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Anna-Sophia Buck (Münster)



Hans Felten / David Nelting (Hg.) (2003): ...se vi rimembra di Narcisso... Metapoetische Funktionen des Narziss-Mythos in romanischen Literaturen. Frankfurt am Main: Peter Lang. (= Studien und Dokumente zur Geschichte der Romanischen Literaturen, Bd. 49)



Nach der Publikation der wegweisenden Studien zu metafiktionalen Texten und ihrem literaturtheoretischen Überbau von Linda Hutcheon (1980) und Patricia Waugh (1984) ist die Auseinandersetzung mit Werken, die um sich selbst kreisen, nicht abgebrochen. Dies gilt sowohl in der anglistischen Literaturwissenschaft, die Begriffe wie 'metafiction' und 'self-reflected writing' geprägt hat, als auch für die Romanistik, in der diese Terminologie mit einer zeitlichen Verzögerung Einzug hielt und sich etablierte (für die Hispanistik vgl. z.B. Spires 1984 und Dotras 1994), wenn auch bereits durch die Arbeiten von Jean Ricardou (1967, 1978) und Lucien Dällenbach (1977) unter Rekurs auf André Gide die Rede war von 'mise-en-abyme', 'récit abymé' und 'récit spéculaire'.

Hutcheon bedient sich bereits im Titel der genannten Monographie Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox des Narziss-Mythos, der zur Chiffre par excellence für die introspektive Dynamik literarischer Texte geworden ist. Von den zahlreichen kommentierten Materialsammlungen zum Thema (Orlowsky / Orlowsky 1992, Renger 1999) abgesehen, sind auch in den vergangenen zehn Jahren weitere Untersuchungen erschienen, die, ausgehend von der poetologischen Valenz des Mythos und seiner Mytheme, die Stabilität und das transformative Potential in literarischen Texten analysieren. Zu nennen wären beispielsweise die Monographie von Marshal W. Alcorn, Jr. (1994) oder die Sammelbände von Lieve Spaas (2000) oder Almut-Barbara Renger (2002).

Für den Bereich der romanischen Literaturwissenschaft legen nun Hans Felten und David Nelting einen Band vor, der bewußt "nicht den positivistischen Versuch einer exhaustiven Übersicht über die Variationen eines Mythos" (VII) darstellen soll. Ausgehend von der zentralen Rolle, die "der Figur des Narziss und vor allem der Denkfigur des 'Narzisstischen' für das System der Literatur" (IX) traditionell zuteil wird, zielen die Artikel auf die jeweils spezifische Verortung der analysierten Texte in das kulturelle Gesamtsystem ihrer Zeit. Als Prämisse gilt den Hg. die epochenübergreifende "Allgegenwart autoreflexiven Schreibens" (VIII, Fn.3), die bereits von Patricia Waugh für die Gattung Roman herausgestellt wurde.1

Die Beiträge widmen sich französischen, italienischen und spanischen – zumeist lyrischen – Primärtexten, die chronologisch vom Mittelalter über Renaissance und Barock bis in die unmittelbare Gegenwart reichen und die unbestrittene Zeitlosigkeit des Mythos dokumentieren, gleichzeitig aber auch seine Disparatheit und Funktionalisierung im Rahmen einer mehr oder weniger normativen Poetik aufzeigen. Dabei stellt sich automatisch die Frage nach epochen- und gattungsspezifischen Zwängen bei der Fokussierung auf bestimmte Mytheme eines ohnehin variantenreichen Mythos, wenngleich der Schwerpunkt der Rezeption auf dessen "ovidianisch geprägte[r] Variante" (VII) beruht, wie Felten und Nelting eingangs konstatieren.




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In einem konzisen Vorwort, das en passant die wesentliche Sekundärliteratur referiert, betonen die Hg. bei der Formulierung ihres Erkenntnisziels eine poetologisch entscheidende Beobachtung, nämlich dass sich "durch jeweils exemplarische Einzeluntersuchungen [...] epochale Strukturwandel im literarischen Diskurs plastisch machen [lassen]" (VII). Unter Bezugnahme auf das Standardwerk von Hans Blumenberg (1979) wird der Narziss-Mythos demnach nicht nur als "Thema- und Strukturmodell" (IX) aufgefasst und untersucht. Es rückt vor allem die 'Arbeit am Mythos' in den Vordergrund des philologischen Interesses, gewährt sie doch Erkenntnisse über die Möglichkeiten der "Relationierung der Texte mit einem größeren kulturellen System" (ibid.), die sich wiederum "aus der ästhetischen Selbstreflexion ableiten" lässt (ibid.). Gerade in der teils offenenen, teils versteckten Transparenz, die den 'Narziss-Texten' eigen ist, liegt ihre polyvalente Qualität: einerseits sind sie introspektiv und autoreflexiv, legen somit ihre Produktionsästhetik offen, andererseits grenzen sie sich ab oder ordnen sich ein in konkrete epistemologische Paradigmata. So kommen die Hg. im Vorwort zu dem zwingenden Schluss: "[...] die narzisstische Selbstreflexion des ästhetischen Artefakts ist auch in nachmoderner Zeit von anthropologischer Relevanz, zeigt sie doch exemplarisch den Kulminationspunkt der Entwicklung hin zu einer zunehmend inauthentischen Semiotik der Kommunikation" (X).

