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Kai Merten (Gießen)



Samuel Lyndon Gladden (2002): Shelley's Textual Seductions: Plotting Utopia in the Erotic and Political Works. NewYork / London: Routledge.



This living hand, now warm and capable
Of earnest grasping, would, if it were cold
And in the icy silence of the tomb,
So haunt thy days and chill thy dreaming nights
That though would[st] wish thine own heart dry of blood
So in my veins red life might stream again,
And thou be conscience-calm'd–see here it is–
I hold it towards you.
(John Keats)



Daß die Repräsentation körperlicher Begegnung und Kommunikation in der literarischen Romantik kein Schattendasein fristete, ist gerade der neueren Forschung bewußt geworden. Studien wie die von Robert Burns Neveldine (1998) in der Anglistik oder (mit etwas anderem Akzent) Ethel Matala de Mazza (1999) in der Germanistik künden von einer Rückkehr des Körpers in die wissenschaftliche Erforschung von Literatur und Kultur um 1800. Daß es dabei nicht immer so bedrohlich zugehen muß wie in John Keats berüchtigtem letzten Fragment – diesen Beweis tritt Samuel Lyndon Gladden mit seiner in der Reihe Studies in Major Literary Authors bei Routledge erschienenen Disseration an. Zu diesem Zwecke wendet er sich Keats' Zeitgenossen Percy Bysshe Shelley zu und untersucht eine Reihe seiner Texte aus verschiedenen Werkphasen auf ihre textuellen Verführungsstrategien. Shelleys Poetik geht dabei, so argumentiert Gladden, von der Privatheit menschlicher Sexualität zwar aus. Der in Shelleys Texten konstituierte Textkörper aber weckt das Begehren des Lesers (!) dergestalt, daß die Grenzen zwischen textuellem Körper und Leser-Körper durchlässig werden. Im Zuge dessen schwindet auch die Grenze zwischen öffentlicher Politik und privater Zurückgezogenheit, so daß die von erotischem Geschehen und sexuellen Implikationen geprägten Textlandschaften Shelleys zu utopischen Räumen politischer Revolution werden können.




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Die Rede von einer "Landschaft" ist dabei keine farbige Metapher des Autors (oder seines Rezensenten) – vielmehr geht es Gladden ganz explizit um Prozesse und Projekte literarischer Kartierung in Shelleys Werk. Er beruft sich dabei auf Geoff Kings (1996) Theorie kultureller Kartographie, die von einer begehrlichen Aneignung der Welt im Zeichnen von Landkarten ausgeht. "In exactly this way, Shelley deploys the strategies of textual seduction to lure his readers into plotting utopia with him, to imagining the idealized world he predicts." (10) Für die politische Dimensionierung dieses Begehrens – sog. "politische" Karten genauso wie die Diskursivierung und Nutzung fremder Räume –, mit der sich die Literatur nach Ansicht Graham Huggans (1994) auseinanderzusetzen hat, interessiert sich Gladden dabei nicht.

In sechs umfangreichen Kapiteln, von denen das erste als "Introduction" in den kultur- und psychohistorischen Hintergrund einführt, entfaltet Gladden eher so etwas wie eine Landkarte der Erotik in Shelleys Werk und ihres utopischen Potentials. Das Erotiko-Politische wird dabei zum Raum einer literarischen Gegentradition, "in which pleasure and love are posed as symbols for liberation from oppressive regimes and selfishly invested individuals" (34).Weitere Kronzeugen seines Projekts sind erwartungsgemäß Roland Barthes mit seiner Konzeption textueller jouissance sowie Julia Kristeva mit ihrer Erkundung präödipaler Begehrensstrukturen und ihrem Konzept einer (linguistischen) Revolution durch die poetische Sprache.

