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Bernhard Huss (München)



Janka, Markus / Schäfer, Christian (Hg.) (2002): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.



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Der selbstsichere – ja, wie so oft bei dialogischen Gegnern des Platonischen Sokrates, ein wenig zu selbstsichere – Sophist Protagoras soll auf Bitten des Sokrates seine Ansicht beweisen, die Tugend ( ajr e t hv) sei lehrbar. "'Nun, Sokrates', sagte er, 'das will ich gerne tun. Aber soll ich es euch aufzeigen, indem ich euch eine Geschichte erzähle ( m uÖq o n l evg w n ), wie es ein Älterer Jüngeren gegenüber oft tut, oder indem ich es in einer Analyse durchgehe ( l ovg w/ d i e x e l q wvn )?' Da antworteten ihm viele derer, die dabeisaßen, er solle es so durchgehen, wie er wolle. ‚Dann', sagte er, ‚glaube ich, es wird angenehmer sein, wenn ich euch eine Geschichte erzähle ( m uÖq o n uJm iÖn l evg e i n ).'"1 Und Protagoras, der keinen säuberlich strukturierten, logisch-argumentativ operierenden Logos vortragen möchte, beginnt statt dessen mit der Erzählung seines berühmten Kulturentstehungsmythos. An dieser Stelle ebenso wie in einer Reihe weiterer Platonischer Passagen scheint die Antithese zwischen dem erzählerischen Mythos und dem analytischen, rational strukturierten Logos unmittelbar einleuchtend – ganz in dem Sinn, in dem Wilhelm Nestles klassische Studie Vom Mythos zum Logos (1940, 21941) diese beiden Begriffe einander zuordnet, wenn er von Homer bis Sokrates eine geistesgeschichtliche Entwicklung des griechischen Denkens konstruiert, die von einer mythisch-bildhaften, auf Regionen des Unbewußten rekurrierenden Vorstellungsart hin zum Logos verläuft, der in bewußter Denkweise begriffliche Zergliederung und Verbindung vornimmt. So gerne man nun den Rationalisten und Dialektiker Platon unwillkürlich auf der 'logischen' Seite ansiedeln möchte, so unbehaglich wird einem beim Anblick seiner zahlreichen, in sich heterogenen, wenig analytisch daherkommenden und in ihrer narrativen Literarizität faszinierenden 'Mythen', wie etwa den Jenseitsmythen des Phaidon und des Gorgias oder den Erzählungen des Symposion über die Entstehung der menschlichen Sexualität oder über die Geburt des Eros. Das Unbehagen verstärkt sich noch angesichts der Tatsache, daß Platon begrifflich keineswegs stets so deutlich zwischen 'Mythos' und 'Logos' unterscheidet, wie er es seinen Protagoras an der zitierten Stelle tun läßt, sondern daß seine Begriffsverwendung allem Augenschein nach häufig m uÖq o " und l ovg o " fast ununterscheidbar in eins gleiten läßt.




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So stellt sich jeder Beschäftigung mit den Problemen Platonischer Mytho-Logie zuallererst eine Mythos-Logos-Antithese in den Weg, die heute um ein Vielfaches komplexer gesehen wird als noch bei Nestle und die von der Forschung teils scharf konturiert aufrechterhalten, teils aber auch in umgreifender Argumentation weitgehend dekonstruiert wird. In diesem Spannungsfeld situiert sich der vorliegende Band, dessen erklärtes Ziel es ist, "Platons Mythen, deren Erforschung im deutschsprachigen Bereich in sehr langer Zeit kein eigenes Organ gefunden hatte und die im akademischen Diskurs nicht nur, aber doch allzu oft, rein funktional, nebenher, oder zur bloßen Argumentstützung – wo nicht gar als reine Kuriosität – behandelt werden, ein würdiges eigenes Ausdrucksmedium zu verleihen und das Interesse wieder verstärkt auf sie zurück zu lenken" (3), wobei die Herausgeber durch die Zusammenstellung der Beiträge "Philosophie und Klassische Philologie in der Platon-Forschung mit ihren Ergebnissen zur Mythenfrage zusammen[zu]führen" möchten (3f.). Die in Platon als Mythologe versammelten Aufsätze sind die Ergebnisse der Regensburger Tagung "Platons Mythen" (Sommer 2001), die die Herausgeber im Anschluß an ein gemeinsames Regensburger Seminar (WS 1999/2000) über "Mythen und Gleichnisse bei Platon" organisiert haben. Diese Ergebnisse werden im vorliegenden Band um "einige weitere Aufsätze ergänzt" (VII), zu denen mit Sicherheit jedenfalls der Beitrag von Theo Kobusch (s.u.) gehört, der schon 1990 erstveröffentlicht wurde.2

