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Jürgen Trabant (Berlin)



Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können?*



What do we know when we know a language?
Everybody seems to agree that knowing a language is a precious cognitive skill. The paper tries to show that, in the history of our culture, linguistic knowledge is not at all generally considered such a prestigious thing: the Greeks did not think very highly of language, Bacon and – following him – enlightened and analytical philosophy as a whole even criticized language as an obstacle to scientific truth. Leibniz' enthusiastic reappraisal of languages as "connaissances", however, will found linguistics as a "cognitive" science as it is developped by modern linguistics in the tradition of Humboldt, Saussure and Chomsky. For a better understanding of this specific kind of knowledge, the paper further argues for taking into consideration Coseriu's Leibnitian systematics of linguistic knowledge as cognitio inadaequata.



Vorbemerkung: Wissensgesellschaft und Sprachwissen

Wenn man Theoretiker und Apologeten der "Wissensgesellschaft" befragen würde, ob "sprachliches Wissen" zu dem in dem Ausdruck "Wissensgesellschaft" gemeinten Wissen gehört, würden sie vermutlich enthusiastisch zustimmen. Sie würden mit "sprachlichem Wissen" wahrscheinlich meinen, daß sich der kompetente Mitspieler der Wissensgesellschaft sprachlich versiert ausdrücken müsse. Da man sich aber immer in einer bestimmten Sprache ausdrückt (z.B. deutsch, russisch, englisch, chinesisch, nahuatl, dyirbal etc.), wird man, auf eine entsprechende Bitte um Präzisierung, vermutlich die Meinung hören, daß man sich natürlich in der eigenen Sprache versiert ausdrücken müsse, daß aber der kompetente Wisser – falls er nicht ohnehin ein Mitglied der englischen Sprachgemeinschaft ist (was natürlich das Beste wäre) – unbedingt Englisch können müsse. Das optimale sprachliche Wissen für die Wissensgesellschaft ist folglich, daß man sich in englischer Sprache versiert ausdrücken kann. Denn alles relevante Wissen der Wissensgesellschaft ist durch diese Sprache zugänglich und durch sie an relevante Partner vermittelbar.

Wahrscheinlich wird dennoch die Kenntnis einer weiteren sogenannten "Kultur"-Sprache als nützliche Komponente des "Wissens" angesehen. Man hat also Glück, wenn man ein Sprecher des Französischen, Russischen, Japanischen, Deutschen etc. ist. Wenn ich dem Propheten der Wissensgesellschaft aber gestehe, daß meine Muttersprache Nahuatl oder Sorbisch oder gar Dyirbal (ein australische Sprache) ist, wird er mir vermutlich raten, gleich und möglichst rasch mein sprachliches Wissen aufs Englische zu konzentrieren. Die Kenntnis des Nahuatl, des Sorbischen, des Dyirbal, des Voloff, des Lateinischen oder ähnlicher Sprachen wird er wohl kaum als relevant für den Wisser der Wissensgesellschaft ansehen.




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Wieso eigentlich nicht? Wenn "Eine-Sprache-Können" ein Wissen ist, wie man überall liest, dann müßte doch auch das Sorbisch-Können oder Dyirbal-Können willkommenes Wissen in der Wissensgesellschaft sein. Aber dem ist nicht so.

Die Vermutung liegt nahe, daß nur bestimmtes Wissen für den ökonomisch und instrumental gefaßten Rahmen der Wissensgesellschaft relevant ist: Erstens kann man bei den entsprechenden Völkern nicht besonders viel Geld verdienen – bei den Dyirbal oder Inuit ist fast so wenig zu holen wie bei den alten Römern. Und zweitens wird "Eine-Sprache-Können" überhaupt nur instrumental gefaßt: "Eine-Sprache-Können" verschafft Zugang zur Teilnahme an der sozialen Interaktion bestimmter Gemeinschaften und zu weiterem nützlichen Wissen. Daß es einen Wert in sich haben könnte, eine – irgendeine – Sprache zu können, weil "Eine-Sprache-Können" ein in sich wertvolles menschliches Wissen ist, diesen kuriosen Gedanken wird man in der Theorie der Wissensgesellschaft kaum finden.

Nun ist nicht nur dieser Gedanke von der Kostbarkeit einer Sprache – jeder Sprache – ein relativ junger, historisch wenig verankerter und offensichtlich schwach gebliebener Gedanke in unserer Kultur. Die schwache Position des Sprach-Wissens hängt darüber hinaus auch mit der Spezifik des Wissens zusammen, welches dieses "Eine-Sprache-Können" ist: Es ist – um es gleich vorneweg zusagen – kein reflexives, sondern ein technisches Wissen. Und das hat es schwer in der Wissensgesellschaft.

Ich will zunächst auf die historische Dimension eingehen, also die Vermutung etwas ausführen, daß unsere Kultur erst spät und auch nur sehr oberflächlich gelernt hat, daß die Sprachen der Menschheit – jede einzelne von ihnen – etwas Großartiges sind. Denn was wir wissen, wenn wir eine Sprache können, hängt natürlich davon ab, was wir glauben, daß eine Sprache sei. Und dies wird im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte durchaus unterschiedlich gesehen. Im zweiten und dritten Teil werde ich dann auf die Spezifik des Sprach-Wissens in der modernen Sprachreflexion eingehen.


1 Geschichte: Indifferenz, Verachtung, Hochschätzung

1.1 Die Sprache hat in Europa keine guten Karten. In der einen Tradition unserer Kultur, in der biblischen, wird zunächst das Miteinander-Sprechen (Adam mit Eva) als etwas Schlechtes und dann die Existenz vieler Sprachen als eine Strafe des Menschengeschlechts dargestellt. So etwas sitzt tief. Aber auch in der anderen Tradition, der griechischen, sieht es nicht besser aus:

[...] es genüge uns aber schon, darin übereinzukommen, daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie selbst [die Dinge, ta onta, ta pragmata] man sie erforschen und kennenlernen muß als durch die Worte. [Kratylos 439b = Platon 1974: 569]




