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Ansgar M. Cordie (Bonn)



Harald Tausch (2000): Entfernung der Antike. Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800. Tübingen: Niemeyer. (= Studien zur deutschen Literatur, 156)



Seinen Aufsatz 'Über die Landschaftsmalerei' beginnt Carl Ludwig Fernow mit einer Selbstbeobachtung. Schreibend registriert er, wie seine Erinnerung ein Bild Italiens entwirft, das er 1803 verlassen hatte, um zunächst eine Professur in Jena anzutreten und später Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia in Weimar zu werden:

Wenn wir ein glükliches Dasein durchlebt haben, und nur die Erinnerung allein noch davon übrig ist, so möchten wir gern wenigstens das Schattenbild der entfernten Wirklichkeit an etwas Bleibendes heften und durch ein ET IN ARCADIA EGO den Freunden, mit denen wir so gute Zeiten verlebten, unser Andenken lebendig erhalten. [...] Wie eine reizende Ferne liegt mein Aufenthalt in Italien hinter mir. Die kleineren Details einst so erfreulich in naher Umgebung, entschwinden allmälich dem Blicke, grössere Partien treten in bestimmteren Umrissen und Massen hervor, und bilden, mit dem glänzenden Farbendufte des südlichen Himmels übergossen, ein harmonisches Ganzes. (Fernow 1806: 4)

Was beobachtet Fernow an sich selbst? Ein Mensch erinnert sich schöner Dinge, doch diese Dinge sind nicht mehr präsent, sie sind zum "Schattenbild der entfernten Wirklichkeit" geworden. Daß die "Wirklichkeit" Italiens nun entfernt ist, wird als Verlust empfunden und "etwas Bleibendes" gesucht, woran das "Schattenbild" des Entschwundenen noch zu "heften" wäre. Was bleibt, stiftet ein Blickwechsel, durch den sich in eine "reizende Ferne" verwandelt, was "einst so erfreulich in naher Umgebung" vorzufinden war. Die Landschaft der "kleineren Details" hat sich in ein Landschaftsbild verwandelt, in "ein harmonisches Ganzes", das durch "grössere Partien" gegliedert ist. In eine weitere Perspektive gerückt, "treten" sie nun "in bestimmteren Umrissen und Massen hervor". Erinnerung ist eine Landschaftsmalerin, die den Verlust der konkreten Einzelheit durch die olympische Schau auf ein Ganzes ersetzt. Erst wenn die Gegenstände aus dem Blickfeld entfernt sind, ermöglicht Erinnerung zu zeichnen und zu malen, entstehen Disegno und Kolorit. Denn nur durch das Entschwinden der "kleineren Details" ist die klare Linie zu halten, die "grössere Partien [...] in bestimmteren Umrissen und Massen" hervortreten läßt. Und nur aus der Entfernung erscheint das Ganze "mit dem glänzenden Farbendufte des südlichen Himmels übergossen".




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Fernows Miniatur enthält in nuce alles Notwendige für eine Kunst, die dem prüfenden Blick seiner klassizistischen Ästhetik standhält. Nicht die Wirklichkeiten und ihre flüchtigen Schattenbilder konstituieren das Kunstwerk, sondern das Bleibende, an dem sie zum Stillstand kommen. Bleibendes entsteht erst, wenn die Gegenstände entfernt, entschwunden, vergangen sind. Ins Bild gebracht wird dies innerhalb der ikonographischen Tradition, auf die Fernow mit der Wendung "ET IN ARCADIA EGO" anspielt. In den arkadischen Landschaftsbildern von Guercino und Poussin stößt der Blick des Betrachters an ein Grabmonument mit der Botschaft: Auch in Arkadien bin ich, der Tod (vgl. Maisak 1997) Und so ist auch Fernows arkadische Italienreminiszenz über dem Grab der erinnerten Wirklichkeiten errichtet. Was "als Andenken lebendig erhalten" werden soll, ist der Zeit und dem Tod unterworfen.

