PhiN 29/2004: 21



Anne Chalard-Fillaudeau (Lille)



Rembrandt als germanisches Kultursymbol



Rembrandt as a German Cultural Symbol
The existence of a mythology related to the figure of Rembrandt in Germany, as well as the cultural significance connected to the name and work of the Dutch artist, raise a number of specific questions in regard to his relation to the German cultural landscape and, more specifically, about his representation in German culture. Therefore, studying the ways Rembrandt has been used as a point of reference in various German discourses – such as art history, literature and philosophy – enables us to understand why he must be considered a German cultural symbol. Moreover, it allows us to explore some very specific cultural, intellectual, and symbolic phenomena that took and still take place in Germany. From this perspective, the following analysis first aims at describing the factors and circumstances which account for Rembrandt’s symbolic valorisation; followed by a discussion of different aspects of the cultural symbol "Rembrandt", i.e. the specific representations of Rembrandt and their modalities in the work of certain German authors. Finally, the essay attempts to approach the question of the German image of Rembrandt and its specificity in a European context.


Die Beziehung Rembrandts zur deutschen Kultur- und Geistesgeschichte, oder besser die Beziehung der deutschen Autoren und Denker zu dem holländischen Künstler wurde nur wenig untersucht oder gar besprochen. Daher gilt es, dieses Verhältnis etwas näher zu betrachten, insoweit es eine je nach der Zeit und den kulturellen Paradigmen variierende Einstellung beleuchtet, die wohl mit kulturgeschichtlichen Entwicklungen beziehungsweise literarischen und geistigen Phänomenen zusammenhängt.

Ist die diskursive Behandlung Rembrandts ein typisch deutsches Phänomen? Ist die Rembrandtfigur ein eigentümliches Merkmal der deutschen Kultur? Dagegen spräche, dass viele französische, holländische und englische Autoren dem Rembrandtbild einen zentralen Platz zuweisen. In vielen europäischen Werken zeigt sich jene spezielle Verschiebung, die die historisch-empirische Figur hinter die diskursive verdrängt. Aber es ist nicht minder wahr, dass das Phänomen in der deutschen Literatur besonders akzentuiert ist – die Namen Goethe, Hegel, Hofmannsthal und Simmel mögen als Beleg dienen –, und von der Feststellung einer Spezifizität zur Behauptung der es ist nur ein kleiner Schritt, der leicht getan wird. Ohne es zu tun, wollen wir dennoch dieser Spezifizität Aufmerksamkeit schenken und insbesondere den deutschen Diskurs über Rembrandt interpretieren, wobei das Wort 'Diskurs' auf die Gesamtheit der Äußerungen über den Künstler hinweist. Das Wort 'Deutsch' ist auch gewissermaßen extensiv, insofern es eine kulturelle Konstellation bezeichnet, die über alle ethnischen und religiösen Unterschiede hinaus in einem durch die gemeinsame Sprache erweckten und unterstützten Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit gründet.

Die Analyse wird sich in drei Teile gliedern. Und zwar wird sie sich zuerst auf die Raum- und Zeitfaktoren der Rembrandtdarstellungen beziehen, also auf die Prämissen, welche die Vorstellungen von Rembrandt bestimmen. Dann wird sie auf einige Autoren speziell eingehen, um die kulturellen und zeitbedingten Translationen des Rembrandtbildes zu verdeutlichen und dessen Gehalt aufzudecken. Schließlich wird der Vergleich mit den anderen europäischen Nationen gezogen werden, um der Frage der Einzigartigkeit der deutschen Gesinnung auf den Grund zu gehen. Damit sollen die Reibungs- oder Berührungspunkte mit anderen Nationen in Bezug auf die Gleichung 'Rembrandt als Kultursymbol' ins Licht gerückt werden und die Heterogenität der deutschen und insgesamt europäischen Rembrandtdarstellungen in einer Homologie aufgehoben werden, nämlich der des Genies.




PhiN 29/2004: 22


1 Voraussetzungen der Rembrandtdarstellungen

Um die Zeitgebundenheit des Rembrandtbildes sowie die Erhebung des holländischen Künstlers zu einer prominenten Figur des deutschen Diskurses zu verstehen, lohnt es sich, einige Aufmerksamkeit auf das 18. Jahrhundert zu wenden, das als Folie für das 19. Jahrhundert gilt und von einem dauerhaften eigenartigen Interesse für den Künstler zeugt.

Deutlich soll zwischen zwei Sphären der Rezeption unterschieden werden: Einerseits orientieren sich die Akademiker an den klassizistischen Regeln und verwerfen die sich über alle Kunsttheorien hinwegsetzenden Werke Rembrandts; andererseits richtet sich der Geschmack der Kunstkäufer und vieler Künstler nicht nach den glatten Idealkompositionen der Akademiker, sondern sucht Befriedigung bei der kuriosen, faszinierenden Kunst des Holländers. Soviel steht fest, zumindest nach Susanne Heiland und Heinz Lüdecke, die eine zwar parteiische (in dem Sinne, dass der Rezeption Rembrandts durch die Republikaner eine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt wird), doch bündige Geschichte der Rezeption Rembrandts geschrieben haben:

Vom Siebzehnten Jahrhundert an hat Rembrandts Kunst unzählige Maler und Graphiker beschäftigt – Schüler, Nachahmer, und selbständige Persönlichkeiten, die durch die Berührung mit dem großen Vorbild zu sich selber fanden – und dazu eine unübersehbare Menge von Sammlern und Kunsthändlern. (Heiland / Lüdecke 1960: 8)

Im Gegensatz dazu äußern die Vertreter klassizistischer Kunstanschauungen lange nachwirkende Vorbehalte gegen Rembrandt, die sich hauptsächlich um seinen plebejisch gefärbten Naturalismus und seinen bedenkenlosen Ikonoklasmus herauskristallisieren. Das Spektrum der Kritiker erstreckt sich hier vom Leiter der deutschen Anhänger des Klassizismus, Johann Joachim Winckelmann, der Rembrandt unter die "Affen der gemeinen Natur" (Winckelmann 1990: 60) setzt, bis zum bahnbrechenden Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing, der zwar der Romantik und neuen Kunstanschauungen eine Tür öffnet, sich jedoch noch im Laokoon (1766) für den klassizistischen Impetus körperlicher Schönheit einsetzt und daher Rembrandt in den Kollektaneen zur Literatur (1790) anprangert: "Die rembrandtische Manier schickt sich zu niedrigen, possierlichen und ekeln Gegenständen sehr wohl" (Lessing 1857: 506). Diese Gegenstände findet er direkt im gemeinen Volk oder im Alltagsleben, was von dem deutschen Kunstkritiker Johann Heinrich Füssli als höchst anstößig angesehen wird. Diese Ansicht teilt auch Joachim von Sandrart, ein deutscher Maler und Kunstkritiker, der zur Zeit Rembrandts in Holland arbeitete und den holländischen Künstler während seines Aufenthaltes getroffen haben mag. Darüber hinaus vertritt Sandrart jene antiken und klassizistischen Dogmen der Schönheit und Perspektive, die in seiner Teutschen Akademie (1675) einen Niederschlag finden. Kein Wunder also, wenn Rembrandt als ein Ikonoklast erscheint:




PhiN 29/2004: 23


Er […] scheute sich nicht, wider unsere Kunstregeln, als die Anatomia und maß der menschlichen Gliedmaßen, wider die Perspektiva und den Nutzen der antiken Statuen, wider Raffaels Zeichenkunst und vernünftige Ausbildungen, auch wider die unserer Profession höchst nötigen Akademien zu streiten und demselben zu widersprechen, vorgebend, dass man sich einzig und allein an die Natur und keine anderen Regeln binden sollte […]. (Sandrart 1925: 202)

Der Ikonoklasmus Rembrandts besteht nicht nur in einer Verdrehung der Form, sondern auch in einer gewissen Kleckserei, so übertrieben und beißend erscheinen seine Farben. Vom Gesichtspunkt des Inhaltes aus deckt sich der Ikonoklasmus des Künstlers mit einem Verstoß gegen die Geschichte und den Anstand. Seine Kunst emanzipiert sich nämlich von der konventionellen Geschichtsmalerei und verletzt dabei den Anstand, insoweit sie triviale Szenen beschreibt. Als schlagender Beweis dafür kopulieren zwei Hunde im Bild Predigt Johannes des Täufers (1634, Berlin) oder ein Hund verrichtet sein Geschäft auf dem Weg in der Radierung Der barmherzige Samariter (1633). Dies gilt als ein unverschämter Angriff auf den französischen Kodex, der die Kunst durch das Prisma der Geschichtsmalerei, der Zeichnung und des guten Geschmackes reflektiert und einen unbestreitbaren Einfluss auf die deutschen Kunstanschauungen der Zeit ausübt.

