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Hildegard Haberl (Paris)


Wissen erzählen. Die Enzyklopädie im literarischen Text*


Narrating knowledge. The encyclopaedia in literary texts
This article is concerned with the question of how the "encyclopaedia" is represented in literary texts as a medium of storing and classifying knowledge. On the basis of an analyses of two texts, namely the fragmentary Bouvard et Pécuchet by Gustave Flaubert (1881) and Alizés by Michel Rio (1984), the changes in dealing with and shaping of the encyclopedia are examined. I try to show where different sorts of texts – the novel and the encyclopedia – resemble one another and where generic boundaries between them are transgressed. The motif of the encyclopaedia is discussed by concentrating on two distinct aspects: content and form. In the first part I examine explicit references to encyclopaedias in both texts (the presence of realistic and fictional encyclopaedias in the texts). Secondly, I try to show on the basis of the keywords classification/order, document/nomenclature, visualisation/illustration how the pattern or model of the encyclopaedia implicitly shapes the text. In both texts a changing conception of encyclopaedia can be noticed, which calls into question the claim to fixed and absolute knowledge systems and takes as a theme the cultural and discursive dependence of knowledge.


Im August 2001 wurde unter der Direktion von Nicolas Witkowski ein "kulturwissenschaftliches" Wörterbuch der Wissenschaften, ein Dictionnaire culturel des sciences publiziert. Es stehen darin nicht die (Natur-)Wissenschaften für sich allein im Blickfeld, sondern ihre Beziehungen zu Kunst, Literatur, Wirtschaft, Politik und Religion. Die Autoren und Autorinnen kommen aus den unterschiedlichsten Wissensbereichen und überschreiten bewusst ihre Disziplingrenzen. Der Kunstkritiker und Wissenschaftsjournalist Michel Ellenberger zum Beispiel, verfasst die Eintragungen archétype, Bauhaus, Klee, Malevitch. Jean Starobinski, der bekannte Literaturwissenschaftler, schreibt den Artikel réaction. Der Soziologe Bruno Latour zeichnet für die Artikel épistémologie und Pasteur verantwortlich. Die Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen verfasst u.a. die Eintragungen: Australopithèque, Balzac, Boucher de Perthes, Bouvard et Pécuchet, dinosaure, Neandertal, paléontologie, phrénologie, preuve, Zadig. Im Vorwort dieses Wörterbuches wird ausdrücklich auf die Interdependenz von Wissenschaft und Kultur verwiesen und betont, dass, auch wenn die Vernunft wissenschaftlich ist, sie nicht ohne das Imaginäre auskommen kann, genauso wenig wie die Wissenschaft ohne ihre Fiktion: "[...] la raison, fut-elle scientifique, ne peut se passer de l´imaginaire, ni la science de sa fiction." (Witkowski 2001: 13)

Ich möchte in diesem Artikel aus dem Blickwinkel der Literatur Enzyklopädien betrachten und der Frage nachgehen, wie die Enzyklopädie in ihrer Rolle als Medium der Wissenssammlung und Wissensordnung, in literarischen Texten dargestellt wird, wie sich über das Motiv und die Idee der Enzyklopädie eine Auseinandersetzung der Literatur mit diesen Wissensordnungen gestaltet. Methodisch werde ich meine Argumente aus zwei Texten heraus entwickeln und mittels Textanalyse untersuchen, auf welche Art und Weise Enzyklopädien in den literarischen Text eingewoben werden bzw. in welcher Form die Enzyklopädie/das Enzyklopädische die Textstruktur selbst mitgestaltet. Mit anderen Worten: es soll gezeigt werden, wo sich die Textsorten Roman und Enzyklopädie ähneln bzw. wo Gattungsgrenzen überschritten werden.

 

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Mit Mieke Bal teile ich das Interesse am Narrativen als "a mode of cultural self-expression" (Bal 1997: xi) und interessiere mich für die Erzähltheorie in ihrer Rolle als heuristisches Werkzeug der Kulturanalyse, die sich in diesem vorliegenden Text auf literarische Erzählungen konzentriert. Die ausgewählten Texte sind Bouvard et Pécuchet von Gustave Flaubert, 1881 als Fragment erschienen, sowie der 1984 publizierte Roman Alizés von Michel Rio. Die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Enzyklopädie und Roman dient mir als Verknüpfungspunkt und Vergleichsparameter bei der Analyse dieser beiden an sich sehr unterschiedlichen Texte.

Das Motiv "Enzyklopädie" soll auf zwei Ebenen thematisiert werden: zum einen auf der Inhaltsebene, zum anderen auf der Darstellungsebene. Ich werde in einem ersten Schritt die explizite Bezugnahme auf Enzyklopädien in den beiden Texten darstellen, um danach am Beispiel der Schlagwörter Klassifikation/Wissensordnung, Dokument/Nomenklatur und Visualisierung/Illustration zu zeigen, wie die Auseinandersetzung mit Enzyklopädie auch implizit die Erzählung prägt. In der jeweiligen literarischen Auseinandersetzung wird eine sich verändernde Konzeption von Enzyklopädie sichtbar, die den Anspruch auf fixierte und absolute Wissenssysteme in Frage stellt, sowie die kultur- und diskursraumspezifische Abhängigkeit von Wissen zum Thema macht.

