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Christiane Maaß (Hannover)



Lenz, Friedrich (Hg.) (2003): Deictic conceptualisation of space, time and person. Amsterdam [u.a.]: Benjamins.



Zum Thema "Deixis" ist in den letzten Jahren eine rege neue Forschungstätigkeit zu verzeichnen, die sich in einer ganzen Reihe von rezenten Publikationen niederschlägt. Dabei werden immer wieder Entwürfe für eine allgemeine Deixistheorie vorgelegt und auch der Status der Anapher erörtert – ist sie Teil des deiktischen Systems oder von diesem abzugrenzen? (Vgl. Consten [im Druck]) Besonders in der germanophonen und anglophonen Forschung steht immer wieder die Frage der (Personal-)Pronomina im Zentrum (vgl. Psarudakis 2001, Engel 1998), während in der frankophonen Forschung vermehrt sprachvergleichende Studien vorgelegt wurden (u.a. Pezechki 2002, Almeida 2000, Grammenidis 2000). Auch Fragen zur kontextuellen Verankerung von Äußerungen wurden in neuer Perspektive aufgeworfen (z.B. Wrobel 2002, Hausendorf 1992), eine Fragestellung, die mit einer zunehmenden, wenn auch noch nicht durchgehenden Orientierung auf korporabasierte Forschung einher geht.

Die Beiträge im hier rezensierten Band, der auf eine Sektion der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft von 2001 zurück geht und dessen Herausgeber, FRIEDRICH LENZ, bereits als Autor einer Monographie zur Diskursdeixis im Englischen (Tübingen: Niemeyer 1997) hervor getreten ist, beziehen Stellung zu den angeführten Problemfeldern. Die AutorInnen arbeiten überwiegend mit Korpora, wobei zwei der Beiträger (FRICKE und HAUSENDORF) auch den gestischen Aspekt in die Analyse einbeziehen.

Der Band ist in drei thematische Blöcke unterteilt: Space – Time – Person and Text; einige Beiträge entziehen sich jedoch einer solchen Klassifizierung: so legen CONSTEN und HAUSENDORF, im dritten Teil unter Person and Text abgedruckt, eher Gesamtentwürfe für eine Klassifikation der Deixis vor als Beiträge zu einer einzelnen deiktischen Dimension. Genuin diskursdeiktische Beiträge, wie der Titel des Blocks suggeriert, enthält der Band nicht.

Den Aufsätzen vorangestellt ist eine generische Einführung, in welcher der Herausgeber die Einbeziehung empirischer Daten, aber auch perzeptueller und kognitiver Aspekte in die Deixisforschung fordert. Diese Anforderung wird in der Tat von mehreren Beiträgen des ersten Blocks, Space, eingelöst. So zeigt SÉRGIO MEIRA in seinem Beitrag 'Adressee effects' in demonstrative systems: The case of Tiriyó and Brazilian Portuguese anhand eines Korpus in Tiriyó und brasilianischem Portugiesisch, wie in eigentlich distanzorientierten Demonstrativasystemen die Sprecherposition herausgehoben wird; für das gesprochene brasilianische Portugiesisch wird eine Verschmelzung der "speaker- and adressee-centered terms" (9) nachgewiesen, womit Sprecher und Adressat gegen den Kontext abgesetzt werden. Auch KONSTANZE JUNGBLUTH betont in ihrem Beitrag Deictics in the conversational dyad. Findings in Spanish and some cross-linguistic outlines die herausgehobene Stellung von Sprecher und Adressat, die sie als 'Dyade der Konversation' bezeichnet. Dabei sei die spezifische Raumposition von Sprecher und Hörer zueinander zu berücksichtigen: face-to-face, face-to-back, side-by-side, die unmittelbare Auswirkung auf die Verwendung der Demonstrativa habe. Grenzen der lokalen Deixis zeigt CLAUDIO DI MEOLA in Non-deictic uses of the deictic motion verbs 'kommen' and 'gehen' in German" mit seiner korpusbasierten Untersuchung zu den Motionsverben kommen und gehen auf, nimmt er doch gerade die nicht-deiktische Verwendung dieser allgemein als deiktisch beschriebenen Verben in den Fokus. Er stellt heraus, dass es sich hierbei keineswegs um isolierte Fälle handelt, sondern dass die nicht-deiktische Verwendung integraler Bestandteil der Semantik dieser höchst polysemen lexikalischen Einheiten ist. Die Komplexität der deiktischen Relationen wird von ELLEN FRICKE in ihrem Beitrag 'Origo', pointing and conceptualization – what gestures reveal about the nature of the origo in face-to-face interaction anhand von Bühlers Begriff der Origo illustriert. Auf der Grundlage eines Korpus von Videoaufzeichnungen argumentiert sie gegen die verbreitete Annahme von der Sprecherfixiertheit der Origo und betont, dass die Origo – entsprechend Bühlers Konzept der Deixis am Phantasma – vielmehr im Raum verschoben und auf andere Personen oder Entitäten projiziert werden kann. Die Videoauswertung ergab darüber hinaus eine Divergenz zwischen gestischer und sprachlicher Ebene, so dass Fricke von mehreren hierarchisch strukturierten Origines ausgeht, wobei die primäre Origo mit der Sprecherrolle verknüpft bleibt, während in Abhängigkeit von den kommunikativen Rollen und Dimensionen (verbale, gestische) weitere Origines projiziert werden können.