Die Geburt des Kunstwerks aus dem Geiste des Grabmals, sie unterwirft indes auch das Kunstwerk selbst historischen Verfallsdaten. Die Suche nach dem klassischen Ausdruck, der dem historischen Moment etwas bleibend Gültiges abringen soll, ist auch wieder ein Datum der (Kunst-, Sozial-, Geistes-) Geschichte und damit historischer Nachforschung zugänglich. Der Weimarer Spätklassizismus um 1800 wurde von den Zeitläuften überholt und hatte doch Folgen, die das lebendige Andenken überdauerten. Denn wer anfinge, die Monumente der Epoche genau zu untersuchen, stieße auf die Archäologie heute virulenter Anschauungen. Von dieser Überlegung jedenfalls geht Harald Tausch in der hier vorgelegten Würzburger Dissertation aus. In seiner radikalen Zuspitzung durch Fernow wird der Weimarer Klassizismus zur historischen Wurzel für die moderne Ästhetik einer abstrakten, nichtmimetischen, selbstreferentiellen Kunst. Mit der schon klassisch gewordenen Moderne hat Fernows klassizistische Klassik gemeinsam, daß Kunst weder auf die Nachahmung der Natur noch auf die Imitation antiker Kunstwerke verpflichtet wird. Was aber hat Fernows Ästhetik dann noch mit dem älteren Nachahmungsklassizismus zu tun? Und was bedeutet "Antike" nach ihrer "Entfernung" aus dem Blickfeld nachahmbarer Gegenstände?

Wie Fernow den älteren Klassizismus Winckelmanns beerbt und überschreitet, welche Rolle Natur und antike Kunst dabei spielen, macht ein Blick auf den Stilbegriff deutlich. Individualisierung und Historisierung des Stilbegriffs im 18. Jahrhundert bilden ein Set von Denkmöglichkeiten, auf das Fernow zurückgreifen konnte. Freilich, so Tausch, stelle das Buffonsche Diktum von 1753 "Le style est l'homme même." lediglich eine "Hohlform" bereit, die vom Konzept künstlerischer Genialität später ausgefüllt werden konnte, sei doch hier noch das Ideal des 'honnête homme', des überindividuellen Gesellschaftsmenschen, erkenntnisleitend (46). Auch Winckelmanns Differenzierung der Epochenstile bildet mit ihrem normativen Bezug auf die antike Kunst der Polyklet und Phidias lediglich die Basis, auf der sich der emphatische Stilbegriff des Spätklassizismus erheben konnte (47). Winckelmanns Kunstgeschichte der Aufstiegs-, Blüte- und Verfallsstile trennt immerhin die Stile von den repräsentierten Gegenständen und arbeitet dem Mimesisbegriff bei Moritz und Goethe vor, der sich von der Nachahmung einzelner Naturphänomene löst, um der Natur als schöpferischem Zusammenhang ein künstlich-künstlerisch Analoges an die Seite zu stellen (51–61). Selbst diese – neuplatonisch inspirierte – Bindung der Kunst an die Natur werde, so Tausch, bei Fernow aufgegeben, um einer Geschichte von Stilen Platz zu machen, deren Entwicklungsrichtung von der Nachahmung zum Ideal verlaufe (63).




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Aus Fernows Sicht hat die Kunst seiner Zeit mit der Natur und ihrer Nachahmung nichts mehr zu schaffen. Künstlerischer Individualstil nach dem Ende der mimetischen Kunst zeichne sich überdies durch eine radikale Loslösung aus allen Bindungen an kultische, staatliche oder ökonomische Verwendungszusammenhänge aus. Autonomes Kunststreben protestiert gegen eine Kunstindustrie, die den klassizistischen Disegno zum Design verkommen läßt. In der Beschränkung auf die autonome Gestalt des Menschen nähert sich moderne Kunst der idealen, rein von der Form diktierten Nacktheit der griechischen Plastik an. 'Antike' tritt auf diese Weise wieder als Referenzhorizont in die klassizistische Theorie ein, um eine kunstpolitische Abgrenzung von der neureligiösen Orientierung romantischer Kunst am 'Mittelalter' zu ermöglichen. Freilich wird hier eine abstrakt gewordene Antike zum Modell abstrakter moderner Kunst, denn im antiken Griechenland wurde Kunst ja gerade für ihre kultische und politische Verwendung geschaffen, war weder losgelöst von Religion, noch von Ökonomie. (Man denke nur an die industriell hergestellte attische Töpferware...).