In ihrer "Einleitung" (1–4) führen die Herausgeber zunächst allgemein in die Thematik von Platons Mythen ein. Dabei wird das Faszinosum Platonischer Mythos besonders in seiner Relation mit der Dialogform der Platonischen Schriften begründet, die – wie etwas gönnerhaft festgestellt wird – "als literarische Kunstwerke konzipiert und ausgestaltet sind und von denen einige völlig zu Recht zu Klassikern der Weltliteratur geadelt wurden" (1). In der Tat ist der Mythos Platons auch und gerade in seiner Einbettung in den literarischen Dialog ein gattungstheoretisches und gattungspraktisches Problem, doch leider wird die Chance verschenkt, die in einer diesbezüglichen Erörterung des Platonischen Mythos läge, wenn im selben Atemzug undifferenziert von Sokrates als 'mythischem Helden' die Rede ist und er zugleich als "dramatischer Protagonist" (1, Kursivierung im Text) bezeichnet wird, der "in aufwendig inszenierten Dialogdramen" auftrete. Fehlt hier das Bewußtsein von der spezifischen Differenz zwischen Dialogform3 und Drama, so wird die begriffliche Trennschärfe der Einleitung nicht erhöht, wenn im folgenden festgestellt wird, daß angesichts der Interpretierbarkeit der "Gesprächs-Auseinandersetzungen des Sokrates" als "'Urkämpfe' der Philosophie" gar "aus ganzen platonischen Dialogen Mythen [werden], und zwar Mythen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr." (1, Kursivierung im Text) – nur um dann zu sagen, 'Mythos' könne bei Platon selbst allerhand Verschiedenes bedeuten, von der Fabel Äsopscher Art bis zur Staatstheorie der Politeia und der Nomoi (2).

Nach dieser kurzen Hinleitung gliedern die Herausgeber ihren Band in drei große thematische Blöcke (2f.):




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(I) Der erste Block (mit Beiträgen von Most, Janka, Kobusch, Manuwald, Erler, Pietsch) behandelt demnach das allgemeine Problemfeld 'Mythos und Logos bei Platon'. Wie die einzelnen Aufsätze dieser Gruppe dabei charakterisiert werden, führt den Leser teilweise etwas in die Irre. Denn wie sich uns unten erweisen wird, beschäftigt sich Most – im Gegensatz zu Janka – keineswegs schwerpunktmäßig mit der "Identifizierung und Analyse des Begriffsgebrauchs" und mit der "Sichtung von Vorkommnissen, Verwendungsweisen, Klassifizierungsmöglichkeiten und programmatischer Einführung des Wortes 'Mythos' im Corpus Platonicum" (2), und ebensowenig geht es bei Manuwald, Erler und Pietsch um "Erzähltechniken und Erzählstrukturen" (2), denn narratologisch perspektivierte Fragestellungen beschäftigen keinen der drei Beiträge in nennenswerter Weise.

(II) Der zweite Block (mit Beiträgen von Schäfer, Horn, Rowe, O'Brien, Mesch) ist "Einzeldiskussionen bestimmter Mythen und Mythengruppen gewidmet" (2), und zwar dem kosmologischen und anthropogenetischen Mythos des Politikos sowie der Aristophanesrede des Symposion und dem Timaios in seiner Gesamtstruktur.

(III) Der Schlußabschnitt (mit Beiträgen von Dalfen, Rechenauer, Ebert, Alt) befaßt sich mit den Jenseitsmythen, bevor abschließend Arbogast Schmitt nochmals die in der Mehrzahl der Aufsätze immer aufs neue verhandelte Mythos-Logos-Problematik aus neuer Perspektive aufgreift.

