PhiN 16/2001: 84




Klaus Ensslen (München)


Joanne Hollows, Peter Hutchings, Mark Jancovich (Hg.) (2000): The Film Studies Reader. London: Arnold.

Christine Gledhill, Linda Williams (Hg.) (2000): Reinventing Film Studies. London: Arnold.


Mit diesen beiden Titeln sind zwei sehr reichhaltige und abwechslungsreiche Aufsatzsammlungen zum Bereich der Filmstudien erschienen, die auf eindrucksvolle Weise theoretische Überlegungen mit gezielten Einzelfallstudien verbinden und erneut zeigen, daß gerade filmanalytischen Arbeiten immer wieder die Zusammenführung grundsätzlicher und von der intensiven Wahrnehmung einzelner Filmtexte abgeleiteter Einsichten gelingt – eine fruchtbare Konvergenz von Theorie und Kommunikationspraxis, die das Feld der Filmstudien in den letzten Dekaden auch für die Literatur-; und Kulturwissenschaft so eminent anregend gemacht hat.

The Film Studies Reader geht dabei systematischer und flächendeckender vor, wenn in insgesamt neun Abschnitten ein weiter Bogen gespannt wird von Theorien zur Politökonomie und Massenkultur über Auteur-Konzepte, Genre-Theorie und Star-Studien bis zu integrierenden Ansätzen einer historischen Filmpoetik und den Berührungsflächen konkurrierender Theorien wie Marxismus, Psychoanalyse, Feminismus und den Postulaten von Rasse und Gender als interesseleitenden Differenzmerkmalen. Reinventing Film Studies wählt eine andere Argumentationsstruktur mit nur fünf Unterteilungen, die mit einem genialisch unprätenziösen Abschnitt zu "Wirklich nützlichen Theorien" einsetzen und über "Film als Massenkultur", "Fragen einer Ästhetik" und der "Rückbesinnung auf Geschichte" schließlich in die Erörterung von "Kino im Zeitalter globaler Multimedia" mündet und damit den Blick auch über das kinozentrierte 20. Jahrhundert hinaus öffnet. Beide Sammlungen eröffnen ihre strukturgebenden Abschnitte mit zusammenfassenden Einleitungen der Herausgeber, etwas ausführlicher in The Film Studies Reader, komprimiert und wirkungsvoll pointiert in Reinventing Film Studies. Den 23 ausführlicheren und bis auf eine Ausnahme alle für diese Veröffentlichung geschriebenen Aufsätzen des letzteren Bandes stehen im Reader doppelt so viele kompaktere Beiträge gegenüber, die ausnahmslos schon vorher in Büchern oder Zeitschriften erschienen waren und fast alle in gekürzter Form in die Sammlung Eingang fanden.

In einem solchen repräsentativen Überblick über einflußreiche wenn nicht prägende Positionen in der Auseinandersetzung mit Film ist es nicht überraschend, wenn der Leser im Reader auf viele verbürgte Stimmen trifft, von François Truffaut, Ian Cameron, Andrew Sarris, Peter Woollen und Robin Wood im Bereich der Auteur-Ansätze über Jim Kitses, Steve Neale und James Naremore zur Genre-Theorie bis zu Richard Dyer (gleich dreimal) zu Fragen des Star-Systems und Christian Metz, Laura Mulvey und Mary Ann Doane mit Überlegungen zur symbolischen Zeichenstruktur oder zum Stellenwert der männlichen und weiblichen Blick-Positionierung. Relativ neue, weniger kanonisierte Vorschläge finden sich dagegen auch im Reader vor allem im ersten Abschnitt (zur Politökonomie und Massenkultur), etwa mit Eileen Meehans Beitrag zu Batman als "kommerziellem Intertext" und mit Janet Waskos Auszug aus ihrem Buch über "Hollywood and the Information Age", und erwartungsgemäß noch dichter im abschließenden Abschnitt, zu Differenzmerkmalen wie Rasse, Klasse, Gender und nicht–heterosexuellen Positionen als theoretischem Boden für die Rezeption und kulturelle Instrumentalisierung von Filmen.




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Hier erweisen sich die Wahrnehmungen und Postulate von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen als wirkungsvolle Hefe im Teig der Aneignung und Validierung von Filmtexten, so etwa im Konterkarieren kolonialistischer Bildbesetzungen in der Analyse von The Battle of Algiers und eines anthropologischen Films über Parisvon Robert Stam und Louise Spence (Petit à Petit). Ähnliches gilt auch für die dialektische Erörterung schwarzer Männlichkeit im Aktionsfeld von Großstadtghetto, prekärer Familienstruktur und einer Neudefinition individueller Verantwortung in Singletons Boyz N the Hood – oder auch in der Behauptung neuer Spielräume und beweglicherer Zuschauerterrains für lesbische und schwule Rezipienten am Beispiel verdeckter Umspielung solcher Themen durch bestimmte DarstellerInnen und Genres (wie etwa vielen Musicals) oder am neueren Beispiel eines Films wie Strictly Ballroom (1992), der trotz einer zutiefst abweichungsfeindlichen Handlungsführung eine intensiv widerständige Lesart erlaubt und zum Kultfilm für nicht-heterosexuelle Zuschauer avancierte. In diesen letzten Kapiteln des Reader geraten zuvor umrissene verfestigte Auffassungen der Wirkungskraft von Filmen auf befreiende Weise ins Rutschen und eröffnen neue hermeneutische und interessenbefördernde Diskursfelder.