 

Ausgangspunkt

Gustave Flaubert beschreibt seinen letzten Roman als "l’histoire de ces deux bonshommes qui copient une espèce d’encyclopédie critique en farce" (Flaubert 1998: 558–559)1, also die Geschichte zweier Männer, die eine Art kritische Enzyklopädie in Form einer Farce abschreiben. Er überlegte auch, dem Text den Untertitel einer "Enzyklopädie der menschlichen Dummheit" zu geben (Flaubert 1975: 150)2. Er konnte den Roman nicht fertigstellen; der Text endet mit einem unabgeschlossenen zehnten Kapitel. Aus dem hinterlassenen Material, den Skizzen und Plänen geht hervor, dass dem erzählenden Teil der sogenannte "sottisier" bzw. die "copie" hätte folgen sollen. Diese "copie" setzt sich u.a. aus einem "Wörterbuch der Gemeinplätze" (Dictionnaire des idées reçues), einem "Album der Marquise" (L´Album de la Marquise) und einem "Katalog der schicken Meinungen" (Catalogue des idées chic) zusammen. Die im ersten Teil, d.h. dem Roman–Teil, von Bouvard und Pécuchet gemachten (Diskurs)Erfahrungen sollten in den erwähnten "Archiven", also Wörterbuch, Album und Katalog, gesammelt und aufbewahrt werden. Es ist mir wichtig die beabsichtigte Kombination der Textsorten Roman und Wörterbuch zu betonen, obwohl ich mich in der Folge in erster Linie auf den Roman-Teil des Textes beziehen werde. Mehrfach wurde vorgeschlagen, in Bezug auf Bouvard et Pécuchet von einem "roman encyclopédique" bzw. einer "narrativen Enzyklopädie" (Scholler 1997: 44–45)3 zu sprechen. Es wird zu zeigen sein, wie sich Flaubert in seinem Text der enzyklopädischen Idee bedient, diese gleichzeitig aber auch hinterfragt, kritisiert und ironisiert. Er wählt dafür den Stil einer Ideenkomik, die beispielsweise darin besteht, dass er zwei ältere, etwas einfältige und gutgläubige Herren auf die Reise ins Reich des Wissens schickt.

 

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Die Thematisierung der Beziehung von Literatur und Wissen/Wissenschaften verbindet den Text Flauberts mit jenem Michel Rios. In dessen Romanen, wie auch in seinen theoretischen Schriften spielt die Verknüpfung von Wissen und Imaginärem eine wichtige Rolle. Er nimmt dabei immer wieder Bezug auf Enzyklopädien und Enzyklopädisten, zu denen er auch Flaubert zählt. Die Bedeutung Flauberts für Rio zeigt sich in Alizés u.a. durch den darin enthaltenen intertextuellen Verweis auf dessen Roman Salammbô, der neben einer fiktiven Enzyklopädie als einziger literarischer Text erwähnt wird.

Im Gegensatz zu Bouvard und Pécuchet gibt der Ich-Erzähler und gleichzeitig Hauptfigur des Romans keine komische Figur ab, sondern er ist umfassend gebildet und erzählt zudem seine Geschichte in einem sehr gehobenen Sprachstil.

 

1. Die Enzyklopädie im Text

 

ENCYCLOPÉDIE (l')

Tonner contre.
En rire de pitié, comme étant un ouvrage rococo
(Le Dictionnaire des idées reçues, Flaubert 1979: 512)

In beiden Texten kommen Enzyklopädien vor, sind mehr oder weniger wichtige Elemente der Erzählung. In Bouvard et Pécuchet handelt es sich dabei um die Nennung real existierender Enzyklopädien. Die im Text erwähnte Enyclopédie Roret – eine berühmte Sammlung allgemeinverständlicher Handbücher – erscheint ab dem Jahr 1822.4 Sie wird bezeichnenderweise als erstes der zahlreich zitierten Bücher angeführt. Was die Handlung anbelangt, so ist diese Enzyklopädie nur ein Detail und nicht wirklich relevant für deren Verlauf. Die Idee der Enzyklopädie gestaltet sich vielmehr im übertragenen Sinn, indem sie auf die Lebensführung der beiden Hauptfiguren umgelegt wird. Ihre Geschichte entwickelt sich – wie Dietrich Scholler zeigt – entlang enzyklopädischer Topoi: Wissensaneignung (Rezeption), System (Klassifikation), Erziehung (Applikation) und Wörterbuch (Dokumentation) (vgl. Scholler 1991: 40).

Bouvard und Pécuchet, beide von Beruf Kopisten, lernen sich im Juli oder August des Jahres 1838 in Paris kennen und entschließen sich, ihr Leben gemeinsam fortzusetzen. Eine Erbschaft erlaubt es ihnen, ihre Berufe aufzugeben und aufs Land zu ziehen, wo sie sich "endlich" den Wissenschaften widmen können. Sie befassen sich in der Folge mit sämtlichen Wissensbereichen: u.a. mit Landwirtschaft und Gartenbau, Chemie, Anatomie, Physiologie und Medizin, Geologie und Astronomie, Archäologie, Historiographie, Geschichtsphilosophie, Literatur, Grammatik, Ästhetik, Politik, Liebe, Gymnastik, Okkultismus, Philosophie, Psychologie, Logik, Mystik, Religion und Pädagogik. Die einzelnen Handlungssequenzen sind paradigmatisch durch den Beginn, die Ausführung und das "Scheitern" der wissenschaftlichen Tätigkeit gekennzeichnet. Auch ihre Versuche als Erzieher und Dozenten bleiben erfolglos. Die Zerstörung ihrer Wissensideale, ihres Glaubens an die Wissenschaften lässt sie schließlich wieder zu ihrer Tätigkeit als Kopisten zurückkehren, wobei sie u.a. das Dictionnaire des idées reçues hervorbringen.