Entfernte Antike wird zum utopischen Gegenbild der modernen Kulturindustrie und zum idealistischen Leitbild für moderne Kunst. Indem Tausch Fernows Studien über den Maler Asmus Jakob Carstens und den Bildhauer Antonio Canova kommentiert, ist er dem Grundwiderspruch der modernen Künstlerexistenz auf der Spur. Kunst soll sich nun – auf den Markt 'freigesetzt' – den Marktgesetzen und ökonomischen Sachzwängen verweigern. Ein solchermaßen sozialhistorischer Blick auf den bei Herbert von Einem (1935) noch gänzlich unhistorisch betrachteten Fernowschen Idealismus wird möglich, weil Tausch die ästhetischen Leitbegriffe bei Fernow in den zeitgenössischen Diskurszusammenhang einbettet und ihre Fernwirkung bis in die Gegenwart hinein zumindest andeutet. Auf diese Weise nachbuchstabiert, wird Fernows Carstens-Studie als Modellskizze des modernen Künstlers schlechthin lesbar. Wie Carstens soll sich der moderne Künstler von keinen stilistischen Vorgaben leiten lassen, sondern analog zur idealistisch gedachten Antike aus der "plastisch dichtenden Fantasie" (75) heraus seine Form finden. Tausch legt indes sofort den Finger auf die inneren Widersprüche dieses Stilideals, das einerseits einen sozusagen sentimentalischen Überblick über alles stilistisch Mögliche voraussetzt, andererseits aber eine naive Ignoration aller historischen und aktuellen Stiloptionen fordert (75–76).

Derart problematisch und produktiv zugleich wirkt auch die Konzeption von Zeichnung, Stoffwahl, Ausdruck, Kolorit, Gewand und Kunststreben, die Fernow bei Carstens beobachten will. Zeichnung, die im Klassizismus den Vorrang vor der Farbe hat, ist bei Carstens kein Nachzeichnen vorhandener Gegenstände oder Vorlagen, sondern Konstruktion eines frei erfundenen Bildganzen, das in der Einbildungskraft des Künstlers entsteht. Jene Einbildungskraft speist sich aus der Erinnerung an Gesehenes und aus der Lektüre, die ein Reservoir neuer, nicht aus der ikonographischen Tradition stammender Stoffe bereitstellt. Die Malerei flüchtet aus den akademischen Kunstkabinetten in die Bibliotheken, in das Arkadien der noch unberührten Stoffe.




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Welche Probleme dieser Medienwechsel mit sich bringt, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der Weimarer Preisaufgaben für bildende Künstler, die ein braves Illustrieren literarischer Vorlagen nach sich zogen. Carstens indes findet in Fernows Sicht zu klassischem Ausdruck, der die mythische Handlung wie der Chor in Euripides' "Helena" stillstellt (144–145). Farbe und Draperie sollen in dieser Konzeption nicht Räumlichkeit und Bewegung suggerieren, sondern im Gegenteil die materiale Eigenart des Gemäldes – seine Flächigkeit – hervorheben, unterteilen und ausfüllen. Dem autonomen Kunststreben des modernen Künstlers entspricht die Selbstbezüglichkeit des Kunstwerks, das eben nicht die täuschende Illusion dargestellter Gegenstände erzeugt, sondern nur noch auf sich selbst, seine eigene Materialität und Gesetzmäßigkeit, verweist.

Das Werk von Antonio Canova muß auf dieser Folie als Gegenteil echter, zur Klassizität gelangter Kunst erscheinen. Anders als Carstens, der dem kunstgewerblichen Betrieb der Akademien entlaufen war und dessen autonomes Kunststreben kaum ein verkäufliches Gemälde hinterlassen hatte, lieferte Canovas sozusagen postmoderner Eklektizismus gefällige Ware für einen kauflustigen Markt. Nicht nur, daß der forcierte Eindruck von Bewegung an Berninis barocken Antiklassizismus erinnert: Canova leiht sich die zusätzliche Illusion von Lebendigkeit bei der Malerei, indem er seine Marmorstatuen farbig faßt und ihnen goldene Accessoires mitgibt. Der klassizistische Protest gegen diese Überschreitung des künstlerischen Genus hat freilich den archäologischen Befund gegen sich: Griechische Plastik war farbig, und ihre kultische Funktion wurde dadurch unterstrichen, daß der Betrachter durch den Glanz von Gold und Elfenbein überwältigt wurde. Wollte Winckelmann dies noch – in Umkehrung der Sachlage – als Auswuchs der römischen Spätzeit deuten, so hätte Fernow es bereits besser wissen müssen. Die Antike wird dem Klassizismus zunehmend abstrakt, 'Klassik' ist eine "Projektion der Moderne", die den Verlust "sinnlicher Präsenz" kompensieren soll (243).

