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Jörg Dünne (München)


Michael Hein, Michael Hüners, Torsten Michaelsen (Hg.) (2002): Ästhetik des Comic. Berlin: Erich Schmidt.


Obwohl die Geschichte des Comics weiter zurück reicht als die des Films, kämpft die 'neunte Kunst' immer noch in einer Art und Weise um Emanzipation, die der Film auf Ebene der Theorie sowie der akademischen Institutionalisierung längst hinter sich gelassen hat. Der 2002 von Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen von der "Arbeitsstelle Graphische Literatur" der Universität Hamburg herausgegebene Sammelband zum Comic leistet einen wichtigen Beitrag dazu, der Comictheorie im deutschsprachigen Raum aus ihren Kinderschuhen herauszuhelfen. Die sehr lange Entstehungszeit des Buchs, das ausgehend von einer Hamburger Tagung von 1994 konzipiert und um zahlreiche Beiträge ergänzt wurde, wirkt sich dabei im Großen und Ganzen nicht negativ aus, sondern bereichert eher das Spektrum der Zugriffsweisen – schade nur, dass sich bei der Einrichtung für den Druck einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen haben und die Bildqualität der zahlreichen Schwarzweißabbildungen nicht immer die beste ist. Gemeinsamer Nenner der Beiträge ist die Frage nach einer Ästhetik des Comic, in Abgrenzung von soziologischen Zugängen zur Populärkultur sowie von rein technikgeschichtlichen Ansätzen, die, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, den Comic im Vergleich mit den apparativen Medien eher stiefmütterlich behandeln.

Die nicht zu unterschätzende Leistung des Bandes besteht bei aller Heterogenität seiner Beiträge, die auf Strips und Alben aus den verschiedensten Ländern und Momenten der Comicgeschichte ausgreifen, darin, dass er seine Leser mit den verschiedenen Etappen dessen konfrontiert, was man den Emanzipationsdiskurs der Comictheorie nennen könnte – in diesem Sinn wird diese Rezension versuchen, die deutlich spürbaren Spannungen zwischen den einzelnen Beiträgen in die (zugegeben nicht ganz teleologie- und wertungsfreie) Erzählung eines "Entwicklungsromans der Comictheorie" zu überführen. Dies wird zu einer vielleicht nicht ganz unerwarteten Begegnung mit einem Wiedergänger der philosophischen Medientheorie führen – dazu aber später.

Bevorzugter Ausgangspunkt sowohl für den literaturwissenschaftlich als auch für den kunstgeschichtlich geprägten Blick auf Comics ist offensichtlich die Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon: Während bei Lessing zwischen der Simultaneität des Bildes und der Linearität des Textes kein Drittes möglich zu sein scheint, verhandeln die Beiträge von Giulio C. Cuccolini ("Ein Bastard auf Papier", 59–70), Fritz Breithaupt ("Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder", 37–50) und Hans Holländer ("Zeit-Zeichen der Malerei", 103–124) genau diese Zwischenposition des Comic, während der Beitrag von Karl Clausberg ("Metamorphosen am laufenden Band. Ein kurzgefasster Problemumriss der Sprechblase", 17–36) historisch noch weiter, d.h. in die mittelalterliche Kunst zurückgeht, um seine Entstehung einzuordnen.



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Die Eigenständigkeit des Comic besteht, so exemplarisch Cuccolini, in der Verbindung von Zeit- und Raumkunst, von Textualität und Bildlichkeit. Breithaupt erweitert diese Aussage durch den wichtigen Hinweis auf die zeitliche Dynamisierung des Comic-Bilds mittels des Zeichentyp des "Indizes", was er bereits in Goethes Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon ästhetikgeschichtlich reflektiert findet. Wie Breithaupt die Vorgeschichte des Comics auf der Seite der Literatur verbucht, reklamieren Clausberg und Holländer ihrerseits den Comic als Ableger kunstgeschichtlicher Praktiken, vor allem der mittelalterlichen Bilderfolgen und Spruchbänder. Letzterer verweist jedoch die Verantwortung für die eigentliche Comicgeschichte zurück an die Literatur: "Der Comic gehört in [eine] literaturanaloge Tradition." (123). Die Unsicherheit, welche Disziplin für den Comic nun letztlich zuständig sei, deutet darauf hin, dass auf dem Boden von Lessings Unterscheidung nur schwer eine positive Bestimmung des Comic möglich ist und daher auch die genannten Emanzipationsbestrebungen der Comictheorie im Ansatz steckenzubleiben drohen.