 

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In Alizés bildet eine fiktive Enzyklopädie den Ausgangspunkt und ein zentrales Element der Erzählung. Der Ich-Erzähler erbt eine zweisprachige (englisch-französische) Enzyklopädie gemeinsam mit einem Segelschiff. Auf den ersten Seiten des Romans wird nun die Entstehungsgeschichte dieser außergewöhnlichen Enzyklopädie beschrieben, die auf den reichen Großonkel des Ich-Erzählers zurückgeht. Dieser engagierte für teures Geld die besten Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler des jeweiligen Sprachraumes, die, ohne voneinander zu wissen, an dem Projekt arbeiteten, das am Ende aus hundert Exemplaren zu je zwanzig Quartbänden bestand. Der Verkaufspreis eines zwanzigbändigen Exemplars wurde auf fünfundzwanzig Millionen Francs geschätzt. Der Ich-Erzähler überlegt nun, wie er sein Erbe, d.h. Enzyklopädie und Segelschiff vernünftig kombinieren könnte und entscheidet sich, nachdem er je ein Exemplar der Enzyklopädie an der Französischen Nationalbibliothek, im British Museum und in der Kongressbibliothek in Washington hinterlegt hat, für eine Reise in den Indischen Ozean, mit dem Ziel, die restlichen Enzyklopädien dort zu verkaufen. Das Reiseziel ergab sich u.a. durch die Rolle der englischen und französischen Sprache, die diese in dieser Region spiel(t)en. Der Ich-Erzähler erleidet Schiffbruch und landet auf einer vom Rest der Welt abgeschiedenen Insel, wo er die Eingeborene Suzanne kennenlernt. Ihr Zusammentreffen, ihre Liebesbeziehung und ihr intellektueller Austausch repräsentieren die Auseinandersetzung des europäischen Wissens mit einer mythisch-legendären Weltsicht; den Konflikt zwischen Geschichte und Legende/Mythos (vgl. Asholt 2000: 237–251).5 Suzanne, wie auch die übrigen Inselbewohner sind Mestizen. Französische Matrosen landeten im Jahr 1865, nach einem Schiffbruch auf der Insel und vermischten sich mit dem Inselvolk. Die Aufzeichnungen eines dieser Schiffbrüchigen wurden aufbewahrt, konnten aber von den nachfolgenden Generationen nicht mehr entziffert werden. Im Laufe der Zeit veränderte sich also das historische Ereignis der Landung der Europäer zu einer Legende bzw. einem Ursprungsmythos, der besagte, dass weiße Männer die Gründerväter des Inselvolkes seien. Aufgrund seiner Lesekenntnisse sowie der logischen Kombination gewisser (historischer) "Tatsachen", wie z.B. die europäische Architektur der Häuser auf der Insel, die blauen Augen Suzannes oder das Vorkommen europäischer Lehnwörter in der Inselsprache, stellt der Ich-Erzähler die Ursprungserzählung in Frage und erklärt Suzanne, dass die weißen Ahnen ihr Volk nicht hervorgebracht hatten.

Ils s’étaient seulement mélangés à lui et avaient pesé sur son histoire. Ils n’étaient pas une origine, mais un accident, pas des demi-dieux ou des héros fondateurs, mais des marins naufragés, pauvres et ignorant, des déshérités de l’Europe. (Rio 1984: 68)

 

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Nach dreijährigem Aufenthalt auf der Insel (1977–1980) baut sich der Ich-Erzähler ein neues Schiff, das er Le Rêve de Suzanne nennt, und kehrt in die westliche Welt zurück.

Auch dieser Text orientiert sich inhaltlich an enzyklopädischen Topoi. Auffällig ist hier – im Unterschied zu Flauberts Text – die stark selbstreflexive Komponente des Textes, mit anderen Worten, die Reflexion über die Enzyklopädie erfolgt mittels einer Enzyklopädie. Der Ich-Erzähler wird als Erzieher tätig und versucht, sein (europäisches) Wissen an Suzanne weiterzugeben und gleichzeitig ihre Weltsicht zu verstehen (Applikation und Rezeption). Er bedient sich dabei seiner Enzyklopädie. Sowohl der Ich-Erzähler als auch Suzanne dokumentieren ihre Lernerfahrungen. Der Ich-Erzähler hinterlegt seine Notizen in Suzannes Truhe, in der sich bereits das Tagebuch ihrer europäischen Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert befindet. Suzanne wiederum hinterlässt dem Ich-Erzähler einen Brief in Form einer Legende, den sie mit einem an den Ich-Erzähler gerichteten Kommentar abschließt:

Les pages que vous avez déposées dans le coffre de ma case deviendront, après moi, aussi mystérieuses que le journal de l’officier. Ainsi vous entrerez bien malgré vous dans notre légende. N’est-ce pas un ultime paradoxe? (Rio 1984: 121–122)

Nicht die Geschichte, sondern die Legende wird in diesem Fall das letzte Wort behalten.

 

2. Die Enzyklopädie als Text

Klassifikation/Wissensordnung

In Bouvard et Pécuchet ist es vor allem die episodische Struktur, die serielle Abfolge der von den beiden Helden eroberten Wissensgebiete, die an die Form einer Enzyklopädie erinnern. Um auf die Frage der Wissensordnung in Flauberts Text eine Antwort zu finden, verweist Yvan Leclerc auf die geläufige Feststellung, dass den exakten Wissenschaften die Humanwissenschaften folgen. Neben dieser Grobeinteilung Physik – Metaphysik ("harte" – "weiche" Wissenschaften), erkennt er eine, wenn auch nur in Spuren vorhandene, so doch alphabetische Ordnung im Text: agriculture, arboriculture, chimie, diététique, géologie, histoire, littérature, magnétisme, métaphysique, philosophie, religion (vgl. Leclerc 1988: 68–69). Leclerc betont außerdem die Dominanz einer vertikalen Schreibachse und bezieht sich dabei auf die erhaltenen, von Flaubert in langer Vorarbeit angefertigten Pläne und Skizzen, auf denen Eigennamen und Bücher häufig in Listen und Spalten angeführt werden. Um diese Bücher- und Namenlisten rankt sich nun die Idee der Enzyklopädie in Form eines ungewöhnlichen Romans, der die Handlung extrem zurücknimmt und "das Erzählen in Richtung Aufzählen sprengt" (Sprenger 1997: 115), wie das folgende Zitat aus dem 2. Kapitel (Agronomiekapitel) leider nur andeuten kann.

