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Frank Lauterbach (Göttingen)



Jörn Glasenapp (2000): "Prodigies, anomalies, monsters": Charles Brockden Brown und die Grenzen der Erkenntnis. Göttingen: Wallstein



Trotz des zunehmenden Interesses, das Charles Brockden Browns literarisches wie literaturtheoretisches Schaffen in den vergangenen Jahren erfahren hat, ist die zentrale Bedeutung der empiristischen Epistemologie britischer Provenienz für sein Gesamtwerk bislang nicht umfassend untersucht worden. Zwar gehören Verweise auf den Humeschen Erkenntnisskeptizismus zum Standardrepertoire der Brown-Forschung, aber abgesehen von einem stringent argumentierten Kapitel in John Limons The Place of Fiction in the Time of Science (1990) hat Browns konkrete textuelle Umsetzung der empiristischen Erkenntniskritik noch wenig Berücksichtigung gefunden. Auch die beiden jüngsten Monographien zum Werk des ersten bedeutenden US-amerikanischen Romanciers vermeiden derartige Analysen weitgehend: Bill Christopherson z. B. beläßt es in seiner Studie The Apparition in the Glass (1993) bei zwei kurzen Verweisen auf den Einfluß des Humeschen Skeptizismus auf Edgars wie Clitheros Selbsterkenntnisprobleme in Edgar Huntly. Und während Steven Watts in seiner Arbeit The Romance of Real Life (1994) zwar deutlicher auf den kulturellen Kontext der epistemologischen Krise des späten 18. Jahrhunderts eingeht, bleibt auch er eine umfassendere Darstellung der Relevanz dieser Krise für Browns Werk schuldig.

Diese Schuld der gegenwärtigen Forschungslage sucht nun die vorliegende Monographie einzulösen. Dabei gelingt Glasenapp ein frischer und anregender Zugriff, der die Untersuchung der erkenntniskritischen Grundlagen von Browns Œuvre mit breit angelegten und (literatur)historisch kontextualisierten Textanalysen verbindet. Dieser Nexus wird durch eine Adaptation des Romankonzepts von Lukács hergestellt, das auf der – dem Totalität reklamierenden Epos noch unvertrauten – Subjekt-Objekt-Dichotomie basiert. Der Außenwelt entfremdet, erscheint dem (fiktionalen) Menschen die Realität des neuzeitlichen Romans und (so Glasenapp) insbesondere die Brownsche Romanwelt als niemals endgültig oder konsistent. Die Betonung der Zentralität dieser Form der Wirklichkeitserfahrung für Browns Texte öffnet den Blick auf den epistemologischen Skeptizismus eines Hume, dessen Kritik an der Vorstellung der Gleichförmigkeit des Naturverlaufes zu demjenigen Postulat der Nicht-Analytizität von Kausalaussagen geführt hat, das auch Browns Romanen zugrunde liegt. Anhand des literaturkritischen Essays "The Difference between History and Romance" wird gezeigt, daß für Brown selbst "der Schritt in das Terrain des romancers immer auch den Schritt in die epistemologische Unsicherheit impliziert" (13).




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Es ist dieser Fokus auf die von Hume übernommene "epistemologische Unsicherheit", der Glasenapps Arbeit ein hohes Maß an Kohärenz sowie ihren strukturellen Leitfaden verleiht. Er entwickelt sein Argument in drei Stufen und bewegt sich dabei von der Welt der Romane zunächst zur Relation zwischen Fiktion und Lesepublikum sowie schließlich zur Identität des Selbst. Unter intensiver Berücksichtigung nicht nur der vier allgemein kanonisierten Romane (Wieland, Ormond, Arthur Mervyn und Edgar Huntly), sondern auch des gemeinhin vernachlässigten Stephen Calvert sowie der Erzählung "Somnambulism" argumentiert er, daß Browns Romane sich Leserversuchen der Bedeutungsfindung verweigern, indem sie auf den Erkenntnisverlust verweisen, der mit der Erfahrung einer inkohärent erscheinenden Welt einhergeht. Da eine solche Welt mit den begrenzten Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Wissens niemals endgültig verstanden werden kann, laden Browns Texte ihre Leser statt dessen dazu ein, Bedeutungen selbst durch ihre Leseakte zu produzieren und damit in die strukturellen Leerstellen der fiktionalen Welt einzutreten. Daneben sucht Glasenapp aber auch immer wieder, das spannungsvolle Verhältnis zwischen Browns literarischem Schaffen und der nationalkulturellen Ideologie der frühen Republik herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund der ökonomischen wie literarischen Dominanz britischer Schreibmodelle beleuchtet er die Chancen und Probleme eines spezifisch US-amerikanischen Schreibens, d. h. der Produktion einer transatlantischen Eigenliteratur.

