PhiN 17/2001: 80




Rolf Lohse (Göttingen)


Friedrich W. Block (1999): Beobachtung des 'ICH'. Zum Zusammenhang von Subjektivität und Medien am Beispiel experimenteller Poesie. Bielefeld: Aisthesis Verlag.

Die Arbeit des Germanisten und Medientheoretikers Friedrich W. Block, die im Spannungsfeld von experimenteller Poesie, moderner Kunst, Medientheorie und Sprachphilosophie angesiedelt ist, versucht, den Stellenwert der Subjektivität in der zeitgenössischen experimentellen Poesie zu bestimmen. Experimentelle Poesie wird in einem weiten Sinn verstanden und reicht von Gedichten über visuelle Poesie bis zu computergestützten Formen medialer Poesie im Cyberspace. An diesen drei Untersuchungsgegenständen skizziert der Autor die Entwicklung der experimentellen Poesie seit den 70er Jahren, die die Frage nach dem Ort und dem Status des (post-)modernen Subjekts sowohl zuspitzt als auch unter immer neuen Aspekten stellt. Die Frage, die der an der Systemtheorie geschulte Autor an den genannten Formen zeitgenössischer poetischer Praxis entwickelt, ist die nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Subjektivität im Rahmen der zeitgenössischen Ästhetik. Besondere Relevanz erhält diese Frage durch die Beobachtung, daß in der medialisierten Welt nicht nur ein Orientierungsverlust droht, sondern sich das zentrierte Subjekt in einem Auflösungsprozeß befindet. Der experimentellen Poesie kommt angesichts dieser Beobachtungen ein besonderer Stellenwert zu: "Experimentelle Poesie, wie sie sich auf der Grundlage ihrer modernen Tradition seit den 70er Jahren präsentiert, besetzt m. E. in der Literatur hervorragend den Ort, an dem der prekäre Zusammenhang zwischen Subjektivität und Medien verarbeitet wird" (283).

In einem Dreischritt setzt sich Block mit literartheoretischen Ansätzen auseinander, sodann mit intermedialen Arbeiten im Bereich zwischen Literatur und bildender Kunst, die als eine Realisierung der Poetik des Verstehens gelesen werden können und schließlich mit hypermedialen Kunstwerken, die in Form von Versuchsanordnungen die Rolle des sich selbst beobachtenden Rezipienten inszenieren und bewußt machen. Die verschiedenen Formen der experimentellen, visuellen und medialen Poesie konvergieren darin, daß sie nicht nur Irritationen hinsichtlich ihres Status zwischen Schriftzeichen und Bild auslösen, sondern die Frage nach den Bedingungen und Kontexten ihrer Wahrnehmung und damit die Frage nach der ins Spiel gebrachten Subjektivität sowie nach dem Rezipienten gleich mit stellen. Diese These wird mit Rückgriff auf systemtheoretische Überlegungen entfaltet und an Texten und Kunstwerken Oskar Pastiors, Oswald Wieners, Gerhard Rühms, Timm Ulrichs, Jeffrey Shaws und Dirk Groeneveld, um nur einige zu nennen, kritisch überprüft. Medienästhetik kann dabei als eine Form von "Krisenmanagement" (19) angesichts der weitergehenden Infragestellung der Verläßlichkeit der Zeichen und des Zeichengebrauchs gedeutet werden. Sie hilft, die Fragen neu, wieder und umzustellen und sorgt damit für die Möglichkeit eines adäquaten Zugangs zu einer Praxis, die permanent im Umbruch ist.




PhiN 17/2001: 81


Das Einleitungskapitel dient der Klärung des Problemzusammenhangs: Hier stellt der Autor Fragen zum Status der Subjektivität in der Literatur und in den Medien und nach der Struktur und Funktion von Medien. Zentral ist hierbei die Frage nach dem Ort und dem Stellenwert des 'ICH', die von verschiedenen Seiten in den Blick genommen wird (13 ff.): Ausgehend von Überlegungen Ingolds diskutiert Block die deiktische Qualität des 'Ich' und das Verhältnis von reflexiver Subjektivität und Identität des Autors im literarischen Text. Bei der Beschreibung der symbolischen Vermittlung im literarischen System (37 ff.) distanziert sich Block von Luhmanns Sichtweise und erweitert, hier den fruchtbaren Hinweisen S. J. Schmidts (53) folgend, den Untersuchungsgegenstand über die Betrachtung von Kommunikationsprozessen hinaus auf die konkreten Komplemente dieser Prozesse.