 

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Bouvard, comme lui, rencontrait des obstacles. Ils se consultaient mutuellement, ouvraient un livre, passaient à un autre, puis ne savaient que résoudre devant la divergence des opinions.
Ainsi, pour la marne, Puvis la recommande; le manuel Roret la combat.
Quant au plâtre, malgré l’exemple de Franklin, Rieffel et M. Rigaud n’en paraissent pas enthousiasmés.
Les jachères, selon Bouvard, étaient un préjugé gothique. Cependant, Leclerc note les cas où elles sont presque indispensables. Gasparin cite un Lyonnais qui pendant un demi-siècle a cultivé des céréales sur le même champ; cela renverse la théorie des assolements. Tull exalte les labours au préjudice des engrais; et voilà le major Beatson qui supprime les engrais, avec les labours! (Flaubert 1979: 87–88)

Zwar kann, wie gesagt, eine grobe Struktur in der Wissensanordnung festgestellt werden, im Detail aber folgt diese keiner Hierarchie, sondern scheint von gegebenen Notwendigkeiten oder dem Zufall abhängig zu sein. Bouvard und Pecuchet beginnen mit dem Gartenbau, denn "le plus pressé, c´était le jardin", was natürlich auch als Anspielung auf oder Fortsetzung von Voltaires Candide gelesen werden kann. Was eine klare Abgrenzung der Wissensbereiche bzw. eine Einteilung in Disziplinen schwierig macht, ist weiters die Tatsache, dass Bouvard und Pécuchet sich auch für Dinge interessieren, die in offiziellen Wissensbereichen ausgeschlossen oder tabuisiert werden. Der Text lässt Platz für das "non-savoir", d.h. für das nicht-kanonisierte oder in Disziplinen sich ordnende Wissen (vgl. Adert 1996: 126). Sämtliche Lebensbereiche werden zu Wissensbereichen. Hinzu kommt, dass Bouvard et Pécuchet nicht nur eine Enzyklopädie des sowohl offiziellen als auch "alternativen" Wissens ist, sondern außerdem eine der kursierenden Meinungen und Gemeinplätze. Damit sind Ideen gemeint, die unhinterfragt nachgesprochen werden und somit gesellschaftliche Konventionen und Machtgefüge mittragen. Bouvard und Pécuchet erkennen in den Auseinandersetzungen mit den Notabeln von Chavignolles (u.a. Arzt, Pfarrer, Bürgermeister), dass Wissen nicht unabhängig und eindeutig im Raum steht, sondern mit Positionskämpfen, Machtspielen und Ausschließungsmechanismen verbunden ist. Ulrich Schulz-Buschhaus verweist diesbezüglich zu Recht auf die Nähe der Flaubert´schen Sprachkritik zu Foucaults Diskursordnung. Für ihn gilt Flaubert als der Entdecker der "Abhängigkeit auch der intimsten und persönlichsten Rede von gesellschaftlichen Sprachregelungen" (Schulz-Buschhaus 1995: 135).

In Rios Text wird die Wissensordnung der fiktiven Enzyklopädie als eine traditionell alphabetische beschrieben. Wenn aber John Steinbeck "un article sur la littérature américaine du XXe siècle et une concoction personelle du Bloody Mary" einbringt, oder Noam Chomsky "un panorama historique et théorique de la linguistique depuis Saussure et une recette de tarte au potiron" (Rio 1984: 17) verfasst, so werden auch hier traditionelle Enzyklopädiegrenzen gesprengt und Wissenshierarchien destabilisiert.

Die bereits von Bouvard und Pécuchet erlebten und häufig in Dialogform abgehandelten Widersprüchlichkeiten innerhalb der Wissenschaften sind auch ein Thema in Rios Roman, was sich in diesem Text in erster Linie in den Kommentaren des Ich-Erzählers ausdrückt. Er stellt dem Wunsch seines Großonkels, das "savoir universellement partagé et admis" (Rio 1984: 11) zu sammeln und zu überprüfen, nicht nur den Einfluss der Kulturen gegenüber, sondern auch die persönlichen Besonderheiten der Autoren, ihre Lebensgeschichten und Charaktere sowie die "relativité des disciplines" (Rio 1984: 12) und glaubt nur an einen bedingten Aussagewert eines solchen Unternehmens.

 

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Dieser bedingte Aussagewert der Enzyklopädie besteht z.B. darin, dass sich der Ich-Erzähler trotz seiner Vorbehalte der Enzyklopädie bedient, um sich einen Überblick über die Insel zu verschaffen. Er greift außerdem vermehrt auf die Enzyklopädie zurück, um Suzanne "systematisch" seine europäische Kultur zu erklären. Diese Erklärung wird im Text in Form einer Aufzählung wiedergegeben, eingebaut in einen deskriptiven Part, der sich über mehrere Seiten hin fortsetzt. Das europäische Wissen wird dabei an folgende Männernamen gekoppelt: Demokrit, Lukrez, Ptolemäus, Kopernikus, Galilei, Kepler, Einstein, Newton, Planck, Dyson.

