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Hanno Ehrlicher (Heidelberg)



Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hgg.) (2000): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam: Rodopi.


Die totale Perspektive, die im Titel des Sammelbandes anklingt, ist nur noch als historische Reminiszenz lesbar, als Zitat eines Anspruches auf Allmacht und Omnipräsenz, den die Avantgarden im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts erhoben, den die aktuelle Forschung sich jedoch weder anmaßen kann noch will. Die Partikularisierung und Ausdifferenzierung der Avantgardeforschung ist inzwischen so stark vorangeschritten, dass eine umfassende Theorie der Avantgarde, wie sie Peter Bürger (1974) noch vorlegen konnte, heute schlichtweg undenkbar ist. Dementsprechend heterogen und uneinheitlich sind die Ergebnisse der internationalen und interdisziplinären Tagung, die der Band präsentiert. Das betrifft sowohl den methodischen Zugang als auch die Qualität der insgesamt 28 Beiträge. Die sechs Themenbereiche, die von den Herausgebern als Untergliederung festgelegt wurden (Avantgardetheorie und Avantgardekritik, Geschlechterverhältnisse, Topographie, Fakturen, Formen des Politischen, sowie Avantgarde, Moderne, Postmoderne), bieten ein erstes Orientierungsangebot, auf das man allerdings auch ganz gut verzichten kann. Die Hauptdebatten der Forschung sind jedenfalls quer durch die Sektionen hindurch zu verfolgen.

Nach wie vor höchst umstritten ist das Verhältnis von Avantgarde und Macht, das weit über die Formen des Politischen hinausreicht, auch wenn es hier am klarsten hervortritt. Rolf Grimminger betont in seinem ideengeschichtlich orientierten Aufsatz den subkulturellen Charakter der Avantgarde, die er auf die Formel "anarchistische Freiheit, transformiert in Artekratie" (440) bringt. Ein Ansatz, den Otto Karl Werckmeister wohl als Indiz für die "anarchistische Vorbelastung" (509) nehmen würde, die er der Forschung tout court unterstellt. Er selbst plädiert an den Beispielen von Tatlin, Majakowski und Beuys dafür, Avantgarde eher umgekehrt als eine kulturelle Elite zu verstehen, deren Oppositionsanspruch unter demokratischen Bedingungen gesellschaftlich installiert und so zu einem funktionalen Bestandteil des politischen Systems werde. Der Erkenntnisgewinn von derlei Diskussionen um politischen Widerstand versus Anpassung scheint eher umgekehrt proportional zur Heftigkeit der dabei aufgerufenen ideologischen Affekte. Grimmingers Schema eines klaren Konfliktverhältnisses zwischen avantgardistischer Subkultur und staatstragender majoritärer Kultur lässt sich jedenfalls auch nüchterner widerlegen, wie der Aufsatz von Georg Bollenbeck zeigt, der für den Bereich der bildenden Kunst verdeutlichen kann, dass die Avantgarde in ihrem missionarisch übersteigerten Kunstverständnis von dem von ihr bekämpften und vom Nationalsozialismus wieder inthronisierten bürgerlichen Geschmacksurteil abhängig blieb, das als "negativer Resonanzboden" (467–504) zur eigenen Bestätigung diente.



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Sinnvollerweise schränkt Bollenbeck die Reichweite dieser These jedoch auf Deutschland ein, wo Kunst in ganz anderem Maße zur nationalen Selbstbestätigung instrumentalisiert werden konnte als in Ländern mit einer ungleich längeren Staatstradition. Der Fall Italiens zeigt, dass Avantgardismus und Antiavantgardismus sich nicht notwendig zu einer Spirale gegenseitiger Liquidation ausformen mussten. Das lassen auch die Ausführungen von Manfred Hinz erkennen, der seinen Überblick über die politischen Verbindungen zwischen Futurismus und Faschismus mit der beherzigenswerten Empfehlung beendet, sich endlich von der Fixierung auf bestimmte Ideologien zu lösen und stattdessen stärker die gesellschaftlichen Bedingungen zu analysieren, die überhaupt erst eine "faschistische Moderne" (463) ermöglicht hätten. Dass dem Funktionswandel der Technik dabei entscheidende Bedeutung zukam, deutet sein Beitrag leider nur an. Ärgerlicherweise bilden technische Medien generell den blinden Fleck beim 'Blick aus dem Wolkenkratzer'. Während die unterschiedlichsten künstlerischen Verfahrenstechniken der Avantgarden, die zu einer Kunst jenseits der Werke führten, ausführlich diskutiert werden und neben sprachlichen Innovationen auch Gattungs-, Werk- und Subjektkritik der Avantgarden Beachtung finden (dazu vor allem die Beiträge von Mojmír Grygar, Rainer Grübel, Marie-Paule Berranger und Harald Wenzlaff-Eggebert, der auch einen flüchtigen Seitenblick aufs Kino wagt), wird das Verhältnis von Avantgarde und Technik im materiellen Sinne überhaupt nicht thematisiert. Lediglich in Bernd Hüppaufs unpräzisen geschichtsphilosophischen Betrachtungen über die "Unzeitgemäßheit der Avantgarden" findet sich die überzogene und nicht weiter begründete Behauptung, die postmoderne Welt der Digitalisierung und des Cyberspace habe zu einem "uneingeschränkten Präsens aller Benutzer zu allen Zeiten" (551) geführt und damit zu einer Auflösung des Primats der Zeitlichkeit, dem die Avantgarde als ein Moment innerhalb der modernen Entwicklungslogik noch gehorchte.

