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Markus Raith (Poitiers)



Die Bühne als Modell medial erfahrener Wirklichkeit in Balzacs Illusions perdues



Narrative Theatre in Balzac's Illusions perdues
In contrast to the enthusiasm for theatre in the German bildungsroman, which has been often analysed, this study concentrates on its social and aesthetic mechanisms in a French novel, Illusions perdues (1837–1844) by Balzac. Poetological considerations, such as the function of the theatre for the organisation of the narrative, are given just as much attention as issues connected with the history of aesthetic experience in modernism. With Balzac the stage appears not as an educational establishment, but as a tool of poetological self-reflection and as a paradigmatic place of medial production. The interaction of aesthetic illusion and audience is demonstrated by Balzac through his main figure Lucien de Rubempré, visiting the Paris "Panorama-dramatique". The chapter about the theatre forms a central part in the novel because it shows fundamental aspects concerning the relationship of fiction and reality as well as the relationship of theatre and the urban scene.



Theater im 19. Jahrhundert: von der Bildungsanstalt zum sozialen Verkehrsknotenpunkt

Balzacs Roman Illusions perdues wurde in den Jahren 1837–1844 verfaßt. Also ungefähr – nimmt man Karl Philipp Moritz' Anton Reiser (1785–90) als Ausgangspunkt – ein halbes Jahrhundert nachdem deutsche Romanciers das Theater als Sujet bereits entdeckt und popularisiert hatten, ein Phänomen, das Eckehard Catholy pointiert als 'Theatromanie' (Catholy 1962) bezeichnet; eine spezifisch deutsche Angelegenheit überdies, deren Spuren sich bis ins frühe 20. Jahrhundert verfolgen lassen.1

Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche deutschsprachige Romane im Gefolge von Goethes Wilhelm Meister – dem einflußreichsten Vertreter des Genres – erscheinen, die sich dem Sujet immer noch von der Bildungsidee des 18. Jahrhunderts her nähern und überwiegend das Treiben der Wanderbühnen beziehungsweise Lebensläufe von Schauspielern anvisieren, erzählt Balzac auf ganz andere Art und Weise vom Theater. Aus einer anderen literarischen Tradition kommend und einem anders gearteten kulturellen Raum entspringend, unterscheidet sich Balzacs Darstellung der Bühnenkunst in Illusions perdues von der seiner deutschen Zeitgenossen wesentlich, und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Zuallererst ist bei Balzac nicht von der Bühnenkunst die Rede, sondern von Bühnenunterhaltung zu ökonomischen Zwecken:




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La pièce est une pièce d’intrigue où Du Bruel a voulu faire du Beaumarchais. Le public des boulevards n’aime pas ce genre, il veut être bourré d’émotions. L’esprit n’est pas apprécié ici. Tout, ce soir, dépend de Florine et de Coralie qui sont ravissantes de grâce, de beauté. Ces deux créatures ont des jupes très-courtes […]. (Balzac 1952: 712)2

Dies erfährt Lucien de Rubempré, Hauptfigur des Romans, im Pariser Panorama-Dramatique3. Nachdem er seine Heimat in der Provinz verlassen hat, um in der Hauptstadt sein Glück zu suchen, muß er nach und nach erfahren, daß sich seine Vorstellungen vom Leben eines Künstlers nicht mit dem decken, was er in Paris vorfindet: einen gigantischen Literaturbetrieb.

Eine Etappe auf Luciens titelgebendem Parcours der verlorenen Illusionen ist eben das Theater, welches er in Begleitung des Journalisten Lousteau besucht. Zunächst wird auf einem guten Dutzend Seiten von Luciens Gesprächen und Beobachtungen im Zuschauerraum berichtet. Balzacs Hauptfigur trifft hier auf ein Publikum, das sich augenscheinlich gerne in der Öffentlichkeit zeigt. Das Sehen und Gesehenwerden in den Wandelgängen und Logen der Spielstätte wirkt selbst wie ein Schauspiel, das sich dem Zuschauer Lucien darbietet.4 Was in den Gängen besprochen wird, hat in den seltensten Fällen etwas mit den Vorgängen auf der Bühne oder dem Theater als Kunstform zu tun. Vielmehr werden Geschäfte eingefädelt, Machtpositionen abgesteckt und Beziehungen jeglicher Art geknüpft. Balzac zeichnet ein Bild des Theaterpublikums als Teil jener Gesellschaft, welche die Bühne als Kunstbetrieb zum Vorwand nimmt, um sich anderweitig umzutun: geschäftlich, amourös oder politisch. Im Theater wird Lucien auch über den Antriebsmotor dieser Gesellschaft aufgeklärt. Der Macht des Geldes, dies ist die Botschaft der zahlreichen Gespräche im Zuschauerraum, ist die Kunst ebenso wie alle anderen Lebensbereiche ausgeliefert. Das Theater selbst wird als Objekt wirtschaftlicher Spekulation präsentiert, das den Gesetzen des Marktes unterworfen ist, als eine Investition, mit der Geld verdient aber auch verloren werden kann. Das aufgeführte Stück ist dementsprechend ein belangloses, der kurzlebigen Unterhaltung dienendes Melodram, dessen Wirkung allein auf der inszenierten Erotik seiner Hauptdarstellerinnen beruht.5 Sein Verfasser, eine Nebenfigur des Romans, ist ausschließlich daran interessiert, den Geschmack der Zeit zu treffen.