An einer anderen Stelle antwortet der Ich-Erzähler auf die Frage Suzannes, ob es besser sei zu glauben oder zu wissen bzw. ob Wissen nützlich sei:

– Oui et non. Le savoir a un avantage. Il permet d’agir mieux sur les choses. Et un inconvénient. Il ne débouche que sur lui-même, sur sa propre continuation jusqu’à la mort de celui qui sait, puis de tous ceux qui savent. La foi, la légende si vous préférez, a un but unique: le triomphe de la vie sur la mort. (Rio 1984 : 72)

Dieses Zitat beschreibt sehr deutlich, dass auch in diesem Text unterschiedliche Wissenskonzeptionen dargestellt werden: das rationale (wissenschaftliche) europäische Wissen und das mythisch-legendäre Wissen.

Suzanne selbst eignet sich die ihr fremde "Weltsicht" an, entscheidet sich jedoch in der Folge für das "primitive" Denken und distanziert sich vom Ich-Erzähler, dessen "enzyklopädisches", ständig sammelndes und ordnendes Denken Unsicherheit und Angst in ihr Leben bringt (vgl. Bähler 1997: 5–34)6.

 

Dokument und Nomenklatur

Enzyklopädien zeichnen sich, wie deutlich wurde, durch eine Sammlung von Wissen und Material aus. Flaubert las für die Konzeption seines Romans über 1500 Bücher. Auch Bouvard und Pécuchet verwenden für ihre Forschungen eine Unmenge an Büchern, die im Text angeführt werden und mit wenigen Ausnahmen aus real existierenden Texten bestehen. Es handelt sich dabei in zahlreichen Fällen um populärwissenschaftliche Literatur (vgl. Cohen 1998–1999: 113).7 Der Literaturwissenschaftler Jacques Neefs spricht hinsichtlich des Zitats realer Texte von einem ganz speziellen Intertextualitätsprozess, bei dem das, was gelesen wird auch sofort im Text verarbeitet wird (vgl. Neefs 1987: 176). Das Gelesene, die Dokumente werden Teil der fiktiven Welt, sie werden in den Text montiert. Im 3. Kapitel (Chemie, Anatomie, Physiologie, Geologie) werden z.B. folgende Texte erwähnt: le cours de Regnault (Flaubert 1979: 116), l’ouvrage de Girardin (116), le manuel d’Alexandre Lauth (118), le Dictionnaire des Sciences médicales (121), les traités de Richerand et d’Adelon (122), le Manuel de la Santé (128), etc. Diese Dokumente werden folgendermaßen in den Text integriert:

 

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Pour savoir la chimie, ils se procurèrent le cours de Regnault – et apprirent d’abord que "les corps simples sont peut-être composés". (Flaubert 1979: 116)

Un ouvrage explicatif leur manquait; ils retournèrent chez M. Vaucorbeil, et grâce au manuel d’Alexandre Lauth ils apprirent les divisions de la charpente, en s’ébahissant de l’épine dorsale, seize fois plus forte, dit-on, que si le Créateur l’eût fait droite. – Pourquoi seize fois, précisément? (Flaubert 1979: 118)

Ce qui leur manquait, c’était la physiologie; – et un bouquiniste leur procura les traités de Richerand et d’Adelon, célèbres à l’époque. (Flaubert 1979: 122)

Diese "neue Notwendigkeit" sich aus Quellen zu speisen, seien es Dokumente oder die Vielfalt der Diskurse, ist nach Neefs eine Eigenheit der Literatur des 19. u. 20 Jahrhunderts, für die die Frage des Dokuments, der Referentialität, der Exaktheit und der Authentizität einen vorrangigen Platz in der ästhetischen Konstruktion einnimmt. Was die Authentizität anbelangt, so ist auf eine weitere Besonderheit in Flauberts Text hinzuweisen. Die Dokumente werden nämlich nicht nur zitiert, sondern durch ein Spiel mit wechselnden Perspektivsetzungen und ironischen Distanzierungen wird ihnen an manchen Stellen selbst das Wort überlassen, d.h. wenn Bouvard und Pécuchet sich mit einem Thema beschäftigen, sich dafür bestimmter Quellen bedienen und im Text darüber sprechen, wird die Grenze zwischen Erzähler, Figuren- und Quellenrede so undeutlich, dass es nicht mehr ganz eindeutig ist, wer zitiert wird. Dieses Spiel mit dem Zitat ergibt sich aus der Spezifizität Flauberts, nicht nur schriftliche Dokumente, sondern, wie bereits erwähnt, auch kursierende Meinungen und Gemeinplätze in den Text zu integrieren. Alles Mögliche wird im Text zum Dokument bzw. Zitat. Der geplante zweite Teil des Romans sollte ausschließlich aus diesen Dokument- und Zitatsammlungen der beiden Protagonisten bestehen: aus Gemeinplätzen, schicken Meinungen sowie ihren Lektürenotizen.

In Rios Text findet sich kein vergleichbarer Dokumentbezug. Flaubert sehr ähnlich jedoch sind die Präsenz, Verwendung und Anhäufung exakten fachspezifischen Vokabulars sowie die literarische Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Nomenklatur. Christian Metz – Filmsemiotiker und Dissertationsbetreuer Rios – spricht von "rafales terminologiques" (terminologischen Windstößen) und betont dessen "exactitude matérielle" (Metz 1995: 181–199). Rio beschreibt in Alizés zum Beispiel äußerst genau die Konstruktion des Segelbootes, die Architektur von Suzannes Haus oder auch die Flora und Fauna der Insel, wie das folgende Zitat zeigt:

 

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Une faune nombreuse peuplait le sous-bois, parmi laquelle on remarquait l’extraordinaire diversité des singes et des échassiers. Une cohue de magots à courte queue, colobes, mandrills, galagos, macaques rhésus ou à bonnet chinois, gibbons noirs, sajous bruns, hurleurs rouges, tamarins, siamangs, menait dans les arbres une existence tapageuse et vulgaire, venant jusque sur le sol vous considérer sous le nez, insolence qui indiquait une absence à peu près totale de prédateurs, [...]. (Rio 1984: 74)

Das Übermaß an technischem Vokabular und die Bedeutung der Konstruktion selbst zeigt sich besonders auffällig in der Baubeschreibung des Ersatzsegelschiffes – Le Rêve de Suzanne –, das der Ich-Erzähler auf der Insel konstruiert. Der Fabrikationsprozess wird außergewöhnlich genau beschrieben und dafür sehr spezifisches Vokabular aus dem Schiffsbau und der Seemannssprache verwendet.