Wenden wir uns jetzt den Bewunderern Rembrandts zu, die ausgerechnet vom trivialen Naturalismus und der Vermessenheit seiner Formen und Farben direkt angesprochen werden.. Es ist in der Tat zu bemerken, dass sie all' das verehren, was die Akademiker verwerfen. Damit ist aber noch nicht alles gesagt: Sie legen im Grunde ein heftiges allseitiges Interesse an den Tag, das über jede Bewunderung hinaus auf eine Art Besitzergreifung oder gar auf einen Prozess der Aneignung schließen lässt. Was soll das heißen? Nichts anderes, als dass die Werke Rembrandts von den Museen und Kunsthändlern massiv erworben werden und dass viele deutsche Künstler sich anmaßen, à la Rembrandt zu malen oder auch sein Werk zu kopieren, als hätte ihnen der holländische Künstler jedes Recht auf sein Werk vermacht. Mit anderen Worten, es entsteht eine Rembrandt-Idolatrie, die sich in einer neuen, als 'Rembrandtisieren' zu bezeichnenden Kunsttendenz niederschlägt, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Als Beispiel dafür malen viele Künstler in Frankfurt, unter ihnen Trautmann, Brinckmann, Seekatz und Nothnagel, Bilder nach Art von Rembrandts Werken, sofern sie diesen ihre Motive und stilistischen Züge entnehmen.

Es erscheint legitim, auf die historisch-gesellschaftlichen, geographischen und kulturellen Faktoren einzugehen, die diese 'Aneignung' begründen, indem sie sie mit einer Suche nach nationaler Identität in Zusammenhang bringen. Hier soll auf folgende Frage geantwortet werden: Weshalb wurde Rembrandt im 18. Jahrhundert als ein Held betrachtet und, noch mehr, zum Vertreter des germanischen Wesens erkoren?




PhiN 29/2004: 24


Zunächst muss die räumliche und zeitliche Verwurzelung Rembrandts in Betracht gezogen werden, die dafür sorgt, dass der Holländer kein zwischen zwei verschiedenen geographischen Zonen hin- und her gerissener Künstler, sondern ein in den jeweiligen holländischen und deutschen Sphären fest verankerter Beobachter seiner Zeit ist. Anders gesagt, Rembrandt ist zugleich ein Deutscher und ein Niederländer, wobei man daran erinnern darf, dass das Wort 'Deutscher' auf jene weite geistige Gemeinschaft verweist, zu der sowohl der Deutsche als auch der Österreicher und der Schweizer gehören. Denn die Rheinzone deckt einen 'Mischraum' ab, in dem sich deutsche und holländische Einflüsse derart begegnen, dass man die beiden Gebiete nicht strickt voneinander abgrenzen kann. Eben diese Mischzone lässt sich als 'niederdeutsches Gebiet' bezeichnen: Der Künstler aus Leiden ist ein authentisches Produkt dieser Zone. Man bedenke, dass diese geographische Zusammengehörigkeit den hegemonialen Ansprüchen mancher deutschen und österreichischen Staatsmänner zugrunde liegt, die für den Anschluss Hollands als einer deutschen Enklave eintreten. Zum geographischen Moment kommt das historische hinzu, das stark dazu beigetragen hat, beide Länder zu verbinden.

Der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass die Kontakte zwischen den germanischen Stämmen der Bataver und Friesen bzw. den keltisch-germanischen oder rein keltischen Volksgruppen südlich des Rhein-Maas-Schelde-Deltas in römischer Zeit zahlreich waren. Es kam infolgedessen zu einem gewissen Sprach- und Kulturausgleich. Bei der Reichsteilung 843 ging Flandern westlich der Schelde an Frankreich, der übrige Raum um Maas, Schelde und Rhein an Lothringen (= Lothari regnum) und 879/925 an das ostfränkische, später Heilige Römische Reich. Die spätere, durch viele Bündnisse und Vermählungen skandierte Entwicklung des Gebietes lief im 15. Jahrhundert auf eine Spaltung hinaus, wobei der Norden an das Haus Habsburg kam; schließlich führten neue Bündnisse dazu, dass die siebzehn nördlichen Provinzen unter spanische Vorherrschaft kamen. Bekanntlich lehnten sich die Provinzen gegen den politischen, finanziellen und religiösen Druck auf und letzten Endes sagten sich sieben Provinzen (Holland, Seeland, Utrecht, Geldern, Overijssel, Friesland, Groningen) 1581 ganz von Spanien und dem Hause Habsburg los und bildeten die Republik der Vereinigten Niederlande. Trotz der Anerkennung der Unabhängigkeit im Jahre 1648 unterstand der Republik der Gewalt von Regenten, die oft von deutscher oder österreichischer Herkunft waren. All dies lässt immerhin auf die Dauerhaftigkeit der Bindungen zwischen den deutschen und holländischen Geschicken schließen – nebenbei gesagt sollen die Benennung 'Holland' und das Adjektiv 'holländisch' nicht exklusiv auf eine Provinz der Vereinigten Niederlande hinweisen, sondern inklusiv auf eine kulturelle Idiosynkrasie, die eine interessante Beziehung zu einer Nachbarkultur pflegt.

Die historische Perspektive verwischt die Grenzlinie zwischen den deutschen und holländischen Gebieten. Hießen die Niederlande im Mittelalter nicht 'Niederdeutschland'? Ist die niederländische Sprache nicht mit der deutschen verwandt? Es ist also kein Wunder, wenn die Deutschen danach strebten, Rembrandt zu 'germanisieren', was sie umso skrupulöser taten, als Holland und Deutschland, die sich von demselben Land genährt haben und durch gemeinsame Stammes- und Geschichtswurzeln verbunden sind, gemeinsame physiologische und psychologischen Züge aufweisen.




PhiN 29/2004: 25


Die Reiseberichte der deutschen Autoren – und namentlich die Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790 von Georg Forster (1791–1794) – belegen, dass sich die Deutschen im 18. Jahrhundert der physiologischen und vor allem psychologischen Züge bewusst sind, die sie und ihre Nachbarn verknüpfen. Zu den als für das germanische bzw. holländische und deutsche Wesen typisch bezeichneten Zügen gehört unter anderem der unverkennbare Trieb, gelassener, besonnener, umsichtiger, beharrlicher und fleißiger zu sein als die Individuen anderer Völker. Es heißt in diesem Zusammenhang, dass die Deutschen und ihre Nachbarn mehr auf Wahrheit und Innerlichkeit bedacht seien. Eine solche Idiosynkrasie findet selbstverständlich ihren Niederschlag in der Kunst, nämlich in der meisterhaften Farbgebung, der Eigenartigkeit der Formen und Charaktere, der Innigkeit des Ausdrucks, der Treue gegenüber der Natur, der Lebhaftigkeit und Tiefe der Empfindung, um nur einige Kennzeichen zu nennen, die zum Beispiel von dem deutschen Kunsthistoriker Heinrich Gustav Hotho im 19. Jahrhundert thematisiert wurden. In dieser Hinsicht fungiert die holländische Kunst als ein Spiegel, der den Deutschen ein Bild ihrer künstlerischen Kultur und, darüber hinaus, ihrer Gemütsart widerspiegeln würde. Fügt man noch hinzu, dass Holland durch seine wirtschaftliche Dynamik, seine Seeherrschaft, seine ökumenische Aufnahme unterschiedlicher Glaubensbewegungen, seine kulturelle Aura (die hervorragendsten europäischen, meist verfolgten Gelehrten der Zeit haben in Holland Zuflucht gefunden) und seine Wahrung der Rede- und Gedankenfreiheit eine starke Faszination ausübt, dann bekommt man den Schlüssel für die Anziehungskraft Hollands und den daraus entspringenden deutschen Willen, sowohl materielle als auch geistige Bande mit dem Nachbarn zu knüpfen. In diesem Zusammenhang steht das Werk Rembrandts für das vollkommenste Produkt mitsamt der höchsten Versinnbildlichung der soeben erwähnten Hauptmerkmale Hollands.