Das Theater, das vor allem in Paris sehr früh zu einer Institution bürgerlicher Unterhaltung, aber auch zum Objekt wirtschaftlichen Interesses6 wird, erscheint hier als Ort, an dem man sich trifft, an dem man sich zeigt, zu dem Personen verschiedenster Herkunft und Couleur Zutritt haben, an dem aber auch das überwiegend bürgerliche Publikum einer Kunstform, der dramatischen, begegnet. Diese vordergründig soziale Funktion des Theaters, die mit der deutschen Konzeption von der Bildungseinrichtung Bühne nur wenig gemein hat, nutzen Autoren wie Balzac oder Stendhal, um ein konzentriertes Panorama der bürgerlichen Gesellschaft nach 1830 zu entwerfen. Im Erzählen von gesellschaftlichen Zu- und Mißständen – im Topos der Fachliteratur – erschöpft sich Balzacs Neuerungspotential allerdings bei weitem nicht.




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Struktur und Funktion des Theaterbesuchs in Illusions perdues

Balzac erzählt über ein gutes Dutzend Seiten verstreut recht ausführlich von der Aufführung eines Stückes, dessen künstlerische Qualität eigentlich nicht der Rede wert ist und nicht annähernd zu vergleichen ist mit der Qualität jener Stücke – vorzugsweise von Shakespeare –, die in deutschen Romanen zu finden sind. Wenn es auf der Bühne des Panorama-Dramatique also offensichtlich nicht um die dramatische Kunst geht, worum dann? Was bietet diese Institution dem Romancier als Gegenstand der Erzählung, wenn sie nicht Stätte hochwertiger dramatischer Kunst ist? Zunächst einmal fällt auf, daß die Perspektive auf die Bühne im Vergleich zu deutschen Theaterromanen des späten 18. und noch des frühen 19. Jahrhunderts anders gelagert ist. Lucien de Rubempré spielt nicht mehr selbst Theater, wie etwa Goethes Wilhelm Meister oder Jean Pauls Roquairol. Er wird ausschließlich als Zuschauer, als Rezipient des Bühnenspiels gezeigt. An diese neue Position, die sich hier und da – freilich weniger avanciert – auch in der deutschen Literatur findet,7 knüpft Balzac eine ganze Reihe zukunftsweisender Darstellungsmittel und Darstellungsgegenstände. Exemplarisch verdeutlicht dies eine Passage aus dem zweiten Teil der Theaterepisode:

Des pensées ardentes enflammaient son âme, comme ses sens étaient embrasés par le spectacle de ces actrices aux yeux lascifs et relevés par le rouge, à gorges étincelantes, [...]. Les yeux fixés sur la toile, et d’autant plus accessible aux enchantements de cette vie mélangée d’éclairs et de nuages qu’elle brillait comme un feu d’artifice après la nuit profonde de sa vie travailleuse, obscure, monotone. Tout à coup la lumière amoureuse d’un œil ruissela sur les yeux inattentifs de Lucien, en trouant le rideau du théâtre. Le poète, réveillé de son engourdissement, reconnut l’œil de Coralie qui le brûlait; il baissa la tête[...]. (CH: 719–720)

Balzac entwirft hier gleichsam eine epische Versuchsanordnung, um theaterspezifische Apperzeptionsprozeduren zu untersuchen. Er versetzt seine Hauptfigur aus den hell erleuchteten Wandelgängen in die Intimität der dunklen Loge, sondert sie mithin vom übrigen Publikum als Kollektiv ab, um die Wirkung des Stücks an einer Einzelperson zu verfolgen.