Diese auffällige Verwendung bzw. listenartige Anhäufung von spezifischem Vokabular erinnert einerseits an die Sammeltätigkeit der Lexikographen, andererseits werden dem literarischen Text durch die exakten Beschreibungen und Benennungen spezifische Wissensbereiche (Architektur, Schiffsbau, exotische Pflanzen- und Tierwelt) erschlossen.

 

Visualisierung und Illustration

Enzyklopädien kennzeichnen sich spätestens seit der Enzyklopädie von Diderot und d´Alembert durch die wichtige Rolle, die der Illustration zukommt. Wissen (Gegenstände, Maschinen, Produktionsprozesse) wird in Wort und Bild vermittelt, anschaulich gemacht. Gemäß Roland Barthes praktiziert die Enzyklopädie lange vor der Literatur eine gewisse "Philosophie der Gegenstände" (Objekte), sie reflektiert über das Dasein der Dinge, zählt und definiert diese (vgl. Barthes 1994: 1348–1358). Für Flaubert ist das Thema der Visualisierung, der "bildlichen" Darstellung und Beschreibung von "Dingen" im Text von großer Bedeutung. Bereits im Jahre 1853 schreibt er in einem Brief an Louise Colet:

La littérature prendra de plus en plus les allures de la science; elle sera surtout exposante, ce qui ne veut pas dire didactique. Il faut faire des tableaux, montrer la nature telle qu’elle est, mais des tableaux complets, peindre le dessous et le dessus. (Flaubert 1980: 298)

In der Exaktheit der Bilder also wird sich laut Flaubert die Literatur den Wissenschaften annähern. Der Beginn des 4. Kapitels ist ein sehr schönes Beispiel für Flauberts "Dingpoesie" und sein Bemühen der genauen Abbildung. Es wird das zu einem eigenartigen Museum sich gewandelte Haus der beiden Helden beschrieben bzw. inventarisiert:

 

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Six mois plus tard, ils étaient devenus des archéologues ; – et leur maison ressemblait à un musée.
Une vieille poutre de bois se dressait dans le vestibule. Les spécimens de géologie encombraient l’escalier; – et une chaîne énorme s’étendait par terre tout le long du corridor. [...]
Quand on avait franchi le seuil on se heurtait à une auge de pierre (un sarcophage gallo-romain) puis, les yeux étaient frappés par de la quincaillerie.
Contre le mur en face, une bassinoire dominait deux chenets et une plaque de foyer, qui représentait un moine caressant une bergère. Sur des planchettes tout autour, on voyait des flambeaux, des serrures, des boulons, des écrous. Le sol disparaissait sous des tessons de tuiles rouges. Une table au milieu exhibait les curiosités les plus rares: la carcasse d’un bonnet de Cauchoise, deux urnes d’argile, des médailles, une fiole de verre opalin. Un fauteuil en tapisserie avait sur son dossier un triangle de guipure. Un morceau de cotte de mailles ornait la cloison à droite; et en dessous, des pointes maintenaient horizontalement une hallebarde, pièce unique.
La seconde chambre, où l’on descendait par deux marches, renfermait les anciens livres apportés de Paris, et ceux qu’en arrivant ils avaient découverts dans une armoire. Les vantaux en étaient retirés. Ils l’appelaient la bibliothèque. (Flaubert 1979: 163–164)

Dietrich Scholler stellt zu Recht fest, dass sich hinter dem bunten Sammelsurium nicht aufeinander beziehbarer Gegenstände nirgends eine ordnende Hand ausmachen lässt (vgl. Scholler 1997: 49). Die genaue Abbildung einer eigentlichen "Unordnung" spiegelt außerdem sehr deutlich die Ambivalenz in Flauberts Text, der einerseits Wissenschaftlichkeit in der Literatur durch exakte Darstellung zu suchen scheint und gleichzeitig in der Unordnung und Bizarrerie der Gegenstände die Aporie des Wissens- und Systematisierungsdranges aufzeigt.

Der im Zitat durch das neutrale "on/man" ausgewiesene, wissenschaftliche Blick auf das Museum, wird nachträglich Pécuchet zugedacht, wenn dem Beschreibungsteil wieder ein Erzählteil folgt, in dem es heißt:

Pécuchet, de son lit, apercevait tout cela en enfilade – et parfois même il allait jusque dans la chambre de Bouvard, pour allonger la perspective. (Flaubert 1979: 164)

Ein zuerst "neutraler" Blick wird einer bestimmten "personalen" Perspektive zugeteilt. Der "objektive" Blick wird ein subjektiver. Pécuchet sieht das alles wie aufgefädelt von seinem Bett aus. Die Anordnung der Dinge konstruiert sich in Abhängigkeit von der Perspektive bzw. vom Standpunkt. Die ständige Verundeutlichung des Orientierungszentrums im Text (Figuren- oder Erzählerperspektive) ist, wie bereits erwähnt, eine für Flaubert typische Erzählstrategie und im Zusammenhang mit dem Motiv der Enzyklopädie als Infragestellung einseitiger, nach Absolutheit und Autorität strebender Sichtweisen interpretierbar.