Aus der geographischen, historischen, physiologischen und psychologischen Verwandtschaft ergibt sich im Grunde genommen, dass die Deutschen ihre 'Schnittpunkte' mit Holland immer wieder hervorkehren, um sich ein sowohl verwandtes als auch fremdes Gegenüber zu schaffen, das ihnen zu einer besseren Auffassung ihres Wesens verhilft. Und zwar spielt der Bruder meistens die Rolle einer optischen Brechung, das heißt, dass er gleichsam ein etwas verschobenes Spiegelbild unserer Person bricht, das es uns ermöglicht, durch einen Prozess des Differenzierens zu unserem Wesen vorzustoβen. Deutschland und Holland lassen sich ja unmöglich identifizieren, da sie zwei auseinanderrückende Nationen sind – Relief und Klima sind nicht überall gleich; es wird jeweils Deutsch und Niederländisch gesprochen; das Schicksal hat jedem das Seine zugeteilt; sie haben unterschiedliche Wege der Entwicklung eingeschlagen; und doch haben diese Nationen derartige gemeinsame Punkte, dass sie sich jede in der anderen, jede durch die andere (an)erkennen. Wenn der Unterschied das Requisitum der Ähnlichkeit ist, dann führt die Ähnlichkeit zu einer Art des 'Selbstbewusstwerdens'. So beobachten sich die Deutschen in ihrem 'holländischen Spiegelbild', um eine identifikatorische Verankerung zu finden und dabei ihre Spezifizität zu ergründen. Daher streben sie danach, sich Rembrandt sozusagen anzueignen: Der holländische Künstler ist glänzender Bestandteil des germanischen Wesens, das er auf seine Leinwand sublimierend überträgt.




PhiN 29/2004: 26


Wie zutreffend jene Identitäts-Problematik ist, wird auch durch die ideologische Aneignung des Künstlers bestätigt, der im 18. Jahrhundert zu nationalen, wenn nicht nationalistischen Zwecken instrumentalisiert wird (würde das Wort "nationalistisch" nicht anachronistisch klingen). In der damaligen Zeit kommt es tatsächlich in Deutschland zu einer Widerstandsbewegung, die das bestehende, erdrückende System der fürstlichen Herrschaft angreift und als Korrelat dazu sich gegen den Einfluss des französischen feudalistischen Absolutismus auflehnt, indem sie sich auf die deutschen Volksbräuche bzw. die volkstümliche Überlieferung beruft. In diesem Zusammenhang erscheint das Interesse für den Nachbarn Holland als eine politische, ideologische Stellungnahme. Es geht insbesondere darum, den französischen Einfluss zu erschüttern. Der Rückgriff auf Rembrandt macht dabei jenes dringende Verlangen nach Freiheit und bürgerlicher Repräsentation anschaulich, das anscheinend lediglich im Holland des 17. Jahrhunderts und den germanisch und volklich eingestellten Werken seiner Kunstmeister gestillt werden soll. Es ist dann kein Wunder, wenn die deutschen Handelsstädte, in denen ein ziemlich unabhängiges Bürgertum lebt, dem holländischen bürgerlichen Realismus höchst freundlich gegenüberstehen und ab dem 17. Jahrhundert Hamburg zu einer Enklave der holländischen Kultur auf deutschem Boden wird. Die bürgerlichen Häuser erwerben beispielsweise Tausende von holländischen Gemälden, unter denen viele für Werke Rembrandts gehalten werden. Auf analoge Weise gibt es in Frankfurt etwa achtzig Privatgalerien, die mehrheitlich Bilder von holländischen Künstlern ausstellen. Viele Frankfurter Sammler prahlen damit, dass sie Werke von Rembrandt besitzen – nebenbei gesagt, oft zu Unrecht, denn schon ab 1630 stellt die berühmte Merian-Werkstatt Kopien von Radierungen Rembrandts her, die die Sammlungen des Frankfurter Bürgertums 'bereichern'. Hat man demnach allen Grund zu sagen, dass sich Rembrandt im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute, so sollte man sich doch davor hüten, ihn nur und einzig auf eine politische und strukturelle Antwort auf die feudalistische Sklerose des französischen Absolutismus zu reduzieren. Der politische Faktor erklärt zwar teilweise die Bewunderung für Rembrandt, aber diese Bewunderung ist vor allem auf den eigentlichen Wert seiner Kunst zurückzuführen, wie wir bald sehen werden.

Zu den Voraussetzungen der Rembrandt-Darstellungen kann man also abschließend sagen, dass die Rembrandt-Rezeption weit über den ästhetischen Rahmen hinausgeht, um eine moralische und metaphysische Dimension anzunehmen. Anders gesagt, Rembrandt ist mehr als ein Mitbürger, ein geistiger oder auch biologischer Bruder, er ist eine Projektion gewisser deutscher Ängste, Wahnvorstellungen oder Phantasiebilder. Er ist gleichsam das holländische Spiegelbild, dessen Fehler – den Mangel an Anstand und Geschmack – die Deutschen brandmarken können, um sie in ihrer Praxis auszutreiben, und dessen Eigenschaften – die Farbgebung und Geistigkeit – die Deutschen hypostasieren können, um eine Art Muster oder gar eine Lesebrille zu gewinnen, die ihnen den Zugang zu ihrem eigenen Ethos vermittelt. Eine würdige Huldigung für einen Künstler, der gar keinen weiteren Horizont gekannt haben dürfte als den der holländischen Städte Leiden und Amsterdam.




PhiN 29/2004: 27


2 Kontextuelle Verschiebungen der Rembrandtdarstellungen

Im Folgenden werden Zeitgebundenheit und -bedingtheit des Rembrandtbildes in den Blick genommen, ein Bild, das als Dokument für kulturelle Paradigmen oder – sagen wir – Ideenschemata relevant ist: Wird Rembrandt im 19. Jahrhundert im Sinne einer Selbstverherrlichung als höchste Inkarnation der deutschen Seele gedeutet, wird er zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als nationalistisches Sinnbild umfunktionalisiert. Schließlich steht er während der Nazi-Zeit im Zeichen des Pangermanismus. Die Figur 'Rembrandt' lässt sich aber nicht einzig auf besagteIdentitätsproblematik reduzieren. Im Grunde genommen verschränken sich unter der Bezeichnung Rembrandt zahlreiche diskursive Repräsentationen, die das sinnstiftende Potential der Figur 'Rembrandt' klar andeuten: eine Figur, die alternativ oder gleichzeitig, je nach der Zeit und dem Autor die Autonomie, die Originalität, die Modernität, die Rätselhaftigkeit und die Genialität signalisiert. Alle diese Facetten können wir im Rahmen eines Artikels leider nicht ausführlich behandeln; dafür wollen wir die Beziehung einiger deutscher Autoren zu Rembrandt erforschen, insoweit sie einerseits den sinnbildlichen Gehalt der Figur, andererseits das emotionale bzw. eigenartige Verhältnis der Deutschen zu dem holländischen Künstler ans Licht bringt.