Im zweiten Kapitel analysiert Block an ausgewählten Beispielen experimenteller Poesie Positionen einer "Poetik der Subjektivität" (57). Im Zentrum der Analysen stehen die poetischen und poetologischen Äußerungen Oskar Pastiors, Oswald Wieners und Ferdinand Schmatz'. Block geht dem bei allen drei Autoren verhandelten Problem der Erkennbarkeit von Welt durch die Sprache nach, sowie dem Status des deiktischen Artefakts 'Ich' (76, 95). Die drei Autoren, die diese Probleme von unterschiedlichen Seiten her bearbeiten, deuten den Rezeptionsakt gleichermaßen als Produktion. Während Pastior, dessen Werke auch als Illustration des Problems dienen, in seinen poetischen "Versuchsanordnungen" (91) "individuelle Spielräume zwischen sprachlicher Determiniertheit und Indeterminiertheit" (108) freisetzt, stellen Oswald Wiener und Ferdinand Schmatz die Frage nach der literarischen Funktionalisierung des Verstehensproblems. Schmatz sucht "Inhalte freizulegen und zu beobachten, wie sie sich unter dem Einfluß von Sprache verändern" (108); Wiener trennt dagegen radikal die Pole Sprache und Erfahrung, die "nicht zu identifizieren seien" (109).

Kunst als "grundsätzliche Möglichkeit der Codierung von Kommunikation" (130), deren Funktion – so Luhmann – kontrovers bleiben müsse, eröffnet nicht nur die Möglichkeit, kommunikative Prozesse zu beobachten, sondern auch die Möglichkeit der Selbstbeobachtung medialer Kommunikation und wird damit zu einem Medium zweiter Ordnung, das in letzter Konsequenz die "materiale Grundlage der Kommunikation in Frage" (204) stellt.

Im Zentrum des dritten Kapitels stehen die ‚Schriftzeichnungen' von Gerhard Rühm, deren vielfältigen Dimensionen Block hinsichtlich der Autoreferentialität, des lyrischen Ichs, autobiographischer Elemente und der intermedialen Anlage auf der Grundlage einschlägiger theoretischer Ansätze (Hegel, Jaegle, Burdorf, Tietzmanns, Vos, Goodman, Schmidt) entfaltet. Der Ertrag dieser Kunst liegt in der etymologisch verstandenen "Diabolisierung" (133), d.h. in der Distanzierung und kritischen Reflexion typischer Formen der symbolischen Kommunikation, die sie nicht durcheinander sondern auseinander wirft (180).




PhiN 17/2001: 82


In Kapitel IV "Die Beobachung des Beobachters: von der Inter- zu Hypermedialität" schlägt der Autor den Bogen von den 'Schriftzeichnungen' Rühms zu Formen der visuellen Poesie, die sich vom gedruckten Text ablösen und in Form von Animationen im Cyberspace die Frage nach der Subjektivität auf eine folgenreiche Weise neu stellen. Hypermedialität kann verstanden werden als eine Steigerung von Intermedialität, da diese – als Kombination herkömmlicher (Bild- und Text-) Medien – in computergenerierte virtuelle Räume eingebettet wird. In dem Maße wie der Text begehbar und je nach Standpunkt anders lesbar wird, verändern sich der Text und die subjektive Rezeption. Die im vorangegangenen Kapitel entwickelte These, nach der "im Rahmen experimenteller Poesie verstärkt individuelle Beobachterfragen explizit werden" (216), wird mit Hinblick auf Formen der Cyber-Poesie radikalisiert. Im äußersten Fall bringt die Cyber-Poesie den ganzen Rezipienten mit seinen geistigen und körperlichen Reaktionen ins Spiel, die die Lesart der Texte modifizieren. Am Beispiel der Totalkunst Timm Ulrichs (250) demonstriert Block die paradoxe "totale Ausführung" eines Konzepts. Gestützt auf die kritisch rezipierte Hypertexttheorie David Bolters (259 ff.) und Gregory Ulmers (260) interpretiert der Autor aktuelle Gestaltungen experimenteller Poesie und computergestützter Formen medialer Poesie, die über entsprechende Eingabegeräte durch Animation und Interaktivität den Körper des Rezipienten und seine Bewegungen in die Hervorbringung des jeweiligen poetischen Texts einbeziehen. Die Holopoetry Eduardo Kac' (268) wird hier ebenso berücksichtigt wie Jeffrey Shaws und Dirk Groenevelds Lesbare Stadt (270 ff.).

Auf die "Krise der Moderne", der Repräsentation und des Subjekts antwortet die experimentelle Poesie mit der Geste der Diabolisierung und erhebt damit den Rezipienten zum (Mit-)Produzenten einer – sich permanent verändernden – Aussage – dies ist eine der tragenden Ideen dieses anregenden und wissenschaftlich fundierten Buches. Eingebettet in einen umfassenden Theorierahmen und in die zeitgenössische Ästhetik, optiert – so die Deutung Blocks – die experimentelle Poesie nicht für ein integratives Modell, sondern dafür, vermeintlich feststehende Deutungsmuster auf allen Ebenen von Interpretation aufzubrechen.

Impressum