Diese Wirkung basiert vordergründig auf den beiden Hauptdarstellerinnen. Ihre optischen Reize werden auf der Bühne buchstäblich ins rechte Licht gerückt. Scheinwerfer bestrahlen die mit Kostümen und Maquillage präparierten Körper und steigern auf diese Weise deren Verführungskraft. An die Lichtverhältnisse auf der Bühne werden die Reaktionen des Zuschauers gekoppelt. Das von den Scheinwerfern erzeugte Licht und seine physikalische Wärmeentwicklung wird – metaphorisch – in drei wechselseitig verknüpften Schritten auf Luciens Psyche übertragen. Zuerst wirken die sinnlichen Reize der Bühnenakteurinnen auf den Zuschauer ein. Sein Wahrnehmungsapparat reagiert auf diese Stimulation, er beginnt metaphorisch zu glühen. In einem zweiten Schritt – von den "sens embrasés" zur "âme enflammée" – wird dieser zunächst bloß sensualistische Prozeß metaphysisch aufgeladen. Luciens Seele entflammt für Coralie, die Schauspielerin. Hier deutet sich bereits die sein Einspielungsvermögen überschreitende Haltung des Zuschauers an. In einem letzten Schritt wird dann der Rahmen des Theaters, seine nur ästhetische Relation von Bühnenspiel und Zuschauer transzendiert. Die Lichtverhältnisse der Bühne werden auf Luciens Leben übertragen. Das Schauspiel und vor allem seine Berufsvertreterin steht für das großstädtische Paris, welches, im Gegensatz zur Dunkelheit von Luciens bisheriger Existenz in der Provinz, wie ein Feuerwerk erscheint.




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Mittels Theaterbeleuchtung werden also psychische und damit verbundene geographische Oppositionen metaphorisch zu einer Momentaufnahme von Luciens Leben stilisiert. Der Zuschauer nimmt die Ereignisse auf der Bühne nicht als dramatisches Spiel wahr, sondern gleichsam als lebende Reklame für all jene Reize, die Paris im Gegensatz zur Provinz zu bieten hat. Letztlich verschwimmen hier Spiel und Realität. "La vie monotone" und "la vie [...] comme un feu d’artifice" werden einander gleichwertig gegenübergestellt, obwohl sie doch eigentlich streng geschieden werden müßten: hier Luciens tatsächliches Leben, dort das auf der Bühne inszenierte. Wie und wieso kommt es bei Balzac zu einer solchen Auflösung der Grenzen?

Eingeleitet wird der Prozeß der Entgrenzung durch einen Blick, den die Schauspielerin Coralie Lucien zuwirft. Abermals arbeitet Balzac hier mit metaphorischen Analogien zur Bühnenbeleuchtung: So wie Coralies Körper im Glanz der Scheinwerfer erstrahlt, wird ihr Auge vom Licht der Liebe illuminiert. Der Blick der Schauspielerin ins Publikum schlägt eine Brücke vom Bühnen- zum Zuschauerbereich. Die im Theater übliche und notwendige Distanz von Bühnenakteur und Zuschauer wird, vorerst visuell, abgebaut. Allerdings erwidert Lucien diese Annäherung (noch) nicht. Er senkt den Kopf, um Coralies Blick auszuweichen, dem er in der Loge ausgesetzt ist. Dieser dem Zuschauer geltende Blick verdeutlicht exemplarisch das besondere Verhältnis zwischen Bühnenspiel beziehungsweise Bühnenakteurin und Rezipient in Balzacs Roman. Die Verbfolge "ruissela / trouant / brûlait" offenbart das erhebliche Aggressionspotential, das dem Spiel der Bühnenakteurinnen offenbar innewohnt. Vom (Herüber-)Fließen über das Durchbohren des Vorhangs zum (Ver-)Brennen: Dem Spiel auf der Bühne kann sich der Rezipient nicht entziehen. Er wird, auch gegen seinen Willen, überwältigt, ja erobert. Balzac erzählt hier von einer einseitig betriebenen, aggressiven Kontaktaufnahme, die immer wieder von Regressionen unterbrochen wird und sich im Laufe der Theaterepisode zu einem inneren Kampf Luciens zuspitzt,8 einem Kampf, den der Zuschauer schließlich verliert. Er gipfelt in jener Passage, wo nach dem Zusammenbruch aller psychischen Schranken auch die physische Barriere in Gestalt der Theaterrampe überschritten wird:




