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Susanne Dettmar-Wrana (Berlin)



Jean Pelletier (2000): Julien Gracq. L'embarcadère. Paris: Éditions du Chêne. (= Vérité et légendes)


Mit seinem Buch Julien Gracq. L'embarcadère erweitert Jean Pelletier die Reihe Vérité et légendes, in der bereits Portraits zu Marguerite Duras, Albert Camus, Jean-Marie Gustave Le Clézio, Boris Vian und Antoine de Saint-Exupéry vertreten sind, um einen Beitrag zu einem maßgeblichen Schriftsteller der französischen Gegenwartsliteratur. Pelletier, selbst Autor unter anderem zweier Romane und eines Theaterstücks, versucht in Julien Gracq. L'embarcadère eine Annäherung an Julien Gracq, die sich zugleich als Autorenportrait, Biographie und Definition seines persönlichen Bezugs zu Werk und Person Gracqs versteht. Die Vorgehensweise Pelletiers ist dabei weniger wissenschaftlich-analytisch als deskriptiv-erzählend. Gedacht ist das Buch – wie schon der Klappentext verrät – als Heranführung an Julien Gracqs Werk: "Cet essai est un témoignage qui accompagne plus qu'il ne commente la lecture de l'œuvre. Il n'est en soi que le désir d'être l'une des clefs qui permettent d'accéder aux mots, au style et aux figures de l'écriture gracquienne." Die Besonderheiten, die Gracqs Werk aufweist, werden dabei in weiten Teilen mit der Biographie des Autors in Zusammenhang gebracht oder aus dieser heraus erklärt.

Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt, nebst Einleitung und Nachwort. Bereits in der Einleitung wird deutlich, wie sehr Pelletiers Essay über Gracq unter dem Eindruck der persönlichen Begegnung mit der Person Julien Gracq (bürgerlich: Louis Poirier) und der begeisterten Rezeption seiner Texte steht: "Ma première visite [chez Gracq] remonte à mars 1980. J'étais jeune étudiant [...]. J'avais déjà fait depuis de nombreuses années le voyage littéraire, il devenait évident [...] de le rencontrer [...]. [...] Je garde un souvenir plein d'émotion de cette rencontre [...]." (7) Der Entstehungsrahmen des Buches über Gracq wird somit nachgezeichnet: die Motivation, aus einer persönlichen Affinität heraus ein Autorenportrait zu erstellen und dieses wesentlich auf das Fundament von Aussagen zu stellen, die Gracq im Dialog mit Pelletier getroffen hat. Gracq wird in Wort und Bild als Privatperson gezeigt – offenkundig besteht eine der wesentlichen Intentionen Pelletiers darin, den Menschen Louis Poirier zu beschreiben, der sich hinter dem Pseudonym Julien Gracq verbirgt und dem es bis heute weitestgehend gelungen ist, sein Privatleben vor der Öffentlichkeit abzuschirmen: "M. Gracq consent volontiers à parler et à commenter les faits et gestes (entendons là essentiellement les écrits) de Julien Gracq, mais M. Louis Poirier ne délivre qu'un strict minimum bibliographique par bribes de souvenirs et de commentaires." (12)



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Obwohl Pelletier sich dem 'Objekt' seines Essays auf sehr persönliche Weise annähert, stößt auch er an die Grenzen, die Gracq im Hinblick auf die Öffentlichkeit zur Abschirmung seines Privatlebens gesetzt hat: "De toutes ces rencontres avec lui, je garde le regret de ne pas être entré en contact avec l'homme Louis Poirier." (129) Gracq bestimmt sehr genau, welche Einzelheiten seines Lebens und welche Facetten seiner Persönlichkeit dem Lesepublikum zugänglich gemacht werden sollen. Als prinzipieller Grundsatz kann in dieser Hinsicht gelten: Je wichtiger ein persönliches Erlebnis oder eine Person für Gracq ist, desto weniger wird die Öffentlichkeit darüber erfahren. Bestes Beispiel hierfür ist die Mutter des Autors: "Quelques lignes pour son père, quelques mots pour sa mère dans Lettrines 2." (62) Auch im Hinblick auf Liebesbeziehungen ist Gracq von höchster Diskretion: "Aujourd'hui dans une biographie de Gracq [...] il n'y aurait rien sur ses sentiments profonds, ses amours, ses amitiés, nulle lettre, nulle confidence." (90)