Bezeichnenderweise wird der Künstler zum Prüfstein der künstlerischen Theorien Goethes und vor allem von dessen romantischem Synthetismus. Er ist die problematische, nur schwer zu kategorisierende Figur, anhand deren sich verschiedene künstlerische Affinitäten in den Schriften Goethes zu einer eigentümlichen Synthese verdichten. Goethe steht im Grunde am Kreuzweg unterschiedlicher Disziplinen – der geniale Schriftsteller war auch ein anerkannter Spezialist der Wissenschaft und der Kunst, der unter anderem Von deutscher Baukunst (1772) und Farbenlehre (1810) schrieb –, was die synkretistische Natur seiner Rembrandt-Rede teilweise erklärt. Aber was zu diesem Synkretismus größtenteils beiträgt, ist die glückliche Begegnung zwischen einer vielseitigen kritischen Veranlagung seitens Goethes und einer zum Universellen, Allumfassenden strebenden künstlerischen Veranlagung seitens Rembrandts. Dass sich Goethe für Rembrandt interessierte, sollte in der Tat kein Grund zur Verwunderung sein, wenn man bedenkt, dass er mit 'Rembrandtisten', die für seinen Vater arbeiteten, Umgang pflegte, und insbesondere mit zwei Frankfurter Malern, J. G. Trautmann und J. K. Seekatz, deren Gemälde für schwache, ungenaue Nachahmungen Rembrandts gehalten werden können. Aus dieser Konstellation erklärt es sich, dass Goethe, der bis auf einige Radierungen kein Originalwerk gesehen hatte, die Kunst Rembrandts mit einem etwas getrübten Blick erfasste. Dem ist hinzuzufügen, dass Goethe die Figur des holländischen Künstlers und deren Bedeutung von seinen eigenen Kunstanschauungen ableitete, was anders gesagt bedeutet, dass die Figur 'Rembrandt' in den Schriften Goethes nichts anderes als eine diskursive Emanation seines theoretischen Verständnisses der Kunst und seiner künstlerischen Idiosynkrasie ist. Ludwig Münz hat es in seinem Buch Goethes Zeichnungen und Radierungen eindeutig ausgesprochen:




PhiN 29/2004: 28


Seinen Augen, die geschaffen sind, so klar und schnell zu sehen, ist es nicht gegeben, die ganze Magie des Zwielichtes, der Vielfalt des Helldunkels zu erleben und damit die Wahrheit jenes Lichtes, jener Dunkelheit zu erfassen, die in Rembrandts Werken leben. Auch wo Goethe Rembrandt nahe ist, damals in der Jugend und ganz spät im Alter, muss man an seinen Deutungen von Werken Rembrandts feststellen, dass er immer etwas zu Definitives, Klares in seine Interpretation Rembrandts bringt. Hell und Dunkel hat für Goethe, der alles plastisch, klar sehen will, einen einfacheren Sinn. (Münz 1949: 32)

Interessant ist Münz’ Auffassung, nach der das Beispiel des Holländers dem großen Autor trotz aller irregeleiteten Interpretation Mut und Kraft, sich in Strichen auszudrücken, eingeflößt hätte, als hätte der Rembrandtsche Überschwang einen dynamisierenden Einfluss auf Goethe ausgeübt und ihn von der strengen französischen Linie emanzipiert. So sind einige Zeichnungen Goethes gleich denen Rembrandts, das heißt ungestüm und lebendig, hingezeichnet; die Rembrandtsche Freiheit des Strichs erkennt man darin am vibrierenden Spiel der Linien und am rein Motorischen der Graphik. Die Anlehnung an Rembrandt eröffnet also eine Ausdrucksmöglichkeit für Goethes eigenes Kunstwollen. Die Komplexität dieser Beziehung Künstler/Schriftsteller muss im Grunde als ein Korrelat der klassischen Ausbildung Goethes und dessen wiederum komplexer Sensibilität, welche die klassischen und romantischen Einflüsse verschmilzt, betrachtet werden. Ohne auf Details einzugehen – das Verhältnis Goethes zur Klassik wurde in unzähligen Abhandlungen ausführlich erörtert – möchten wir betonen, dass die Klassik eine Art Matrix bildet, in der die nuancenreiche, bald begeisterte, bald skeptische Beziehung Goethes zu Rembrandt eingebettet ist. Die romantische Seite der Goetheschen Weltanschauung und Rembrandt-Rezeption, die sich im Interesse für das Innig-Familiäre und die Historizität der Gegenwart niederschlägt,1 wird stets durch die klassische konterkariert.2 Mit anderen Worten, während sich Goethe in seiner Kritik am maßlosen Objektivismus, nämlich der Unterordnung der Kunst unter die Natur durch die strikte Nachahmung, an die Romantiker anschließt, tritt er ihnen entgegen, wenn er sich gleichfalls einem maßlosen Subjektivismus widersetzt, und er spricht sich für ein klassisch ausgewogenes Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt aus. Deswegen wollen wir von dem Begriff 'Synthetismus' ausgehen, der die romantische Tendenz bezeichnet, jedes Werk, jeden Schaffensprozess als die Auflösung von zwei widerstreitenden Elementen zu synthetisieren und damit die Goethesche Tendenz kennzeichnen, die Kunst Rembrandts durch das Ineinanderfließen von zwei Gegensätzen – Hell und Dunkel oder Innenwelt und Außenwelt – und die sich daraus ergebende Aufhebung des Widerspruchs in einer glücklichen Synthese aufzulösen.

Diese Tendenz ist originell, insoweit sie die klassischen und romantischen Einflüsse zu einer organischen Ästhetik verschmilzt, deren vollkommenste Veranschaulichung Rembrandt ist.




PhiN 29/2004: 29


Während die Goethesche Figur 'Rembrandt' ihre Konturen aus dem Prinzip des Synthetismus gewinnt, ist sie gleichzeitig ein Ausdrucksmittel Goethes für den notwendigen, jedem Werk zugrunde liegenden Dialogismus. Die bestehenden Elemente werden dabei derart in Einklang gebracht, dass das Werk in eine organische Totalität mündet, die der klassischen Auffassung der Welt als eines autonomen Organismus entspricht; aber dieser Prozess des Synthetismus erfolgt dann so subjektiv und selbständig, dass das Werk gleichzeitig die romantische Auffassung der Kunst als einer Welt an und für sich voraussetzt, die eine Ausdehnung der freien Subjektivität darstellt. In diesem Sinne ist der Holländer Rembrandt eine diskursive Chiffre für den Goetheschen Synthetismus, für die glückliche und autonome Entfaltung des Werkes zu einer organischen Totalität, die der klassischen Zweckmäßigkeit gerecht wird und dabei eine persönliche Teleologie aufhellt, die im Falle Rembrandts einer Offenbarung gleicht: In seinen Werken dienen eigentlich alle Teile der Veräußerlichung der Innerlichkeit durch das subtile Spiel der Farben und das gegenseitige Ausspielen von Licht und Schatten.

Bei Goethe ist Rembrandt also eine Figur, an der sich die Theorie formt und verfeinert. So gesehen schließt sich der Kreis zur sinnstiftenden Figur und affektgeladenen Beziehung zu einem Künstler, der ein ganzes Spektrum von Gefühlen und Begriffen polarisiert. Es ist nicht zu übersehen, dass Goethe sich immer wieder zu Rembrandt hingezogen fühlte und sich immer wieder darum bemühte, dessen Kunst auf anderen Wegen als den der damaligen offiziellen Kunstkritik zu erschließen.