Vor dem Beginn des Aufsatzcorpus findet der Leser ein Abkürzungsverzeichnis (5f.). Es gliedert sich in die Abkürzungen der im Verlauf des Bandes zitierten Werke des Corpus Platonicum und eine aus drei Titeln bestehende Auflistung der zitierten "Fragmentsammlungen und Nachschlagewerke". Fragt sich der Leser bei letzterer, warum ihr mittlerer Titel, nämlich das Historische Wörterbuch der Philosophie, am Schluß des Bandes nochmals vorkommen muß, um die Bibliographie als einziger Titel der bibliographischen Sparte "Lexika" zu beschließen (326), so wird vor allem der in Dingen der Klassischen Philologie nicht durchaus bewanderte Leser wenig erfreut darüber sein, daß in den einzelnen Beiträgen zwar zahlreiche nicht-platonische Werke der antiken Literatur immer wieder abgekürzt zitiert werden,4 das Abkürzungsverzeichnis darauf aber mit keinem Wort eingeht. Dabei will der Band zumindest in Teilen gerade einem solchen Leser offenbar helfen, wenn immer wieder griechische Zitate einzig in latinisierender Umschrift gegeben werden. Diese Praxis – die häufig von Verlagsseite eingefordert wird – ist aber in sich fragwürdig. Denn zwar mag es hilfreich sein, statt m uÖq o " oder l ovg o " etwas zu schreiben wie mythos oder logos. Doch welchem Leser, der nicht ohnehin Altgriechisch kann, hilft z.B. "paradedegmetha" statt p a r a d e d evg m e q a (12)? Er wird bei dieser Schreibung nicht einmal wissen, wo der Wortakzent sitzt, geschweige denn über eine Bestimmung der Wortform als 1. Person Plural des Perfekts von p a r a d evc o m a i auf die Wortbedeutung kommen. Und was wird er sich erst denken bei längeren Passagen wie "he politeia hen mythologoumen logoi ergoi telos lepsetai" (30)? Man muß doch wenigstens mit Feinheiten wie dem Iota subscriptum vertraut sein, um das zumindest im Ansatz zu verstehen; und wer damit vertraut ist, wird dann auch den griechischen Text lesen können.




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(I)

Glenn W. Most steuert mit "Platons exoterische Mythen" (7–19) den ersten Beitrag des Bandes bei. Nach einem kurzen Blick auf Mythos vs. Logos bei Platon, in den die Skizze eines Forschungsabrisses integriert ist, konstatiert er das Scheitern herkömmlicher Versuche, den Platonischen Begriff des Mythos zu bestimmen und stellt zu Recht fest, was vielen anderen als Prämisse oft nicht präsent ist: "unser moderner Begriff des Mythos ist eine Frucht der geistesgeschichtlichen Entwicklungen und der kulturellen Bedürfnisse der Neuzeit und kann daher höchstens teilweise dem antiken Verständnis des Mythos, also auch dem platonischen, entsprechen" (9). Da man freilich aus hermeneutischer Not ja dennoch vom 'Mythos bei Platon' reden können muß, schlägt Most zu diesem Zweck acht 'diskursive' Kriterien "zur Bestimmung derjenigen Textpartien der platonischen Dialoge" vor, "die sich als platonische Mythen in einem unserem Sprachgebrauch entsprechenden Sinne identifizieren lassen" (10). Diese Kriterien sind in ihrer überwiegenden Mehrzahl strikt sprachpragmatische Kriterien,5 die dazu angetan sind, die besondere Form sprachlicher Kommunikation und die entsprechenden Kommunikationssituationen zu untersuchen, welche in Platons Dialogen dann vorliegen, wenn 'mythologische' Partien in das umgebende Dialoggeschehen eingelagert sind. Diesen überaus vielversprechenden Ansatz, der systematische Weiterführung verdiente, ergänzt Most durch eine Erklärung der Platonischen Mythen aus ihrer Wirkungsintention und ihrem ursprünglichen Rezipientenkreis heraus: Er sieht die Mythen (auch) als Instrumente exoterischer Paränese und Protreptik, die Platon in geschickter Anverwandlung der erfolgreichsten Strategien literarischer Kommunikation entwickelt habe und die der Akademie Platons neue Hörer gewinnen sollten. Wenn freilich die späteren Werke Platons "eine Entwicklung von größerer Dramatik, Lebendigkeit und Unsicherheit hin zu längeren Monologen, Didaktik und Dogmatik" erkennen lassen und dies als gewertet werden kann als "Ergebnis seiner [sc. Platons] erfolgreichen Erziehung einer ihm ergebenen und von ihm durchtrainierten Leserschaft, der er mit der Zeit allmählich immer mehr zutrauen kann" (18), dann hätte jene mythologische Paränese ihr Ziel vielleicht konterkariert, zum aktiven Besuch der Akademie anzuregen (17f.): Denn offenbar konnte in diesem Fall die Leserschaft durch Platons Werke, durchsetzt mit jenen meisterlichen 'exoterischen Mythen', auch dann etliches lernen, wenn sie darauf verzichtete, sich – wie von Platon gewollt – "der Akademie anzuschließen in der Hoffnung, dort endlich die ganze Wahrheit zu erfahren" (18).