Insgesamt beschreiben die acht Kapitel in Julien Gracq. L'embarcadère die großen Konstanten, die Gracqs Schreiben bestimmen und an denen sich literaturwissenschaftliche Analysen zu seinem Werk im allgemeinen orientieren. Zu diesen Konstanten gehören auf inhaltlicher Ebene die besondere Darstellung geographischer Räume (Kapitel 1) und der Dimension Zeit (Kapitel 2), das prägende Erlebnis des "départ" (Kapitel 3 und 7) und die spezielle Art der Beschreibung von Landschaft (Kapitel 5); auf stilistischer Ebene ist das Verständnis des eigenen Schreibens als selbstreflexive Gedankenübung und Verarbeitung eigener literarischer Rezeption zu nennen (Kapitel 4); in biographischer Hinsicht heißen diese Konstanten Individualismus (Kapitel 6) und die Selbstpositionierung innerhalb der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts (Kapitel 8). Die einzelnen Kapitel beinhalten jeweils eine Zusammenstellung unterschiedlicher Aspekte zu den genannten Konstanten.

Das erste Kapitel wird von unterschwelligem Pathos getragen, das offenkundig verdeutlichen soll, wie sehr Pelletier seinen Essay als Hommage an Gracq versteht. Dieses Pathos wirkt leicht irritierend, vor allem an den Stellen, an denen sich der Autor dadurch bedingt in undeutlichen Aussagen verliert oder sich gar bei Gracq für seine Interpretationsansätze entschuldigt: "Pardonnez-moi, M. Gracq, cette comparaison démesurée et quelque peu ampoulée; elle n'a pour unique raison que de tenter une autre explication." (30)

Pelletier eröffnet seine Ausführungen mit einem Zitat aus dem Romanfragment "La Route" (1953–56, veröffentlicht 1970 in La Presqu'île) und zieht sofort eine Parallele zu Gracqs Biographie, die die besondere Bedeutung des geographischen Raumes und der selbstbestimmten Art des Autors, sich in der Welt fortzubewegen, für sein Leben und Schreiben verdeutlichen soll: "Par ces mots qui ouvrent La Route, [...] Gracq énonce une indétermination de l'espace, sans chronologie, ni repère. Cette 'Route' pourrait être sa propre trajectoire." (22) Im folgenden wird Pelletier immer wieder ähnliche Parallelen zwischen Gracqs Texten und der Biographie des Schriftstellers ziehen, was an manchen Stellen gerechtfertigt erscheint.



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Häufig entsteht jedoch der Eindruck, daß Pelletier die fiktive Welt Gracqs allzu schnell aus den biographischen Gegebenheiten heraus deuten will, um die Idee der Einheit von Leben und Werk Gracqs zu veranschaulichen. So verwendet Pelletier das Beispiel "La Route" letztlich, um die Eigenwilligkeit zu unterstreichen, die er in Gracqs Lebensweg und seiner literarischen Selbstbestimmung erkennt. Er beschreibt die strenge Abgrenzung Gracqs von Ideologien und medienwirksamen Literaturspektakeln, die Kritik an einer mediatisierten Kommunikationsgesellschaft; den seiner Ansicht nach überflüssigen Mitteilungen dieser Kommunikationsgesellschaft setzt Gracq sein unspektakuläres Dasein als Geographielehrer sowie seine Bewunderung für das 19. Jahrhundert entgegen (31–33).

