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Christine Wesselhöft (Bielefeld)


Clément Moisan/Renate Hildebrand (2001): Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937–1997). Québec: Éditions Nota bene


As-tu remarqué, me demandait-il, qu'une génération toute récente d'écrivains immigrants écrit des œuvres qui n'ont rien à voir avec ce qu'on a toujours appelé la littérature québécoise […]? Ne trouves-tu pas, me disait-il encore, qu'il serait aberrant que ces écrivains dont l'œuvre ne se rattache ni par le contenu ni par la forme ni par le cadre au discours de notre littérature, soient autorisés à représenter la littérature québécoise à l'étranger […]." (LaRue 1996: 7–8)

Dieses Gespräch mit einem Schriftsteller "de nationalité québécoise-française" (ebd.: 7) imaginierte die Autorin Monique LaRue in ihrem Vortrag L'arpenteur et le navigateur (1996) und rief damit emotionsgeladene Debatten hervor. Die Heftigkeit, mit der diese Diskussionen insbesondere in der Quebecer Presse geführt wurden, weist auf die Bedeutung folgender Frage hin, mit der seit einigen Jahrzehnten nicht nur die Quebecer Literatur konfrontiert ist: In welchem Verhältnis stehen Texte schreibender Migranten1 zur jeweiligen "Nationalliteratur" des sogenannten "Gastlandes"? Die Auseinandersetzung mit von Migranten verfassten literarischen Texten hat auch in Quebec eine rege Forschung und Versuche der Konzeptualisierung angestoßen. Die Quebecer Migrationsliteratur wurde Mitte der 1980er Jahre, meist unter dem Begriff der "écriture migrante", als Untersuchungsgegenstand entdeckt. Bisher war die wissenschaftliche Literatur allerdings durch eine synchrone Perspektive gekennzeichnet und fast ausschließlich auf kürzere Studien zu bestimmten Autoren oder Einzelaspekten beschränkt. Moisan/Hildebrand legen nun mit Ces étrangers du dedans einen literaturgeschichtlichen Überblick über die Quebecer Migrationsliteratur zwischen 1937 und 1997 vor.

Ziel der Studie ist es, für diesen Zeitraum die Beziehungen zwischen schreibenden Migranten in Quebec und in Quebec geborenen Schriftstellern frankokanadischer Abstammung zu untersuchen (bzw. die Beziehungen zwischen ihren Werken). Vor dem Hintergrund eines als "Systems Analysis" bezeichneten theoretischen Ansatzes, der von Moisan schon in den 1970er Jahren in Anlehnung an damalige Diskussionen (Moisan 1987 und neuerdings wieder Moisan 1996; für einen historischen Überblick, s. Tötösi de Zepetnek 1998) weiterentwickelt wurde, interessieren sich Moisan/Hildebrand dabei besonders für die Frage, wie sich das System der Quebecer Literatur durch den Einfluss der Migranten und ihrer Werke, d.h. durch deren "apport ethnoculturel" (Moisan/Hildebrand 2001: 12) verändert habe. Sie verstehen dabei Literatur als ein dynamisches System, das, analog zu anderen sozialen Systemen, nach bestimmten Regeln organisiert ist, die wiederum von der Art der Beziehung zwischen den einzelnen Elementen des Systems abhängen. Treten neue Elemente hinzu, verändert sich die Struktur des Systems (vgl. Moisan/Hildebrand 2001: 12–14 und Moisan 1987:159–177). Autoren und Werke werden mithin als Elemente eines "système de production, de circulation et de réception" (Moisan/Hildebrand 2001: 13) aufgefasst, dessen spezifische Struktur es zu analysieren gilt.



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Die Beantwortung der Frage nach dem Beitrag schreibender Migranten zur Quebecer Literatur erfolgt in methodischer Hinsicht vornehmlich durch den Rückgriff auf zwei Datenbanken, die Moisan/Hildebrand u. a. im Rahmen eines Austausches zwischen Quebecer und französischen Wissenschaftlern erstellt haben. Die Banque de données d'histoire littéraire du Québec zu Quebecer Autoren und Werken sowie die Banque de données d'histoire littéraire néo-québécoise zu schreibenden Migranten in Quebec verfügen neben allgemeineren Informationen zu Autoren, Werken und literarischen Strömungen Quebecs auch über einen thematischen Thesaurus der Werke.