Anschließend versucht Markus Janka in "Semantik und Kontext: Mythos und Verwandtes im Corpus Platonicum" (20–43), den Begriff 'Mythos' in seiner Platonischen Verwendung semantisch zu klassifizieren. Dabei geht er nach dem Grobraster 'dialogreferentiell' (gemeint: autoreferentielle Ausrichtung auf Platons Dialoge) vs. 'fremdreferentiell' aus. Diese in ihrer inhaltlichen Auffüllung etwas prekäre Dichotomie6 wird verschränkt mit der Dichotomie 'affirmativer/neutraler/ambivalenter Gebrauch' vs. 'negativer Gebrauch'. Jankas Untersuchung nimmt ihren Ausgang von einer unzutreffenden Feststellung7 und bleibt eine reihende Liste von kommentierten Einzelbelegen von m uÖq o ". So sie am Ende ihre Zielsetzung überhaupt erreicht, "ein differenzierteres Verständnis von mythos bei Platon gewonnen" zu haben (21), vermittelt sie nichts für ein besseres Verständnis von Platon als Mythologe, denn daß Mythos und Logos keinen absoluten Gegensatz bilden und mythos Konnotate von Narrativität und Fiktionalität trägt (43), konnte man bereits zuvor erahnen.8




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In seinem grundlegenden, bereits zuvor veröffentlichten und daher im vorliegenden Band des öfteren auch als sekundärliterarische Referenz auftretenden Beitrag "Die Wiederkehr des Mythos. Zur Funktion des Mythos in Platons Denken und in der Philosophie der Gegenwart" (44–57), der zugleich eine Verteidigung des Platonischen Logos und eine Kritik an postmoderner Logozentrismuskritik ist, weist Theo Kobusch dem Mythos bei Platon die Aufgabe zu, im Anschluß an die vom Logos getroffenen Aussagen dessen philosophische Wahrheiten zu veranschaulichen. Der Mythos erscheint somit dem Logos funktional deutlich nachgeordnet, da er "keine Wahrheit neben der Wahrheit des Logos verkündet, sondern diese nur in Bildern erzählt" (49). Kobusch ist der Ansicht, der Mythos könne ungeachtet seines 'Bilderüberschusses' in der Substanz des Dialogs nichts leisten, was nicht auch der Logos erreichen könne (vgl. bes. 48 Anm. 13). Damit steht Kobusch in Widerspruch zu einigen Befunden des vorliegenden Bandes9 und wird daher verschiedentlich kritisch angegangen.10

Bernd Manuwald untersucht anschließend in "Platons Mythenerzähler" (58–80), wie sich die Mythen in den Platonischen Schriften in bezug auf die jeweilige Sprecheridentität und in bezug auf deren Berufung oder Nicht-Berufung auf angeblich vorgängige Quellen interpretieren lassen. Deutlich wird dabei v.a. die große funktionale Streubreite der Platonischen Mythenverwendung, die vom Mythos als Wahrheitskünder bis zum Mythos als erfolglose, weil substanzlose (Lügen-)Geschichte reicht.

Michael Erler greift dann in seinem Beitrag "Praesens divinum. Mythische und historische Zeit in der griechischen Literatur" (81–98) über das textuelle Spektrum des Corpus Platonicum hinaus, um seine Ergebnisse danach auf den Timaios zu übertragen, näherhin auf das komplexe Problem, ob im Timaios von der Schöpfung als einem zeitlich einmaligen oder als einem zeitlich andauernden Prozeß die Rede ist. In einer facettenreichen Analyse mythologischer Zeitsemantik kommt er zu dem Schluß, in den untersuchten Texten, die von Homer und Hesiod her beginnen, liege in ihrer zunächst rätselhaften Mischung aus präsentischen und präteritalen Tempusformen ein relikthaftes Äquivalent des altindischen Injunktivs vor, und in den präsentischen Elementen dieser Mischung ein grammatisch erst noch näher zu definierendes 'praesens divinum', das aus der linear-diachronen, vom 'vorher' zum 'nachher' schreitenden erzählenden Entwicklung des Mythos heraus die der historischen Zeit enthobene mythische Zeitlichkeit und damit – aus der Perspektive historischer Zeit – Zeitlosigkeit signalisiert. Somit kann im Timaios trotz der linearen Erzählfolge eine Entbindung des Erzählinhalts von den Schemata historischer Zeit erkannt werden.

