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Gerhard Poppenberg (Berlin, im Juni 1996)


Steven Ungar (1995): Scandal & Aftereffect. Blanchot and France since 1930. Minneapolis/London: University of Minnesota Press.


Mit Nachsicht?

Vor einigen Jahren hat das Literaturmagazin (28, 1991) einen Aufsatz mit dem Titel "Auf unendlichem Rückzug. Der Fall Maurice Blanchot" abgedruckt. Die Autoren, Sigrid Brinkmann und René Weiland, versuchen, Blanchots Engagement für die politische Rechte im Umfeld der Action Française und ihr nahestehender Gruppen und Periodika in den 30er Jahren mit seinem literaturkritischen und literarischen Werk und seiner auffälligen politischen Zurückhaltung in der Nachkriegszeit in eine Beziehung zu setzen. Der "Fall" wird dabei zu einer individuellen Geschichte von moralischer Verantwortung, die Blanchot zu übernehmen sich weigert, stattdessen sich in den ästhetizistischen Elfenbeinturm eines unpolitischen œuvre verkriecht. Worin die Schuld bestanden haben könnte, wird nicht recht klar, denn in den 20er und 30er Jahren den politischen Konservatismus, die nationale Rechte und selbst die europäischen Faschismen für eine verantwortbare Option gehalten zu haben, wird ja erst aus dem besseren Wissen der Nachgeborenen mit guten Gründen verwerflich. Vor allem aber ist es wenig erkenntnisfördernd, ein solches Engagement individuell zu verrechnen, denn das Persönliche daran ist wohl am wenigsten bedeutsam. Die Option für die politische Rechte ist ein allgemeines Phänomen gewesen und nur als solches zu verstehen.

Das versucht Steven Ungar, indem er Blanchots Engagement in den Kontext der 30er Jahre einfügt, ausgehend von der Diskussion um Mitterands Vichy-Vergangenheit und der durch Víctor Farías erneut ausgelösten Debatte um Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus. Wenn der 'Fall Heidegger' nicht nur der Fall Heideggers, also ein mehr oder weniger kontingenter, auf 1933/34 datierbarer persönlicher 'Fehltritt' war, sondern auch, wie der Heidegger-Schüler Emmanuel Lévinas gemeint hat, das Werk vor 1933 befallen ist, dann stellt sich die Frage, was das bedeutet: für Lévinas, der Sein und Zeit - nach wie vor - als einen der wichtigsten Texte der Philosophiegeschichte angesehen hat; für die übrige Heidegger-Rezeption in Frankreich, wo auch Gestalten wie Lacan, Foucault, Derrida maßgeblich durch Heidegger angeregt worden sind; und für die Philosophiegeschichte generell. Ist der 'Hitlerokolax' Heidegger gerade so kontingent wie der 'Dionysiokolax' Platon? Oder besteht gerade der Fehltritt der Philosophiegeschichte darin, das für kontingent zu halten?

Was das für die Frage nach Maurice Blanchot bedeutet, erhellt daraus, daß der ebenfalls seinen 'Fall' hat, daß er mit Lévinas befreundet und ebenfalls ein Schüler Heideggers war, und wie der ebenfalls eine weitreichende Wirkungsgeschichte hat, die sich in Frankreich ausgerechnet mit Namen wie Lacan, Foucault, Derrida, aber auch Barthes und Deleuze markieren läßt. Ist das ein generationenübergreifendes Komplott, ein gigantischer Verblendungszusammenhang oder schlicht verstockte Uneinsichtigkeit? Und was ist mit dem alten Vorbehalt gegen alle Sorten




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von Apostaten und Konvertiten, daß sie durch den Wandel hindurch dieselben bleiben und ganz unzuverlässige Kantonisten sind? Er habe seine Denkfiguren durch die Jahre beibehalten, hat Jeffrey Mehlmann gegen Blanchot vorgebracht, sie lediglich ästhetisch, theoretisch oder politisch, rechts oder links artikuliert, in jedem Fall aber extrem. Und genau daran hätten sich dann die genannten Leitfiguren der 60er und 70er Jahre, die extremistischen Philosophisten der "pensée 68" (L. Ferry/A. Renaud) orientiert.

Wenn Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus nicht ein Irrtum war, sondern einer folgerichtigen Entwicklung entsprach, dann ist der Rücktritt 1934 erfolgt, weil die politische Wirklichkeit nicht mit der philosophischen Wahrheit übereinstimmte, "der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung", von der Heidegger noch 1935 in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik und nach 1945 in den diversen Auflagen der Buchausgabe meinte reden zu können; oder umgekehrt, wie Ungar insinuiert, weil die philosophische Wirklichkeit der Nationalsozialisten nicht mit der politischen Wahrheit von Sein und Zeit in Einklang zu bringen war. Heidegger wäre dann in seinem Selbstverständnis nationalsozialistischer gewesen als die Nationalsozialisten selbst. Und das Manifest dieses Selbstverständnisses wäre Sein und Zeit. Aber was wäre dann die politische Wahrheit von Sein und Zeit?