Der Vorstellung von einer klassischen Antike geht es nicht darum, wie es im alten Griechenland und Rom wirklich gewesen. Sie stemmt sich vielmehr gegen das Beliebigwerden der künstlerischen Ausdrucksformen in der Moderne. Fernow beobachtet diese Beliebigkeit an Canovas Grabmonument für Erzherzogin Maria Christina von Österreich. Canova verwendet hier eine Konzeption, die er ursprünglich für eine Tizian-Gedenkstätte entworfen hatte. Machte das ikonographische Programm des Tizian-Monuments noch den Eindruck von innerer Konsequenz, so konstatiert Fernow am Christinen-Monument eine allegorische Beliebigkeit, symptomatisch für die moderne Grabmalsplastik insgesamt: "Nur auf dem Umweg über bedeutungstragende Attribute könne die Plastik der Moderne unsinnliche Gehalte bezeichnen, die eine von der Fülle der Antike geschiedene Gegenwart ihr zu versinnlichen aufgebe." (243)




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Das Ideal eines klassischen, symbolischen Kunstwerks, das Ausdruck und Gehalt ineinander aufgehen läßt, erweist sich als regulative Idee, die das historische Dilemma moderner Kunst freilegt. Bildnerische Formen, die in der Antike das öffentliche Erscheinen des Menschen, seine politische und kultische Rolle, ausdrückten, sollen nun die privaten Gefühle und Erinnerungen des modernen Menschen illustrieren (247). Deshalb stehen die sinnlichen Ausdrucksformen in keinem notwendigen Zusammenhang zum Gehalt, sie sind vielmehr der allegorischen Willkürherrschaft über die Dinge unterworfen. Tausch zeigt auf, daß Fernows symbolischer Kunstbegriff sich genauso kritisch zur Bedingung der Möglichkeit von Kunst in der Moderne verhält wie Walter Benjamins Allegoriebegriff. Beide konstatieren das Auseinandertreten von Zeichen und Bezeichnetem. Deshalb verkomme bei Fernow "das Postulat des Symbolischen nicht zum spannungsfreien Bei-Sich eines ungebrochen auf die Antike und deren Konzept von Schönheit rekurrierenden Klassizismus" (243). In diesem Sinne haben der Allegorie- wie der Symbolbegriff einen historischen Index, sie entfalten ihr kritischen Potential jeweils in bestimmten Situationen. In beiden Begriffen wird die freigesetzte Kunst der Moderne sich ihrer eigenen Unmöglichkeit bewußt.

Canovas Grabmonument wird so zum Emblem einer Kunst, die beliebige Gedanken in beliebige Formen zu bringen sich anheischig macht. Um ihren lebendigen Zusammenhang gebracht, unterliegen Ausdruck wie Gehalt der mortifizierenden Gewalt der Allegorie. Freilich endet auch Fernows Blick auf Carstens mit einem Grabmal, einem "Denkmal auf Papier" (29–30). Eine kunstvolle Grabrede auf den "an der Cestius-Pyramide in Rom bestatteten Freund" tritt als "Denkmal seiner Kunst" offenbar "an die Stelle eines letztlich nicht vorhandenen Werkes" (29). Künstlerbiographie und Kunstkritik ersetzen im Extremfall die Werke einer rein im subjektiven Schaffensprozeß begründeten Kunst. Tausch deutet an, worauf Kunst in letzter Konsequenz zusteuert, die sich auf nichts anderes bezieht als auf sich selbst: "Da die Zeichen [...] auf nichts mehr verweisen, droht der Kunst von innen die Gefahr der Leere." (40–41.)