Der Argumentation von Kobusch nicht fern steht schon von ihrem Titel her die nun folgende Studie "Mythos als konkretisierter Logos. Platons Verwendung des Mythos am Beispiel von Nomoi X 903B–905D" (99–114) von Christian Pietsch, der an diesem Mythos exemplifiziert, inwiefern der Platonische Mythos dort Evidenz bereitzustellen hat, wo eine adäquate empirische Erfahrung, auf die der Logos rekurrieren könnte, nicht zur Verfügung steht. Dabei bietet der Mythos "idealisierte Empirie", "verdichtete, archetypische Wirklichkeit" (112), verbleibt dabei aber zwangsläufig "auf der Ebene des bloß Wahrscheinlichen" (113) und setzt den Logos zu seiner eigenen Geltung voraus. Fraglich bleibt nach dieser überzeugenden Interpretation lediglich, inwiefern (gerade angesichts des Ergebnisses von Manuwald, s.o.) sie sich auf alle Texte generalisieren läßt, die man gemeinhin als Platonische Mythen bezeichnet.




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(II)

Den zweiten Themenblock eröffnet Christian Schäfer mit "Herrschen und Selbstbeherrschung: Der Mythos des Politikos" (115–136), wo es um das Verhältnis von Mythos und analytischer Dihäresemethode geht. Dem Mythos wird das Vermögen attestiert, aus Aporien herauszuführen, die durch unbefriedigende Ergebnisse der Dihäresetechnik entstehen; dabei werden auch Seitenblicke auf die Rezeption des Mythos aus dem Politikos durch die Neoplatoniker geworfen.11

Damit ist bereits der außerordentlich intrikate Mythos (Politikos 268d–274e) angerissen, dem die beiden folgenden Beiträge von Christoph Horn ("Warum zwei Epochen der Menschheitsgeschichte? Zum Mythos des Politikos", 137–159) und von Christopher J. Rowe ("Zwei oder drei Phasen? Der Mythos im Politikos", 160–175) ein spannendes Streitgespräch widmen, in dem Horn für die traditionelle Annahme zweier Phasen der zyklischen Weltabläufe jenes Mythos plädiert, während Rowe die v.a. von ihm selbst und Luc Brisson verfochtene Drei-Phasen-Deutung verteidigt. Ohne an dieser Stelle auf die sehr komplexen Argumentationsmuster eingehen zu können, die beide Positionen nach sich ziehen, kann man doch festhalten, daß es der Drei-Phasen-Deutung bislang nicht gelingt, alle fundamentalen Fragen schlüssig zu beantworten, die Horn ihr mit unausweichlicher Dringlichkeit stellt.

Nach dem Politikos-Schwerpunkt führt Denis O'Brien in "Die Aristophanes-Rede im Symposion: Der empedokleische Hintergrund und seine philosophische Bedeutung" (176–193) zum Platonischen Gastmahl über, dessen Aristophanes-Rede mit ihrer Geschichte von der Teilung der ursprünglichen Kugelmenschen in ihre jetzigen geschlechtlichen 'Hälften' samt der Androhung einer nochmaligen Teilung aus der Zoogonie des Empedokles gespeist sei, die Platon parodiere. Der durchaus fesselnden These wird der zunächst geneigte Leser nach einiger Zeit eher betreten begegnen, da O'Brien überall in Haupttext und Anmerkungen überzogene, ins Persönliche abgeleitende Polemik gegen Andersdenkende (Malcolm Schofield, Christopher Rowe, Christopher Gill und zuletzt Sir Kenneth J. Dover) walten läßt, denen er meist übelnimmt, seine eigenen Bücher und Aufsätze nicht oder nicht richtig gelesen zu haben. Im englischen Original des Beitrags waren polemische Ausführungen offenbar noch weiter verbreitet als in der vorliegenden deutschen Übersetzung von Christian Schäfer (s. 185f. Anm. 22), was die Aufgabe der Übersetzers nicht eben leicht gemacht haben dürfte.




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Vom Symposion zum Timaios schwenkt der Blick des Lesers in "Die Bildlichkeit der platonischen Kosmologie. Zum Verhältnis von Logos und Mythos im Timaios" (194–213) von Walter Mesch, der den scharfsinnigen Nachweis führt, man habe beim kosmologischen Thema des Timaios, das prinzipiell kein genaues Wissen zulasse und sich insofern von der Thematik – und der möglichen Mythenverwendung – zahlreicher anderer Platonischer Dialoge unterscheide, 'logische' Rede vor allem auf den strukturellen Aspekt kosmischer Bildlichkeit (Kosmos als etwas Höherem analog), 'mythische' Rede dagegen vor allem auf ihren kausalen Aspekt (Kosmos als von etwas Höherem verursacht) zu beziehen. Bezüglich der Zeitlichkeit der im Timaois geschilderten Kosmogonie gelangt Mesch zu ähnlichen Ergebnissen wie Erler (s.o.).