Nach einer Einleitung in Problemstellung, theoretische Basis und Methodik nutzen Moisan/Hildebrand das erste Kapitel ihrer Studie für eine Einbettung der Texte schreibender Migranten in den multikulturellen soziopolitischen Kontext Kanadas bzw. Quebecs. Sie legen dabei den Schwerpunkt auf Fragen der kulturellen bzw. nationalen Identität und greifen in diesem Zusammenhang grundlegende Begriffe wie ethnische Gruppe, Ethnisierung und Nation auf. In den folgenden Kapiteln (II–V) wird sodann die Verbindung zwischen diesen Konzepten und den konkreten literarischen Phänomenen hergestellt.

Die Autoren der Studie arbeiten vier Phasen der Quebecer Literatur seit 1937 heraus. Sie seien charakterisiert durch die Strukturierung, die das Systems aufgrund der unterschiedlichen Kräfteverhältnisse zwischen den kulturellen Elementen erhalte. Die Phasen werden von Moisan/Hildebrand folgendermaßen bezeichnet: "l'uniculturel" (Kapitel II), "le pluriculturel" (Kapitel III), "l'interculturel" (Kapitel IV) und "le transculturel" (Kapitel V).

Les voix culturelles à l'unisson ou l'interculturel. L'écriture moderne (1937–1959): Diese erste Phase der Quebecer Literatur seit 1937 zeichnete sich, so können Moisan/Hildebrand zeigen, durch eine "écriture homogène" (51) aus, indem die schreibenden Migranten (die größtenteils aus Frankreich oder dem französischen Sprachraum einwanderten) und ihre Werke aktiv an den dominanten kulturellen, literarischen, sozialen und institutionellen Strömungen Frankokanadas teil hatten bzw. diese vorantrieben.

Les voix culturelles en polyphonie ou le pluriculturel. L'écriture postmoderne (1960–1974): In einer zweiten Phase entstand hingegen eine kulturelle Vielfalt, eine "écriture hétérogène" (52). Parallel zur größeren Bandbreite der Herkunftsländer der Migranten erweiterte sich auch das Themenspektrum der von ihnen verfassten Texte. Obwohl die Texte hinsichtlich der Handlungsorte häufig zwischen einem Herkunftsland und Quebec oszillierten, blieben sie letztlich dennoch durch die Wahl der Themen und Schreibweisen durchgängig im sozialen, politischen und literarischen Kontext Quebecs verankert.

Le relais de l'interculturel. L'écriture immigrante (1975–1986): In der dritten Phase indes grenzten sich die schreibenden Migranten, so Moisan/Hildebrand, von Quebec-spezifischen Aspekten ab. Identifikationsprozesse standen im Zentrum der Texte, die thematisch um Fragen der Erinnerung, der Entwurzelung und des Exils kreisten. Parallel dazu kam es zu einer Reflexion der Migranten über ihren Platz in der Quebecer Literatur, so dass eine Art kollektives Bewusstsein für eine "écriture immigrante" (53) entstehen konnte.



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Le transculturel comme résultante. L'écriture migrante (1986–1997): Die vierte Phase wird von den Autoren der Studie als diejenige der "écriture migrante" (54) bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt ging das Schreiben in Quebec über die gleichzeitige Existenz zweier kultureller Tendenzen (Werke der Néo-Québécois versus Werke der Québécois de souche) hinaus, um auf eine Verflechtung zwischen ihnen hinzuarbeiten. In dieser Phase wurden die Werke der Migranten zu einem unentbehrlichen Baustein des Systems der Quebecer Literatur, durch den diese eine grundlegende Veränderung erfuhr.