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Ist es nicht besser, fragt Sokrates, der Ur-Philosoph, wenn wir die Dinge direkt betrachten, als wenn wir uns mit den Wörtern, diesen extrem unsicheren Abbildern der Dinge, abgeben? "Phainetai, o Sokrates", stimmt Kratylos zu. Damit wird die Sprache von Platon letztlich als etwas Sekundäres abgetan. Aber immerhin wird ja im Dialog Kratylos zunächst seitenlang diskutiert, ob wir etwas wissen und was wir wissen, wenn wir Wörter kennen. Kratylos glaubt bekanntlich, daß an den Wörtern, also an den lautlichen Gestalten, etwas von den bezeichneten Gegenständen ist, so daß die Wörter durchaus eine Art Wissen von der Welt enthalten. Sein Gegenspieler Hermogenes, der gerade nicht glaubt, daß die Wörter etwas von der Welt enthalten, muß seinerseits aber doch zugestehen, daß die Wörter außer zur Mitteilung oder Belehrung (organon didaskalikon) auch zur Unterscheidung des Seins dienen: "organon ousian diakritikon". Die Unterscheidung des Seins wäre ja durchaus eine bedeutsame kognitive Funktion der Sprache. Aber Sokrates verwirft beide Auffassungen und kommt zu dem zitierten Schluß, daß doch alles nicht so wichtig ist und daß ein Erkennen ohne Sprache doch viel besser wäre. Die Wörter sind bestenfalls Abbilder der Abbilder: doppelt entfernt vom wirklichen Wesen der Dinge. Sprache-Können ist daher bestenfalls ein Wissen von Trugbildern, kein wahres Wissen.

Aristoteles vollstreckt den Verdacht, daß nichts dran ist an den Wörtern. Er macht dies auf eine geniale Art und Weise: Er trennt die beiden Funktionen – Kommunikation und Denken –, die bei Platons Funktionsbestimmung des Wortes noch zusammengedacht worden waren. Auf der einen Seite haben wir das Denken, Kognition, das bei allen Menschen gleich ist. Und auf der anderen Seite haben wir – zum Zwecke der Kommunikation – die Wörter, die materiellen Lautereignisse, die bei den verschiedenen Völkern verschieden sind. Die Wörter werden damit zu bloß kommunikativen Instrumenten. Sie unterscheiden das Sein nicht mehr, das macht das Denken ganz allein.

Das Abendland, das hierin weitgehend und über Jahrtausende seinem größten Denker folgt, dachte nicht, daß man irgendetwas von Bedeutung weiß, wenn man eine Sprache kann. Eine Sprache, das war im wesentlichen bloß ein Ensemble von kommunikativen Lauten, die von Gemeinschaft zu Gemeinschaft verschieden sind: kata syntheken, ad placitum. Das Wissen von der Welt, das erzeugt das menschliche Nachdenken unabhängig von der Sprache.




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D.h. das, worauf es ankommt, das Denken, ist sprachunabhängig und überall gleich, universell. Nur weil die Menschen in verschiedenen Gesellschaften zusammenleben, bezeichnen sie diese universellen Gedanken mit unterschiedlichen Lauten. "Eine-Sprache-Können" ist also eigentlich nichts Besonderes. Die Griechen interessieren sich auch daher nicht für die Sprachen der anderen. Natürlich muß man eine Sprache können, am besten Griechisch, aber man muß nicht mehrere Sprachen können.

Die Römer lernen Griechisch, um teilzuhaben an der prestigiösen griechischen Kultur, die ihnen Zugang zum Wissen der Griechen ermöglicht. Aber sie lernen nur Griechisch. Andere Sprachen interessieren sie nicht. Sie denken ebenfalls ganz griechisch, sofern sie die anderen Völker Lateinisch lernen lassen, aber ihrerseits nicht an Sprachen interessiert waren. Im Grunde bleibt dies so bis in die frühe Neuzeit. Dann kommt es noch schlimmer.

1.2 Nicht nur wissen wir nichts oder nichts Besonderes, wenn wir eine Sprache können, wir wissen das Falsche. Francis Bacon entdeckt, daß wir nicht das Richtige wissen, wenn wir Sprachen können, jedenfalls wenn wir die Sprachen des Volkes können. Wir haben dann nämlich falsche Begriffe. Bacon greift hier den von Aristoteles fallengelassenen Gedanken Platons wieder auf, daß die Sprache das Sein unterscheidet, und er bemerkt, daß die Volkssprachen das Sein anders unterscheiden, als es der wissenschaftliche Geist verlangt. Die Sprachen des Volkes schneiden (secare) die Welt sozusagen in falsche Teile. Das Volk ist dumm und in seiner Dummheit bildet es dumme Begriffe, die an den Wörtern kleben. Das sind die berühmten idola fori, die Trugbilder des Marktes:

Indes sind die Idole des Marktes am lästigsten von allen; sie schleichen sich durch ein Bündnis mit Worten und Namen in den Verstand ein. Die Menschen glauben, ihr Verstand gebiete den Worten; es kommt aber auch vor, daß die Worte ihre Kraft gegen den Verstand umkehren; dies machte die Philosophie und die Wissenschaften sophistisch und unfruchtbar. Die Worte aber werden größtenteils nach den Auffassungen der Menge gebildet und trennen die Dinge nach den Richtungen, die dem gewöhnlichen Verstand besonders einleuchtend sind.
["Verba autem plerunque ex captu vulgi induntur, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant."]. (Bacon 1620/1990: 120)

Wenn man Sprachen kennt, hat man also die Trugbilder des Pöbels, Vorurteile, doxa", falsches Wissen. Gegen dieses muß die Wissenschaft kämpfen. Der Kampf gegen das in den Sprachen sedimentierte falsche Wissen bestimmt die Haltung des wissenschaftlichen Denkens gegenüber der Sprache seitdem. Weg mit diesem falschen Wissen! Kritik der Sprachen ist angesagt, Schaffung einer neuen, richtigen Sprache mit richtigem Wissen ist das Gebot der Wissenschaft. Es ist der tägliche Kampf der analytischen Philosophie, die ja deswegen "analytisch" heißt, weil sie das in den Sprachen enthaltene Vorurteil – das falsche Wissen – auflösen muß, um das wahre Wissen zu ermöglichen.




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Während in der Antike die Sprachen sozusagen der Gleichgültigkeit verfallen, geraten sie mit der Aufklärung als Ensembles von falschem Wissen in die philosophische Kritik. Das macht das Sprachen-Können nicht gerade zu einem wertvollen Wissen. Sie transportieren, wie ein witziger englischer Kollege einmal gesagt hat, "metaphysical garbage".