Die Faschismen sind nicht aus dem Nichts gekommen, sondern aus der Mitte der europäischen Geschichte und Zivilisation. Wenn also Heidegger in seiner philosophischen Essenz am Nationalsozialismus teilhat und Sein und Zeit davon befallen ist, und wenn andererseits Sein und Zeit eine Quintessenz der Moderne ist und folglich 'wir alle', nämlich 'wir Modernen' davon befallen sind, dann geht es bei der ganzen Diskussion um das in 'uns', was 'wir' nicht so gern wahrhaben möchten, lieber verwerfen und bagatellisieren möchten: um die schwarze, abgründige Seite der Moderne, mit der 'wir' nur allzu gern immer wieder kokettiert haben, ohne sie wirklich ernstzunehmen, und die Mario Praz 1930 in seinem Buch über die Epoche analysiert hat. Dann geht es um den Bereich der Moderne, den Nietzsche als den unheimlichsten Gast bezeichnet hat: um den Nihilismus - und aus dessen Nichts könnte 'das' nun doch gekrochen sein. Dann aber wären Heideggers Reflexionen z.B. in den Nietzsche-Vorlesungen der 30er Jahre eine Auseinandersetzung mit dem Problem und seine Schelling-Vorlesung und ihre Folgetexte eine weitere. Es geht, nach Schellings Formel, um das in uns, was nicht wir selbst sind. In dem Maß, wie Sein und Zeit die Essenz der Moderne artikuliert und Heidegger im Nationalsozialismus die Politik von Sein und Zeit hat sehen können, muß im Nationalsozialismus auch etwas von der Essenz der Moderne sein; und womöglich ist er die Essenz derjenigen Moderne, die sich durchs ganze 19. Jahrhundert in ihrer satanischen Verfaßtheit gefallen hat. Aber was bedeutet das - für die Moderne?

Steven Ungar deutet solche ins Große zielenden Überlegungen nur vorsichtig an; fraglich ist ja auch, ob damit die Tiefenstrukturen des 20. Jahrhunderts in den Blick gerückt werden oder nicht gerade das Spezifische der Situation der 30er Jahre vernebelt wird; ob die Verschiebung der Frage nach der individuellen Teilhabe zu der nach dem Nihilismus und der Moderne nicht auch eine Ausflucht ist, um sich nicht stellen zu müssen; ob man die persönliche Verantwortung so loswird. Deshalb konzentriert Ungar seine Untersuchungen für den Rest des Buchs




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auf die verworfene Vergangenheit Blanchots. Das wohl wichtigste Ergebnis ist dabei, die bislang stets ziemlich naiv vorgenommene Trennung zwischen den politisch-journalistischen Artikeln der 30er Jahre und den literarischen und literaturkritischen Werken der Nachkriegszeit als hinfällig aufgezeigt zu haben. Es gibt literarische und reichlich literaturkritische Arbeiten der 30er Jahre sowie politische Texte und Engagement in der Nachkriegszeit. In Faux pas (1943) sind ein großer Teil jener Texte gesammelt. Und die erste Version des Romans Thomas l'obscur sowie zwei Erzählungen stammen aus den dreißiger Jahren. Es gibt also bei aller Diskontinuität eines Bruchs mit der Vergangenheit auch deutlich ein Moment der Kontinuität. Was aber bedeutet das?

Ausgehend von Blanchots Rezension der 1932 erschienenen Übersetzung von Curtius' Einführung in die französische Kultur (1930), die der Frage nach der Nation, dem Nationalismus und dem Status der nationalen Differenzen nachgeht, untersucht Ungar eine Serie von Tageszeitungsartikeln der Jahre 1932/33 und zeigt, daß Blanchot angesichts des zur Macht gekommenen Nationalsozialismus ebenfalls von 'nationaler Revolution', 'Stärke', 'Erneuerung', 'Ordnung' redet und antiliberal und antidemokratisch denkt, ohne jedoch den Nationalsozialismus ernstlich als politisches Modell zu erwägen. Interessant ist er ihm als Praxis der Stärke und nationalen Erneuerung gegen die 'moderne Schwäche', 'liberale Schlaffheit' und 'demokratische Unordnung'. Um dabei zunächst das Politische der Positionen Blanchots in seiner Spezifik von allem Literarischen und Ästhetischen freizuhalten, fügt Ungar, ein hervorragender Kenner der Zwischenkriegszeit in Frankreich, die Artikel in die hochkomplexe Situation der 30er Jahre ein und macht sie aus ihrer Zeitgenossenschaft heraus lesbar. Vor allem die Artikel für Combat (1936-39) - Kommentare zur politischen Gegenwart - werden im Kontext des Blatts analysiert, das selbst ausführlich vorgestellt wird.