Wie nun werden die genannten Prämissen in den jeweiligen Beiträgen umgesetzt, wie präsentieren sich die Gestalt des Narziss und die Figur des 'Narzisstischen'? Die mythologische Gestalt manifestiert sich als "Emblem für eine Reflexion des Textes über das literarische System selbst" (VII), als "una suerte de femme fatale masculina" (2) und "reflejo, atracción libidinal y muerte"(7) bei Cifuentes Aldunate, als "...ung autre Narcissus" (63) bei Nelting bzw. dem von ihm untersuchten Autor Jean Lemaire de Belges, als "Paßwort" (102) bei Leopold, als "dieu caché" (83) bei Scholler.

Die Figur des 'Narzisstischen' wird konsequent in allen Beiträgen problematisiert und von Claudio Cifuentes Aldunate im ersten Artikel, "La literatura como celebración del mito de Narciso" (1–9), nicht in Bezug auf einen konkreten Einzelfall, sondern auf allgemeine metafiktionale Fragestellungen hin untersucht. Dabei widmet er sich exemplarisch unter Rekurs auf die Sonatas von Ramón del Valle-Inclán dem Aspekt der "literatura como proceso de seducción" (5) als einem Verfahren des narzisstischen Schreibens, "cuyo efecto final es el engrandecimiento del yo, es decir el yo del sujeto seductor (el personaje) y al mismo tiempo el yo de la instancia productora (el autor)" (5). Der ostentative Charakter, der der textgenerierenden Instanz quasi per se zukommt, degeneriere in der zeitgenössischen Literatur häufig zur leeren Geste, die weit davon entfernt sei, eigene oder gar neue Diskurssysteme begründen zu können, so Cifuentes: "Este juego metapoético [...] se ha ido desarrollando en la literatura contemporánea a niveles cada vez más evidentes. [...] Esta metapoeticidad se ha vuelto una estrategia discursiva casi del orden de lo trivial y es otra manera de autoreflejo textual [...]" (5). Ein Vorwurf, der von der zeitgenössischen Kritik allzugern erhoben wird, dem allerdings auch – und gerade im vorliegenden Band – konträre Beispiele entgegengestellt werden, so die Beiträge über Manuel Rivas (Petra Tournay) und Antonio Tabucchi (Hans Felten).




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Tournay weist in zwei Erzählungen des galicischen Autors dessen "gusto por la superposición o la sustitución de la realidad con la imaginación, es decir, por la interferencia de una realidad ficticia en otra" (127) nach und argumentiert nachhaltig mit den Worten von Patricia Waugh (1995: 46): "Metafictional deconstruction has [...] offered extremely accurate models for understanding the contemporary experience of the world as construction, an artifice, a web of interdependent semiotic systems" (128, Fußnote 4). Felten bestätigt einerseits die Beobachtung von Cifuentes, wenn er feststellt: "Il narcisismo, tema predominante dell'ultimo romanzo di Tabucchi, risulta più che ovvio tanto nella trama quanto nell'atteggiamento dei narratori [...]" (137), betont aber gleichzeitg die "sofisticati riferimenti su cui egli costruisce i suoi testi" (138), stellt also den polyvalenten Verweischarakter von Tabucchis Texten heraus, auch wenn diese auf der Basis einer "tecnica della degradazione o della banalizzazione dei miti" (139) entstanden sind.