1.3 Die Entdeckung des vermeintlich falschen Denkens in den Sprachen war aber gleichzeitig die Einsicht, daß in den Sprachen "Wissen" (wenn auch falsches) enthalten ist. Bacons Kritik an den idola fori ist die Wiederentdeckung der kognitiven Funktion der Sprachen. Und bald wird es dann auch – wenn auch sehr spät – Protest gegen die Verachtung oder gar Verdammung der Sprachen als unerhebliches oder falsches Wissen geben. Gegen die von Locke weitergeführte Baconsche Klage über die – wie Wittgenstein dies nennen wird – Verhexung durch die natürlichen Sprachen1 wird nämlich Leibniz argumentieren. In einer bedeutsamen Passage seiner Nouveaux Essais verteidigt er das volkstümliche Wissen in den natürlichen Sprachen gegen das analytische Lamento. Leibniz nennt ausdrücklich "Wissen" – "connaissances" –, was man in den Sprachen findet. Es ist kein Abfall ("metaphysical garbage"), wie Bacon vermutete, sondern ein kostbares Wissen, das nicht die Verirrungen, sondern gerade die wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes zeigt.

[Les langues] sont les plus anciens monuments du genre humain. On enregistrera avec le temps et mettra en dictionnaires et en grammaires toutes les langues de l'univers, et on les comparera entre elles; ce qui aura des usages très grands tant pour la connaissance des choses, puisque les noms souvent répondent à leur propriétés (comme l'on voit par la dénomination des plantes chez les différents peuples), que pour la connaissance de notre esprit et de la merveilleuse variété de ses opérations. (Leibniz 1765/1966: 293)

Dies ist der Beginn der kognitiven Linguistik, d.h. einer Beschäftigung mit der Sprache, die sich um das in ihnen sedimentierte Denken oder Wissen kümmert. Die Sprachwissenschaft hat meines Erachtens im Kern keinen anderen Auftrag, nur als kognitive ist sie interessant, als Erforschung des menschlichen Geistes, dessen wunderbare Vielfalt die Sprachen manifestieren. Und dies ist natürlich auch eine revolutionäre Neubewertung des Sprachen-Könnens: Von nun an wird sprachliches Wissen immer weniger bloß als Wissen von Signifikanten zum Zwecke der Kommunikation angesehen werden. Die Leibnizsche Überzeugung, daß die Sprachen Wissen von der Welt und vom menschlichen Geist enthalten, wird eine große Wirkung im 18. Jahrhundert haben und schließlich mit Humboldts Plan einer Beschreibung aller Sprachen der Welt in ein großes wissenschaftliches Projekt überführt. Aufgabe seines "Vergleichenden Sprachstudiums" ist die Beschreibung der "verschiedenartigen Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft" in den Sprachen. (Humboldt 1903–36, VII: 13)2 Die Sprachen sind bekanntlich nach Humboldt "Weltansichten". Jede Sprache gibt uns eine verschiedene Ansicht von der Welt. Sie sind gerade nicht nur – wie in der aristotelischen Tradition – gleichgültige "Schälle und Zeichen". Gerade weil die Sprachen die ungeheure kognitive Rolle spielen, den menschlichen Geist zu offenbaren, bekommt nun auch ihre materielle Seite, der Laut selbst, eine zentrale Funktion: Im Laut "offenbart" sich der Geist. Saussure nennt daher später Sprache "pensée-son" (Saussure 1916/1975: 156), d.h. Laut und Bewußtseinsinhalt bilden eine Einheit, das aristotelische Schema muß in das folgende transformiert werden:




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Da nun, wie Humboldt sagt, keine einzelne Sprache die Ansichten der Welt ausschöpft, ist es wichtig, daß es soviele Sprachen wie möglich gibt, weil jede uns die Welt auf eine andere, neue Art und Weise entdecken läßt.

Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (Humboldt 1903–36, IV: 27)3

Dies ist der Grund aller Sprachwissenschaft, aber auch die Basis jener Überzeugung, auf die ich hinauswill und die allein begründet, warum Eine-Sprache-Können – irgendeine Sprache können, nicht nur Englisch-Können – ein kostbares Wissen ist und warum es bewahrt und befördert werden muß: weil es die "merveilleuse variété des opérations de l'esprit humain" manifestiert. Wie Biodiversität für die Natur so ist Glossodiversität für den menschlichen Geist von höchster Bedeutung.


2 Sprachen als Wissen

Seit jenen Zeiten hat sich die Sprachwissenschaft ja zu einem blühenden Wissenschaftszweig entwickelt, der sich allerdings zunächst nicht den Sprachen als "connaissances" oder "Weltansichten" und auch nicht der "merveilleuse variété" der Operationen des menschlichen Geistes zugewendet hat, sondern sich im Gegenteil vor allem mit dem materiellen Teil der Sprache beschäftigte. Die dominante Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat Sprache nämlich zunächst nicht als Geistiges oder als irgendeine Art von Wissen betrachtet, sondern als eine ungeistige und unwissentlich naturgesetzmäßig sich verändernde Lautmasse.

2.1 Die europäische beschreibende Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat dann allerdings durchaus das kognitive Leibniz-Humboldtsche Programm wieder aufgegriffen und in der Beschreibung der Sprachen der Welt auch realisiert. Grundfigur dieser Bemühungen ist dabei die Baconsche Einsicht, die Humboldt systematisiert hat, daß die Sprachen die Welt verschieden "schneiden" (secant), einteilen oder "gliedern". Ich darf hier an das bekannte Schema Louis Hjelmslevs erinnern, das diese Einsicht klassisch einfach darstellt (Hjelmslev 21963: 53f.):