Es verwundert angesichts der Gefahr der Vereinnahmung des Comic durch dominant kunst- bzw. literaturgeschichtliche Ansätze nicht, dass die entschiedensten Vertreter einer 'emanzipatorischen' Comictheorie nicht diachron argumentieren, sondern synchron, d.h. von der Semiotik des Comic ausgehend, die Frage nach seinen narrativen Eigenheiten stellen und sich dabei unter anderem von der in der Literaturwissenschaft entwickelten Erzähltheorie absetzen (so Michael Hein, "Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit", 51–58; Günter Dammann, "Temporale Strukturen des Erzählens im Comic", 91–102; und Daniele Barbieri, "Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung", 125–142).

Wenn Hein, der sich übrigens als einziger der Herausgeber mit einem eigenen Beitrag zu Wort meldet, den spezifischen Unterschied der Zeitstruktur des Comic zum schriftlich fixiertem Text in der "Sprunghaftigkeit" (56) sieht, so greift sein Ansatz zu kurz, weil es ihm durch den bloßen Hinweis auf "Zwischenräume" und "Rhythmus" nicht gelingt, die Verbindung zwischen Panels positiv zu beschreiben: Eine solche positive Beschreibung ist unter Rückgriff auf die erzähltheoretischen Kategorien von erzählter Zeit und Erzählzeit möglich, die die diskontinuierliche Sukzession von einzelnen Panels in einen doppelten Zusammenhang einbetten. Dammann wendet sich einer solchen narratologischen Beschreibung der Comics zu, wobei er in Abgrenzung von der literarischen Erzähltheorie nach Gérard Genette insbesondere die Komplexität der Kategorie "Erzähltempo" im Comic hervorhebt: Vollkommen zu Recht führt Dammann die Differenzierung von Gesamtzahl der Panels und der Zeit ein, die zwischen den einzelnen Panels verstreicht; diskutierbar bleibt dabei seine (bewusst gegen Genette gerichtete, aber ein wenig arbiträr wirkende) Terminologie, die von "schnellem" Erzählen dann spricht, wenn eine kurze Zeitspanne zwischen einzelnen Panels verstreicht und nicht, wenn die erzählte Geschichte auf wenige Panels konzentriert ist.



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Genauso wie Dammann setzt auch der Beitrag von Barbieri am Problem des komplexen Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit in der Comicanalyse an. In einem weiten und eigenwilligen theoretischen Bogen expliziert er in Anschluss an Harald Weinrichs Begriff der Reliefbildung, dass der Rhythmus des Comic (der durch Genettes Kategorie des Erzähltempos nur unzureichend erfasst werden kann) nicht nur von der mehr oder weniger schnellen Ereignissukzession, sondern auch von der graphischen, verbalen und narrativen Komplexität der einzelnen Panels abhängt, die den Leser zu mehr oder weniger langem Verweilen bringen.

Die narratologisch argumentierenden Beiträge des Bandes machen durchgängig ein besonderes Pathos der Eigenständigkeit der Comics geltend: Während ihre Differenzierungen bezüglich einzelner Analysekategorien durchaus legitim und notwendig sind, so stellt sich doch die Frage, ob sie mit der generellen Ablehnung einer intermedial operierenden Erzähltheorie nicht vorschnell eines der wichtigsten und möglicherweise fruchtbarsten Forschungsdesiderate verabschieden, das Comic-, Film und Literaturanalyse als gleichberechtigte Partner an einen Diskussionstisch führen könnte.

Was bleibt der Frage nach der Ästhetik des Comic schließlich als Alternative zu den historisierenden Vereinnahmungen durch Literatur und bildende Kunst, die, teils ohne es zu wollen, die ästhetische Nischenfunktion des Comic festschreiben, und den semiotisch-narratologischen Emanzipationsbestrebungen, die die Unabhängigkeit des Comic mit seiner Isolierung aus jeglichen medialen Zusammenhängen erkaufen?

Man kann zum Beispiel den Comic als besonders geeigneten Ort für eine dezidiert (post-)moderne Ästhetik zu profilieren versuchen: Explizit tut dies Kathrin Hoffmann-Curtius ("Unikat und Plagiat. Die Meistererzählung im Comic", 153–170), wenn sie Plagiat! von Goffin/Schuiten/Peeters als Dekonstruktion linearen Erzählens interpretiert, dabei aber eine detaillierte Analyse teilweise schuldig bleibt. Perspektivenreicher scheint es, wenn Georg Seeßlen ("Gerahmter Raum – Gezeichnete Zeit", 71–90) die besondere Affinität des Comic zur historischen Erzählung hervorhebt, wobei aber, wie z.B. bei Bourgeon und Tardi, nur vordergründig auf die Heroisierung der Figuren der erzählten Geschichte und eigentlich vor allem auf die Hervortreibung von hyperrealen Bildern abgezielt wird, d.h., mit Seeßlens Worten, auf den "magischen Augenblick, in dem das archaisch-poetische Bild sich über die Begrenzungen des linearen Codes erhebt" (86).