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Le lustre s’éteignit. [...] Une lanterne descendit du cintre. [...] A la féerie de la scène, au spectacle des loges pleines de jolies femmes, aux étourdissantes lumières, à la splendide magie des décorations et des costumes neufs succédaient le froid, l’horreur, l’obscurité, le vide. [...] D’un bond, Lucien se trouva sur la scène. A peine reconnut-il Florine et Coralie déshabillées, enveloppées dans leurs manteaux et dans des douillettes communes, la tête couverte de chapeaux à voiles noirs, semblables enfin à des papillons rentrés dans leurs larves. – Me ferez-vous l’honneur de me donner le bras ? lui dit Coralie en tremblant. – Volontiers, dit Lucien qui sentit le cœur de l’actrice palpitant sur le sien comme celui d’un oiseau quand il l’eut prise. (CH: 725)

Hier ist nicht nur der Vorhang gefallen, hier fällt auch endgültig die Distanz zwischen Zuschauer und Bühnenakteurin. Lucien verläßt in Begleitung der Schauspielerin das Theater. Die Großstadt Paris hat sich in Gestalt ihrer exemplarischen und exponierten Repräsentantin gewissermaßen bei ihm untergehakt.


Zum Verhältnis von Theater und urbanem Raum im 19. Jahrhundert

Das Verhältnis von Zuschauer und Bühnenspiel läßt sich in Illusions perdues mithin so fassen: Zwar wird noch einmal die alte, magische Bildkraft des Theaters, "la féerie" aufgerufen. Sie ist bei Balzac allerdings in einen ganz anderen Kontext als etwa in deutschen Theaterromanen eingebunden. Das Spektakel auf der Bühne hat den Zuschauer nicht in die Welt der Fiktion entführt, sondern ihm revueartig die Reize seiner Wahlheimat vorgeführt – nicht nur sinnlich erfahrbar sondern buchstäblich sinnlich faßbar. Hier werden auf der Bühne nicht fiktive Welten entworfen – das eigentliche Stück ist fast bedeutungslos –, hier wird Wirklichkeit9 verdoppelt. Coralie und Florine stellen hier weniger dramatische Figuren dar, als daß sie sich selbst ausstellen. Die Bühne liefert ihnen lediglich den perfekten Rahmen, um ihre körperlichen Vorzüge darzubieten, einen Rahmen, der andere epische Schauplätze – Ballsaal, Salon, Restaurant – übertrifft, weil alle störenden Nebeneffekte buchstäblich ausgeblendet werden. Nur die Bühne ist hell beleuchtet. Von ihr ergießt sich die erdrückende ("étourdissante") Bilderflut ins Publikum.

Wir haben es auf Balzacs erzählter Bühne also nicht mit einer Verdoppelung bloß mimetischen, sondern geradezu potenzierenden Charakters zu tun. Realität wird hier gleichsam aufpoliert – geschminkt bzw. kostümiert wie die Schauspielerinnen – und durch ausschnittsweise Präsentation in ihrer Wirkung bis ins Aggressiv-Erobernde verstärkt. Anders gesagt: Balzac suggeriert seinen Lesern, daß Lucien de Rubempré im Panorama-Dramatique gerade nicht auf Werke der dramatischen Kunst trifft, sondern auf inszenierte und also medial vermittelte Wirklichkeit, der sich der Zuschauer eben aufgrund ihrer medialen Vermittlung nicht entziehen kann. Diese Darstellung zeugt vom Gespür Balzacs für gesellschaftliche und hier vor allem wahrnehmungspsychologische Wandlungsprozesse. In Illusions perdues wird eine Entwicklung antizipiert, die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch in ihren Anfängen steckt und erst gegen Ende des Jahrhunderts die Metropolen Europas erfaßt, sich in Paris, der 'Hauptstadt des 19. Jahrhunderts' aber schon deutlich abzeichnet. Es ist dies eine Entwicklung, die technischen Fortschritt, Großstadtleben und Ästhetik der Bühne in ein komplexes Widerspiel bringt.




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Das Theater als Teil des urbanen Raumes ist denselben technischen und architektonischen Veränderungen unterworfen wie das Ganze, dem es angehört.10 Unter den zahlreichen Neuerungen des 19. Jahrhunderts wirkt sich vor allem eine gleichermaßen auf die Bühne wie auf die europäischen Großstädte insgesamt aus: die Erfindung des Gas- und dann des elektrischen Lichts. Sie revolutioniert sowohl den Theaterbetrieb11 als auch das urbane Leben insgesamt, weil sie bei den Stadtbewohnern einen schockartigen wahrnehmungspsychologischen Wandel bewirkt. Im Laufe des späten 19. Jahrhunderts wird analog zur künstlerischen Lichtführung im Theater auch in der Stadt beleuchtet: von oben und mit starkem, punktuell illuminierenden Licht. Die großen Boulevards mit ihren Gas- und später dann Bogenlampen, die hell erleuchteten Auslagen der Schaufenster erscheinen wie Bühnen, auf denen Passanten auftreten beziehungsweise Waren ausgestellt werden: "Das erleuchtete Schaufenster als Bühne, die Straße als der dazugehörige Theatersaal, und die Passanten als Publikum, damit wären wir wieder am Schauplatz des großstädtischen Nachtlebens angelangt." (Schivelbusch 1983: 141–142)