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Das Schema muß deswegen hier angeführt werden, weil es die inzwischen volkstümliche Überzeugung schön illustriert, daß in den verschiedenen Sprachen verschiedenes "Denken" enthalten ist und daß eine neue Sprache lernen heißt, verschiedenes Denken lernen. Oder in der Formulierung der Problematik unseres Kongresses, daß Eine-Sprache-Können das Wissen einer "Weltansicht" ist. An dieser Stelle werden dann gern die Eskimos zitiert, die den Schnee anders und differenzierter "denken" würden als wir Europäer, ein inzwischen etwas in Verruf geratenes Beispiel (das allerdings die prinzipielle Einsicht in die verschiedene Weltgestaltung nicht infragestellt). Es gehört auch zum Wissen eines gebildeten Europäers, daß er weiß, daß über den Wortschatz hinaus sich auch die Grammatik der verschiedenen Sprachen einigermaßen profund unterscheidet, daß Kategorien und grammatische Unterscheidungen von Sprache zu Sprache differieren: daß es z.B. kein grammatisches Genus im Englischen gibt, daß wir im Deutschen drei, die Romanen aber nur zwei Genera haben, daß die romanischen Sprachen im Gegensatz zum Deutschen zwei Vergangenheitstempora haben, daß es im slavischen Verb eine Kategorie "Aspekt" gibt usw. Im Gegensatz also zur antiken Auffassung von der Sprache, wo "Eine-Sprache-Können" höchstens das Wissen verschiedener Signifikanten bedeutete, enthält das Sprach-Wissen in dieser moderneren Auffassung gerade auch "geistige" Teile, den verschiedenen Blick auf die Welt und die verschiedenen grammatischen Kategorisierungen.

Saussure, der Begründer der modernen europäischen Sprachwissenschaft, hat mit seinem Begriff der langue die Einzelsprache in diesem Sinne als ein ganzes System von in Opposition zueinander stehenden sprachlichen Einheiten gefaßt. Die langue als Ensemble aller sprachlicher Einheiten (phonologischer, semantischer und grammatischer Art) liegt der konkreten Sprachproduktion, der parole, zugrunde. Die Existenzweise der langue hat Saussure als ein Wissen gefaßt. Sie existiert nach Saussure nämlich in den Gehirnen der Sprecher:

C'est un trésor déposé par la pratique de la parole dans les sujets appartenant à une même communauté, un système grammatical existant virtuellement dans chaque cerveau, ou, plus exactement dans les cerveaux d'un ensemble d'individus; car la langue n'est complète dans aucun, elle n'existe parfaitement que dans la masse. (Saussure 1916/1975: 30)




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Einmal abgesehen von dem problematischen Konzept der Masse und der Kollektivität, ist langue bei Saussure ein homogenes synchronisches Wissens-System. Saussures langue-Wissen ist im Kern ein Wissen von Wörtern und ihrer Grammatik, d.h. im wesentlichen der Morphologie. Syntax ist kein Bestandteil (oder nur sehr marginal) der Saussureschen langue. Langue enthält aber kein Wissen von diachronischen Zuständen der Sprachen, ebensowenig von dialektalen, soziolektalen oder situationellen Varietäten, die in die sogenannte externe Linguistik verbannt wurden.

2.2. Leibnizens Blick auf die Sprachen als "connaissances", Humboldts Erforschung der sprachlichen "Weltansichten" und Saussures Linguistik der langue als Wissen – "un système grammatical existant virtuellement dans chaque cerveau" – sind selbstverständlich Formen einer kognitiven Sprachwissenschaft. Sie nennen sich allerdings nicht so. Die Linguistik, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert, hat nun ganz ausdrücklich Sprache unter die Überschrift des "Wissens" gestellt. Linguistik ist nach Chomsky ein Teil der "kognitiven Psychologie", d.h. sie versucht ausdrücklich, das Wissen zu erfassen, welches Sprache ist.4 Nicht von ungefähr heißt daher eine der populärsten deutschen Einführungen in Chomskysche Linguistik Sprachliches Wissen (Grewendorf u.a. 111999). Bevor ich im nächsten Abschnitt auf die Art dieses Wissens eingehe, muß ich auf die einigermaßen dramatischen Verschiebungen hinweisen, die der Begriff der Sprache nun erfährt. Es sind im wesentlichen zwei: Erstens, im Zentrum des Begriffes der "Kompetenz", der den der langue ersetzt, steht nunmehr die Syntax. Es geht nicht mehr um die verschiedenen Weltansichten oder "Gliederungen der Welt", die von Humboldt bis Hjelmslev den Kern der kognitiven Sprachwissenschaft ausmachten, sondern vor allem um die Mechanismen des Arrangements der sprachlichen Einheiten, die syntaktischen Strukturen. Der Weltbezug, der ja im Ausdruck "Weltansicht" gemeint ist, tritt entschieden zurück. Zweitens, mit dieser Verrückung des Skopus von Linguistik geht eine Verschiebung des Interesses vom Einzelsprachlichen zum Universellen einher. Die genannten Mechanismen sind nämlich angeboren. Sprachliches Wissen ist nunmehr also im wesentlichen syntaktisch und universell (und nicht mehr lexikalisch und partikular).

Bezüglich der erwähnten unterschiedlichen einzelsprachlichen Gliederungen des Strukturalismus ruft daher der Prophet Chomskys, der Psychologe Pinker, sogar: "But it is wrong, all wrong" (Pinker 1994: 57). Der ganze Eskimo-Schnee sei solcher vom vergangenen Jahr. Es gebe kein verschiedenes Denken in den verschiedenen Sprachen. Und falls es doch welches gäbe: So what! So sei dies nicht interessant. Die Linguistik jedenfalls, also die richtige und einzige – una sancta linguistica catholica –, interessiere sich nicht für die langweiligen (der Ausdruck "boring" fällt ausdrücklich) Differenzen, sondern für das, was all diesen Differenzen – falls es sie denn gibt – zugrundeliege. Sie richtet ihr Augenmerk auf das Universelle, auf das, was allen Menschen gemeinsam ist. Dies ist ein allen Menschen angeborener Kombinationsmechanismus einerseits und universelle "concepts" andererseits. Diese können dann in einer – "speech" (nicht "language") genannten – Operation geäußert werden. Aber dieses Geäußerte selbst ist nicht mehr interessant.