(III)

Den dritten Block, der sich mit den Jenseitsmythen beschäftigt, eröffnet ein allgemeiner paraphrasierender Überblick über die Mythen der Apologie, des Gorgias, des Phaidon und der Politeia, den Joachim Dalfen unter dem Titel "Platons Jenseitsmythen: eine 'neue Mythologie'?" (214–230) bietet. Im Anschluß daran behandelt Georg Rechenauer die "Veranschaulichung des Unanschaulichen: Platons neue Rhetorik im Schlußmythos des Gorgias" (231–250) und gelangt zu dem überzeugenden Ergebnis, der Mythos des Gorgias sei zu seinem dialogischen Logos komplementär, da die dialogische Darlegung eine "Deckungslücke" offenlasse (244): sie weise das Sein der Seele noch nicht über die irdische Perspektive hinaus und verleihe somit der von Sokrates vertretenen Ethik nicht die letzte Bestätigung. Diese Lücke decke nun der Mythos ab, der somit eine von der des Logos deutlich verschiedene Aussage treffe. Wenn diese Leistung des Mythos freilich pauschal als 'neue Rhetorik' bezeichnet und damit ausschließlich als rhetorisches (nicht: als literarisches) Phänomen behandelt wird, bleibt das Problem der offensichtlichen Fiktionalität des Platonischen Mythos ungelöst, vor dessen Hintergrund man schwerlich ungebrochen über "die wahrheitserschließende Erkenntnisleistung des Mythos in der Enthüllung von Wirklichkeit" (247) reden wird können.

Um einen weiteren berühmten Jenseitsmythos geht es bei Theodor Ebert in "'Wenn ich einen schönen Mythos vortragen darf...'. Zu Status, Herkunft und Funktion des Schlußmythos in Platons Phaidon" (251–269). Es geht ihm um den Aufweis, daß Platons Mythos auf pythagoreisches Material zurückgreift. Daraus aber zu folgern, Platon wolle im Phaidon, der sich vor allem an "Platons pythagoreische[n] Freunde[n] in der Magna Graecia" (269) zu richten scheint, zuvörderst "Sokrates, den Erzähler dieser Erzählung, als in der Vorstellungswelt des Pythagoreismus verwurzelt dar[zu]stellen" und ihn "zum jenseitstrunkenen Vertreter einer Erlösungsreligion" machen (268), dies scheint am primären Zielpublikum der Platonischen Schriften und an Platons Interesse vorbeizugehen, eine Akademische Schultradition zu konstituieren.




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In passender Weise rundet Karin Alt mit "Zu einigen Problemen in Platons Jenseitsmythen und deren Konsequenzen bei späteren Platonikern" (270–289) den Themenbereich des Jenseitigen ab, wenn sie an ausgewählten Fragen der Platonischen Seelenlehre beschreibt, welche Antworten Plutarch, Porphyrios, Plotin und andere darauf zu geben hatten.

Einen glanzvollen Abschluß findet der Band in Arbogast Schmitts Reflexionen zu "Mythos und Vernunft bei Platon" (290–309). Schmitt greift nochmals auf das Verhältnis von Mythos und Logos zurück und verbindet dieses Problem mit Platonischer und Aristotelischer Kunst- und Literaturtheorie. In diesem spannungsreichen Zugriff zeichnet sich schnell ab, daß ein modernes Mythosverständnis, wonach sich der Mythos an die konkrete Anschauung, das konkrete Bild, die konkrete Geschichte bindet und in dieser Bindung "die Auszeichnung, das Ursprüngliche und Echte des Mythos" zutage tritt (299) – so daß diesem Mythos die rationale 'abstrahierende' Weltsicht als Gegenstück gegenübertreten kann –, aus Platonischer Perspektive ganz unangemessen ist.12 Vielmehr nähert sich der Mythos derselben Sache wie die Vernunft (Schmitt vermeidet meist, hier 'Logos' zu sagen): nur geht die Vernunft logisch-rational vor und stellt die Erkenntnis der Funktion des in Rede Stehenden in den Mittelpunkt, während das mythische Denken als empirisches Denken sich in didaktisch-subjektiver Weise der Sache von ihrer phänomenalen Seite her nähert und dabei zwar anschaulich ist, aber nicht bei den Bildern stehenbleibt, sondern über die anschaulichen Bilder ein begriffliches Wissen vermitteln will. Dabei ist die Operationsrichtung des Logos – obwohl Schmitt auch diese Termini vermeidet – offenbar eher deduktiv, während der Mythos induktiv gerichtet ist. Freilich wäre hier noch zu fragen, ob nicht etwa die elenktisch-dialektischen Verfahren besonders der älteren Dialoge, die man doch eher 'der Vernunft' als 'dem Mythos' zuschlagen möchte, wie der Mythos Schmitts gleichermaßen 'empirisch' sind und sich der Sache gleichermaßen von den Erscheinungsformen her nähern. Daß aber auch damit der Begriff des Mythos sich aus seiner starren Antithese zum Logos zu lösen und sich statt dessen mit ihm zu verschwistern begänne, wäre wohl ganz im Sinn des abschließenden Diktums: "Der beste Mythos ist also ein didaktischer Logos, der beste Logos ein rationaler Mythos" (309).