Canovas allegorisch überladenes Grabmal für Maria Christina und das nur auf dem Papier existierende Monument für Carstens versinnbildlichen die beiden Todesarten der Kunst in der Moderne: den Wärmetod einer ständig wachsenden Produktion belangloser Kunstartikel und den Kältetod einer sich selbst isolierenden Kunstautonomie. Beide Spielarten moderner Kunst enden zuletzt in einem sinnentleerten Automatismus. Deshalb verwundert auch nicht, daß die nichtmimetische, 'autonome' Kunst selbst längst zum Teil der Kulturindustrie und zu einer 'corporate identity' geworden ist. Abstrakte Kunst, die ihre Wertmaßstäbe ausschließlich bei sich selbst suchen sollte, ist heute ein gängiger Artikel des Kunstmarktes und wird gezielt für Galerien und Museen produziert. Polemisch nimmt etwa Dirk von Petersdorff die trivialisierte Rede vom Ende der mimetischen Kunst aufs Korn, die von einer neuen Art Kunstgewerbe begleitet ist: "Und nimmer endet das Gerede von einer krisenhaften Spätzeit. Schwarz wie die Ledermöbel. Und dazu schlürft Adorno diesen herrlich trockenen Roten." (Petersdorff 1998: 62)




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Freilich wäre nichts damit geholfen, würde diese Moderne und die sie reflektierende Kritische Theorie schlicht "verabschiedet", was von Petersdorff offenbar im Sinn hat. "Die Kritische Theorie ist" auch keineswegs "tot", wie Peter Sloterdijk (1999) jüngst dekretierte, Tauschs Fernow-Buch tritt dafür den Gegenbeweis an. Nur müßte Kritische Theorie der Gesellschaft und der Ästhetik einen neuen Anlauf nehmen und auf die Vorgeschichte ihrer eigenen Begriffe im deutschen Idealismus reflektieren.

Dies leistet Tauschs Studie für Fernow in Ansätzen. Tausch weist darauf hin, daß Zusammenhang oder Zusammenhanglosigkeit "der divergierenden Tätigkeitsbereiche Fernows" (12) erst noch erforscht werden müssen. Fernows strikte Trennung der Kunstgattungen mag eine Scheidelinie sein, die seine Wissensordnung strukturiert und ihre blinden Stellen verursacht. Dies hindert Fernow offenbar daran, dem Moment der Spontaneität, das er an Carstens' Malerei beobachtet, eine deutlichere kommunikative Wendung zu geben. Wohl wird in der Grabrede der "Landsleute und Freunde" (29) gedacht, deren Echo Carstens' Kunst – wie Fernows Italienerlebnis – zu wahrem Leben verhelfen soll. Kunst braucht ein Publikum. Zu fragen wäre nach den Bedingungen für ein Publikum, das sich ähnlich lebhaft bereits an der Produktion von Kunst beteiligen könnte, wie Fernow dies bei der italienischen Improvisationsdichtung1 beobachtet, ein Publikum, das Kunst nicht reinen Marktgesetzen unterwirft, sondern an ihrer Autonomie wie an ihrer lebensweltlichen Einbettung lebhaften Anteil nimmt. Da er die Künste streng voneinander scheidet, sieht Fernow für Malerei und Plastik ein solches Publikum wohl nicht. Deshalb sind auch für ihn das Komische oder das schlechthin Theatralische offenbar keine Kategorien, die sich an bildende Kunst anlegen lassen. Das Trost- und Humorlose, das nur noch Museale der bildenden Kunst, hier hat es eine seiner Wurzeln. Komische und tragische Dramatik werden aus Malerei und Plastik vertrieben, weil die Vermischung der Kunstgattungen genauso unters Verdikt fällt wie die Nachahmung. Fernow trägt hier schwer an einer historischen Verformung des Nachahmungsbegriffs, die auch Tausch nicht aufarbeitet. Tausch geht – mit Rückgriff auf Peter-André Alt (1995) – davon aus, daß bis zur Sattelzeit um 1800 ein Konzept von Naturnachahmung Gültigkeit besaß, das eine weithin ungebrochene Kontinuität von der allegorischen Kunst der Frühen Neuzeit bis zum Frühklassizismus ermöglichte. Dabei wird nicht recht deutlich, daß gerade der Blick auf die frühneuzeitliche Allegorie Naturnachahmung als Naturbeherrschung erweist. Mimesis indes meinte einmal, daß der freie Mensch im freien Spiel den freien Menschen nachahmt (vgl. Cordie 2000). Wenn Mimesis rehabilitiert werden soll, muß ihr Begriff historisch exponiert werden. Freilich ist Rede von der Mimesis seit Aristoteles eine Rede post festum, sie spricht vom Verlust eines politischen Echoraumes, einer Mitwelt, vor der und in bezug auf die sich Mimesis vollziehen könnte. Gerade deshalb aber zelebriert künstlerische Nachahmung die Utopie menschlicher Freiheit. Denn aus der aristotelischen Konzeption einer mimisch-theatralischen Nachahmung des Menschen durch den Menschen ergibt sich die Chance, Kunst als kommunikativen Akt produktiver Rezeption zu begreifen. Kunst wird von Menschen gemacht, bezieht sich auf Menschen und sollte den konkreten einzelnen Menschen im Blick behalten. Dann findet sich vielleicht auch ein Publikum, das nicht nach dem derzeit geltenden Marktwert der Ware Kunst fragt.