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Damit stellt die Chomskysche Schule in gewisser Hinsicht das aristotelische Sprachmodell wieder her: Auf der einen Seite haben wir universelle kognitive Vorgänge, auf der anderen Seite kommunikative Vorgänge, speech, die aber mit dem Kognitiven nicht wesensmäßig verbunden sind. Im Unterschied zu Aristoteles, bei dem die Laute das Sprachliche waren, heißt nun gerade das universelle Denken "language". Da dieses im wesentlichen angeboren ist, hat es allerdings – im Unterschied zu Aristoteles – keine Beziehung zur Welt, zur res.5


Exkurs: Kulturwissenschaft – Linguistik

Diese Auffassung von Sprache ist im Kontext der Frage nach den Wissensformen in den "Kulturwissenschaften" natürlich höchst problematisch: Sie wendet sich ausdrücklich und polemisch gegen die SSST, die "social science standard theory", d.h. gegen eine Kulturwissenschaft, die sich für kulturelle Differenzen interessiert. Clifford Geertz z.B. ist für Pinker deren Symbolfigur und die bête noire. Diese Linguistik wendet sich gegen eine Sprachwissenschaft, die sich für die einzelnen langues, also für die kulturell erworbenen Humboldtschen "Verschiedenheiten" interessiert. Das "Wissen", um das es ihr geht, ist ein universelles und ausdrücklich biologisches, kein kulturelles. Auch der Spracherwerb wird gerade nicht als ein Lernen, sondern als ein Entfalten oder Wachsen eines angeborenen Organs angesehen. Das Wissen ist also ein gewachsenes, kein gelerntes. Die Welt und die Gesellschaft spielt bei diesem Wachstumsprozeß programmatisch eine äußerst geringe Rolle.

Wenn nun sprachliches Wissen im wesentlichen naturgegeben ist und wenn die Linguistik sich vor allem um dieses kümmert, dann tut sich ein gewaltiger Abgrund zwischen den Kulturwissenschaften und der Linguistik auf. Schon im Habitus und in der Vorgehensweise präsentiert sich diese Wissenschaft ja auch bewußt anti-kulturell: nämlich als Naturwissenschaft mit möglichst formalisierten Präsentationsformen. Sie kann daher auch nicht die Rolle für die Kulturwissenschaften spielen, die Sprachwissenschaft spielen müßte angesichts der Tatsache, daß Kultur sich im wesentlichen sprachlich vermittelt und daß sprachwissenschaftliche Kenntnisse daher – so sollte man meinen – fundamental sind für die Wissenschaft von der Kultur. Ich halte dieses Abdriften der Linguistik in die Naturwissenschaft für einen großen theoretischen Fehler: Sprache ist die Schnittstelle von Natur und Kultur, und die Sprachwissenschaft hat emphatisch diese Schnittstelle zu besetzen und nicht sich den stärkeren Bataillonen anzuschließen.




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2.3 Meines Erachtens kommt es daher darauf an, ein weiteres Konzept des sprachlichen Wissens zu entfalten. Eugenio Coseriu hat ein solches in seinem Buch über Sprachkompetenz ausführlich dargestellt. Ich kann hier nur das Notwendigste anhand des folgenden Schemas andeuten (Coseriu 1988: 75):


EBENE

GESICHTSPUNKT

Tätigkeit

Wissen

Produkt

Universelle Ebene

Sprechen im allgemeinen

elokutionelles Wissen

Totalität der Äußerungen

Historische Ebene

konkrete Einzelsprache

idiomatisches Wissen

(abstrakte Einzelsprache)

Individuelle Ebene

Diskurs

expressives Wissen

Text


Coseriu zeigt, daß man das sprachliche Wissen weder auf die Kenntnis der langue reduzieren darf, noch daß man es bei den universellen Regeln belassen darf:

Erstens ist schon das einzelsprachliche Wissen weiter als Saussure dies gesagt hat, es umfaßt eben auch ein Wissen von diachronischen Zuständen und von Variationen. Coseriu nennt das einzelsprachliche Wissen idiomatisches Wissen. Das sprachliche Wissen, das die generative Grammatik beschreibt, wäre im wesentlichen dem universellen Sprechen-Können zuzuordnen, das er elokutionelles Wissen nennt.

Zweitens sind das idiomatische und das elokutionelle Wissen um eine weitere Art sprachlichen Wissens zu ergänzen, das wir bisher überhaupt noch nicht berührt haben und das Coseriu expressives Wissen nennt. Es handelt sich dabei um Textbildungs-Verfahren, die nicht einzelsprachlich aber auch nicht universell sind, wie z.B. das Wissen um die Form eines Sonetts.

Das Wichtigste ist aber, drittens, daß alles dies beim Sprechen zusammenwirkt. In ausdrücklichem und leidenschaftlichem Gegensatz zu Saussure und Chomsky will Coseriu den Fokus der Sprachwissenschaft umkehren: weg von der langue und der Kompetenz, hin zu einer Wissenschaft vom Sprechen.

Im Sinne dieser Umkehrung möchte ich dann auch meine Frage beantworten, was wir wissen, wenn wir eine Sprache können: Coseriu macht deutlich, daß es beim sprachlichen Wissen gar nicht nur darum geht, eine Sprache zu können, sondern daß man beim Sprechen sowohl Techniken des Sprechens überhaupt beherrscht, daß man dies immer nach der Art und Weise einer bestimmen historischen Sprachgemeinschaft tut (ein Teilwissen, das aber weit über die Saussuresche langue hinausgeht) und daß außerdem textuelle Verfahren gekonnt werden müssen, die nichts mit dem einzelsprachlichen Wissen zu tun haben. Die Frage nach dem Eine-Sprache-Können ist also nur im Zusammenhang mit dem Sprechen-Können in diesem weiten Sinne zu beantworten.




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Coseriu macht unter Hinweis auf eine lateinische Konstruktion deutlich, was "eine Sprache sprechen" heißt: Das Lateinische faßt die jeweilige bestimmte Sprache in einem Adverb, das die umfassende Tätigkeit des Sprechens determiniert: latine loqui, graece loqui, germanice loqui: auf lateinische, griechische, deutsche Art sprechen. Wenn ich eine Sprache kann, kenne ich sozusagen ein "Adverb" zum "Verb" Sprechen, d.h. die partikulare Art und Weise einer universellen Tätigkeit.

Ein solcher umfassender Begriff von sprachlichem Wissen überwindet auch die Kluft zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Er integriert nämlich das von der Natur gegebene (Chomsky-)Wissen mit dem durch die soziale Praxis erworbenen (erweiterten Saussure-)Wissen, die beide aber humboldtisch in der Rede (Diskurs oder Text) durch weiteres Wissen ergänzt werden. Als solcher ist er fundierend für die Kulturwissenschaften.


