lassen sich, wie Untersuchungen ergaben (vgl. Knauer 1987), keine oder kaum Abweichungen von der standardsprachlichen Modusverwendung feststellen – ein Ergebnis, das angesichts der geradezu rasanten Weiterentwicklung des spanischen TMA-Systems (man denke nur an die temporale und modale Plurifunktionalität des imperfecto, potencial, futuro simple und pluscuamperfecto) verblüfft. Offenbar gehört die Modusmarkierung zu den grundlegenden ontisch-kognitiven Größen, die gegenüber Veränderungen weitgehend resistent sind.

Ein besonders problematischer Fall ist der Gebrauch des subjuntivo nach después (de) que. Hier verweist Hummel auf zwei Faktoren: erstens auf die Vorbildwirkung von antes (de) que, das grundwertinhärent immer mit subjuntivo steht, und zweitens auf die typische Verwendung des einfachen Plusquamperfekts (der sogenannten – ra-Formen), das zwar etymologisch eine indikativische Form ist, aber seit dem siglo de oro in den Bereich des Konjunktivs vorgedrungen ist. Bei Äußerungen wie después que supiera eso kann daher nicht eindeutig gesagt werden, ob es sich um subjuntivo oder indicativo handelt. Dieser Hinweis ist berechtigt, auch wenn heute im peninsularen Spanisch die – ra-Form zunehmend konjunktivisch interpretiert wird.

Eine fundierte Einordnung des Subjunktivs in das Tempus-Modus-Aspekt-System des Spanischen (11. und 12. Kapitel) runden Hummels Buch ab. Zur Temporalität stellt der Autor fest, daß die Konjunktivformen nur noch ein rudimentäres Zeitensystem (verglichen mit dem Latein) und eher den Charakter der Kompatibilität mit vorgegebenen zeitlichen Referenzpunkten haben. Gegenüber der aspektuellen Grundmarkierung perfektiv versus imperfektiv verhält sich der subjuntivo neutral, wobei der lexikalische Wert des Verbs auf die Aktionsart schließen läßt.

Ausblicke auf den kognitionslinguistischen und didaktischen Nutzen der Theorie vom Grundwert beschließen Hummels Abhandlung. Ob sich der Grundwert des spanischen subjuntivo tatsächlich im Sprachunterricht gegenüber den besser handhabbaren Auslösungsparametern durchsetzen kann, bleibt abzuwarten. Ergänzt werden könnte das Inzidenzmodell evtl. durch diskurspragmatische und kommunikationsorientierte Argumente, wodurch Schwankungen und Optionen noch besser sichtbar gemacht werden könnten. Aber dann würde die stringente und rigide Konzeption des Buchs vermutlich gesprengt oder zumindest verwässert werden.

Hervorzuheben ist die außerordentlich gründliche Redigierung des Buchs.Tippfehler konnten im gesamten Manuskript nicht festgestellt werden. Auf 214, wo es um den Modusgebrauch nach después (de) que und antes (de) que geht, sollte es sicher heißen: "[...] bei Konstruktionen des Typs 'Konjunktion (nicht: Verb!) + que'". Die bibliographischen Angaben zu Geckeler (2000), Imbs (1953) und De Jonge (1999) waren unvollständig und werden im folgenden ergänzt.




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Bibliographie:

Bello, Andrés (1981) [= 1847], Gramática de la lengua castellana destinada al uso de los americanos, edición crítica de Ramón Trujillo, Santa Cruz de Tenerife (Instituto universitario de lingüística).

Blank, Andreas (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen: Niemeyer.

Cartagena, Nelson/Gauger, Hans-Martin (1989): Vergleichende Grammatik Spanisch–Deutsch. 2 vols., Mannheim: Dudenverlag.

Coseriu, Eugeniu (1970): "Bedeutung und Bezeichnung im Lichte der strukturellen Semantik", in: Hartmann, Peter/Vernay, Henry (Hrsg.): Sprachwissenschaft und Übersetzen, München: Hueber, 104–121.

Fish, Gordon T. (1963): "Subjunctive of Fact, in: Hispania 46, 375–81.

Geckeler, Horst (2000): "Zur Frage der 'Ausnahmen' in unseren Sprachen", in: Staib, Bruno (Hrsg.): Linguistica romanica et indiana: Festschrift für Wolf Dietrich zum 60. Geburtstag, Tübingen: Narr, 99–116.

Guillaume, Gustave (1965) [=1929]: Temps et verbe. Théorie des aspects, des modes et des temps, Paris: Champion.

Imbs, Paul (1953): Le subjonctif en franais moderne, essai de grammaire descriptive, Strasbourg: Université, Faculté des Lettres.

De Jonge, Bob (1999): "El uso del subjuntivo: øun problema para los hablantes de lenguas germánicas?", in: Sierra Martínez, Fermín/Hernández González, Carmen (Hrsg.): Las lenguas en la Europa Comunitaria III, Amsterdam: Rodopi, 75–83.

Knauer, Gabriele (1987): Der spanische Subjuntivo im Wechselverhältnis zwischen Syntax und Semantik. Versuch einer integralen Beschreibung und Erklärung, HU zu Berlin (Dissertation).

Lerch, Eugen (1931): Die Bedeutung der Modi im Französischen. Leipzig: Reisland.

Schifko, Peter (1967): Subjonctif und Subjuntivo. Zum Gebrauch des Konjunktivs im Französischen und Spanischen. Wien: Braumüller.

Tobler, Adolf (1906): "Un des bons dîners que j'aie faits", in: ders.: Vermischte Beiträge zur französischen Grammatik, 2. Reihe, Leipzig: Hirzel, 17–24.

Togeby, Knud (1953): Mode, aspect et temps en espagnol. Copenhague: Einar Mundsgaard.

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