In einem Fazit greifen Moisan/Hildebrand in der Einleitung eingeführte soziopolitische Aspekte wieder auf: Sie gehen der Frage nach, welche Rolle Ethnizität in der Literatur, im politischen Konzept des Multikulturalismus sowie im Quebecer Nationalismus spiele. Die Quebecer Literatur zeige, wie verschiedene ethnische Gruppen gemeinsam existieren und sich gegenseitig befruchten könnten und gleichzeitig eine ethnische Zentrierung überschritten werde. Diese daraus entstehende neue Form der Quebecer Literatur, "devenue diverse et métissée" (312), habe insofern auch zu einer veränderten Vorstellung von nationaler Identität in Quebec beigetragen.

In einem Nachwort verdeutlichen Moisan/Hildebrand noch einmal den Wandel der Quebecer Literatur hinsichtlich ihrer ethnokulturellen Elemente anhand von zwei unterschiedlich strukturierten Bewegungsarten ("marche" versus "danse"): Sie unterscheiden hierbei zwischen einem vom Partner unabhängigen Gehen (Phase 1–2 der Quebecer Literatur) und einem partnerzentrierten Tanzen (Phase 3–4).

Die Studie ist als Einstieg in die Quebecer Migrationsliteratur für ein breites Publikum geeignet: Sie setzt keine besonderen Grundkenntnisse voraus, ist verständlich geschrieben, und die Bearbeitung der literarischen Phänomene wird in theoretische Überlegungen wie das Konzept der Literatur als System eingebettet und so anschaulich gemacht. Für weitergehende sozial- oder literaturwissenschaftliche Erträge wird die "Systems Analysis" bzw. neuere systemtheoretische Ansätze allerdings nicht genutzt. Eine tiefergehende theoretische Reflexion hätte einen Ausblick über den Quebecer Kontext hinaus erlaubt und die Möglichkeit geboten, die Entwicklung der Quebecer Literatur stärker mit jener anderer Literaturen zu vergleichen, in denen Texte von Migranten ebenfalls eine große Rolle spielen.



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Durch ihre diachrone Perspektive schließt die Studie eine Lücke in der Forschung zur Quebecer Migrationsliteratur: Zum ersten Mal ist es möglich, einen Überblick zu erhalten über die Bedeutung, die schreibende Migranten und ihre Werke für die Quebecer Literatur seit 1937 gehabt haben. Ein besonderer Gewinn ist dabei die Darstellung der ersten beiden Phasen, denen die Forschung bisher im Vergleich zur Zeit nach ca. 1980 hinsichtlich o. g. Fragestellung weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet hat. Eine weitere Stärke der Studie liegt in der Bearbeitung einer großen Bandbreite von Autoren und Werken sowie der Einbettung in übergreifende literarische, politische und soziale Zusammenhänge Quebecs. Durch diesen überblicksartigen Charakter unterbleibt naturgemäß eine ausführlichere Auseinandersetzung mit einzelnen Werken, Autoren oder Fragestellungen. Gewünscht hätte man sich indes umfassendere Literaturhinweise auf andere Studien, Forschungstendenzen sowie Konzepte und theoretische Ansätze – auch auf diejenigen, die der Untersuchung selbst zugrunde liegen bzw. diese weiter ausführen (wie beispielsweise Moisan 1987: 159–177).


Bibliografie

LaRue, Monique (1996): L'arpenteur et le navigateur. Montréal: Éditions Fides/CÉTUQ.

Moisan, Clément (1987): Qu'est-ce que l'histoire littéraire? Paris: Presses universitaires de France.

Moisan, Clément (1996): Le phénomène de la littérature. Essai. Montréal: L'Hexagone.

Tötösi de Zepetnek, Steven (1998): "A New Comparative Literature as Theory and Method", in: ders.: Comparative Literature. Theory, Method, Application. Textxet: Studies in Comparative Literature, Vol. 18. Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi, 13–42.


Anmerkung

1 Pluralbildungen gelten im Folgenden grundsätzlich für alle Geschlechter.

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