3 Welche Art Wissen ist das Sprache-Können?

3.1 Die Sprachwissenschaft Chomskyscher Prägung faßt Sprache programmatisch als ein "Wissen" auf. Man spricht in dieser Schule von der "kognitiven" Wende der Linguistik.6 Chomsky nennt Sprache ausdrücklich ein "kognitives System". Nun scheint allerdings dieses – extrem komplexe – "Wissen" doch ein sehr merkwürdiges zu sein. Es ist Wissen und es ist doch keines. So führen z.B. die Vorüberlegungen des schon erwähnten Buches über das sprachliche Wissen zunächst zu einer vorläufigen Vorstellung dessen, "was ein sprachliches Wissen sein kann, das jeder, der eine Sprache spricht, unabhängig von dem speziellen Charakter seiner Sprache besitzt: Es sind angeborene Prinzipien, die ermöglichen, daß er überhaupt eine Sprache erwerben kann, und die – im Verein mit den Daten, denen er ausgesetzt ist – determinieren, welche Sprache er erwirbt" (Grewendorf u.a. 111999: 20, Hervorhebung im Text). Sprachliches Wissen bezieht sich vor allem auf eine Universale Grammatik. Bezüglich der Universalgrammatik wird dann aber gesagt, daß man sich dieses Wissen nicht als Wissen im Sinne der Umgangssprache vorstellen dürfe, sondern daß der Ausdruck "Wissen" hier ein terminus technicus sei, vergleichbar dem terminus technicus "Kraft" in der Physik, der ja ebenfalls von dem umgangssprachlichen Wort zu unterscheiden sei.

Es ist klar, daß hier nicht in dem Sinne von 'Wissen' die Rede ist, in dem wir wissen, daß die Erde um die Sonne kreist, daß der Montblanc der höchste Berg in Europa ist, oder daß zwei mal zwei vier ist. Wir sprechen in bezug auf die UG von 'Wissen' nicht im Sinne unseres Alltagsausdrucks, demzufolge ein Wissen eben das ist, was wir unter dem Ausdruck 'Wissen' verstehen. Denn danach gehört zum Wissen etwa, daß wir Gründe vorbringen können, daß man das Gewußte bezweifeln kann, etc., Eigenschaften, die für das 'Wissen' oder die 'Kenntnis' der UG natürlich nicht zutreffen. (Grewendorf u.a. 111999: 21, Hervorhebung im Text)




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Nach diesen Ausführungen hat man allerdings zwei Fragen:
Erstens möchte man doch auch etwas näher wissen, was für eine Art von Wissen das sprachliche Wissen denn nun ist, und nicht nur, welches Wissen es nicht ist. Immerhin wird uns die Angabe, daß für dieses Wissen keine Gründe angegeben werden können, weiterführen. Zweitens möchte man wissen, ob das Wissen der angeborenen UG sich vom Wissen der "erworbenen" Einzelsprache unterscheidet oder nicht. Für die zweite Frage finde ich keine rechte Antwort im Buch von Grewendorf. Der Unterschied zwischen UG und Einzelsprache wird mit dem beliebten Vergleich zwischen Hardware und Software im Computer erläutert. Nun könnte es ja sein, daß der Unterschied zwischen Angeborensein und Erworbensein durch "Daten, denen er ausgesetzt ist" (Grewendorf u.a. 111999: 20), zwei verschiedene Sorten von Wissen konstitutiert. Soweit ich sehe, ist dies aber nicht der Fall. Man darf wohl mit einiger Sicherheit annehmen, daß es sich um ein und dieselbe Sorte Wissen handelt.7

Was nun die erste Frage nach der Art des Wissens angeht, die uns hier ja besonders interessiert, so findet man bei Chomsky selbst den Ausdruck "tacit knowledge". Der Ausdruck "tacit" deutet an, daß man im Falle der Sprache über das Gewußte "Stillschweigen" wahrt, und zwar deswegen weil man keine Gründe angeben kann. Daß es sich im Fall der Sprache um "knowledge" handelt, ist für Englischsprecher gar kein Problem, schließlich heißt es im Englischen: "to know a language", "to know French" etc. Um die spezielle Art des Wissens der Sprache zu charakterisieren, führt Chomsky das Verb "cognize" ein, gegenüber "know" als dem "richtigen" Wissen.

That is, we cognize the grammar that constitutes the current state of our language faculty, and the rules of this system as well as the principles that govern their operation. And finally we cognize the innate schematism, along with its rules, principles and conditions. [...] Thus 'cognizing' is tacit or implicit knowledge [...] cognizing has the structure and character of knowledge, but may be and in the interesting cases is inaccessible to consciousness. (Chomsky 1980: 69f.)

Im Deutschen ist es aber anders: Man "weiß" eine Sprache nicht, man "kann" eine Sprache, man kann Englisch, Russisch oder Spanisch. Daher ist in einem deutschen Buch auch der Ausdruck "Sprachliches Wissen" zu erläutern. Es ist einigermaßen merkwürdig, daß jene Germanisten nicht bemerkt haben, daß das Deutsche hier gerade die schöne Unterscheidung zwischen Können und Wissen macht, die zwei verschiedene Formen von Kognition meinen: Sprechen können wir, auch eine bestimmte Sprache können wir, so wie wir Autofahren können oder Schwimmen können. Wir "wissen" das aber nicht. Auch das Französische bestimmt beides – wie das Englische – als ein Wissen und macht gerade keinen Unterschied zwischen dem Wissen, für das wir "Gründe" vorbringen können und jenem anderen Wissen, für das wir das nicht können und wozu die Sprache gehört.8




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3.2 Der Unterschied zwischen Können und Wissen im Deutschen führt uns jedenfalls zur näheren Bestimmung des Unterschieds in Coserius Buch Sprachkompetenz. Er ruft hierzu die Hierarchie der Wissensformen auf, die Leibniz in seinen "Meditationes de cognitione, veritate et ideis" von 1694 gegeben hat. (Leibniz 1694/21985: 25–47) Coseriu geht sogar so weit zu sagen, daß man als Geisteswissenschaftler diesen Leibnizschen Text eigentlich auswendig können müsse. Ich kann ihn zwar nicht auswendig, folge aber Coseriu gern in der hohen Einschätzung dieses Leibnizschen Textes, der für unsere Diskussion über die Formen des Wissens einfach fundamental ist. Es gibt nach Leibniz verschiedene Stufen des Wissens, der cognitio, die aufsteigt von einem dunklen bis zum klaren und deutlichen Wissen. (Coseriu 1988: 206)