Ähnliches gilt für Hegel, der die Kunst Rembrandts durch die philosophische Brille betrachtete, nämlich aus der Perspektive des Idealismus. In dieser Hinsicht spielt Rembrandt eine paradigmatische Rolle in den Schriften des Dialektikers Hegels, genauer, der niederländische Künstler ist ein Prüfstein der Theorie der Dialektik, die im Werk Rembrandts eine Korrespondenz findet und es ermöglicht, eben jenes Werk präziser zu erfassen. Für uns ist es nicht uninteressant, zu wissen, dass Hegel im Jahre 1821 mit Goethe Kontakt aufnahm und ihm regelmäßig schrieb, um mit ihm die Farbenlehre zu besprechen, die ihm bahnbrechend erschien: Nicht nur, dass sie neue Möglichkeiten der künstlerischen Interpretation wies, sie bot auch einen neuen Blick auf die Werke an. Nach Bernard Teyssèdre, der die Beziehung der beiden Autoren untersucht hat, übten die Farbenlehre und die Auslegung des Essai sur la peinture von Diderot einen unbestreitbaren Einfluss auf Hegel aus und regten ihn dazu an, sich für die gotische Architektur, die italienische Kunst und insbesondere die holländische Malerei zu interessieren. Es steht fest, dass Hegel in dem Augenblick, da sein Briefwechsel mit Goethe besonders rege ist, im Jahre 1821 eine Reise nach Dresden und Kassel unternimmt und sich 1822 in die Niederlande begibt, also zu den Stätten, wo die Mehrheit der Werke Rembrandts ausgestellt sind. Sein lebhaftes Interesse für die holländische Malerei und seine Begeisterung für die Kunst Rembrandts werden in seinem Reisetagebuch und in seinen Briefen schriftlich festgehalten.




PhiN 29/2004: 30


Abgesehen von dieser Beziehung zu Goethe hielt Hegel gute Freundschaft mit zahlreichen Malern, mit Rösel und Xeller unter anderem, die sich von ihrem Umfeld bzw. der damaligen Rembrandt-Mode vermutlich kaum abgrenzten. Immerhin lässt sich die theoretische Beschäftigung Hegels mit Rembrandt von all diesen Einflüssen ableiten, die ihn dazu führten, den holländischen Künstler zu einem begrifflichen, gleichsam heuristischen Schlüssel seiner Kunsttheorie zu erheben. Hegel geht nämlich davon aus – und vertritt dabei eine weit verbreitete Meinung, wie wir gesehen haben –, dass sich die holländische Seele mit der deutschen deckt, so dass Rembrandt zu einer Verkörperung der deutschen Seele oder gar zu einem Kultursymbol stilisiert wird. Hegel hält seine Mitbürger samt deren niederländischen Nachbarn für treue, redliche, heitere Leute, die sich ihres eigenen Wertes bewusst sind, ohne sich je prahlerisch zu benehmen und dabei eine einfache, tiefgründige Frömmigkeit an den Tag legen, was in der deutschen und holländischen Kunst plastisch reflektiere. Vor diesem Hintergrund wird der Künstlername zur metaphorischen Chiffre einer kulturellen und künstlerischen Begegnung. Rembrandt bringt in seinem Werk nicht nur die oben genannten Merkmale des germanischen Wesens zum Ausdruck, seine Kunst objektiviert darüber hinaus jene getrennte, fast individuelle Behandlung der Gegenstände – so nebensächlich sie sein mögen –, die darauf hinzielt, jeden Gegenstand als einen Zweck an sich darzustellen, der von eigenem Leben durchpulst wird, wodurch er sich Zugang zu unserem Bewusstsein und überhaupt zur Erkenntnis verschafft. In Hegels Ästhetikvorlesungen ist dies das spezielle Verdienst der deutschen und holländischen Kunst (Hegel 1983: 123–131), die über jede Kontingenz oder moralische Frage hinaus den Gegenstand an sich betrachtet und dabei vom erstickenden Alltag und von dem unerbittlichen Lauf der Zeit abstrahiert, um ihn zu einer effektvollen Manifestation der Natur und des Lebens zu steigern. Somit verleiht die Kunst Rembrandts unbedeutenden Gegenständen einen Wert an sich – nämlich den einer Kunst, die Naturgegenstände in Geisteswerke verklärt – und macht gerade solche Gegenstände dauerhaft, die im natürlichen Zustand nur flüchtig und vergänglich sind. Und genau das ist es, was Hegel an Rembrandt bewundert und in seiner Philosophie formalisiert, indem er von einem Prozess der Beseelung spricht und den Begriff der Dialektik prägt. Denn was in Rembrandts Werken der Beseelung und Vergeistigung des Inhaltes zugrunde liegt, ist zwar zunächst der Rückgriff auf das Licht als physisches Prinzip sowie das Kolorit als Poesie und die Subjektivität als Urquelle der Inspiration und Erfindung, vor allem aber eine dialektische Praxis, die aus dem Kunstwerk das sinnliche Scheinen der Idee macht.

Unter dem Begriff 'Dialektik' versteht man im Allgemeinen ein Phänomen der fortschrittlichen Selbstverwirklichung und -erkenntnis je nach dem logischen Muster Position/Opposition/Aufhebung: Die Selbstverneinung vermittelt dem Verneinten den Zugang zu einer neuen Identität. Wenn man den Begriff jedoch auf dem Gebiet der Kunst anwendet, bedeutet er, dass die Kunst die Synthese von zwei Gegensätzen aufnimmt, Allgemeines und Einzelnes, die eine neue Einheit bilden, ohne einander aufzuheben. Diese neue Einheit verweist auf die Materialisierung eines ideellen Raumes innerhalb des Kunstwerkes, welcher Generelles und Individuelles vereint, ohne sich je auf die eine oder die andere reduzieren zu lassen. So bezeugt die Lucretia von Rembrandt den ikonographischen, metaphorischen Übergang von einer individuellen schmerzlichen Erfahrung zu der generellen Determination der Vergewaltigung oder, besser gesagt, die Synthese der individuellen Erfahrung und der generellen, neutralen oder faktischen Determination der Vergewaltigung, in eine höhere, faszinierende Einheit, die der Unteilbarkeit des Leides entspricht.




PhiN 29/2004: 31


Für Hegel fungiert Rembrandt im Grunde genommen als eine Art Exemplifikation, da seine Werke dank des meisterhaften Lichtes und Kolorites und der tiefen Geistigkeit einen größeren Offenbarungscharakter aufweisen als jedes andere. Seine Kunst verdeutlicht das dialektische Übergehen vom Unbestimmten-Unmittelbaren zum mittelbaren künstlerischen Ausdruck und zur effektiven Anwesenheit. Es ist also kein Wunder, wenn die Figur des Holländers in den Schriften Hegels eine repräsentative Funktion erfüllt: Einerseits zeugt Rembrandt von einem germanischen Wesen, das sich am einleuchtendsten in der deutschen und holländischen Kunst widerspiegelt; und andererseits verhilft seine Kunst jedermann zu einem besseren Verständnis der Dialektik, so dass er bzw. sein Werk selbst zur Metapher des dialektischen Prozesses wird. Umgekehrt kann man sagen, dass die Dialektik bald danach zu einer Modalität der Rembrandtrezeption wird, weil sie ein Deutungs- und Erklärungsraster für das Geheimnisvolle an Rembrandt anbietet.