Im ersten Hauptabschnitt seiner Arbeit – mit "Mangel an Sinn: die Welt" überschrieben – analysiert Glasenapp die Erzählung "Somnambulism" sowie die Romane Wieland und Stephen Calvert mit Blick auf die latente Unfähigkeit von Browns fiktionalen Charakteren, die Welt um sich herum zu verstehen. Gerade die Analyse der auf den ersten Blick unscheinbaren Geschichte "Somnambulism" macht deutlich, daß ein genaues, dekonstruktivistischer Methodik verpflichtetes close reading zu den großen Stärken der vorliegenden Arbeit gehört. Es ist nämlich jener "erste Blick", der immer wieder hinterfragt wird, und zwar auf der Text- wie auf der Rezeptionsebene. Die Erzählung konzentriert sich auf die nächtliche Kutschfahrt von Constantia Davis und ihrem Vater, die beide die Identität einer geheimnisvollen Gestalt durch (von dritten korroborierte) Kausalschlüsse zu erklären suchen, die jedoch für Glasenapp im Sinne von Hume weder induktiv noch deduktiv zu rechtfertigen seien. So wird Constantia dann auch trotz aller noch so plausibel erscheinenden Erklärungen aus nächster Nähe erschossen. Interessanter noch ist, daß Glasenapp auch die Konklusionen hinterfragt, die die scheinbar überlegenen Leser zur Lösung des Mordfalles führen. Es seien nämlich allein der Erzählung vorangestellte Peritexte, die sie zu Kausalschlüssen verleiteten, die keineswegs aus der Textperzeption zwingend geboten seien. Glasenapps intelligente Lesart betont, daß die Gewöhnung, die "in einem kontingenten Universum, in welchem die Zukunft nicht notwendig das ist, was sie der Vergangenheit gemäß zu sein versprach", nicht nur "schnell zur tödlichen Falle werden kann" (65), sondern auch den Leser sich "in die Gefahr des Irrtums" begeben läßt (79).

Diese Interpretation von "Somnambulism" verdeutlicht exemplarisch den Ansatz der vorliegenden Abhandlung. Ebenso wird auch Wieland analysiert als Konfrontation mit einer kontingenten Wirklichkeit, die ihre Transparenz eingebüßt hat, so daß alle um Sinnzusammenhänge bemühten Versuche der intellektuellen Durchdringung dieser Realität zum Scheitern verurteilt sind – ein Scheitern, das in dem zu Unrecht meist vernachlässigten Stephen Calvert durch die Verbindung mit dem von Theodor Wolpers sogenannten Motiv der "gelebten Literatur in der Literatur" noch ungleich komplexer herausgearbeitet wird. Damit wendet sich Glasenapp aber bereits auf eindrucksvolle Weise der Realitätsvermittlung im Zwischenraum von Text und Leser zu, die in seinem zweiten Hauptabschnitt mit dem Titel "Mangel an Sinn: der Text" hinterfragt wird.




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Das latente Dilemma, die Welt nicht verstehen zu können, wird in der Analyse von Ormond zum Problem der Authentizität mittelbarer Berichterstattung. Laut Glasenapp führt das Oszillieren zwischen vorgeblicher Faktizität und offenbarter Fiktionalität dazu, daß nicht die Wirklichkeit selbst, sondern der Prozeß ihrer mimetischen Repräsentation zum Gegenstand der Narration wird. Noch deutlicher wird dies in Arthur Mervyn, wo der Status von Sprache als transparentes Medium zwischen Subjekten und ihren Objekterfahrungen nachhaltig in Zweifel gezogen wird.