Das, was wir im Deutschen "Wissen" nennen, eben jenes, bei dem wir Gründe angeben können, ist die cognitio clara distincta adaequata. Es ist in ihrer höchsten Form die wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis. Cognitio obscura ist diejenige, bei der wir nicht einmal bis zur Identifizierung eines Gegenstandes vordringen. Klar-konfus ist dagegen ästhetisches Erkennen, das "je ne sais quoi" der klassischen Ästhetik. Die Sprache nun entspricht nach Leibniz-Coseriu der cognitio clara distincta inadaequata. Ich zitiere die zentrale Stelle bei Coseriu:

Es ist klar, daß das sprachliche Wissen ein Tunkönnen ist, d.h. ein Wissen, das sich an erster Stelle im Tun, im Sprechen, manifestiert, und daß es beim Sprechen und Verstehen ein vollkommen sicheres Wissen ist, aber ein Wissen, das entweder gar nicht begründet wird oder für das höchstens erste unmittelbare Gründe angegeben werden, jedoch keine Begründungen für die Gründe selbst. [...] Da die hier gemeinte unmittelbare Begründung eigentlich in jedem Fall möglich ist, wenn danach gefragt wird, so kann man das sprachliche Wissen, insbesondere die Kenntnis der Sprache, als eine cognitio clara distincta inadaequata einstufen. (Coseriu 1988: 210f.)




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Coseriu nennt dieses Wissen dann – im Anschluß an das griechische Wort techne – technisches Wissen. Der techne steht als "höhere" Form des Wissens die episteme gegenüber.

Von dieser schönen philosophischen Begründung des Wissens aus kritisiert Coseriu ausführlich die Konzeptionen des "Sprachwissens" bei Saussure und Chomsky. Ich kann hier nur auf diese Seiten verweisen. Ich möchte aber folgende abschließende Bemerkung zu Saussure hinzufügen: Saussure hatte einerseits die langue in den Gehirnen der Sprecher lokalisiert, sie also als ein Wissen gefaßt. Andererseits aber sagt er an einer berühmten anderen Stelle des Cours, daß die Benutzer des Sprachsystems die langue zutiefst nicht kennen:

Ceux-là mêmes qui en font un usage journalier l'ignorent profondément. (Saussure 1916/1975: 107)

Ich lese das Saussuresche "ignorer" sympathetischer als Coseriu als einen Versuch, die merkwürdige Wissensform des Sprachwissens in den Griff zu bekommen. Saussure denkt mit dem Französischen, d.h. mit einer Sprache, die das Sprache-Können durchaus als ein savoir oder als connaître ansieht: "je sais l'allemand", "je connais l'espagnol". Um dieses savoir aber nun von "adäquateren" Formen des Wissens zu differenzieren, präzisiert er es als eine Ignoranz, denn es können und brauchen ja von den Wissern keine Gründe angegeben zu werden. Eine Sprache können ist eine cognitio ignorans. Die "Ignoranz" meint meines Erachtens daher auch nichts anderes als das "tacit", das Stillschweigen, welches von Chomsky zur Präzisierung des "knowing a language" ins Spiel gebracht worden ist. Die Sprach-Wissenschaftler haben von der langue ein reflexives Wissen – cognitio clara distincta adaequata –, die Sprach-Könner können sie, sie "wissen" sie aber nicht:

Une langue constitue un système. [...] ce système est un mécanisme complexe; l'on ne peut le saisir que par la réflexion; ceux-là même qui en font un usage journalier l'ignorent profondément. (Saussure 1916/1975: 107)


4 Cognitio inadaequata in der Wissensgesellschaft

Wenn ich nun noch einmal zu meinen Bemerkungen vom Anfang zurückkehre, so wird mit der Bestimmung des Status des Sprachwissens auch klar, warum die Wissensgesellschaft sprachliches Wissen nicht besonders hoch ansetzt und warum schon die Griechen der Sprache keine bedeutende Rolle zugestanden haben: Sprache-Können ist "nur" eine techne, nicht eine episteme, auf die es den Wissen-Wollenden allein ankommt. Sie steht auf einer Ebene mit anderen artes – dem Fechten, Tanzen und Reiten. Für die Philosophen ist aber allein das Wissen – episteme – maßgebend gewesen.




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Die moderne Wissens-Gesellschaft ist ja ausdrücklich keine Könnens-Gesellschaft. Könnens-Gesellschaften sind Gesellschaften immer gewesen: Selbst in Kasten-Gesellschaften muß man innerhalb der Kaste etwas können, nicht unbedingt etwas wissen: So mußte beispielsweise der europäische Höfling tanzen, fechten und reiten können, Konversation treiben können, er mußte nicht wirklich etwas wissen. Die alte bürgerliche Gesellschaft war weitgehend eine Könnens-Gesellschaft: Sie hat auch das Etwas-Gut-Können honoriert. Nun aber wird tatsächlich das reflexive Wissen, die episteme, zum Zentrum der gesellschaftlichen Wertung. Das scheint für uns Intellektuelle zunächst einigermaßen tröstlich, aber es entwertet drastisch viele Formen des Könnens, die kein Wissen sind, d.h. die kein reflexives Wissen sind, und damit letztlich auch unser Wissen von ihnen.

Gegen die ungerechte und ungerechtfertigte Auszeichnung des reflexiven Wissens ist Leibnizens Schema hilfreich. Es handelt sich ja auch auf den "niedrigeren" Stufen der cognitio um cognitio, um Wissen. Um Wissen des Künstlers, das nach Leibniz cognitio clara confusa ist, oder eben um Wissen der verschiedenen Arten der Technik: cognitio clara distincta inadaequata. Es geht in Zukunft darum, sich das Etikett "Wissen" – cognitio – nicht von den Inhabern der cognitio clara distincta adaequata abkaufen zu lassen.

Wenn Sprachen-Können ein Wissen ist – sei es auch noch so inadäquat – dann ist es auch egal, um welche Sprache es sich handelt: Es ist auf jeden Fall ein bewundernswertes und wertvolles Wissen, eine kostbare menschliche techne.