Die Herausgeber von Reinventing Film Studies konstatieren in einer gedrängten Einleitung ihre Absicht, Filmstudien aus dem in den 70er Jahren formierten akademischen Gehege im Interesse eines postmodernen "self-fashioning" (d.h. eines Selbst-Zuschneiderns neuer Positionen unter Nutzung alter Materialien) herauszuführen und wieder stärker auf die interdisziplinäre Betonung des Massenkulturcharakters von Film zu verpflichten. Wichtige Voraussetzungen dafür sind ihnen das Verständnis von Film als alternativer öffentlicher Sphäre, seine doppelte Besetzung mit sinnlichen und bedeutungsstiftenden Elementen, die Neuentdeckung historischer Fracht in der Brechung durch postmoderne Diffusionskriterien und die beginnende Selbstauflösung des Mediums Film im Zusammenhang globalisierender Medienrealität oder auch einer sich anbahnenden kulturvergleichenden Theoriebildung (unter Berücksichtigung gerade auch asiatischer Filmkomplexe wie Indien oder China). Die Wiedereinschreibung des Körperlichen und Affektiven führt hierbei zu einer dialektischen und dialogischen Verknüpfung sozialer, kultureller und ästhetischer Faktoren zu einer neuverstandenen Arena des Austauschs und der Verhandlung öffentlicher Anliegen, vor der das früher oft zu eng psychoanalytisch definierte Imaginäre sich zu dem diskursiv wandelbaren sozialen Imaginären ausgewachsen hat und die Vorstellung von 'master narratives' (oder hegemonialen Erzählmustern) in das komplexere Modell von konkurrierenden kulturellen Formen, Praktiken und Auswirkungen unter Einschluß politischer Aufladungen umgießt. Die Konfrontation mit nichtwestlichen Filmformen und -kontexten kann hier auch nationale und geopolitische Eingrenzungen hinterfragen und durchbrechen helfen.

Während dieser letzte Punkt sich noch relativ zaghaft in den erweiterten Diskurs zum Film einmischt (etwa in der Studie von Ravi S. Vasudevan zum populären Film in Indien – dem längsten Essay des Bandes – oder in Ray Chows Aufsatz zur Maskierung und Validierung sozialer Leitnormen im zeitgenössischen chinesischen Film), dringen andere Essays in bestechender Weise zur diskursiven Öffnung und Erweiterung zentraler Topoi der Filmanalyse vor. Christina Gledhill etwa in ihrem Beitrag "Rethinking Genre" beschreibt diesen Begriff als Resultat nicht einer bestimmten intentionalen Textform, sondern eines industriellen Mechanismus – als Produkt, das sich um die Zuwendung bestimmter Zuhörerschaften bemüht und von für Zuschauer und Produzenten verbindlichen Regeln gesteuert ist, die sich in der Filmgeschichte eher zyklisch manifestieren. Unter den Einzelfallstudien des Bandes bestechen Steven Cohans Essay zum Musical Singin' in the Rain, in dem die explizite Handlung von der körperlichen Besetzung und Visualisierung, von den Nahtstellen der Paarbeziehungen und von der Fetischisierung weiblicher und männlicher Rollen konterkariert und überflutet wird; oder Carol J. Clovers Untersuchung zum Gerichtsfilm, der den Zuschauer als Garanten der ideologischen Ordnung so positioniert, daß er die Rolle des Geschworenen bestätigend zelebriert; oder Linda Williams' scharfsinnige Beweisführung über den Zusammenhang von Zuschauerschrecken und -genuß am Beispiel der Rezeption von Hitchcocks Psycho und des Stellenwerts von Schock und Begierde in Massenkultur'attraktionen'.




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Der Verbindung von ästhetischen und historischen Fragen gewinnen die Aufsätze von Vivian Sobchack (über das in den kalifornischen Sanddünen begrabene Filmset der Stadt des Pharao für Die Zehn Gebote und seine Funktion für die Ausfüllung imaginärer Lücken im kollektiven Gedächtnis) sowie Miriam Hansens Überlegungen zum klassischen Film als modernistischer Umgangssprache viele grundsätzliche Implikationen ab. Eine besonders eindrucksvolle Verbindung kollektiver Träume und Hangups eines jugendlichen Massenpublikums, seiner erinnerten Trash-Kultur und der Ikonisierung eines Regisseurs und Darstellers im Umspielen von Schreckenerregendem und Komischem, des Impulses zum Beschmieren und Bereinigen, zum Vermitteln von Rasse und Männlichkeit bietet Sharon Willis' Analyse von "Stil, Pose unmd Idiom in Tarantinos Figuren der Männlichkeit". Ihr Verständnis von Tarantinos Funktion als Drahtzieher einer kommerziellen Strategie zur Lenkung von Zuschauerreaktionen, Vermarktung, Verbreitung und Etablierung von Kultstatus für den Einzelnen mündet bereits in die Beschreibung der neuen technischen Möglichkeiten eines globalen visuellen Marktes (über Kabel-TV, Video und Internet), die der abschließende Aufsatz von Anne Friedberg ("The End of Cinema: Multimedia and Technological Change") als Ausblick auf eine schon angebrochene Zeit beschwört, in der Film im tradierten Sinn nur noch eine altmodische Domäne im Feld von Massenkultur darstellen wird.

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