Kapitel 4 mit seiner Analyse des Epipsychidion avanciert dabei zum Angelpunkt von Gladdens Theoretisierung romantischer Textverführung. Gladden liest die komplexe Dreiecksstruktur (eines Mannes, seiner Ehefrau und einer Geliebten) in diesem späten Gedicht Shelleys als Inszenierung menschlichen Begehrens nach dem Lacanschen objet a, aber auch als Andeutung einer Lösung für die subjektauslöschende Aporie dieses Grundverlangens. Shelley, so Gladden, geht es um ein Übersteigen der symbolischen Ordnung (auch als der Sphäre der Politik) in eine utopische Sphäre, die dem Imaginären angehört. Gerade die monierten "weak verses" (194) des Gedichts haben dabei die Funktion, die Verstellung der imaginären Freiheit (bzw. des freiheitlichen Imaginären) durch die symbolische Ordnung auszustellen. Der "Shelley" des Gedichts erkennt Gladden zufolge, daß seine Angebeteten stets unvollkommene Platzhalter für das immer unerreichbare objet a bleiben müssen. Eine Lösung besteht sodann in einem Changieren der Beteiligten zwischen den Positionen von Liebenden und Geliebten, Mann und Frau und zuletzt Mutter und Kind. Gerade in der letzten Konstellation bietet sich laut Gladden ein Ausweg aus dem Begehrensdilemma, da Emily dem Dichter als "phallische Mutter" (205) dienen kann, die ihm eine flüchtige Rückkehr in das präödipale Imaginäre ermöglicht.

Der Begriff der phallischen Mutter ist zwar vom psychoanalytischen Kanon gedeckt, ruft aber einige Bedenken bezüglich seiner Anwendbarkeit zur Theoretisierung einer britischen "politischen Romantik" hervor.




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Das Utopische in Epipsychidion wie in den meisten der von Gladden untersuchten Gedichten bleibt denn auch notwendigerweise ephemer, da es auf der Übersteigung all dessen beruht, in dem Utopien (ganz zu schweigen von Revolutionen) zur Wirkung gelangen sollen. Das ist nicht zuletzt deswegen problematisch, da Gladden seinem Buch gewissermaßen einen marxistisch-dialektischen Anstrich gibt, indem er es in die beiden Großabschnitte "The Problem" und "The Solution" einteilt. Dabei wird ein Weg durchschritten, der von Shelleys dramatischer Satire Oedipus Tyrannus, dem Werk, in dem das Erotisch-Utopische eher latent und noch stark unterdrückt (auch von politischen Kräften, die im Text beschrieben werden) erscheint, über The Cenci und Julian and Maddalo, allesamt "Problem"-Texte, zu Epipsychidion, Laon and Cythna und schließlich zu Prometheus Unbound als den "Lösungen" führt. In letzterem, wiederum einem Drama, kommt die von Gladden gefeierte erotisch-landschaftliche "ooziness" (271) denn auch erwartungsgemäß am ehesten zur Wirkung – das Utopisch-Revolutionäre von Prometheus Unbound besteht aber bekanntlich aus einer Vielzahl von Aspekten und dabei nicht zuletzt aus einer energischen Reflexion des politischen Gehalts und der (potentiellen) öffentlichen Effektivität seiner selbst, wie Michael Simpson (1998) kürzlich gezeigt hat.

Der Marsch zu Shelleys mythopoetischem Drama als Ziel – auf das in einem Ausblick nur noch ein kursorischer Blick auf textuelle Verführung bei Shelleys Zeitgenossen sowie in der Viktorianischen Literatur folgt – ist beschwerlich, vor allem da, wo Gladden darauf besteht, auch noch in der menschenfernsten, ausgestoßensten Figur Spuren eines Ringens um sexuelle und politische Befreiung zu sehen, wie es beim "maniac" in Julian and Maddalo der Fall ist, dessen Selbstfixierung als eine gewissermaßen ins Innere seines Körpers verlagerte Grenzauflösung und Überwindung von Schranken gefeiert wird.

Gelungener ist die Interpretation der Shelleyschen Satire Œdipus Tyrannus; or, Swellfoot the Tyrant, die im Anschluß an das historisch informative, systematisch aber nicht ganz überzeugende Einleitungskapitel die Reihe der Textanalysen eröffnet. Die in der Einleitung aufgebotene Erkundung des (diskursiven) Mißbrauchs des (politischen) Körpers von Marie Antoinette wird dabei parallelisiert mit der Analyse einer ganz ähnlichen Fetischisierung eines "corpus delicti": Queen Caroline wurde in der nach ihr benannten Affäre u. a. libidinöse Übertretungen aller Art auf ihren ausgedehnten Kontinentalreisen vorgeworfen und nach ihrer Rückkehr der Prozeß wegen Untreue gemacht. Gladden weist in seiner ausführlichen Analyse des satirischen Dramas, dessen Vernachlässigung in der Forschung er zu Recht moniert, nach, daß Shelleys Text die Politisierung und Sexualisierung des Körpers der Königin aufgreift, dann aber den Spieß umdreht und der weiblichen Hauptfigur gerade in der erotischen Grenzüberschreitung – zumindest temporär – den Aufbruch zu einer Gesellschaft als einem Verbund emanzipierter Körper ermöglicht.