Theater findet sich auch außerhalb des Theaters, weil Bühne und Städtebau von ähnlichen technischen Neuerungen betroffen sind. Die Grenzen zwischen Theater und Stadt verwischen, weil die Relation Betrachter (im Dunkeln) und Betrachteter (im Licht) hier wie dort besteht. An der Spitze dieser Entwicklung steht Paris, dessen populärer Beiname 'ville lumière' – Ort der Aufklärung im 18. Jahrhundert – nun auf die erleuchteten Vergnügungsboulevards übertragen wird. Hinzu kommt, daß nicht nur Straßen und Plätze beständig erleuchtet sind, sondern auch die Schaufenster der Geschäfte. Um 1850 ersetzen große Glasfronten die kleineren Scheiben, die Schaufenster wirken nun wie verglaste Bühnen. Ihre Auslagen werden mit künstlichem Licht bestrahlt und somit ästhetisch inszeniert.12

In Paris zeigt sich diese Entwicklung am frühesten und am deutlichsten. Genau diesen Schauplatz wählt Balzac als Rahmen für die Geschichte des Provinzlers, der in die Hauptstadt zieht und erstmals jenem gesellschaftlichen Leben beiwohnt, das wie ein Schauspiel daherkommt, das sich im Licht der Salons, der Boulevards, der Ballsäle und der Theaterfoyers abspielt. Im Panorama-Dramatique laufen folgerichtig die erzählerischen Fäden der Geschichte zusammen. Hier werden am Beispiel der Rezeption des Mediums Theater durch die Hauptfigur eben jene Unschärfen zwischen Realität und Fiktion episch sondiert, die das oben skizzierte Zusammenspiel von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung bedingt. So wie sich die Schauspielerinnen Coralie und Florine im Licht der Bühnenbeleuchtung präsentieren, zeigen sich die Passanten außerhalb der Bühne, auf den Straßen, Passagen und in den Sälen der französischen Metropole; genauso präsentieren sich überdies die Waren im Kaufhaus bzw. in den Schaufenstern und ganze Landschaften in den Dioramen.




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Balzac bündelt diese Analogiewirkungen im Theater und verweist seine Leser eindringlich auf deren Schnittpunkt, indem er seine Hauptfigur die Theaterrampe symbolisch und tatsächlich übersteigen läßt, ein eigentlich unerhörter Vorgang: "Die Bretter [der Bühne; M.R.] selbst wirken heraushebend, sie sind nicht die Welt, sie bedeuten nur die Welt. Die Rampe ist eine unübersteigbare Grenze; sie wird auch im Schauspiel nie überstiegen." (Voigt 1965: 5)13 In Illusions perdues wird eben diese Grenze überschritten, mehr noch: Die Theaterepisode ist in ihrer Gesamtheit darauf ausgerichtet. Exemplarisch wird am Beispiel des Theaterbesuchs entfaltet, welchen wahrnehmungspsychologischen Wandel die zunehmende Beleuchtung der Großstädte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen im 19. Jahrhundert bewirkt. Im Theater erfährt Balzacs Figur all das als mediale Inszenierung, was er auch im täglichen Leben in Paris wahrnimmt. Das Geschehen auf der Bühne kommt so nicht nur als Konzentrat all jener (Sinnes-)Reize daher, welche Paris auf seinen neuen Bewohner ausübt, es ist, wie gesagt, als gedoppelte, aber medial vermittelte Wirklichkeit zu begreifen, die auf diese Weise in ihrer Wirkung noch gesteigert wird. Luciens unerhörter Akt, die Theaterrampe zu überschreiten, erscheint aus dieser Perspektive als zwingende Folgehandlung seines Rezeptionsverhaltens.