Der vorliegende Band läßt auf die Aufsätze noch eine "Bibliographie" (311–326) folgen, an der sehr positiv auffällt, daß es sich um eine Gesamtbibliographie zu allen Beiträgen des Bandes handelt. Leider sind nicht alle Anmerkungen des Bandes mit letzter Genauigkeit auf die Bibliographie abgestimmt.13

Was bleibt als Fazit? Trotz der hier vorgebrachten Einschränkungen haben die Herausgeber eine wertvolle Publikation vorgelegt, der zu wünschen ist, daß sich die editorische Hoffnung auf eine Neubelebung der deutschsprachigen Forschung zu Platons Mythen durch sie erfüllen möge. Dann wären auch Aspekte in stärkerem Maße zu berücksichtigen, die der Band nicht behandelt hat, so z.B. eingehende Untersuchungen der spezifischen rezeptionsgeschichtlichen Aspekten der Mythen – etwa bezüglich des Verhältnisses von Mythos und Allegoresepraxis bei den Neoplatonikern und ihren rinascimentalen Nachfahren – und analytische Reflexionen bezüglich des Konnexes von Mythos und Fiktionalität, die den Weg ebnen könnten für eine kompetente klassisch-philologische Beleuchtung Platonischer Mythen von erzähltheoretischer Warte aus.




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Bibliographie

Binder, Gerhard / Effe, Bernd (Hg.) (1990): Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität. Trier: WVT (= Bochumer Altertumswissenschaftliches Kolloquium 2).

Hempfer, Klaus W. (2002): "Lektüren von Dialogen", in: K. W. Hempfer (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart: Steiner, 1–38. (= Text und Kontext 15)

Liddell, Henry George / Scott, Robert (91940): A Greek-English Lexicon, revised and augmented throughout by Sir Henry Stuart Jones. With a supplement 1968. Oxford: Oxford University Press. [Zahlreiche Nachdrucke.]

Nestle, Wilhelm (1940, 21941): Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart: Kröner. [Nachdrucke Aalen: Scientia 1966, Stuttgart: Kröner 1975.]

Platon (1900–1907): Platonis opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, 5 Bde. Oxford: Oxford University Press. [Zahlreiche Nachdrucke.]


Anmerkungen

1 Platon, Protagoras 320c. Übersetzung B.H. unter Verwendung der kritischen Platon-Ausgabe von Burnet.

2 In Binder/Effe (1990: 13–32).

3 Einige grundlegende Überlegungen zur Problematik der literarischen Gattung 'Dialog', mit weiterführender Literatur, finden sich bei Hempfer (2002), der seinen Ausgang von Platons Phaidros nimmt.

4 So beispielsweise "Hesiod, theog" (66 Anm. 34, 70 Anm. 55, 84 Anm. 9–10, u.ö.), "Homer, hymn Herm" (84 Anm. 11, 90 Anm. 39), "Homer, hymn Aphr" (90 Anm. 39), "Plotin Enn." (51 Anm. 26, u.ö.), "Pindar Ol" (271 Anm. 7), Aristoteles "NE" (130), Maximos von Tyros "Or" (282 Anm. 43) oder "Hippolytos Refut." (287 Anm. 67).