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Als Spiel der Menschen miteinander wäre Kunst nicht auf Naturalismus festgelegt, Nachahmung ist keine Abbildung des bloß schon Vorhandenen. Doch teilte sich der Kunst dann mit, was Adorno vom Klassischen, ästhetisch Verwirklichten fordert: die Authentizität der geschichtlichen Bewegung, von der Künstler und Publikum gleichermaßen betroffen werden (vgl. Adorno 1995). Solche Kunst hätte die Aufgabe und die Chance, sich gerade auf die entfernten Details einzulassen, auf die Menschen in ihrer lebendigen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Dann wäre der Tod zwar nicht aus Arkadien vertrieben, aber der Kunst bliebe erspart, zu ihrem eigenen Grabmal zu werden.


Bibliographie

Adorno, Theodor W. (51991): "Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie", in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main, 495–514.

Alt, Peter-André (1995): Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen.

Cordie, Ansgar M. (2000): "Mimesis bei Aristoteles und in der Frühen Neuzeit", in: Laufhütte, Hartmut (Hg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Wiesbaden, 277–288.

Einem, Herbert von (1935): Carl Ludwig Fernow. Eine Studie zum deutschen Klassizismus. Berlin.

Fernow, Carl Ludwig (1806): "Über die Improvisatoren", in: ders.: Römische Studien, Zweiter Theil, Zürich, 303–416.

Fernow, Carl Ludwig (1806): "Über die Landschaftschaftmalerei", in: ders.: Römische Studien. Zweiter Theil. Zürich, 1–130.

Maisak, Petra (1997): "Et in Arcadia ego. Anmerkungen zur Entwicklung des arkadischen Wunschbilds in Italien und zur Rezeption der Goethezeit", in: Klaus Manger (Hg.): Italienbeziehungen des klassischen Weimar. Tübingen, 11–37.

Petersdorff, Dirk von (1998): "Kalt ist ihr Herz. Die Reste der ästhetischen Moderne treiben wie Gespenster durch unsere Diskurse", in: Die Zeit, Nr. 43, 61–62.

Sloterdijk, Peter (1999): "Die Kritische Theorie ist tot", in: Die Zeit, Nr. 37, 35–36.




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Anmerkung

1"[...] der lebhafte Entusiasmus der, wärend dieses Kampfspiels, aus dem Dichter sich durch den Kreis der Zuhörer verbreitet und, so vervielfältigt, wiederum auf den Genius des Sängers zurückwirkend, die Flamme der Begeisterung immer mächtiger in ihm anfacht, – müssen nothwendig Wirkungen hervorbringen, welche auch die höchste Kunstvollendung eines Dichterwerks, die nur ruhige Besonnenheit schaffen, nur ruhige Betrachtung geniessen läst, von der meisterhaftesten Deklamazion unterstüzt nicht erreichen würde. [...] Sobald in einer Strofe der Gedanke eingeleitet, und dann durch einen Reim der Gegenreim vorbereitet ist, arbeitet des Zuhörers Fantasie mit dem Dichter fort, und so oft dieser mit dem Gedanken des ersten zusammen trift, oder durch eine neue Wendung seine getäuschte Erwartung überrascht, oder einer Schwierigkeit sich glüklich entwindet, so bricht der Affekt der Freude und Bewunderung in lauten Beifal aus, der immer lebhafter und rauschender wird, je mehr Sänger und Hörer sich gegenseitig in Schwung setzen, bis er endlich am glüklich erreichten Ziele im algemeinen Jubel ausströmt." (Fernow 1806: 305 und 313)

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