Dieser Akt wiederum zeitigt ebenso Folgen: Das Überschreiten der Theaterrampe und also das Überschreiten der Grenzen von Realität und Fiktion hat tiefgreifende Konsequenzen für das Gesamtgefüge der erzählten Geschichte, denn unmittelbar vor seinem Theaterbesuch ist Lucien nach einer Reihe von Enttäuschungen an einem Scheidepunkt14 angelangt. Er muß sich zwischen Teilnahme am Literaturbetrieb und Ablehnung, zwischen einer finanziell gesicherten und einer Künstlerexistenz in Armut entscheiden. Die für das Romangefüge entscheidende Bedeutung des Theaterbesuchs besteht gerade darin, daß an diesem Ort eine Entscheidung getroffen wird. Was Lucien vorher abstrakt, in Gesprächen, erfahren hat, erfährt er im Theater über die Sinne. Die lange Phase des Erstaunens und der tastenden, oft schmerzvollen Annäherung an das hauptstädtische Leben wird im Theater beendet. Im Sinne des Theaters durchleuchtet Balzac diese Peripetie wie unter einem Mikroskop. Im Panorama-Dramatique wird der Schritt vom passiven Zuschauen zur aktiven Teilnahme am Pariser Leben vollzogen. Lucien betrachtet die Schauspielerin Coralie nicht nur, er läßt sich auch körperlich, außerhalb des Theaters, mit ihr ein. Am Verhältnis von Zuschauer und Bühnenakteurin wird schrittweise die Vereinnahmung, wenn nicht Eroberung Luciens durch die französische Hauptstadt demonstriert. Der Flut der auf ihn einstürzenden Eindrücke und Bilder – so Balzacs Metaphorik – vermag sich Lucien immer weniger zu erwehren, im Theater bricht sein Widerstand dann endgültig zusammen. Im weiteren Verlauf des Romans werden, vereinfacht gesagt, die Folgen der im Theater getroffenen Entscheidung erzählt. Lucien ruiniert sich nach und nach und ist gezwungen, in die Provinz zurückzukehren.




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Schluß: Die Bühne als paradigmatischer Ort medialer Inszenierung und Instrument poetologischer Selbstbespiegelung

Fassen wir zusammen: Das Theater nimmt bei Balzac eine ganz andere Funktion ein als in den noch zur selben Zeit häufig verfaßten Entwicklungs- und Theaterromanen deutscher Prägung. Es ist weder Bildungsanstalt noch Stätte künstlerischer Selbstfindung. Es wird vielmehr als paradigmatischer Ort medialer Inszenierung gezeigt. Hier ist in der Tat das Medium die Botschaft. Im Panorama-Dramatique werden nicht Shakespeare oder Racine gespielt, sondern ein fiktives Boulevard-Stück, dessen Geschichte nur nebenbei Erwähnung findet. Balzac geht es nicht um den Inhalt des Theaters – das aufgeführte Stück, die dramaturgische Umsetzung einer Textvorlage oder künstlerische Probleme der Aufführung –, ihm geht es um das Medium Bühne an sich, seine Mittel und Verfahren, Illusion zu erzeugen und allgemeiner: etwas zu präsentieren. Wie sich szenische und nicht-szenische, ästhetische und außerästhetische Illusion im Zuge sozial- und technikgeschichtlicher Umwälzungen vermischen, wird so zum Gegenstand des Romans; und zwar nicht nur metaphorisch, sondern episch konkret, als erzähltes Geschehen. Dabei funktioniert Balzac ein traditionelles Sujet des Bildungsromans um, das Theater, und zeigt es in seinen neuen Wirkungsmöglichkeiten. Daß dies nur in einem urbanen Raum wie Paris möglich ist, erklärt unter anderem, wieso sich besagte literarische Innovationen in einem französischen Roman finden und nicht in deutschen, die bis ins 19. Jahrhundert das hierzulande so beliebte Theatersujet überwiegend in althergebrachter Weise, unter den Vorzeichen der Bildungsidee, hegen und pflegen. Balzac läßt seine Hauptfigur, einen mit der Großstadt nicht vertrauten Provinzler, diesen speziellen Raum betreten und führt dann exemplarisch eine Apperzeptionsprozedur vor. Das Medium Theater verstärkt und intensiviert die Flut der Eindrücke, die auf Lucien in der Großstadt einströmen. Als Rezipient hat er es hier allerdings nicht mit der Stadt selbst, sondern mit ihrer Verkörperung, mit einem pars-pro-toto, der Bühnenakteurin Coralie zu tun.

