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Volker Meid (Wolfschlugen)


Ansgar M. Cordie (2001): Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin / New York: de Gruyter.

Die umfangreiche Studie beschäftigt sich mit vier Romanen der deutschen pikaresken Tradition und ihrer spezifischen Art der Auseinandersetzung mit der 'Welt'. Das geschieht nach einem einleitenden Kapitel, das den Untersuchungsgegenstand erläutert und das methodische Verfahren begründet, in vier jeweils in sich geschlossenen Abschnitten. Die Folge der Interpretationen führt von den durchaus widersprüchlichen Anfängen des deutschen Schelmenromans bei Aegidius Albertinus (Der Landtstörtzer. Gusman von Alfarche oder Picaro genannt, 1615) über das protestantische Gegenstück Hieronymus Dürers (Lauf der Welt Und Spiel des Glücks, 1668) und Grimmelshausens Abentheurlichem Simplicissimus Teutsch (1668/69), dem Höhepunkt des Pikaroromans in Deutschland, zu einem Text Johann Beers (Die vollkommene Comische Geschicht Des Corylo, 1679/80), der bereits Tendenzen zur Auflösung der Gattung erkennen läßt.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Vermutung, daß sich im Pikaroroman "Spuren der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wirklichkeit finden" müßten, "weil sich hier ein Ich zu Wort" melde und "über das – freilich fiktive – eigene Leben Auskunft" gebe (4). Der Verifizierung dieser Vermutung stehe, so baut Cordie eine Negativkulisse auf, ein Teil der Forschung entgegen. Von "traditionalistischem Denkverbot" (4) und vorschnellen Verallgemeinerungen wie von der Gefahr, sich allzusehr von den Selbstinterpretationen der Autoren bzw. ihrer Erzähler leiten zu lassen, ist die Rede, von Hindernissen also, die den Blick auf möglicherweise neue Facetten der Wirklichkeitserfahrung und -aneignung in den Texten verstellten. Das ist eine Sicht, die man etwa im Hinblick auf die Geschichte der Grimmelshausenforschung durchaus verstehen kann. Vor diesem Hintergrund nun entwickelt Cordie seine eigene Position, die sich u. a. an bestimmten Vorstellungen der Erzählforschung, der Literaturtheorie Michail Bachtins und kritischer Gesellschaftstheorie orientiert.

Daß Erzählern nicht zu trauen ist, gehört seit einiger Zeit im Anschluß an das Konzept vom "unreliable narrator" (vgl. Booth 1961) zur Übereinkunft der Pikaroroman-Exegeten, die daher durchaus überzeugend zu einer "Komplementärlektüre" auffordern (vgl. Bauer 1993). Darüber hinaus knüpft Cordie an die bereits von Bauer fruchtbar gemachte Bachtinsche Kategorie des "Chronotopos" an; sie meint die (fiktionale) zeitliche und räumliche Ordnung eines Textes, in deren Rahmen sich die Protagonisten bewegen. Daß eine enge Beziehung zwischen dem fiktionalen Helden und 'seiner' Welt besteht, liegt auf der Hand: Damit etwa ein Märchenheld reüssieren kann, braucht er eine märchenhaft strukturierte Welt. Umgekehrt führt der Pikaroroman seinen vagierenden Helden, den "Landstörtzer", im großen ganzen durch die zeitgenössische Alltagswelt.



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Die Struktur der pikaresken Lebensreise mit Stationen in Herbergen, Städten, Kirchen und dergleichen ähnelt der von zeitgenössischen Reiseberichten. Auf dieser Beobachtung gründet die These, "daß nämlich diese innerliterarische Grundbewegung einer gesellschaftlichen Realität, der verstärkten räumlichen und sozialen Mobilität in der Frühen Neuzeit, entspreche" (20). Diese These wiederum führt zu einer doppelten Verfahrensweise: Zum einem sucht der Verfasser durch den Rückgriff auf alltagsgeschichtliche Dokumente und andere Materialien den historisch-sozialen Kontext der jeweiligen fiktiven Texte möglichst genau ("dicht") zu beschreiben, zum anderen werden die "werkimmanenten Chronotopoi analysiert, um sie als Aneignung der historischen Räume zu interpretieren" (28). Dieses Ziel ist nicht unproblematisch, denn bei der Mehrzahl der ausgewählten Texte kann man eher von einer Ausblendung bzw. ideologischen Überformung als von einer "Aneignung" des historischen Kontexts ausgehen. Das ändert aber nichts daran, daß die interpretatorische Bewegung zwischen den beiden Ebenen sinnvoll ist, daß Vergleiche mit Vorlagen, Quellen, anderen Dokumenten gerade wegen der fehlenden Welthaltigkeit der Texte zu ihrer Erhellung beizutragen vermögen. Zwar besteht die Gefahr, daß die Beschreibungen der außerliterarischen Wirklichkeit oder die Beispiele aus Architektur und Kunst gelegentlich kaum mehr als illustrative Parallelen oder Assoziationen liefern, gleichwohl ermöglichen sie die Konstruktion eines gewissen Erwartungshorizonts und tragen entweder durch ihre Differenz oder aber durch die Ähnlichkeit der Strukturen und Strategien wesentlich zur kritischen Analyse der Texte und der programmatischen Absichten ihrer Verfasser bei.