Als 'hoher Held' des Sammelbandes muß zweifelsfrei der Diskursbegründer Petrarca gelten, zu dem die Artikel immer wieder hinführen, bildet er doch (nicht nur) mit dem Canzoniere die Plattform rinascimentaler Dichtung und prägte – wie in den Fallstudien des Bandes gezeigt wird (vgl. die Beiträge von Farinelli, Huss, Scholler, Leopold) – das liebeslyrische Modell der Romania über die Grenzen des Renaissance-Systems hinaus. Der petrarkistische Diskurs entpuppt sich als kaum weniger wirkmächtig als der ovidianisch überlieferte Mythos und veranlasst Dietrich Scholler in seinem Beitrag über die Cinquecento-Lyrikerin Gaspara Stampa abschließend zu der pointierenden Frage: "Narcissus Petrarcus?" (88). Bernhard Huss geht der "Stultizia del bel Narciso" (41–62) nach und untersucht, "wie sich Lorenzos liebeslyrische Rede im Spannungsfeld zwischen lyrischem Petrarkismus und philosophischem Ficianismus positioniert" (42f.). Patrizia Farinelli setzt unter der Überschrift "L'Eco di Laura. Presenza del mito di Narciso nel Canzoniere" (29–39) den Gedanken voraus, dass "pochi altri miti classici riescono a rappresentare l'amore e il processo di espressione della parola amorosa cantati da Petrarca come lo fa quello di Eco e Narciso" (29) und kommt in einer luziden Analyse zu dem Ergebnis: "Si è potuto infatti osservare come le due figure di Eco e Narciso simboleggino attitudini diverse a seconda del luogo considerato della raccolta, valgano come figuranti intercambiabili capaci di rappresentare tanto il soggetto maschile che quello femminile delle Rime, finiscano infine per sovrapporsi nello stesso soggetto" (38).




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Die beiden der französischen Literatur gewidmeten Aufsätze analysieren mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Text-Varianten des Mythos. Während Cristina Noacco einen allgmeinen Überblick über "Le mythe de Narcisse dans la littérature médiévale de langue d'oïl (XIIe –XIIIe siècles)" (11–28) bietet, über einen Zeitraum also, der nicht von ungefähr den Beinamen "aetas ovidiana" (11) führt, untersucht David Nelting "die Herausbildung einer nachmittelalterlichen Poetik" (63) am Beispiel der Première Epistre de l'amant vert von Jean Lemaire de Belges. Dabei wird unter anderem Folgendes deutlich: "an die Stelle des mittelalterlichen, christlich-allegorischen Ovide moralisé ist im Rahmen des philologischen Bemühens um die poetische Autonomie der vorbildhaften lateinischen Werke, wie es schon den italienischen Lateinhumanismus kennzeichnet, die entschlossene Aktualisierung der paganen Erotik des Autors der Ars amatoria getreten" (72). Neltings Beitrag verfolgt in der Einzelanalyse auf eindringliche Weise das Ziel des gesamten Bandes, wie es eingangs bereits formuliert wird, nämlich "die metafiktionale Selbstvergewisserung der je epochal verschiedenen literarischen Vertextungsverfahren" (VIII) anhand des Narziss-Mythos zu rekonstruieren, deren vielfältige Varianten herauszuarbeiten und diese innerhalb des Gesamtsystems 'Literatur' referentiell zu verorten. Diesem Anliegen wird der Sammelband gerecht und ist damit ein gelungenes Beispiel für die weiterführende erkenntnisbringende 'Arbeit am Mythos'.

 

Bibliografie

Alcorn, Marshal W. Jr. (1994): Narcissism and the Literary Libido. Rhetoric, Text and Subjectivity. New York: New York University Press.

Blumenberg, Hans (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Dällenbach, Lucien (1977): Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme. Paris: Seuil.

Dotras, Ana María (1994): La novela española de metaficción. Madrid: Júcar.

Hutcheon, Linda (1980): Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. Waterloo, Ontario: Wilfrid Laurier University Press.

Orlowsky, Rebekka / Orlowsky, Ursula (Hg.) (1992): Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. München: Fink.

Renger, Almut Barbara (Hg.) (1999): Mythos Narziss. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig: Reclam.

Renger, Almut-Barbara (2002): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Stuttgart: Metzler.




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Ricardou, Jean (1967): Le nouveau roman. Paris: Seuil.

Ricardou, Jean (1978): Nouveaux problèmes du roman. Paris: Seuil.

Spaas, Lieve (2000): Echoes of Narcissus. New York / Oxford: Berghahn Books.

Spires, Robert C. (1984): Beyond the Metafictional Mode: Directions in the Modern Spanish Novel. Lexington: The University Press of Kentucky.

Waugh, Patricia (1984): Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. New York / London: Methuen.

Waugh, Patricia (1995): "What is Metafiction and Why are They Saying Such Awful Things About it?", in: Currie, Mark (Hg.): Metafiction. London: Longman, 39–54.

 

Anmerkungen

1 "[...] although the term 'metafiction' might be new, the practice is as old (if not older) than the novel itself. [...] metafiction is a tendency or function inherent in all novels" (Waugh: 1984: 5).

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