Um von diesen tiefgreifenden Neuerungen zu erzählen, bedarf es entsprechender epischer Mittel. Auch in diesem Punkt erweist sich Illusions perdues als richtungsweisend. Wir haben gesehen, wie Balzac seinen Lesern das epische Geschehen vermittelt, nämlich genau so, wie sich das szenische Geschehen seiner Hauptfigur im Panorama-Dramatique darbietet. Balzac erzählt nicht nur von der raffinierten Lichtregie, mit der die Pariser Wirklichkeit auf der Bühne ausgestellt und gleichsam verdoppelt wird, er wendet genau dieses Verfahren an, um seine epische Welt vor den Augen der Leser zu entfalten. Beständig arbeitet er mit Hell/Dunkel-Oppositionen, mit dem Kontrast von Licht und Schatten, so wie es das Modell von beleuchteter Bühne und verdunkeltem Zuschauerraum bereitstellt: Licht und Schatten, "feu d’artifice" und "nuit profonde" reflektieren den Lebensweg der Hauptfigur, ihr Schicksal zwischen Provinz und Hauptstadt. Balzac arbeitet allerdings nicht nur metaphorisch mit Licht, er lässt seine Romanfiguren auch immer wieder in wechselnder Beleuchtung auftreten: etwa im Schein der Theaterlampen auf der Bühne, die mit dem flackernden Kerzenlicht hinter der Bühne kontrastieren; etwa im Licht der Ballsäle, deren Glanz der Düsternis in Luciens vermeintlichem Poetenwinkel entgegensteht. Anders gesagt: Aufstieg und Fall des Lucien de Rubempré verdichten sich im Theater und werden mit den Mitteln des Theaters vergegenwärtigt. Der Titel des Romanzyklus, La Comédie humaine, ist in diesem Zusammenhang also offensichtlich nicht nur metaphorisch, als spezifische Aktualisierung der theatrum mundi-Vorstellung, oder als Reverenz an Dantes Divina Commedia, zu verstehen, sondern auch als Hinweis darauf, daß Balzac seine eigenen Erzählstrategien am erzählten Gegenstand, der Bühne, demonstriert.




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Bibliographie

Allen, John (1983): A History of the Theatre in Europe. New Jersey: University Press.

Balzac, Honoré de (1952): La Comédie humaine. Paris: Gallimard. [1844]

Dickinson, Linzy Erika (2000): Theatre in Balzac's La comédie humaine. Atlanta/Amsterdam: Rodopi.

Catholy, Eckehard (1962): Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft. Tübingen: Niemeyer.

Grewe, Andrea (1989): Monde renversé – Théâtre renversé: Lesage und das Théâtre de la Foire. Bonn: Romanistischer Verlag.

Ley, Klaus (1995): Die Oper im Roman: Erzählkunst und Musik bei Stendhal, Balzac und Flaubert. Heidelberg: Winter.

Mann, Thomas (1953): Altes und Neues: Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt a.M.: Fischer.

Schivelbusch, Wolfgang (1983): Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München: Hanser.

Selbmann, Rolf (1981): Theater im Roman: Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans. München: Fink.

Voigt, Joachim (1965): Das Spiel im Spiel. Göttingen: Diss. (masch.).

Warning, Rainer (1998): "'Éducation' und 'Bildung'. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich", in: Fohrmann, Jürgen (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen: Niemeyer, 121–140.

Wolf, Werner (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen: Niemeyer.


Anmerkungen

1 Thomas Mann bemerkt dazu: "Das Verhältnis des deutschen Romanciers zum Theater ist besonders; es ist nichts weniger als ein Unverhältnis. Es ist immer bestimmt und klassisch geheiligt durch die Herzensangelegenheit, mit der der repräsentative Roman der Deutschen, Goethes prosaisches Lebenswerk, davon handelt. Daß 'Wilhelm Meister', im Kern, ein Theaterroman ist, will hier alles besagen." (Mann 1953: 158). Zur unterschiedlichen Entwicklung des Bildungsromans in Deutschland und Frankreich vgl. auch Warning (1998). Ausführlich werden deutsche Bildungsromane vorgestellt in Selbmann (1981). Noch hier wird konstatiert: "[...] die Rede über das Theater im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts wird geradezu zum Synonym für eine Geschichte des Bildungsromans." (Selbmann 1981: 9) Zur Funktion des Theaters in Balzacs Comédie humaine vgl. auch Dickinson (2000). Die Rolle der Oper im französischen Roman des 19. Jahrhunderts untersucht Ley (1995).




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2 Die aus Balzacs Comédie humaine entnommenen Textbelege werden nachfolgend mit CH gekennzeichnet.

3 Das Panorama-Dramatique war zwischen 1821 und 1823 eines der zwölf verzeichneten Pariser Theater. Balzac stellt es im Roman vor, indem er die Konkurrenzsituation unter den Pariser Bühnen betont: "Le Panorama-Dramatique avait à rivaliser avec l’Ambigu, la Gaîté, la Porte-Saint-Martin et les théâtres de Vaudeville." (CH: 706)

4 "Ce mélange de hauts et de bas [...] le [Lucien] rendait hébété comme un homme attentif à un spectacle inoui." (CH: 711).