Im zweiten Kapitel beschreibt Pelletier den besonderen literarischen Umgang Gracqs mit der Dimension Zeit und, damit verknüpft, besonderen Bewußtseinszuständen seiner Figuren wie Traum, Schlaf- oder Dämmerzuständen: "Le génie créatif de Julien Gracq est d'inventer le temps, à tel point que celui-ci devient tout à la fois l'acteur principal, le décor et la substance même du récit." (39) Der Autor skizziert die literarische und künstlerische Tradition, an die Gracq mit seinen Schilderungen anknüpft – Baudelaire, Wagner, Breton und die Surrealisten, den Gralsmythos – und beschreibt die Wirkung des Spannungszustandes zwischen "attente" und dem Eintreffen des erwarteten Ereignisses am Ende einer Erzählung, der charakteristisch ist für Gracqs Fiktionen: "Cette attente-là sème le trouble et modifie graduellement le rapport au temps que tout lecteur entretient avec une œuvre qui se lit, par définition, linéairement." (39) Insgesamt liefert das Kapitel eine sehr dichte Übersicht über die wesentlichen Merkmale der Darstellung von Zeit bei Gracq und wird der Bedeutung des Themas damit gerecht. Zugleich wird hier jedoch eine Schwäche des Buches deutlich: Da das Thema Zeit – ebenso wie viele andere Themen, die Pelletier anspricht – nur auf sehr begrenztem Raum ausgeführt wird, steigt die Gefahr, daß es nur oberflächlich angeschnitten werden kann und die Erklärung einer Vielzahl wichtiger Stichwörter, die der Autor nennt, zu kurz kommt. Für den Leser, der mit Gracqs Werk bzw. den Ausführungen der Literaturkritik wenig vertraut ist, wirkt diese Dichte schnell sprunghaft und verwirrend, da häufig mehr angedeutet als erklärt wird: "Paysages de lisières, frontières indécises, actions retenues, attentes qui se respirent, et ce temps vite oppressant parce que omniprésent, unique acteur et narrateur." (40) Bestimmte Inhalte sind so nur noch für den eingeweihten Leser durchschaubar.

Das dritte Kapitel befaßt sich wieder vertieft mit Gracqs Biographie; parallel hierzu ist Kapitel 7 zu sehen. Beide Kapitel veranschaulichen unter anderem die starke Prägung Gracqs durch die enge Bindung an seine Heimatregion, deren Landschaft und Menschen seine Wahrnehmung der Welt und somit auch sein Schreiben deutlich bestimmt haben. Neben einer aufschlußreichen Beschreibung wesentlicher Kindheits- und Jugenderlebnisse Gracqs – so z. B. der Ereignisse um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (69) oder seiner Lektüre von Jules Verne, Stendhal und Poe (70–75) – schildert Pelletier hier die Wahrnehmung und Darstellung von Landschaft durch Gracq: "Les paysages submergent sa vie et tracent sur l'écriture le feuilleté subtil d'une géographie plus minérale et végétale qu'humaine [...]. [...] Le paysage signe en lui-même un univers symbolique, les couleurs, les sons et les odeurs tissent une trame serrée et secrète qui délivre l'imagination de toute entrave." (61–62)



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Von zentraler Bedeutung für Gracqs Darstellung von Raum und Zeit ist das Erlebnis des "départ", das seinen Ursprung in dem Stapellauf des Passagierdampfers Île-de-France in der Jugend des Autors findet: "En 1926, il assiste à Saint-Nazaire au lancement de l'Île-de-France. [...] Il y a dans ce souvenir le réservoir futur d'un imaginaire en forme d'embarcadère, une volonté toute forgée vers ce qui se situe au-delà du départ." (76–78) Das sinnliche Erleben von Aufbruch und Landschaft findet seinen wohl deutlichsten Niederschlag in Les Eaux étroites (1976), der Schilderung eines "voyage initiatique" (67) – hier vor dem Hintergrund der Lektüre von Poe und Nerval –, was Pelletier in Erinnerung ruft: "Les Eaux étroites se nourrissent de ses souvenirs de promenade sur l'Èvre entrecroisant les odeurs et les sensations très physiques aux réminiscences littéraires." (65–66) Deutlich gezeigt wird an dieser Stelle auch die magische, prophetische und initiatorische Funktion, die Gracq dem Element Wasser zuschreibt, sowie das Initiationserlebnis durch die Reise, das in seinen Texten ebenfalls zentral ist.