In Rios Text wird über das Thema der Illustrierung der Enzyklopädie das Verhältnis von Kunst und photographischer Reproduktion thematisiert. Der Ich-Erzähler beschreibt ausführlich die ungewöhnliche Art der Illustrierung seiner Erbschaft. Es wurde dafür bewusst nicht auf die Photographie zurückgegriffen, sondern einzig und allein auf Stiche, Zeichnungen und Gemälde.

 

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Jamais l’espace réel n’était montré en tant que tel. Le spectacle du monde, qu’il s’agît d’hommes ou de choses, de nature ou de manufacture, de technique ou d’imaginaire, passait par la main de l’artiste. (Rio 1984: 14)

Die Hand des Künstlers wird der industriellen Reproduktion gegenübergestellt bzw. vorgezogen. Es werden weiters die "größten zeitgenössischen Maler und Zeichner" vom Herausgeber ersucht:

[...] de réaliser la totalité des planches et vignettes de l’ouvrage, soit en faisant quelques concessions raisonnables à leur inspiration et a leur manière lorsqu’une interprétation était possible, par exemple dans les portraits ou les paysages, soit au contraire, par un dévoiement radical de la création, en représentant avec une précision naturaliste le gigantesque bric-à-brac du donné et du construit, les objets et les matériels de la connaissance. (Rio 1984: 14)

Diese Beschreibungen lese ich als eine Anspielung auf das Enzyklopädieprojekt von Diderot und d´Alembert, auf die Kunst, die sich in den planches (Kupferstichen) darstellt, wo die eben erwähnten Gegenstände und Materialien des Wissens auf eindrucksvolle Weise abgebildet sind. Wie bereits gezeigt wurde, werden auch in Rios Texten bestimmte Gegenstände, wie Suzannes Haus oder das Segelboot, aber auch die Fauna und Flora der Insel auf enzyklopädische Art und Weise, d.h. äußerst genau und umfassend beschrieben.

In Rios Text fertigt Salvador Dalí für die Enzyklopädie Pastelle von Boretschgewächsen an sowie Tuschzeichnungen von einem Beschleuniger schwerer Elementarteilchen. Pollock, Soulages, Kline und Poliakoff, bekannt für ihre abstrakte Kunst, zeichnen mit vollendeter Genauigkeit Kopulationen von Hautflüglern, Geschwindigkeitsmesser, Fichtennadeln oder Schleusengrundrisse. Diese genauen Bilder erfüllen eine der Zielvorstellungen von Enzyklopädien: Verständlichkeit und Anschaulichkeit. Gleichzeitig aber erhält die beschriebene Enzyklopädie durch die besondere Autorschaft eine ironisch-absurde Note.

 

Literatur und Wissen

Das 19. Jahrhundert gilt als das "Goldene Zeitalter" der Enzyklopädien, einerseits verbunden mit zunehmender Buchproduktion und Leserschaft, andererseits, mit den Entwicklungen von Positivismus und Szientismus. Inmitten der Geschichte der Enzyklopädie – so Roland Barthes – gibt es das Moment Flaubert, ein "moment-farce" (Barthes 1995: 434). Flaubert macht sich über den Enzyklopädiediskurs seiner Zeit lustig. Gleichzeitig aber ist Uwe Japp zuzustimmen, wenn dieser betont, dass Flaubert mittels Komik die Wissenschaft an die Literatur annähert und somit eine eminent ästhetische Perspektive ins Spiel bringt: "Verwissenschaftlichung der Literatur einerseits, Literarisierung der Wissenschaft andererseits: in dieser prekären Balance gipfelt das Spätwerk Flauberts." (Japp 1996: 402)

 

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Für Rio hat die Enzyklopädie weniger Diskurs- denn vielmehr Monumentcharakter: sie repräsentiert das europäische Wissen, dem eine Orientierungs- und Systematisierungsfunktion zugestanden wird. Gleichzeitig werden aber auch die Zweifel an und die Defizite von diesem Wissen dargestellt. Wissen – wie bereits in einem Zitat erwähnt – läuft immer nur auf sich selbst hinaus. Die Legende (das Imaginäre) hingegen, kann der "condition humaine" eher gerecht werden und durch die ihr eigene Vorstellungskraft Utopien und Träume hervorbringen. Die Literatur bzw. der Roman stellt für Rio den Ort dar, an dem die beiden Pole Wissen (Logik) und Imagination (Traum) idealerweise verknüpft werden können. In diesem Sinn ist die Enzyklopädie Metapher für Rios Forderung an Literaturschaffende, sich mit dem zeitgenössischen Wissen auseinanderzusetzen und es in den Text einfließen zu lassen. In beiden Texten wird anhand des Motivs der Enzyklopädie über die heuristische Funktion von Literatur nachgedacht; dem Roman die mögliche Annäherung von Literatur und Wissenschaft zugestanden

 

Bibliographie

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Bähler, Ursula (1997): "Lettre de Suzanne. Le dialogisme à l´œuvre dans Alizès de Michel Rio", in: Versant 31, 5–34.

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Barthes, Roland (1994): "Les planches de l’Encyclopédie", in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2. Paris: Seuil, 1348–1358.

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Fierro, Alfred (1990): "Les manuels Roret", in: Chartier, Roger und Henri-Jean Martin (Hgg.): Histoire de l’édition française. Le temps des éditeurs. Du romantisme à la Belle Époque, Bd. 3. Paris: Fayard, 443–444.