Andererseits läßt sich Gladden aber auch hier wieder erotische Schnellschüsse zuschulden kommen, wo er das subtile Spiel Shelleys mit Erotik und Körperlichkeit als symbolischen Praktiken nicht zu entschlüsseln vermag, da für ihn das Erotische viel zu schnell auf ein utopisches, gesellschaftsjenseitiges Moment verweist.




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Im Überspielen der gesellschaftlichen Verfaßtheit von Sexualität liegt wohl der Hauptmangel dieses Buches. Gladden gibt zwar auch für seine Shelleysche Texterotik einen Aspekt der Machtausübung zu (8), sehr schnell (und recht untertheoretisiert) aber erfolgt dann der Übertritt von einer Sphäre öffentlich-politischer Unterdrückung auch sexueller Art zu einem befreiten Miteinander in einem liminalen Raum zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten (11). Damit beschwört Gladden zwar schon so etwas wie eine Dekonstruktion der Dichotomie öffentlich-privat, aber er übersieht (und bestätigt dadurch) die diskursive Verfaßtheit des Privaten, wenn er letztlich doch nur eine Herausforderung der Öffentlichkeit durch die private Welt der Liebe (49) evoziert.

In diesem Sinne greift die Theoretisierung des Erotischen im Einleitungskapitel viel zu kurz, wo sie – ausgehend ausgerechnet von De Sades repetitiven Tableaus sexueller Übertretung und Gewalt – letztlich einer längst diskreditierten "sexuellen Befreiung" das Wort redet. Daß die Darstellung von Sexualität das nachzeichnet, dabei affirmiert oder allenfalls kritisch überzeichnet, was man nicht umsonst "Praktiken" nennt, also symbolisch beladene, diskursiv geregelte und medial weitergetriebene Formen der Körperlichkeit, ist dem Horizont dieses Buches weitgehend fern. Dies führt auch zu der geradezu provokativ naiven geschlechtlichen Aufladung des Text-Leser-Verhältnisses. Der an sich richtige Ansatz einer Untersuchung der Dimensionierung des Leser-Körpers in der Romantik wird hier verschenkt, wenn dieser ausschließlich als Mann imaginiert wird, der den Text "penetriert" (13) oder auch "fickt" (15).

Insgesamt soll nicht in Abrede gestellt werden, daß gerade mit dem Körper eine Übertretung der Praktiken des Diskurses möglich ist. Doch diese Übertretung mit den repräsentatorischen Mitteln des Dichters (bzw. des Literaturwissenschaftlers) einzuholen, dürfte schwieriger sein, als Gladden sich das vorstellt. Er scheint dabei insbesondere der Macht der formelhaften Wiederholung seiner Hauptthesen zu vertrauen, was neben regelmäßig wiederkehrenden Beschwörungen von "ooziness" und dem "plotting of utopias" etc. seinen Höhepunkt in der zweimaligen Verwendung desselben Textbelegs auf einer Doppelseite findet (200 f.), welche auch von einer gewissen Ermüdung von Autor und Lektoren gleichermaßen kündet.

Gladden scheint sich vor dem Stillstand regelrecht zu fürchten – und doch ist es gerade der Tod, der unsere Körperlichkeit zeichnet und der uns dem anderen mit der Gier nach seinem Leben und der Furcht vor seinem Tod begegnen läßt, wie Keats es wortgewaltig beschworen hat – Aspekte romantischer Körperlichkeit, die in Gladdens Kosmos aber ebenfalls keinen Platz haben.



Bibliographie

Huggan, Graham (1994): Territorial Disputes: Maps and Mapping Strategies in Contemporary Canadian and Australian Fiction. Toronto: University of Toronto Press.

King, Geoff (1996): Mapping Reality: An Exploration of Cultural Cartographies. New York: St. Martin's Press.




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Matala de Mazza, Ethel (1999): Der verfaßte Körper: Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg: Rombach.

Neveldine, Robert Burns (1998): Bodies at Risk: Unsafe Limits in Romanticism and Postmodernism. New York: SUNI Press.

Simpson, Michael (1998): Closet Performances: Political Exhibition and Prohibition in the Dramas of Byron and Shelley. Stanford: Stanford UP.

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