Die biographischen Hintergründe des besonderen Erlebens und Darstellens von Landschaft bei Gracq – seine Ausbildung als Geographielehrer – werden ausführlicher in Kapitel 5 beschrieben (107–108). Hier wird auch betont, wie grundlegend seine Schilderungen von Natur und Landschaft seinen Ruf als Schriftsteller geprägt haben: "Michel Tournier a dit de lui qu'il est 'le plus grand paysagiste de toute la littérature française'." (107) Zu recht zeigt Pelletier in diesem Kontext aber, daß die Anerkennung von Gracqs stilistischem Können nicht ausreicht, um die Besonderheit seiner Darstellung realer und imaginärer Landschaften zu erfassen: Ebenso wichtig ist hier wiederum das sinnliche Erleben, das etwa in der Symbiose von Natur und Weiblichkeit zum Ausdruck kommt: " [...] [Gracq] a conçu très tôt 'une géographie du désir'. Le personnage de la femme [...] s'est insinué peu à peu dans une écriture descriptive du paysage qu'il a fait 'femme'." (113) Auch auf den mystischen Aspekt der Naturbeschreibung bei Gracq verweist Pelletier in diesem Zusammenhang (119).

Eine gute Zusammenfassung der literaturtheoretischen Hintergründe von Gracqs Werk bietet das vierte Kapitel. Pelletier geht hier auf stilistische Eigenheiten, Schreibtechniken und die Bevorzugung bestimmter Textarten durch Gracq ein. Diese Beobachtungen stehen jedoch wiederum vor dem Hintergrund des engen Zusammenhangs von Leben und Schreiben bei Gracq und werden hierin begründet. Als Beispiel hierfür kann die Wahl der literarischen Form des Fragments gelten, auf die Gracq seit 1953 mit Vorliebe zurückgreift und worüber er das Schaffen komplexer Romanarchitekturen praktisch aufgegeben hat. Pelletier verzichtet allerdings auf tiefergehende literaturtheoretische Überlegungen, die hier durchaus angebracht wären, und zeigt stattdessen nur die sehr praktischen Beweggründe für diesen Wandel: Gracq beschränke sich darauf, zwei Stunden am Tag zu schreiben; dann würde der Drang nach ausgleichender körperlicher Bewegung zu groß. Bei einem längeren Text, wie beispielsweise einem Roman, empfinde er das Weiterschreiben am darauffolgenden Tag als künstlichen und oft vergeblichen Versuch, den 'roten Faden' wiederaufzunehmen: "C'est pourquoi il privilégie l'écriture d'un fragment, d'un poème, d'une pensée. Il livre par à-coups le souffle de sa vie." (98)



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Betont wird auch die Selbstbezogenheit, der Selbstzweck von Gracqs Schreiben: "Il dit écrire pour lui-même et fait un lien, comme un écho, avec la lecture, 'lire et écrire va ensemble'. [...] Julien Gracq [...] ne s'est guère manifesté dans le registre de l'autre et encore moins dans ce qui pourrait être une communication avec ses lecteurs ou les critiques." (93) Weitaus weniger als um die potentiellen Bedürfnisse des Lesers gehe es Gracq um das Wechselspiel zwischen dem Gedanken und seiner schriftlichen Fixierung, um die Herausforderung, diesem Festhalten gerecht zu werden: "Pourquoi écrire? Mais pour donner de la matière au rêve, à la pensée, à la fuite vers l'aboutissement du temps." (94) Dies ist sicher richtig, doch in der hier dargestellten Absolutheit bleibt dieser Gedanke anzuzweifeln: Gracq ist sehr wohl auch als publizierender Autor und Kritiker zu sehen, der seine Texte vor der Veröffentlichung für den Leser genau redigiert und korrigiert. Der Selbstzweck mag der dominierende Aspekt seines Schreibens sein, er gilt jedoch nicht uneingeschränkt.