Es gibt in der Tat eine Ausformung der Beziehung zwischen Hegel und Rembrandt, die einer genaueren Untersuchung würdig wäre, z.B. die Art und Weise, wie die Hegel-Anhänger Heinrich Gustav Hotho3 und Karl Rosenkranz die Kunst Rembrandts erörternd verehrten. Auffallend ist dabei ihr Rückgriff auf den Begriff der Dialektik, anhand dessen sie zeigen, wie Licht und Schatten in den Werken Rembrandts konstitutiv aufeinander bezogen sind und dank ihres dialektischen Zusammenspieles das innere Leben und die dem Werk innewohnende Seele zu einer unübertrefflichen Fülle und Lebendigkeit verhelfen:

Und wunderbarer als sein kolossaler Nebenbuhler [Rubens] wußt’ er die volle Naturtreue in Farben, Gestalt, Mienen und Bewegung mitten in der kunsterfundenen, nur ihm gehörigen Beleuchtungsweise kräftig wirken und walten zu lassen und wendete sich zu seiner stets wiederkehrenden Art der Färbung nur immer mehr herüber, um in ihr gerade alle Gegensätze und rätselhaft verschmelzenden Übergänge mit einer Kraft, Kühnheit, Wärme und das tiefste Dunkel durchleuchtenden Klarheit auszubilden, welche bisher noch jede Nachahmung und kecksten Wetteifer in siegreicher Meisterschaft triumphiert hat. (Hotho 1835: 251)




PhiN 29/2004: 32


Hier tut sich ein weites Feld auf – das der Rezeption und Interpretation des Helldunkels –, auf das sich viele Autoren begeben. So schließt Hofmannsthal aus dem Gebrauch der Farben in der Novelle Gottfried Kellers Das verlorene Lachen, dass Keller das Rembrandtsche Helldunkel in das Reich der Metaphysik hinübergetragen hat, indem er es zum beinahe manichäischen Paradigma der Dichotomie Glück/Unglück macht. Ob sich Keller dabei wirklich auf Rembrandt berufen hat, bleibt dahingestellt. Dafür kann man annehmen, dass Hofmannsthal Rembrandt tatsächlich eine metaphysische Valenz wirklich zugeschrieben hat. In Eines alten Malers schlaflose Nacht, einer unvollendeten Novelle von 1903, die er selbst im Band 4 seiner Prosawerke als eine "philosophische Novelle" und eine Überlegung über das Helldunkel bezeichnet, beschreibt er die Erinnerungen und Visionen, die um den schlaflosen Rembrandt kreisen und dessen Todesangst schüren. Alle Betrachtungen Rembrandts über die Zerrissenheit des Daseins und das Licht, das nur und einzig eine Form der Einheit verleiht, sowie über den Tod des Wesens und die Erlösung in der Kunst konvergieren eigentlich zum Kern der Dinge, dem Punkt, von dem aus alles sinnfällig wird und selbst der Tod eine Bedeutung gewinnt: Gott, von dem er sagt, er sei der "Schlüssel des Daseins" (Hofmannsthal 1978: 165) und die Quelle des Lichtes. Diese neue Figur 'Rembrandt', die sich im Diskurs Hofmannsthals profiliert, erscheint hier als eine Maske, hinter der sich der Schriftsteller mit metaphysischen Betrachtungen befasst; und schließlich als ein Vehikel des Verbalisierens, sofern die Kunst Rembrandts analog zur Schriftstellerei Hofmannsthals das Dasein unter die individuell und subjektiv deutende Schöpferkraft subsumiert.

So sind die Konturen der Figur 'Rembrandt' etwas schwankend und variieren je nach der Perspektive – sei sie philosophisch oder bloß künstlerisch – und der Idiosynkrasie des Autors, der sich die Figur des Künstlers diskursiv aneignet. In dieser Hinsicht muss die ideologische Perspektive in Betracht gezogen werden, die den Wandel des Bedeutungsspektrums des Namens 'Rembrandt' in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts signalisiert und die Instrumentalisierung der Figur in einem Kontext kultureller und nationalistischer Selbstbehauptung verdeutlicht. Hier wollen wir uns speziell mit Julius Langbehn befassen, der auf zweifelhafte Weise Rembrandt zum Kultursymbol der germanischen Identität erklärt und so den Niederländer zu einem Sinnbild der Germanentümelei uminterpretiert. Nachdem sich das Germanische an der Kunst Rembrandts bereits als Topos etabliert hatte, bedeutet das Abgleiten ins Ideologische oder gar Nationalistische einen weiteren Schritt in Richtung Aneignung einer künstlerischen Persönlichkeit zu demonstrativen oder gar demagogischen Zwecken.

Im Folgenden ist zu klären, wie demagogische Verfahren sich in den Kult des Individualismus wilhelminischer Prägung einschreiben. Langbehns 'Studie' Rembrandt als Erzieher (1944) muss aufgrund seiner Machart und Wirkung eines der repräsentativen Bücher der Epoche gelten. Mit dreißig Auflagen schon im Jahr der Erstveröffentlichung hat es durchschlagenden Erfolg. Indem Rembrandt als großer Individualist gesehen wird, verlagert sich der imaginierte Ursprungsort seiner Kunst nach Deutschland oder, besser, nach einem phantasierten 'Niederdeutschland', das "den Holländer ganz, den Engländer größtenteils und zudem noch vereinzelte Volksfragmente des Nordens wie des Südens in sich fasst" (Langbehn 1926: 6). Die treibende Grund- und Urkraft allen Deutschtums heißt für Langbehn Individualismus; und indem Rembrandt als der prototypische Niederdeutsche identifiziert wird, kann er zur Allegorie dieses Individualismus werden, an der sich die deutsche Wiedergeburt orientieren soll:




PhiN 29/2004: 33


Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste: Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopfe folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt; in diesem Sinne muss er geradezu der deutscheste aller deutschen Maler und sogar der deutscheste aller deutschen Künstler genannt werden. (Langbehn 1944: 64)

Langbehn würdigt daher den Niederländer als Erzieher der deutschen Nation: Angesichts der 'verabscheuenswerten' Herrschaft der Demokratie mit ihrem Durchschnittsmenschen, der wachsenden Spezialisierung und Komplexität in Wissenschaft und Philosophie, die zur Atomisierung und Standardisierung des Menschen führen,4 und der damit einher gehenden Verwesung von Bildung und Kultur, sollen sich neue zukunftsreiche Bildungsformen nach der Individualität Rembrandt richten, die Langbehn als die aristokratische Autorität bzw. den Inbegriff des Deutschtums interpretiert. Langbehns Pamphlet prägt eine Karikatur des Künstlers, um sie in den Dienst einer schockierenden Rhetorik des Nationalismus, des Antisemitismus und der politischen Reaktion zu stellen.

Im Zeichen eines nationalistischen Genie-Kults – freilich abzüglich primitiver Blut- und Boden-Parolen – stand bereits die Rembrandtverherrlichung im wilhelminischen Zeitalter. Wilhelm Bode erwirbt als Direktor des Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin ab 1872 eine große Zahl von Werken Rembrandts, und er verfasst eine einflussreiche Studie über den niederländischen Künstler (1906), die die Frage der Zu- und Abschreibungen der Werke aufgreift. Nicht weniger populär ist Carl Neumanns Studie Rembrandt (1902), die schon nach kurzer Zeit als regelrechte Rembrandtbibel gilt. Beiden Kunsthistorikern gemeinsam ist, dass sie die Genialität Rembrandts, wenn nicht als ein Produkt, so doch als eine Modalität der germanischen Zusammengehörigkeit ansehen. So behauptet Bode:

Dass er der Sproß eines rein germanischen Stammes und seine Kunst eine echt germanische ist. Sie ist der mächtigste Ausdruck germanischer Kultur überhaupt, die unter ihren Künstlern keinen vollkommeneren Vertreter kennt. (Bode 1906: 5)

Und Neumann fügt hinzu:

Was sie [die Italiener der Renaissance] damit erreichen, ist eine Welt für sich, die Kunstwahrheit besitzt. Rembrandt hat etwas anderes, das "was für germanische Anschauung die Kunst besitzen muß: nicht bloß die Wahrheit, sondern die Wirklichkeit; was Shakespeare besitzt und alle die Dichter, die wir zu unseren Besten zählen" (Herman Grimm). (Neumann 1902: 427)

Es handelt sich um ein Zitat im Zitat, das dem Buch Leben Michelangelo's von Herman Grimm (1860) entnommen ist. Grimm war Mitbegründer der Goethegesellschaft und war vermutlich gut informiert über die Beziehung Goethes zu Rembrandt. In seinem Buch Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte (1897) wird Rembrandt unter die größten deutschen Kunstmeister eingeordnet. Bode, Neumann, Grimm – alle diese Namen deuten die spezifische Konstellation von Rembrandtverehrern an, die den Beweis für das zunehmende Interesse an Rembrandt und dessen Germanentum liefern und dazu beitragen, Rembrandt als ein Kultursymbol der deutschen Identität zu verbildlichen.