Flaubert, Gustave (1975): Œuvres complètes. Correspondance 1877–1880, Bd.16. Paris: Club de l’honnête homme.

Flaubert, Gustave (1979): Bouvard et Pécuchet, hg. von Claudine Gothot Mersch, Paris: Gallimard.

Flaubert, Gustave (1980): Correspondance, Bd. 2. Paris: Gallimard.

Flaubert, Gustave (1998): Correspondance, Bd. 4. Paris: Gallimard.

Hrachovec, Herbert, Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner (Hgg.) (2003): Kleine Erzählungen und ihre Medien. Wien: Turia+Kant. (= kultur.wissenschaft, 8.1)

Japp, Uwe (1996): "Die Komik des Wissens", in: Flaubert, Gustave: Bouvard et Pécuchet, dt. v. Georg Goyert. Frankfurt am Main: Insel, 399–431.

Leclerc, Yvan (1988): La spirale et le monument. Essai sur Bouvard et Pécuchet de Gustave Flaubert. Paris: SEDES.

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Neefs, Jacques (1987): "L´imaginaire des documents", in: Debray-Genette, Raymonde und Jacques Neefs (Hgg.): Romans d´archives. Presses Universitaires de Lille, 175–190.

Rio, Michel (1984): Alizés. Paris: Balland.

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Scholler, Dietrich (1997): "‘Mais on ne voit chez vous que des choses lugubres!‘ – Enzyklopädische Sichtbarkeit in Flauberts Bouvard et Pécuchet", in: PhiN. Philologie im Netz 1, 43–62. [www.phin.de]

Schulz-Buschhaus, Ulrich (1995): Flaubert – Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats. Münster: Lit.

Sprenger, Ulrike (1997): "Die Früchte des Wissens – Agronomie und Imagination in Bouvard et Pécuchet", in: Romanistisches Jahrbuch 48, 84–119.

 

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Anmerkungen

* Erscheint auch als Printversion in Hrachovec (2003), mit folgenden Beiträgen: Narratives for a journey of hope: stories of global transition (R. Bromley), Schriftkörper und Bildmaterialität – Narrative Inszenierungen und Visualität bei Gustave Flauberts Salammbô (V. Borsò), 'Erzählerische Unzuverlässigkeit' in Literatur und Film (T. Kindt), Alles auf Anfang. Anmerkungen zu Chris Marker, La Jetée (S. Diekmann), Narratives and Media Change: Making 'National' Documentaries in a Global Television Era (T. Ashuri), Denk-Orte: ein Dorf erzählt sein Gedächtnis (E. Langthaler), Leidkultur or Leitverantwortung? The legacy of the Third Reich in the national memory narratives of the 'Berlin Republic' (C. Gay), Narration und Fernsehkartographie (R. Nohr), Zitat und Rahmen. Leonardo da Vincis Codex über den Vogelflug digital (S. Neef), Computerhystorien. Szenarien der Digitalisierung und ihre Bühnen in den 80er-Jahren (K. Harrasser), Politik der Form. Korrelationen und Brüche im lesbaren Text der Avantgarde (A. Schober), Erzählte Geschichte im Bild. Die narrative Darstellungsweise der Trajanssäule als Vermittler historischer Ereignisse (B. Zimmermann), InFormA(k)tionen. Metamorphosen als intertextuelles Prinzip (U. Reber), Das frauenmystische Narrativ des geistigen Gebärens: Die Transposition des Genießen Gottes durch Mechthild von Magdeburg (S. Rinke), Printing Press as Agent of Change Redux: A Thought Experiment about the Origins of Objectivity in Reformation Historical Narratives (S. Boettcher)

1 Brief an Edma Roger des Genettes vom 19. August 1872.

2 "[...] Vous me parlez de la bêtise générale, mon cher ami, ah! je la connais, je l’étudie. C’est là l’ennemi, et même il n’y a pas d’autre ennemi. Je m’acharne dessus dans la mesure de mes moyens. L’ouvrage que je fais pourrait avoir comme sous-titre ‚encyclopédie de la bêtise humaine‘. L’entreprise m’accable et mon sujet me pénètre. [...]; Brief an Raoul-Duval (Mitte Februar 1879) (Flaubert 1975: 150).

3 Diese Typisierung entnehme ich einem Text Dietrich Schollers, der neben drei klassischen Grundtypen von Enzyklopädien (Darstellung des Zusammenhangs aller Wissenschaften, Sammlung und Darstellung alles Wissens in alphabetisch geordneten Lexika, systematisierende Darstellung einer Wissenschaft in einschlägigen Handbüchern oder Reallexika) narrative und visuelle Enzyklopädien unterscheidet (vgl. Scholler 1997: 44–45).

4 Der Name geht zurück auf den ursprünglichen Verleger Nicolas-Edme Roret. Berühmt wurde sein Verlagshaus v.a. durch die Publikation einer Serie von technischen Handbüchern wie z.B. das "Manuel du distillateur", die unter dem Namen Encyclopédie Roret oder Collection des Manuels Roret erschienen (vgl. Fierro 1990: 443–444).

5 Ich kann hier nur darauf hinweisen, dass das europäische, auf Rationalität begründete Wissen bezeichnenderweise mit einem Mann und das mythisch-legendäre Wissen mit einer Frau verbunden ist, werde aber nicht weiter darauf eingehen.

6 Bähler verweist in ihrem Artikel auf die Nähe Rios zu den Arbeiten Claude Lévi-Strauss´, u.a. in der Dichotomie "scientific/primitive thinking".

7 Vgl. auch Alberto Cento (1973), der in seinem Commentaire de "Bouvard et Pécuchet" einen Großteil der Werke auflistet, die Flaubert für seinen letzten Roman verwendet hat.

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