Dem hier deutlich hervortretenden Gesichtspunkt von Selbstbezug und ausgeprägtem Individualismus tragen die Kapitel 6 und 8 Rechnung. Dabei werden einige Beobachtungen wiederholt, etwa zu Gracqs bewußtem Rückzug aus der Öffentlichkeit (125–129, bereits in Kapitel 1, 24), seine Distanziertheit (129, bereits in der Einleitung, 15) oder die Tatsache, daß er unverheiratet geblieben ist, um sich seinem Beruf und seiner schriftstellerischen Arbeit uneingeschränkt widmen zu können (130, bereits in Kapitel 3, 65). Abgesehen von einigen zusätzlichen Anmerkungen zu stilistischen Besonderheiten in Gracqs Texten geht das sechste Kapitel daher kaum über vorab bereits Gesagtes hinaus. Das achte und letzte Kapitel befaßt sich ebenfalls noch einmal mit der Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, Gracq als Autor und Menschen vollständig zu erfassen oder zu klassifizieren – die Notwendigkeit eines solchen Unternehmens ist allerdings auch fraglich. Der Erfolg der persönlichen Rückzugstaktik Gracqs wird hier einmal mehr deutlich.

Abgesehen von einigen interessanten Anmerkungen zu Gracqs frühem Engagement in der Kommunistischen Partei und seinem späteren vollständigen Rückzug von jeglicher politischen Stellungnahme, schließt Pelletier mit diesem letzten Kapitel an seine einleitenden Ausführungen an. Deutlich wird hier auch die starke Präsenz Gracqs in 'seinem' Jahrhundert, dem 20. – trotz aller Rückzugsversuche und der wiederholten Selbstfindung im 19. Jahrhundert. Grund hierfür – und auch dies zeigt Pelletier – ist sicherlich Gracqs Neigung zu deutlicher, oft als Provokation verstandener Kritik, die ihn zu einer Person macht, die ihrer Zeit den Spiegel vorhält: "On se dit soit: il est loin, tourné vers son cher XIXe siècle, soit: il nous alerte sur les déviances de notre temps. C'est en cela que Julien Gracq est authentiquement un écrivain dans son siècle [...]." (151)



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Insgesamt betrachtet wird Jean Pelletier seinem Ziel, einen Essay zu schreiben, der an den Autor Julien Gracq heranführt und die Lektüre seiner Texte begleitet, seine Sprache und Bilder näherbringt und die Ursprünge seiner Erzählwelt zeigt, durchaus gerecht. Entstanden ist das Zeugnis einer sehr persönlichen Annäherung an Gracq und zugleich eine Hommage an einen Autor, den Pelletier schätzt und persönlich kennt. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Buch an mancher Stelle als Versuch, die eigene Beziehung zu Gracq zu 'verarbeiten' oder auch einfach nur festzuhalten (91–92). Aus dieser Art der Annäherung resultieren jedoch zwei Auffälligkeiten: Zum einen präsentiert sich Julien Gracq. L'embarcadère nicht als literaturwissenschaftliche Abhandlung mit universitärem Charakter, was formal z. B. auch anhand des Fehlens von Fußnoten, an den rein suggestiven Kapitelüberschriften oder der wenig umfassenden Bibliographie erkennbar ist. Zum anderen berichtet Pelletier nicht neutral, sondern wählt einen literarischen Erzählton, der nicht nur unangemessen pathetisch ist, sondern sich stellenweise auch in merkwürdig anmutenden, moralisch-interpretierenden Aussagen verliert, die der Lektüre aufgrund ihres nebulösen Charakters wenig förderlich sind; so schreibt der Autor etwa: "La littérature n'a jamais commencé quelque part. [...] Julien Gracq y mêle un peu de mort, il y déverse beaucoup de substantifs, d'adjectifs, de verbes et d'adverbes, il y tisse du passé et de l'avenir, mais il prend bien soin de toujours s'arrêter à l'orée du bois et d'éviter d'y pénétrer." (147) Solchen unklaren Aussagen setzt Pelletier einige wenige provokative Äußerungen entgegen, die jedoch nicht als sachliche Kritik gelten können und daher ebenfalls undeutlich bleiben; so bezeichnet Pelletier die Tatsache, daß Gracq seine schriftstellerische Arbeit im wesentlichen als Selbstzweck sieht, beispielsweise als "onanisme" (121).