PhiN 29/2004: 34


Zu dieser Kategorie gehört Georg Simmel, wenngleich er vom Kurs der Kunsthistoriker abweicht und den Ton der Kunstphilosophie anschlägt. Er entwickelt eine auf dem Leitbegriff der Aufhebung beruhende Kunstphilosophie, deren heuristische Figuren Rembrandt und Rodin sind, die sein ästhetisches Bewusstsein stark angeregt haben. Im Falle Rembrandts dürfte es nicht überraschen, da Simmel ein fleißiger Leser Goethes war, dessen Überzeugung, das Kunstwerk sei eine Welt in sich oder auch eine autonome Welt mit ihren eigenen Gesetzen, er teilte. Zudem las er auch viel Hegel, dessen Auffassung von der Autonomie der Kunst, die aus dem Geist hervorgeht und die höchste geistige Realität zum Ausdruck bringt, er übernahm – ohne von seinem eigenen Gebrauch des Aufhebung-Begriffes zu sprechen, der selbstverständlich an Hegel erinnert. Nicht zuletzt hat er Langbehns Rembrandt als Erzieher und dessen hohlen, perversen Gedankengang in einem Artikel der Vossischen Zeitung vom 1. Juni 1890 gegeißelt (Simmel 1890), was ihn nebenbei gesagt nicht daran hinderte, ähnliche Ansichten über die germanische Quintessenz der Kunst Rembrandts, den Individualismus der deutschen Seele, die Kunst als gesellschaftlichen Vektor und den Künstler als geistigen Führer zu vertreten. Aus all diesen Einflüssen ergibt sich, dass Rembrandt für Simmel den Inbegriff der Dialektik verkörpert. Anders gesagt: Rembrandt würde die Hegelsche Aufhebung veranschaulichen, insofern die seiner Kunst immanenten Gegensätze (Hell/Dunkel, Vergangenheit/Gegenwart, Bewegung/Starre und vor allem Individualität/Universalität) als konstitutive Dimensionen des Werkes bestehen blieben und gleichzeitig im kontemplativen Blick abgeschafft würden, der über jeden Gegensatz hinaus die Einheit der Darstellung unmittelbar einsieht.

Unser Artikel ist nicht der geeignete Rahmen für die eingehende Erläuterung, die Simmels Kunstphilosophie wert wäre. Immerhin festzuhalten ist jedoch, dass Simmel die Auffassung vom germanischen Rembrandt aufs Neue dokumentiert und in dem holländischen Künstler eine Figur der Dialektik entwirft, wobei dessen Kunst zudem für die Materialisierung des geheimnisvollen Phänomens der Aufhebung steht. Aber nicht nur dies: Charakteristisch ist, dass Simmel versucht, die spezielle Beziehung der Deutschen zu dem Künstler philosophisch zu begründen und dabei eine Theorie der Dialektik des deutschen Geistes aufstellt. Die damit zusammenhängende Frage – bevor wir auf eine Erörterung dieser Theorie eingehen – lautet: Haben wir es wirklich mit einem deutschen Spezifikum zu tun? Wie lässt sich die deutsche Beziehung zu Rembrandt im Vergleich mit anderen europäischen Ländern beschreiben? Oder kurz: Ist Rembrandt überhaupt ein deutsches Kultursymbol?




PhiN 29/2004: 35


3 Die Rembrandtdarstellungen im europäischen Kulturkontext

Die gestellte Frage können wir auf zweierlei Weise beantworten: Von einer deutschen Spezifizität lässt sich mit Recht reden, aber diese Spezifizität löst sich zugleich in den allgemeinen europäischen Kontext der Genieverehrung auf. Was ist damit gemeint?

Abgesehen von den einzelnen Beziehungen zu Rembrandt, die wir soeben betrachtet haben, kann man generell sagen, Rembrandt erfülle seit dem 18. Jahrhundert den deutschen Wunsch nach Einheit und Ganzheit, dessen Ansätze schon im Denken Goethes lokalisiert werden konnten und der sich mit einem Wunsch nach verbindlicher Orientierung deckt, seitdem der Kantische Kritizismus die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis festgestellt und somit den Zugang zum absoluten Wesen verriegelt hat. Den einzigen Ausweg bzw. die einzige befriedigende Erkenntnismöglichkeit bildete folglich die Suche nach einem anderen Absoluten, also nach den inneren Quellen der Subjektivität als dem Absoluten des Individuums und dem genialen Schöpfertum als dem einzig universell fassbaren Absoluten. An den philosophischen Faktor fügten sich dann wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren, als der moderne Fortschritt und die Herrschaft des wissenschaftlichen Geistes auf einen sich "immer weiter ins Verwirrende und Leere dehnenden Raum metaphysischer Obdachlosigkeit" hinausliefen, wie es Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens anschaulich geschildert hat (Schmidt 1985: 161). Die Formel der Kunst-Religion und der Genieverehrung hat er stichhaltig dargestellt:

[…] dabei [für den philosophischen und religiösen Aspekt des Genie-Denkens] geht es um die geniale Schöpferkraft als spezifisch sinnstiftendes Vermögen. Schon im 18. Jahrhundert war dem künstlerischen Genie ein intuitives Ganzheitsvermögen zugeschrieben worden, das dann in der romantischen 'intellektualen Anschauung' seine Formel fand. Sinnkonstituierende Orientierung in einer unaufhaltsam in Sonderbereiche und Spezialwissenschaften zerfallenden geistigen Welt ist ein modernes Grundbedürfnis: daraus entsteht dieses Bild des Genies. (ebd.: 161)

Und daraus entsteht im Grunde das deutsche Rembrandtbild oder die geniale Figur 'Rembrandt', in der sich die beiden oben erwähnten Dimensionen des Individuellen und des Schöpfertums begegnen und sich vor allem in der Repräsentation der inneren Einheit zusammenschließen. Dabei nimmt Rembrandts Kunst eine metaphysische Funktion ein, sofern sie Zugang zu der geistigen Innerlichkeit vermittelt und sowohl in ihrer Materialität zum Phänomenalen als auch in ihrer Suche nach dem Wesen und ihrer absoluten Freiheit der Erfindung und Ausführung zum Ideellen gehört. Nun aber sind Wesen und Freiheit die beiden Angelpunkte der deutschen Metaphysik, die folgerichtig in der Kunst Rembrandts eine Erfüllung findet. Denken wir nur an Schopenhauer, der in seinen Parerga und Paralipomena Rembrandt großes Lob spendet und anschließend die ideelle Formel der Kunst ausspricht:

Näher aber betrachtet, beruht die Sache darauf, dass das Werk der bildenden Kunst nicht wie die Wirklichkeit uns das zeigt, was nur 'einmal' da ist und nie wieder […]; sondern dass es uns 'die Form' allein zeigt, welche schon, wenn nur vollkommen und allseitig gegeben, die Idee selbst wäre. Das Bild leitet uns sogleich vom Individuum weg auf die bloße Form. (Schopenhauer 1968: 498)




PhiN 29/2004: 36


Und die Kunst Rembrandts leitet uns analog vom Individuum des 17. Jahrhunderts weg auf die bloße deutsche Philosophie und konsequent auf die Dialektik des deutschen Geistes, wie es Simmel in Vom Wesen der Moderne. Essays zur Philosophie und Ästhetik (1990) definiert hat. Simmel vertrat nämlich darin die Meinung, dass der Widerspruch der deutschen Denkart innewohnt, in dem Sinne, dass der deutsche Geist sich nach dem Unbekannten und der Erlösung in dessen Gegenteil sehnt; was der Philosoph auch umschreibt, indem er sagt, das Ideal des Deutschen oder der mustergültige Deutsche sei der Deutsche an sich samt dessen Gegenteil oder dem Nächsten als dessen Ergänzung. Dies wirft die Frage einer identifikatorischen Beziehung zu Rembrandt erneut auf, insofern Rembrandt als das ersehnte, komplementäre fremde Gegenüber auftritt. Simmel bringt weiter vor, dass der deutsche Geist sich seinen Gegenpol aneignet, indem er ihn zu einem ambivalenten Vehikel der identifikatorischen Ergänzung und Differenzierung macht: In den Repräsentationen Rembrandts liegt das in der Tat offen zutage. In dieser Hinsicht ist das Paradebeispiel der Dialektik des deutschen Geistes die Hegelsche Philosophie, in der die Figur 'Rembrandt' keine geringe Rolle spielt, wie wir gesehen haben.