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Die Beiträge des zweiten Blocks, Time, befassen sich vorrangig mit dem Tempus- und Modussystem des Deutschen und Englischen. In ihrer kontrastiven, deutsch-englischen Studie Two ways of construing complex temporal structures arbeiten Christiane von Stutterheim, Mary Carroll und Wolfgang Klein Unterschiede der temporalen Realisierung von nacherzählten Ereignissen bei deutschen und englischen Muttersprachlern heraus: Während englische Sprecher das Erzählte über das Tempus der Verbform mit dem 'jetzt' des Hörers verbinden, favorisieren deutsche Sprecher anaphorische Verweise auf das bereits Eingeführte. Grund sind die Differenzen in den grammatischen Systemen, namentlich der Progressiv im Englischen, mit Hilfe dessen ein Ereignis von einem externen Referenzpunkt als verlaufend dargestellt werden kann. Die Beiträge von THOMAS A. FRITZ 'Look here, what I am saying!' Speaker deixis and implicature as the basis of modality and future tense und TANJA MORTELMANS The 'subjective' effects of negation and past subjunctive on deontic modals. The case of German 'dürfen' and 'sollen' untersuchen Modalität aus deixistheoretischer Perspektive. FRITZ nimmt dabei die modale Bedeutung des Futurs in den Blick und vertritt die These, dass das Konzept des Futurs und das modale System insgesamt darauf basieren, dass im konkreten Text jeweils ein deiktisch auf sich selbst referierender Sprecher ausgemacht werden kann. Daraus folgert er, dass alle Sätze wenigstens ein deiktisches Zeichen in Form eines Modalmorphems aufweisen. Unter Rückgriff auf BRANDOMs Begriff des "commitment" stellt er heraus, dass auch der Indikativ keinesfalls neutral ist, sondern den Glauben des Sprechers an die Faktizität der Proposition kodiert; verwendet dieser Modalmarker (Konjunktiv, Imperativ, Modalverben, Modaladverbien), so spricht er damit dem Hörer das Recht ab, das Geäußerte als faktisch aufzunehmen. Noch expliziter als FRITZ stuft MORTELMANS die Modalmarker als deiktische Ausdrücke ein, denn sie erlauben, so MORTELMANS, eine Lokalisierung von Ereignissen in Relation zur Sprecherorigo.

Der 3. Block zerfällt in zwei Teile – so beschäftigen sich die Beiträge von JOHANNES HELMBRECHT Politeness distinctions in second person pronouns und KATHARINA KUPFER Deictic use of demonstrative pronouns in the Rigveda mit der personalen deiktischen Dimension, während CONSTEN und HAUSENDORF deixistheoretische Entwürfe in umfassenderem Sinne vorlegen. HELMBRECHT klassifiziert die "Höflichkeits"formen der 2. Person in einhundert Sprachen und bezieht in seine Studie auch nominale Ehrenbezeichnungen, wie sie in asiatischen Sprachen häufig auftreten, mit ein. Dabei weisen nur 25 Prozent der untersuchten Sprachen ein System zur "Höflichkeits"distinktion auf, wobei in der sprachlichen Realisierung große Unterschiede auftauchen. Der Autor vermittelt interessante Erkenntnisse über die geographische Verteilung der Sprachen mit "Höflichkeits"distinktion und argumentiert für die Verbreitung dieser Distinktion mittels Sprachkontakt. Seine funktionale Interpretation der "Höflichkeits"form stützt er auf das face-Konzept von Brown/Levinson (Politeness, Cambridge: UP 1987). Dieses ist allerdings in meinen Augen zur Erklärung der pronominalen "Höflichkeits"distinktion nur bedingt geeignet. Die Verwendung der "Höflichkeits"form ist in einer gegebenen Sprechsituation obligatorisch und kann nicht automatisch als Versuch von Seiten des Sprechers gewertet werden, einen möglichen individuellen "face threatening act" gegenüber dem Hörer "wieder gut zu machen". Die Funktion der "Höflichkeits"form erschöpft sich eben nicht in "Höflichkeit" (wie meine Apostrophierung schon suggeriert), sondern gestaltet sich in der sozialen Interaktion überaus komplex (und ist darüber hinaus sprachabhängig). KUPFER beschreibt das Pronominalsystem und den deiktischen Gebrauch der Demonstrativa im altindischen Rigveda und stellt heraus, dass hier mit Hilfe des Akzents (bzw. seiner Abwesenheit) deiktische und anaphorische Verwendung der Demonstrativa ikonisch gekennzeichnet wird.