Diese Untersuchungen kulminieren in einer Interpretation von Browns wohl bekanntestem Roman Edgar Huntly, der im Zentrum der abschließenden und vielleicht gelungensten Sektion "Mangel an Sinn: das Ich" steht. Dem wegweisenden Ansatz Leslie Fiedlers folgend, zeigt Glasenapp, wie Brown einen quest-plot dazu nutzt, zu hinterfragen, inwieweit das eigene Ich sich selbst überhaupt noch authentisch erfahren kann. Die sowohl archetypische wie auch spezifisch US-amerikanische Verhaltensweisen heranziehende Analyse legt offen, wie "das menschliche Bewußtsein, weit davon entfernt, intellektuell durchdrungen zu werden, immer wieder zum Spielball unbeherrschbarer irrationaler Kräfte wird" (264). Dazu gehört nicht nur Edgars Schlafwandeln, sondern auch seine (hier ideologiekritisch untersuchte) zunehmende Gewaltbereitschaft, die sich in immer brutaleren Tötungen prä-amerikanischer Bewohner einer nur scheinbaren (und eher psychologisch-metaphorisch als real relevanten) "Wildnis" äußert.

Während die vorliegende Untersuchung insgesamt ohne Zweifel zu überzeugen vermag, sollten einige kleinere Ergänzungen jedoch nicht unerwähnt bleiben. Gerade die Analyse von Edgar Huntly zeigt, daß Glasenapp mit seinem Fokus auf einen erkenntniskritischen, i. e. letztlich subjektivistisch bzw. psychologistisch motivierten Ansatz (wie das Gros der Brown-Forschung) zu Unrecht die soziale Komponente des Romans in den Hintergrund stellt, die sich etwa in Browns nicht weniger pessimistischer und subversiver Polemik gegen die Auffassung von benevolence äußert, wie sie in der (britischen) sentimentalen Fiktion des 18. Jahrhunderts popularisiert worden war. Während benevolence dort einen optimistischen, aufgeklärten (wenngleich zuweilen auf unheimliche Weise disziplinierenden) Ansatz der Vermittlung intersubjektiver Beziehungen markiert, stellt Brown ihre Wirkungen als desaströs oder zwiespältig vor. Fast alle wichtigen Beziehungen in Edgar Huntly sind um Versuche zentriert, die Nachteile oder Leiden anderer durch Akte von benevolence zu sublimieren, versagen jedoch entweder oder enden mit Unbehagen, Fehlgeburt oder – vielleicht? – sogar Selbstmord. Folglich bleibt Browns dunkle Vision der menschlichen Natur nicht auf die Tiefen der individuellen oder kollektiven Psyche beschränkt, sondern schließt auch die Aporien sozialer Interaktion ein.




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Während Glasenapps Aussparung dieser Kritik an der sentimentalen Tradition überrascht, erscheint der Vergleich mit einem Text wie Joseph Conrads Heart of Darkness (ebenso wie einige andere Vergleiche innerhalb der Gesamtstudie) trotz gewisser typologischer Parallelen zu Edgar Huntly angesichts der nicht nachgewiesenen direkten Verbindungen eher beliebig. Statt dessen würde man sich z. B. eine präzisere Beschreibung der von Browns Höhlenszene angeregten Traditionslinie wünschen, die nicht nur en passant auf eine Reihe von Edgar Allan Poes Erzählungen verwiese (274–75, Anm. 49), sondern auch und gerade den hier (wie leider allgemein in der Forschung) übersehenen Schlüsselroman Errata von John Neal einbezöge, der ja nicht nur (wie von Glasenapp an anderer Stelle erwähnt) Brown sehr geschätzt hat, sondern auch maßgeblich für Poes Karriere verantwortlich zeichnete.

Diese detailkritischen Anmerkungen sollen jedoch allein als beiläufige Ergänzungen zu einer Studie dienen, die durchgehend durch Klarheit, Stringenz und vor allem analytische Einsichten besticht. Glasenapps Arbeit bildet ohne Frage eine deutliche Bereicherung der Brown-Forschung um (freilich bei weitem nicht nur) erkenntniskritische Parameter. So bleibt eigentlich nur zu bedauern, daß die deutsche Sprache (sowie einige unverständliche editorische und typographische Entscheidungen auf Verlagsseite) dazu führen dürften, daß diese Monographie nicht die Leserschaft erreichen wird, die sie verdient hätte.



Bibliographie

Christopherson, Bill (1993): The Apparition in the Glass. Athens: U of Georgia P.

Limon, John (1990): The Place of Fiction in the Time of Science. Cambridge: Cambridge UP.

Watts, Steven (1994): The Romance of Real Life. Baltimore: Johns Hopkins UP.

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