Während die Macht der Technik im Machtkomplex der Avantgarden nicht behandelt wird, geraten die Relationen von Macht und Geschlecht mit den Beiträgen von Birgit Wagner, Albrecht Koschorke und Barbara Vinken erfreulicherweise etwas genauer ins Visier. Deutlich wird dabei zum einen, dass das avantgardistische Programm einer Re-Virilisierung der vorgeblich von Dekadenz bedrohten Kultur auf eine grundlegende epistemologischen "Krise der Unterscheidungen" (150) verwies (Koschorke), zum anderen, dass sich die Avantgarden bei der herrschaftlichen Errichtung männlicher Autonomie über die 'weibliche' Natur alter abendländischer Mythen bedienten und sie dabei der ursprünglichen Intention entgegen umschrieben (Vinken). Das Bewusstsein für die Genderproblematik hat somit verspätet auch die europäische Avantgardeforschung erreicht, obgleich es bezeichnend bleibt, dass von den drei BeiträgerInnen zur Sektion Geschlechterverhältnisse lediglich Birgit Wagner (vgl. Wagner 1996)als ausgewiesene Avantgardespezialistin gelten kann.



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Spuren finden sich auch von einem weiteren wissenschaftlichen "Paradigmenwechsel", auf den die Herausgeber zurecht hinweisen (10f): Impulse des Postkolonialismus lassen sich in Ansätzen im Aufsatz von Carlos Rincón entdecken, der die Eigenständigkeit der lateinamerikanischen Avantgarden betont (207–230), und bei Karlheinz Barcks Versuch, die politischen Visionen des Surrealismus als Beitrag zur Überwindung eurozentrischen Denkens und Vorbereitung einer wissenschaftlichen Hinwendung zum Ort des Anderen vorzustellen (525–544). Barck verkehrt allerdings die Bedingungsverhältnisse, wenn er das heutige Interesse an einer nicht ethno- und eurozentrischen Kultur aus dem französischen Surrealismus abzuleiten versucht, der durchaus hegemoniale Ansprüche gegenüber dem von ihm vorgeblich 'entdeckten' Anderen hatte. Eher ist von einer "rückwärtsschreitenden Internationalisierung kultureller Horizonte" (692) in der Forschung auszugehen, die zeitverschoben zu einer Internationalisierung der Theoriebildung stattfindet, wie Ottmar Ette anführt. Dessen Beitrag ist in der Forderung nach einer Internationalisierung der Avantgardeforschung nicht weniger dezidiert als der von Hubert van den Berg, versucht jedoch, dabei den eigenen Standort mitzureflektieren und Internationalität nicht einfach als ein vergessenes, von den Nationalphilologien verdrängtes Charakteristikum der Avantgarde schlechthin auszugeben. Es ist unser eigener, durch die postmoderne Theorienbildung gegangener Blick, welcher der Avantgarde jenseits ihres programmatisch vorgetragenen Machtanspruches die kritischen Impulse abzulesen vermag, die auch heute noch aktuell bleiben. Ette formuliert in seinem Untertitel mit der Forderung nach einer "avantgardistischen Impfung" einen Vorschlag, der das im vorgestellten Band einmal mehr kontrovers diskutierte Verhältnis von Avantgarde und Postmoderne entspannen könnte und m.E. wesentlich produktiver ist als Peter Bürgers Versuch, dem Destruktionspotential eines männlich-modernen "Denkens der Unmittelbarkeit" durch ein romantisch verklärtes weibliches "Denken des Lebens" zu entgehen (46). Statt die historischen Avantgarden als anachronistische Übersteigerung der Moderne (so Bernd Hüppauf) oder als komisch gealterte Jugend (Bollenbeck mit Adorno) ad acta zu legen, sollten wir sie uns lieber in gemäßigter Dosis einverleiben, um uns ihren totalitären und dogmatischen Fehlern gegenüber resistent zu halten. Stoff für eine solche Impfung bietet der Band von Asholt und Fähnders in reichlichem Maße.


Bibliographie

Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Wagner, Birgit (1996): Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. Ein Beitrag zur Geschichte des Imaginären. München: Fink.

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