Die wirklich spannende Frage aber ist, welche Beziehung zwischen diesen politischen und den zur gleichen Zeit und später geschriebenen literaturkritischen Artikeln besteht; welcher Weg zum Beispiel von dem Artikel "La France: nation à venir" (November 1937) zu dem Buch Le livre à venir (1959), welcher Weg vom politischen Kommentar zur literarischen Kritik führt - und was dabei die Rede von den faux pas zu bedeuten hat. Ein weiterer Text von 1937: "De la révolution à la littérature" ist dazu von Belang. Ungar setzt ihn ausdrücklich zu späteren programmatischen Texten in Beziehung. Er manifestiert Blanchots Wunsch, "to theorize literature through politics" (114), wobei der Begriff der Revolution - einer konservativ-reaktionären, nationalen Revolution - als Bindeglied fungieren soll. Ungar verfolgt die Spur bis in die späten 40er Jahre und stellt schließlich fest: "What Blanchot had come to call literature's 'different game' extended the logic of double negation in the Combat and L'Insurgé articles. It transposed onto literature the capacity to negate and change that Blanchot had ascribed a decade earlier to revolution in the name of a new French nation" (123).

Solche Kontinuität führt zu einer "most unsettling thesis": "that Blanchot's postwar theorizing of literary space followed a substantial interwar practice that placed literature openly alongside a corollary vision of politics at odds with what the postwar fiction and essays might lead one to expect" (124). Das heißt nicht nur, daß die Trennungslinie zwischen Vorher und Nachher, einem politisch-reaktionären Frühwerk und einem literaturkritisch-libertären Spätwerk nicht streng zu




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ziehen ist, sondern daß die zentralen Gedanken der Konzeption des "espace littéraire" gerade aus den 30er Jahren stammen und als Ergänzung, als die andere Seite der politischen Gedanken konzipiert worden sind. Die Nachkriegsliteraturtheorie Blanchots "is grounded on a displacement of his dissident writings of the mid-1930s" (134).

Ab 1958 beginnt Blanchot im Zusammenhang der Algerien-Proteste, sich auch wieder manifest politisch zu artikulieren. In den Kontext gehört auch sein Engagement für eine Revue Internationale nach 1960, die ein übernationales intellektuelles Forum bilden sollte, aber seinerzeit nicht zustandegekommen ist. Für Ungar ist dabei entscheidend, daß der Ton, mit dem, und der Ort, von dem aus gesprochen wird, derselbe wie in den 30er Jahren ist: "abject dissidence": "the post-1958 writings contained enough traces of abject dissidence to question the common belief that Blanchot emerged from the war as though converted. It was almost as if the apparent progression from right to left were less meaningfull than the force of commitment to an oppositional stance whose evolution remains to be recognized in its full trajectory" (138). Wenn das Projekt der Revue Internationale, an dem Blanchot maßgebend und treibend beteiligt war, den "Geist" der rechten Dissidenz der 30er Jahre beerbt hätte, und wenn weiter die in den 80er Jahren unter anderen Bedingungen und mit anderer Beteiligung gegründete Lettre Internationale ihrerseits in der Tradition der Revue Internationale steht - dann könnte einen wohl ein gelinder Schwindel befallen, und man müßte jedenfalls noch einmal fragen, was das denn nun wirklich bedeutet: für Blanchot, für Frankreich, für 'die Moderne'.

Neben dieser Kontinuität, die eine des 'Geistes' und der 'Begeisterung' ist, gibt es eine Diskontinuität zwischen dem stramm nationalen Leitartikelschreiber der 30er Jahre und dem Protestler gegen die französische Präsenz in Algerien, dem Befürworter einer Absage an alte Kolonial- und Großmachtherrlichkeit. Oder ist - auch - das möglicherweise eine Tarnung, eine realistische Einschätzung der Gegenwart, die zur 'Größe' nicht taugt, ein Rückzug im Geist der Logik und Ökonomie der Negation: "ouvert sur un sens plus général, encore à venir ou bien acceptant l'exigence d'une discontinuité essentielle", wie es im Projekt der Revue Internationale einmal heißt? Steven Ungar akzentuiert schließlich, nach allem Vorausgegangenen etwas überraschend, die Diskontinuität und hält die Konversion für vollzogen - Le pas au-delà ist ein Buchtitel von 1973. Der Beitrag zum Verständnis der literarischen Moderne, den das kritische Werk liefert, wäre dann eine Entsprechung zu Heideggers Analyse des Nihilismus und am Ende auch Blanchots Kommentar zu seinem 'Fall'.

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