Weiterhin kann man sich der postmodernen Ästhetik auch über die Frage der Körperlichkeit nähern, die von zwei Beiträgen des Bandes zum Gegenstand gemacht wird: Während jedoch Pascal Lefèvre ("Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit in der Comictheorie", 171–182) naiv eine besondere "Sinnlichkeit" von Comicbildern per se postuliert und nicht über vage kognitionspsychologische Gemeinpätze über das Zusammenwirken von Verstand und Wahrnehmung hinauskommt, untersucht Otto Karl Werckmeister ("Auge und Anatomie bei Giménez und Serpieri", 183–200) die Prominenz des Motivs des Auges bei Giménez und Serpieri angesichts einer zunehmend technisierten Umwelt als Versuch, "sich eines psychophysischen statt elektronischen Verhältnisses zur Wirklichkeit zu versichern, wie es in der antiken Idee des Mikrokosmos projektiert war" (197). Dass die in Comics erzählten Geschichten Vorbehalte gegen die "elektronische Modernisierung" (ebd.) vorbringen, wirft – unabhängig von dem Problem, ob sich diese interessante These verallgemeinern lässt – die Frage auf, wie sich die medialen Grundlagen von Comics selbst beschreiben lassen.



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Erst durch die Reflexion auf seine Medialität gewinnt der historische Ort des Comic nämlich seine spezifische Prägnanz. Mit der Mediengeschichte des Comic beschäftigen sich die beiden theoretisch zweifellos avanciertesten und perspektivenreichsten Beiträge des Bandes von Jens Balzer ("Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit", 143–152) und Ole Frahm ("Weird Signs. Zur parodistischen Ästhetik des Comics", 201–216). Balzer leitet die Geschichte des Comics in Parallelität zu der des Films von der Chronophotographie her, unterscheidet aber die Zergliederung von Bewegung nach Marey, die der Ästhetik des Comic entspricht, von der Synthetisierung von Bewegungen bei Muybridge, die zur Echtzeitillusion des Films führt. Im Anders als dem Bewegungsbild des Films ist dem Comic von vornherein eine markierte Zeitlichkeit eingeschrieben, die sich, so Balzer weiter, jenseits der Opposition von narrativ-textueller Sequentialität und bildlicher Simultanität, "selbst zeitigt" (151). Welche Möglichkeiten die "Zeit der Zeichen" des Comics bietet, erläutert Balzer in einer brillanten Lektüre an einem Beispiel aus der früheren Comicgeschichte, indem er das Spiel mit der Horizontlinie bei Herriman untersucht.

Ole Frahm macht in seinem Beitrag, der den Schluss des Bandes bildet, die gemeinsame theoretische Basis explizit, die auch Balzers Interpretation vorführt: Frahm entwirft die Skizze einer an den Parodiebegriff von Linda Hutcheon angelehnten "parodistischen Ästhetik" des Comics, die nicht von einem parodierten Referenten ausgeht, sondern aus einer Wiederholungsbewegung ohne Original stammt. Damit beendet er die Debatte um die Emanzipation des Comic mit der vielleicht überzeugendsten Art, dessen Selbständigkeit zu affirmieren: Das Verhältnis von Text und Bild im Comic ist nach Frahm nicht als Abweichung, sondern vielmehr als "Positivität" im Sinn einer differenzerzeugenden Wiederholung zu denken. Als Kronzeugen seiner Sicht führt Frahm einen französischen Philosophen an, dem sein Kollege Jens Balzer in Zusammenarbeit mit Martin tom Dieck vor einigen Jahren einen hintergründigen Comic, nicht zuletzt über die Möglichkeiten der Wiederholung im Comic selbst, gewidmet hat. Tom Dieck und Balzer erzählen, wie ein französischer Philosoph nach seinem Tod nicht in der Unterwelt ankommen will, sondern immer wieder über die Lethe setzt: Er ist der eingangs erwähnte Wiedergänger, dem man inzwischen nicht nur in der Kunstgeschichte, Literatur- und Filmwissenschaft, sondern immer öfter auch in der Comictheorie begegnen kann. Mit seiner Denkfigur der unabschließbaren Wiederholung jenseits eines identitätsstiftenden Ursprungs scheint auch die Suche des Comic nach der Emanzipation von anderen, älteren und scheinbar 'höheren' Künsten an ein selbstbewusstes Ende gelangt zu sein: Salut, Deleuze!1


Anmerkungen:

1 Vgl. Martin tom Dieck / Jens Balzer (1997): Salut, Deleuze! Bruxelles: Fréon [dt.: Salut, Deleuze! (2000). Zürich: Arrache Coeur.].

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