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MANFRED CONSTEN plädiert in Towards a unified model of domain-bound reference für ein neues Verständnis des Verhältnisses von Deixis und Anapher: Dieses sei nicht dichotomisch, sondern gestalte sich als gradueller Übergang. Auf der Grundlage von Beispielen, die sich einer eindeutigen Klassifizierung entziehen, ergänzt er das Konzept der indirekten Anapher (Schwarz 2000) um die Kategorie der "indirekten Deixis" und zeigt die strukturelle Ähnlichkeit von Deixis und Anapher, die vor allem in mündlicher Rede ineinander übergehen. Der Band schließt mit HEIKO HAUSENDORFs hoch originellem Beitrag Deixis and speech situation revisited. The mechanism of 'perceived perception', in dem die Funktion der Deiktika aus ihrer Bedeutung zur Konstitution der Sprechsituation hergeleitet wird. Hausendorf unterstreicht, dass die Sprechsituation mit Blick auf die sinnliche Wahrnehmung der Gesprächsteilnehmer begriffen werden muss; die Deixis bewerkstelligt dabei den Übergang vom individuellen perzeptiven Akt zur "mutually shared perception". Den deiktischen Mechanismus, der das ermöglicht, nennt er "mechanism of perceived perception" (252). Seine konsequente Einbeziehung der Verwobenheit der dialogischen Sprechsituation, in der Sprecher- und Hörerposition dynamisch wechseln und aufeinander bezogen sind, und die konzeptionelle Transzendierung des Satzes als Analyseebene hin zur Einbeziehung von Texten bzw. größeren Textsequenzen zeigt sich schon daran, dass in seinem Beitrag nicht wie in anderen Ansätzen (im Band etwa bei MEIRA und JUNGBLUTH) von "Sprecher" und "Hörer", sondern von "Gesprächsteilnehmer" ("participant") die Rede ist. Allerdings gelingt es ihm nicht, die Besonderheit der Deiktika gegenüber den (nonverbalen) Gesten herauszuarbeiten; er betrachtet vor allem das durch das Gespräch zu erzielende Ergebnis – "perceived perception", lenkt jedoch zu wenig Aufmerksamkeit auf den Prozess des Erzielens der "perceived perception". Hier sind nämlich die Deiktika unverzichtbar und irreduzibel; sein Versuch, (nonverbale) Gesten als äquivalent zu den (sprachlichen) Deiktika darzustellen, verkennt in diesem Sinne die Bedeutung expliziter Rede. Das mindert jedoch nicht die Originalität seines Entwurfs, der für die Deixisforschung nutzbar gemacht werden sollte.

Insgesamt handelt es sich bei dem besprochenen Band um einen wichtigen Beitrag zur Deixisforschung. Die einzelnen Beiträge setzen bisweilen originelle Akzente und ergänzen sich zu einem Bild der gegenwärtigen Forschungsaktivitäten in diesem Bereich, das durchaus als repräsentativ bezeichnet werden kann.




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Literatur:

Almeida, Maria Elisete Machado Pereira da Rocha (2000): La deixis en portugais et en français, Louvain [u.a.]: Peeters.

Consten, Manfred (im Druck): Anaphorische und deiktische Referenz, Tübingen: Niemeyer.

Engel, Sabine (1998): Das universale System der Personalpronomina, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang.

Grammenidis, Siméon (2000): La deixis dans le passage du grec au français, Gap [u.a.]: Ophrys.

Hausendorf, Heiko (1992): Gespräch als System. Linguistische Aspekte einer Soziologie der Interaktion, Opladen: Westdeutscher Verlag.

Pezechki, Homa Lessan (2002): Système verbal et deixis en persan et en français, Paris [u.a.]: l'Harmattan.

Psarudakis, Hrissovaladios (2001): Der, die, das als Pronomen in einer Theorie der Deixis, Erlangen [u.a.]: Palm/Enke.

Schwarz, Monika (2000): Indirekte Anaphern in Texten, Tübingen: Niemeyer.

Wrobel, Ulrike (2002): Referenz in Gebärdensprachen. Raum und Person, Research report, Institute for Phonetics and Verbal Communication, München, Bd. 37.

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