In den ersten beiden Romanen ist dieses Programm ideologischer Natur – eine erbaulich-absolutistische Umfunktionierung des spanischen Romanmodells bei Albertinus, eine platte Allegorisierung bei Dürer –, während Beer in seinem "mythischen" Erzählen den Bezug zur zeitgenössischen Realität in geradezu eskapistischer Weise zu verhindern sucht. Einzig Grimmelshausens Simplicissimus läßt sich in der Schilderung eines mit dem Dreißigjährigen Krieg untrennbar verbundenen Lebenslaufs auf die Darstellung unterschiedlicher Welt- und Lebenskonzepte ein und fordert angesichts offenkundiger Widersprüche und Brüche nicht zur Affirmation, sondern zu kritischer Reflexion heraus.

So erhellend die Bezüge zur historischen Wirklichkeit sein mögen – auch diese ist natürlich nur eine durch die Interpretation von Dokumenten und Materialien vermittelte Konstruktion. Fruchtbare Ergebnisse zeitigt die Untersuchung zunächst vor allem da, wo die Analyse der dichterischen Texte und der außerliterarischen Dokumente auf verwandte Strukturen stößt. Das gilt ganz unmittelbar etwa für die eindrucksvolle Interpretation von Albertinus’ Gusman-Kompilation, die den spanischen Roman allegorisch überformt und zu einem Dokument zentralistischer Staatsgesinnung im Kontext des gegenreformatorischen bayerischen Absolutismus zurechtstutzt. Es geht aber auch umgekehrt. Denn zeigen im Fall des Gusman die staatstheoretischen Verlautbarungen oder die architektonischen Konzeptionen direkte Parallelen zur literarischen Verfahrensweise und ideologischen Ausrichtung des Staatsbeamten Albertinus, so gewinnt Cordie seine Interpretation des (wohl stark überschätzten) Romans von Dürer eher aus dem Gegensatz zwischen alltagsgeschichtlichen Dokumenten und der umfassenden Allegorisierung der Wirklichkeit in der Lebensgeschichte Tychanders. Sie wiederholt mit dem biblischen Schlußsatz "Es ist alles Eitel!" nur das von Anfang an feststehende Verdikt über die Wirklichkeit. Daß der Roman daher "in großem Umfang Welt" erschlösse, kann ich nicht sehen (343), es sei denn dadurch, daß er als eindimensionale Illustration eines Gemeinplatzes das Ausgreifen des Interpreten auf zeitgenössisches Material etwa über die Kalkulation der Risiken im modernen Fern- und Überseehandel erst herausforderte.



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Auch bei Beer kann nicht mehr davon die Rede sein, daß der Pikaroroman durch das Medium seines Helden die Welt erschließt. Wie hier der Pikaro sich seiner Identität nicht sicher ist, wie er an Bedeutung verliert und wie er zeitweilig hinter anderen Geschichten verschwindet, so bleibt auch der Realitätsbezug unbestimmt. Aber obwohl die historische oder geographische Wirklichkeit auf den Weg zwischen diversen Landschlössern zusammenschrumpft, bietet Beers Roman in gewisser Hinsicht ein Modell der Welt. Das hängt damit zusammen, daß sich das Geschehen vorwiegend in geschlossenen Räumen abspielt, in denen sich nach der überzeugenden Interpretation Cordies die Vorstellung des 'Ganzen Hauses' spiegelt. Es ist – das unterstreicht die Tendenz des Romans – ein Modell, das mit seiner Begrenztheit der Handlungskonstellationen auf die Reduktion von Komplexität zielt.

Die einleitende die Bitte des Verfassers um Geduld mit den "weiten Erkenntniswegen" der Untersuchung gipfelt in der etwas frivolen rhetorischen Frage: "Soll es der Leser leichter haben als die Schelmen?" (35) Die Frage ist jedoch eher, ob es (immer noch) als wissenschaftliche Tugend gilt, es dem Leser unnötig schwer zu machen. Dabei bleibt durchaus offen, ob der allgemeine Ertrag der Untersuchung den Aufwand rechtfertigt. Aber trotz mancher Zweifel, die auch das methodischen Vorgehen und allzu unvermittelte Rückschlüsse von der historischen Realität auf die Literatur (oder umgekehrt) betreffen, handelt es sich um ein anregendes Buch. Seine Stärke liegt aber nicht in allgemeinen neuen Erkenntnissen über den Pikaroroman oder die vier interpretierten Romane, sondern im Detail, in der Vielzahl wertvoller Einzelbeobachtungen und -einsichten, die aus konkreter Arbeit an den Texten resultieren.


Bibliographie

Bauer, Matthias (1993): Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Metzler: Stuttgart/Weimar.

Booth, Wayne C. (1961): The Rhetoric of Fiction. University of Chicago Press: Chicago.

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