5 "Qu’a-t-elle fait ? la salle applaudit à tout rompre, dit Lousteau. – Elle leur a montré sa gorge en se mettant à genoux, c’est sa grande ressource, dit l’actrice veuve du cirage." (CH: 709).

6 Zur "transformation capitaliste de la profession comique" im frühen 18. Jahrhundert vgl. Grewe (1989): "Vom Chef de troupe zum Entrepreneur de spectacles (1697–1711)" (Grewe 1989: 104ff)

7 So gestaltet E.T.A Hoffmann in der Erzählung Don Juan das Theatererlebnis seiner Hauptfigur als ausschließlich passives: als episch vergegenwärtigte Rezeption des Bühnenspiels. Obgleich das Werk Hoffmanns noch im Zeichen (spät-) romantischer Ästhetik steht, ist doch eine für das Theatersujet symptomatische Akzentverschiebung spürbar. Die einstigen Theater-Spieler werden in deutschen Romanen des frühen 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu Theaterbesuchern, so wie dies in englischen und französischen Werken bereits seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten ist.

8 Balzac gestaltet sie als religiös motiviertes Ringen Luciens mit dem "démon de la luxure": "Lucien, en voyant cette créature jouant pour lui seul, se souciant de Camusot autant que le gamin du paradis se soucie de la pelure d’une pomme, mit l’amour sensuel au-dessus de l’amour pur la jouissance au-dessus du désir, et le démon de la luxure lui souffla d’atroces pensées." (CH: 721) Seine innere Zerrissenheit gipfelt in der Frage: "[...] pourquoi ne goûterais-je pas une fois ces délices si célèbres?" Der biblische Mythos vom Sündenfall klingt hier variiert an. Die ausgestellten und von einer raffinierten Lichtregie inszenierten Körper der Schauspielerinnen werden metaphysisch aufgeladen. Sie erscheinen als diabolische Versuchung, welcher der Zuschauer nicht zu widerstehen vermag. Ins Bühnenlicht getaucht, blenden ihre glänzenden Körperteile, "ses épaules dorées" (CH: 721), das Publikum: "elle éblouissait le regard avec ses bras ronds" (CH: 721). Am Ende der Episode wird resümiert: "il [Lucien] tombait dans cette fosse, il nageait dans un désir, entraîné par le jésuitisme de la passion." (CH: 722)

9 Wirklichkeit / Realität wird hier nicht als philosophischer oder medientheoretischer Begriff gebraucht, sondern meint die mit epischen Mitteln entworfene Welt im Gegensatz zur – ebenso mit epischen Mitteln entworfenen – dramatischen Welt auf der Bühne, von der im Roman erzählt wird.

10 Vgl. zur Entwicklung des Theaters im Untersuchungszeitraum Allen (1983): "The changes that took place in the European theatre in the last decades of the nineteenth century were immense". Hiervon zeugt auch die große Zahl neu errichteter Theaterhäuser: "In the second half of the nineteenth century, when there was a very considerable boom in theatre buildings." (Allen 1983: 231)

11 "Die Entwicklung der Bühne im 19. Jahrhundert läßt sich beschreiben als ihre allmähliche Umgestaltung durch die neue Beleuchtung, ihre Anpassung an deren Erfordernisse und Möglichkeiten, oder dramatischer ausgedrückt, als die Vertreibung des alten Illusionsmittels Bühnenmalerei durch das wirkliche Licht." ( Schivelbusch 1983: 189)

12 "Im übrigen folgte die Schaufensterbeleuchtung den von der Theaterbeleuchtung vorgezeigten Wegen. [...] Mit dem elektrischen Licht schließlich, das nicht mehr wegen Feuergefährlichkeit außerhalb des Schaufensters installiert werden mußte, wurde eine Lichtführung möglich wie auf der Bühne des Theaters." (Schivelbusch 1983: 141–142)




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13 Auch Werner Wolf hebt die Fähigkeit zur inlusio als distinktives Merkmal angemessener Rezeption hervor. (Wolf 1993: 26)

14 "Cette saillie, où la raison prenait une forme incisive, était de nature à faire hésiter Lucien entre le système de pauvreté soumise que prêchait le Cénacle, et la doctrine militante que Lousteau lui exposait. Aussi le poète d’Angoulême garda-t-il le silence jusqu’au boulevard du Temple." (CH, 706)

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