Aber nicht nur die Orientierung an der episteme erniedrigt das Sprachwissen. Zusätzlich ist auch die Einschränkung der episteme auf bestimmtes, nämlich an ökonomischen Zielsetzungen orientiertes Wissen für das Sprachwissen nicht günstig. Die episteme der Wissensgesellschaft ist ja nicht eigentlich frei, wie das Leibniz oder allen großen Philosophen vorschwebte, denen einfach die Generierung von Wissen – von jeglichem Wissen – die höchste Aufgabe des Menschen ist. Dies ist aber im Terminus "Wissensgesellschaft" nicht gemeint, auch wenn es so scheint. Das vermeinte Wissen ist nur dasjenige, das in den ökonomischen Verwertungszusammenhang paßt.

Daher sollten gerade wir Geistes- oder Kulturwissenschaftler bei der Redeweise von der Wissensgesellschaft genau hinhören. Wir können ja nicht umhin zu bemerken, wie unser Wissen, das Wissen von nahen und fernen Kulturen, Kunstwerken, Texten, vergangenen Zeiten und von Sprachen, zunehmend und rasant gesellschaftlich entwertet wird. Die Funktion des von uns produzierten Wissens ist ins Gerede gekommen. Sie wird deswegen diskutiert, weil die schönen Zeiten vorbei sind, in denen die Produktion des Wissens überhaupt – egal wovon – als kostbar angesehen wurde und von der Gesellschaft auch bezahlt wurde. Nun aber drängen die ökonomischen Zwänge – es sind eher vermeintliche Zwänge, shareholder-Zwänge eben – uns die Diskussion um die Legitimation unseres Wissens auf. Wir müssen uns vor dem Tribunal der zukünftigen Wissensgesellschaft verantworten: Nicht jedes Wissen ist da mehr willkommen und folglich finanzierbar, sondern offensichtlich nur noch solches, das der unmittelbaren Reproduktion des geld-generierenden Wissens dient. Warum sollte da z.B. – um ein Beispiel fernerliegenden Sprachwissens zu geben – einer Lateinisch oder Nahuatl studieren? Wie schnell sind dann auch das Erlernen des Französischen und das Studium der französischen Literatur und Sprache kaum mehr zu rechtfertigen.




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Nun, die Aussichten sind mies, aber noch ist nicht alles verloren: Es gibt ja offensichtlich noch Institutionen, die sogar solche Unternehmungen wie die unsrige finanzieren, die – wenn ich es recht verstanden habe – durchaus eine Veranstaltung zur Opposition gegen die Schöne Neue Welt des ökonomischen epistemischen Wissens ist. Mit Kunst und Technik – und Sprache – standen bei unserer Tagung durchweg "niedere" Formen des Wissens auf dem Programm. Und auf dem Programm sollen sie auch stehenbleiben, auch in der Wissensgesellschaft.


Bibliographie

Bacon, Francis (1620/1990): Neues Organon. Hg. von Wolfgang Krohn. Darmstadt.

Chomsky, Noam (1980): Rules and Representations. Oxford.

Coseriu, Eugenio (1988): Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. Tübingen.

Grewendorf, Günther; Fritz Hamm und Wolfgang Sternefeld (111999): Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt am Main.

Hjelmslev, Louis (21963): Prolegomena to a Theory of Language. Madison, Wisc.

Humboldt, Wilhelm von (1836/1998): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Hg. von Donatella Di Cesare. Paderborn.

Humboldt, Wilhelm von (1903–1936): Gesammelte Schriften. 17 Bde. Hg. von Albert Leitzmann u.a. Berlin. (Nachdruck: Berlin 1967)

Humboldt, Wilhelm von (1994): Über die Sprache. Reden vor der Akademie. Hg. von Jürgen Trabant. Tübingen/Basel.

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1694/21985): "Meditationes de cognitione, veritate et ideis", in: Kleinere Schriften zur Metaphysik. Hg. von Hans Heinz Holz. Darmstadt.

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1765/1966): Nouveaux essais sur l'entendement humain. Hg. von Jacques Brunschwig. Paris.

Pinker, Steven (1994): The Language Instinct. New York.

Platon (1974): Werke. Hg. von Gunther Eigler. Bd. 3. Darmstadt.

Saussure, Ferdinand de (1916/1975): Cours de linguistique générale. Hg. von Tullio De Mauro. Paris.

Trabant, Jürgen (1998): Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache. Frankfurt am Main.




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Anmerkungen

* Vortrag gehalten am 14.01.2001 auf dem Symposium "Kunst.Zeichen.Technik. Die Analyse der Wissensformen als Beitrag der Philosophie zu den Kulturwissenschaften" am Institut für Wissenschaft und Kunst in Wien. Der Beitrag erscheint auch 2002 in einem von Eva Waniek u.a. herausgegebenen Band im Verlag Turia + Kant, Wien.

1 "Verba obstrepunt", "die Worte widerstreben", schreibt Bacon. Vgl. auch: "Die Menschen glauben, ihr Verstand gebiete den Worten; es kommt aber auch vor, daß die Worte ihre Kraft gegen den Verstand umkehren" [Credunt enim homines rationem suam verbis imperare; sed fit etiam ut verba vim suam super intellectum retorqueant et reflectant]. Vgl. Bacon (1620/1990).

2 Ebenfalls abgedruckt in: Humboldt (1836/1998).

3 Ebenfalls nachzulesen in: Humboldt (1994).

4 Ausdrücklich thematisiert Noam Chomsky Sprache als Wissen in Chomsky (1980).

5 Vgl. auch die Ausführungen in Trabant (1998), vor allem Kap. 8.

6 Daß die Annahme einer solchen "Wende" einer sehr begrenzten (und sehr amerikanischen) Sicht auf die Geschichte der Sprachwissenschaft entstammt, habe ich angedeutet: kognitiv, d.h. Erforschung des menschlichen Geistes, ist die Linguistik seit ihrem Anfang bei Leibniz.

7 Dafür sprechen, wenn auch etwas dunkel, die Ausführungen in Grewendorf u.a. 111999: 27f.

8 Das Deutsche ist sozusagen auf der anderen Seite des Vermögens ungenau: Es unterscheidet nicht zwischen dem "könnenden Wissen" und dem "Können als Möglichsein". "Il sait chanter" und "il peut chanter" heißt beides auf Deutsch "er kann singen", einmal aber ist gemeint, daß er die Technik des Singens beherrscht, ein andermal, daß seinem Singen nichts mehr im Wege steht, daß die Hindernisse weggeräumt sind, daß er z.B. rechtzeitig angekommen ist, die Krankheit überwunden ist.

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