5 Wir sagen "in ihrer überwiegenden Mehrzahl" und "strikt", weil Most ein kommunikationsanalytisches Modell bietet, dessen acht einzelne Parameter nicht ausschließlich nach der Kommunikationssituation fragen, sondern auch nach inhaltsbezogenen Merkmalen, die theoretisch eher außerhalb der kommunikativen Vermittlung des Mythos stehen: so z.B. die Frage, ob der Inhalt eines Mythos 'nachprüfbar' oder eben 'nicht nachprüfbar' sei, da er ja aitiologisch von den 'ersten Dingen' oder eschatologisch von den 'letzten Dingen' handle (12).




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6 Das liegt bes. daran, daß definitorisch 'dialogreferentiell' von 'fremdreferentiell' gar nicht eindeutig qualitativ, sondern eher quantitativ-extensional abgesetzt wird: "1) Unter dialogreferentiell verstehe ich die Anwendung von mythos-Vokabular – auch in Vergleichen – auf im jeweiligen Gesprächszusammenhang ausführlicher behandelte oder gar für diesen Kontext weitläufiger entwickelte sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene. 2) Fremdreferentiell sei demgegenüber die Anwendung von mythos-Vokabular auf sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene, die im Gespräch zwar erwähnt sind, ohne aber als mythoi o.ä. näher ausgeführt oder ausgestaltet zu werden" (22). Die generelle Problematik von Autoreferentialität wird nirgends wirklich erfaßt. Zwischen gehaltlich-propositionaler Selbstreferenz und formal-strukturaler Selbstreferenz wird nicht reflektiert unterschieden (vgl. z.B. 26).

7 "Am Anfang waren mythos und logos ihrer Bedeutung nach eins" (21). Diese Behauptung, die im Fazit (43) wieder aufscheint und auch im Beitrag von Dalfen in ähnlicher Weise aufgestellt wird (216), trifft so natürlich nicht zu. Abgesehen davon, daß zwei Termini niemals 'ihrer Bedeutung nach eins' sein können, belehrt schon ein Blick in das klassische Lexikon von Liddell & Scott (1940) s. vv. m uÖq o " und l ovg o ", daß dem m uÖq o " das Element des Rationalen, Strukturierten, Rechnerisch-Mathematischen abgeht, welches der l ovg o " aufweist. Deswegen kann m uÖq o " dann die Konnotate des Fiktiven usw. nach sich ziehen, während l ovg o " sich auf die rationale dialektische Analyse beziehen läßt, die m uÖq o " in diesem engen Sinn auch bei großzügiger Auslegung nicht bezeichnet. Daher hat Kobusch recht: "Ursprünglich werden von den Griechen die Begriffe Mythos und Logos zwar unterschieden, aber nicht einander entgegengesetzt" (44).

8 Mutatis mutandis bietet ein im vorliegenden Band zu lesender Satz von Walter Mesch – der sich freilich auf den Timaios bezieht – eine angemessene Kritik an Jankas Vorgehen: "Interessant ist das Verhältnis von eikos logos und eikos mythos nicht wegen möglicher Wortverwendungen, sondern wegen der sprachlichen Artikulation begrifflicher Verhältnisse, die für die platonische Philosophie von Bedeutung sind" (212).

9 Siehe etwa unten zum Beitrag Rechenauer; vgl. Manuwald (65, 67 mit Anm. 39), Schäfer (118f.) und Mesch (197).

10 Vgl. etwa die Wertung von Dalfen: "Am Klischee vom Gegensatz 'logos-mythos' hält z.B. Th. Kobusch fest [...] der hier nur als ein Beispiel dafür steht, welche Probleme philosophische Interpreten noch heute mit Platons Mythen haben" (216 Anm. 5).

11 Dabei schließt sich Schäfer (131f.) der Proklosschen Deutung des Mythos an, obwohl seine eigene überzeugende Interpretation (130f.) uns damit nicht vereinbar, ja sogar der Interpretation des Proklos entgegengesetzt scheint.

12 Der gegenstandsgebundene, auf das rein Bildliche begrenzte Mythos wäre wohl auch der traditionelle Mythos, dem Platon eine andere Mythos-Auffassung gegenüberstellt. Welche Position freilich Platon gegenüber den herkömmlichen (homerischen usw.) Mythen eingenommen habe, darüber sagt Schmitt Unterschiedliches (vgl. 299 mit 307).

13 So ist unklar, welches Werk von "Brisson [1994]" in 101 Anm. 11 zitiert wird, und so fehlen Werke von Ebert (268 Anm. 19), Riedweg/Ps.-Justin (277 Anm. 30) und Dodds/Proklos (287 Anm. 68) in der Bibliographie, während zu Nestles Vom Mythos zum Logos unterschiedliche Angaben gemacht werden (vgl. 198 Anm. 3 mit 321).

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