So gibt Simmel gleichsam eine metaphysische Begründung für die Spezifizität der deutschen Repräsentationen Rembrandts, nach einer Theorie der Dialektik, die gleichwohl nur als eine Deutungsmöglichkeit unter vielen anderen betrachtet werden sollte. Auf jeden Fall trägt sie der Frage, wie sich die deutsche Rembrandtverehrung zu dem gesamten europäischen Kontext verhält, gar keine Rechnung. Deshalb soll zum Schluss betont werden, dass sich die Beziehung der deutschen Autoren zu Rembrandt in einen allgemeinen Kontext der Genieverehrung einschreibt. Rembrandt ist zwar ein deutsches Kultursymbol, aber symbolisch ist er auch auf europäischer Ebene als Sublimationschiffre präsent. Die Eigentümlichkeit und Bedeutung der deutschen Repräsentationen verdienten unbestreitbar eine genauere Spezifikation, aber sie sollten gleichzeitig als die deutsche Facette einer europäischen kulturgeschichtlichen Entwicklung begriffen werden, die sich in der mythischen Repräsentation des Genies verdichtet. Denn die Heterogenität der Theorien und Vorstellungen im Bereich der Kunstgeschichte im Allgemeinen und der Rembrandtrezeption im Besonderen lässt sich unter die Homologie der Genieverehrung subsumieren, die sich in der Neubewertung der Originalität und Subjektivität kristallisieren. Als Sinnbild der Originalität und Subjektivität ist der niederländische Künstler nicht nur eine willkommene Veranschaulichung des Genies, er weist darüber hinaus auf den sublim-geschichtslosen, meteohaften, undefinierbaren Charakter der genialen Kunst hin und leitet eine gründliche Reflexion über die menschliche Schöpferkraft als Pendant zur göttlichen ein. In diesem Zusammenhang stellt Rembrandt einen Markstein auf dem Weg zum Verständnis der Kunst dar und bietet zugleich eine tautologische Lösung/Losung für das geheimnisvolle Phänomen des Genies. Darin liegt überhaupt die Konvergenz zwischen der deutschen Perspektive und der französischen, englischen oder auch holländischen Perspektive.




PhiN 29/2004: 37


In Ermangelung jeder passenden Definition wird das Genie bloß genannt oder auch mit der mehrdeutigen Figur 'Rembrandt' identifiziert. Der holländische Künstler aus dem 17. Jahrhundert erscheint dabei als ein europäischer Mythos und, was dazu gehört, als ein deutsches Kultursymbol, um in allen möglichen Richtungen die deutsche Spezifizität hervorzukehren. Unverkennbar ist, dass Rembrandt nirgendwo in Europa vergleichbar zum Zwecke einer identifikatorischen Suche repräsentiert wurde. Im kunstgeschichtlichen sowie literarischen oder auch philosophischen Diskurs wurde er gleichsam zu einem Sinnbild der deutschen oder gar germanischen Eigenart erhoben. Aber damit ist nicht alles gesagt: Rembrandt steht im Vordergrund der deutschen kulturellen Freske, eben deshalb, weil er so oft und mannigfaltig von den deutschen Autoren repräsentiert wurde, die ihm jedes Mal ein individuelles Bedeutungspotential zuschrieben. Als Mosaiksteine haben wir Goethe, Hegel, Hofmannsthal, Bode, Neumann und Simmel erwähnt, aber wir hätten noch viele andere nennen können. Immerhin bezeugen alle diese Namen das innige Verhältnis zwischen etlichen Kunsterscheinungen und dem Selbstbewusstsein einer Nation, Kunst und Literatur, Geistesmanifestationen und Kulturgeschichte. Das diskursive Objekt Rembrandt wird folgerichtig zum kulturgeschichtlichen Subjekt im germanischen Bereich.


Bibliographie

Bode, Wilhelm von (1906): Rembrandt und seine Zeitgenossen. Leipzig: Seemann.

Forster, Georg (1791–1794): Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790. Berlin: Voss.

Goethe, Johann Wolfgang von (1975): Nach Falconet und über Falconet, in: ders.: Aus Goethes Brieftasche. Berlin: Verlag der Nation.

Grimm, Herman (1860): Leben Michelangelo's. Berlin / Stuttgart: Spemann.

Grimm, Herman (1897): Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte. Berlin: Wilhelm Herz.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1983): Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Band 15. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Heiland, Susan / Lüdecke, Heinz (1960): Rembrandt und die Nachwelt. Leipzig: Seemann.

Hofmannsthal, Hugo von (1978): Eines alten Malers schlaflose Nacht, in: ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.




PhiN 29/2004: 38


Hotho, Heinrich Gustav (1835): Vorstudien für Leben und Kunst. Stuttgart und Tübingen: Cotta.

Langbehn, Julius (1926): Niederdeutsches – Ein Beitrag zur Völkerpsychologie. Leipzig: Felsen-Verlag.

Langbehn, Julius (1944): Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Berlin: Theodor Fritsch Verlag.

Lessing, Gotthold Ephraim (1857): Kollektaneen zur Literatur, in: ders.: Sämtliche Schriften. Leipzig.

Münz, Ludwig (1949): Goethes Zeichnungen und Radierungen. Wien: Österreichische Staatsdruckerei.

Neumann, Carl (1902): Rembrandt. Berlin: W. Spemann.

Sandrart, Joachim von (1925): Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675. Leben der berühmten Maler, Bildhauer und Baumeister. München: G. Hirth Verlag AG.

Schmidt, Jochen (1985): Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Schopenhauer, Arthur (1968): Parerga und Paralipomena II. In: Sämtliche Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Simmel, Georg (1890): "Rembrandt als Erzieher", Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage Nr. 22.

Simmel, Georg (1990): Vom Wesen der Moderne. Hamburg: Junius.

Winckelmann, Johann Joachim (1990): "Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke", in: ders.: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Stuttgart: Reclam, 41–74.


Anmerkungen

1 Als anschauliches Beispiel schreibt Goethe: "Rembrandt, Raffael und Rubens kommen mir in ihren geistlichen Geschichten wie wahre Heilige vor, die sich Gott überall auf Schritt und Tritt, im Kämmerlein und auf dem Felde, gegenwärtig fühlen und nicht der umständlichen Pracht von Tempeln und Opfern bedürfen, um ihn an ihre Herzen herbeizuzerren". (Goethe 1975: 146).




PhiN 29/2004: 39


2 In dieser Hinsicht wollen wir einen Auszug aus dem an Herzog Karl-August gerichteten Brief vom 8. Dezember 1787 zitieren: "Dass Sie den Gedanken, die Rembrandts zu komplettieren, fahrenlassen, kann ich nicht anders als billigen. […] Besonders fühle ich hier in Rom, wie interessanter denn doch die Reinheit der Form und ihre Bestimmtheit vor jener markigen Roheit und schwebenden Geistigkeit ist und bleibt". (Heiland und Lüdecke 1960: 58)

3 Hotho war ein deutscher Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts, der eine 'spekulative Kunstgeschichte' auf der Basis von Hegels Kunstanschauungen begründete und so den Übergang von der allgemeinen Ästhetik zur Kunstgeschichte beförderte.

4 In der großen Mühle des Spezialismus werden die geistigen Individualitäten, […], gerade zerpulvert." (Langbehn 1944: 127)

Impressum