Der Lektüre abträglich sind auch die bereits genannten inhaltlichen Wiederholungen im Text sowie zum Teil nur schwer nachzuvollziehende Gedankensprünge Pelletiers, so zum Beispiel in Kapitel 7, wo eine recht willkürliche Parallele zwischen Gracq und dem Dichter Jean Tardieu gezogen wird (142). Die Wiederholungen und Gedankensprünge spiegeln sich auch in der Anordnung der acht Kapitel wider: So zeigen etwa die Kapitel 3 und 7 und die Kapitel 6 und 8 so viele inhaltliche Parallelen, daß sie auch jeweils zu einem Kapitel hätten zusammengefaßt werden können. Einige Wiederholungen hätten sich auf diese Weise vermeiden lassen, etwa die Tatsache, daß Fragen wie die des Romans bei Gracq angesprochen, fallengelassen und Seiten später wieder aufgenommen werden (101/130). Problematisch ist auch das bereits erwähnte Benennen von Stichwörtern, die charakteristisch sind für Gracqs Texte (z. B. "l'attente", "le vide", "le départ"), von Pelletier teilweise jedoch ohne Erläuterung nur suggestiv aneinandergereiht werden.

Inhaltlich sagt Pelletier – abgesehen natürlich von persönlichen Anmerkungen – wenig, was innerhalb der Gracq-Literatur nicht bereits nachzulesen wäre, etwa bei Bernhild Boie (1966). Auch die – zweifellos interessanten – biographischen Daten und Zusammenhänge sind der Öffentlichkeit spätestens seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Pléiade-Ausgabe (1989) bekannt. Die Herausgeberin Bernhild Boie liefert hier bereits eine sehr sorgfältige Zusammenstellung biographischer Hintergründe zu Julien Gracq. Neu in Julien Gracq. L'embarcadère sind einzig die Aussagen, die Gracq in den Gesprächen mit Jean Pelletier zu bestimmten Fragen getroffen hat. Der wesentliche Beitrag des Buches liegt demnach weniger in den darin zu findenden Interpretationen als in der Art der Synthese, die Pelletier erstellt.



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Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den optischen Aspekt von Julien Gracq. L'embarcadère: Mit großer Sorgfalt hat Pelletier zahlreiche Abbildungen zusammengestellt, die Gracqs Leben und Werk eindrucksvoll dokumentieren. So veranschaulichen die gezeigten Abbildungen beispielsweise künstlerische Quellen oder bestimmte Ereignisse, die Gracqs Erzählen inspiriert haben, etwa die Illustration der Schlacht vor Jütland 1916 (69), die ihn im Hinblick auf seinen Roman Le Rivage des Syrtes (1951) angeregt hat. Auch die Bildunterschriften, die häufig aus Gracq-Zitaten bestehen, sind auf positive Art assoziativ. Insgesamt wird Julien Gracq auf eine sehr persönliche Weise gezeigt (z. B. 88/89), die nicht nur die Nähe dokumentiert, die Pelletier zu ihm herstellen konnte, sondern auch dem Leser seine Person nahebringt. Alles in allem ist Jean Pelletier mit Julien Gracq. L'embarcadère so ein lesens- und sehenswertes Gracq-Portrait gelungen – als Heranführung an den Autor und als begleitender Essay ("qui" – wohlgemerkt – "accompagne plus qu'il ne commente") eine wertvolle Ergänzung der bereits vorhandenen Sekundärliteratur zu Julien Gracq.


Literatur

Boie, Bernhild (1966): Hauptmotive im Werke Julien Gracqs. München: Fink.

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