Stephan Dudecks Sibirienfotos

Baustelle!


Westsibirien



fischkonservierung



fische präparieren



abwasch



nenzisches Kind



bootfahren



rentierhalter



hausfrau



alter nenze



rentierkind



alte chantinnen


philosoph



nenzischer junge

Im März 1995 fuhren der Fotograf Torsten Seidel und ich nach Westsibirien, um die Fördergebiete auf der weltgrößten Erdöl- und Erdgaslagerstätte im Autonomen Bezirk der Chanten und Mansen zu besuchen. Wir waren zu Gast beim Stammesoberhaupt der Waldnenzen, Jurij Vella, der mit seinen Rentieren in der Taiga in der Nähe der Erdölstadt Kogalym lebt. Seit 1992 beschäftigt ich mich in der Projektgruppe "Gelebte Anthropologie" (Inst. f. Ethnologie der FU Berlin) intensiv mit Westsibirien. Ich konnte auf meinen bisherigen Reisen viele Freundschaften und Bekanntschaften mit den Bewohnern dieses Gebietes knüpfen. Die Lage der indigenen Völker, der Chanten, Mansen und Nenzen, lag besonders in meinem Interesse.


Westsibirien wird von Menschen unterschiedlichster Sprache, Tradition und Kultur bewohnt. Im Süden liegt die Kasachische Steppe, im Norden die Kältesteppe der Tundra und die atomare Wüste von Nowaja Semlja. Dazwischen, im Gebiet der Ströme Ob und Irtysch, Wald und Wasser, Wasser und Wald.
Bereits während der Renaissance drangen Nachrichten aus diesem Land nach Westeuropa, Berichte vom Rand des moscowitischen Reiches, vom Land Jugra, von den Samojeden. Die Phantasie erhitzte sich an der Solotaja Baba, der goldenen Frau, einer Göttin aus Gold, die irgendwo zwischen Nowaja Semlja und den Abhängen des nördlichen Ural am unteren Ob zuhause ist. Ebenso nebulös gerieten die Erzählungen von ihren Verehrern, Wilden in Rentierpelzen, die in Zelten wohnen und mit Schlitten fahren.
Für die meisten Europäer verbindet sich bis heute mit der Region Sibirien nicht viel, mit den indigenen Völkern erst recht nichts. Da sind Vorstellungen von der Verbannung durch den Zaren oder den stalinistischen Arbeitslagern, von ewigem Frost, der Düsternis der Polarnacht und vor allem von Menschenleere. Kaum jemand weiß, daß bis zum Bürgerkrieg Butter aus Sibirien nach Europa exportiert wurde, so wie jetzt ein anderes Fett, das Erdöl. Vielleicht sind dem einen oder anderen die Lobeshymnen auf sozialistische Großprojekte noch im Ohr, auf den Bau von Staudämmen und Stahlwerken, von Erdgas- und Eisenbahntrassen, vielleicht auch die apokalyptischen Meldungen von Atomunfällen und Pipelinebrüchen. Sibirien ist kein Tourismusgebiet, noch jedenfalls nicht.
Die Beschäftigung mit den Eigenarten dieses Landes blieb in Mittel- und Westeuropa auf die Wissenschaft beschränkt, angefangen mit den westeuropäischen Wissenschaftlern, die im Auftrage der von Zar Peter I. gegründeten Akademie Sibirien bereisten, bis zu Wolfgang Steinitz, der sich, als Kommunist und Jude aus Deutschland geflohen, zu den Chanty (auch Chanten oder Ostjaken) nach Westsibirien begab, um ihre Sprache zu studieren. Eine Sprachverwandtschaft der sibirischen Sprachen der Nenzy (Nenzen oder Samojeden), Chanty (Ostjaken) und Mansi (Mansen oder Wogulen) mit dem Finnischen und anderen ostseefinnischen und wolgafinnischen Sprachen und dem Ungarischen wurde entdeckt. Lange war den Ungarn und Finnen diese Verwandtschaft zu sibirischen "Primitiven" eher unangenehm, während sie heute genutzt wird, um wirtschaftliche Interessen in der Region zu untermauern. Der russische Staat unterwarf Jugra im 16. Jahrhundert. Man war an Tributen interessiert, vor allem an Edelpelzen, die langsam in regelrechte Steuern umgewandelt wurden. Widerstand hatte gegen die mit Feuerwaffen ausgerüsteten Kosakenbanden keinen Erfolg. An der Grenze zum unbefriedeten Mittelasien wurden Kosakenstationen angelegt, überall in Sibirien befestigte Siedlungen, von denen aus die Verwaltung, Steuereintreibung und später auch Christianisierung erfolgte. Aus den Befestigungen entstanden Städte, in die zum Ackerbau geeigneten Gebiete strömten Siedler und Verbannte. Die Gebiete, die die Siedler nicht interessierten, ließ man der Urbevölkerung für ihre traditionellen Tätigkeiten, wie Rentierzucht, Fischfang, Jagd.
Aber es gab auch kulturellen Austausch, der nicht nur in einer Richtung verlief. So wird aus der Stadt Surgut am Ende des vorigen Jahrhunderts berichtet, die dortigen Russen würden sich eher einem chantischen Schamanen als einem russischen Doktor anvertrauen.
Die zweite große Besiedlungswelle ergoß sich seit den Industrialisierungsprogrammen der Sowjetmacht über das Land, besonders stark seit dem Ölboom in den 60er und 70er Jahren. Die neuen Siedler kamen aus allen Teilen der Sowjetunion, gehörten allen Nationalitäten an. Sie waren entwurzelt genug, um aus ihnen "neue Menschen", Sowjetmenschen zu machen. Für indigenen Kulturen oder Völker, für die Zivilisation der Rentierzüchter und Fischer war in diesem Bild kein Platz mehr. Eine Chantin verglich diesen aggressiven Internationalismus mit der Rassendiskriminierung in den USA.
Diese Entwicklung rächt sich jetzt. Daß unter der Oberfläche der sowjetischen Kultur eine verordnete Russifizierung steckte, zeigt sich besonders in der multikulturellen Gesellschaft Sibiriens. Hier haben Schirinowskijs Liberaldemokraten ihre Hochburgen. Aber selbst von der verwurzelten russisch-sibirjakischen Kultur ist nichts mehr geblieben. Daß niemand mehr die lokalen Dialekte spricht, und die Holzhausarchitektur sibirischer Städte den Bulldozern zum Opfer fiel, sind nur äußere Zeichen.
Eigentlich sei es falsch zu sagen, die Russen drängten die indigenen Völker Sibiriens an den Rand, meint die Chantin Agrafena Pesikowa. Russen gebe es in Sibirien nämlich gar nicht mehr. Die russische Kultur sei verschwunden, vor einem möglichen Verschwinden der indigenen Zivilisationen.

Stephan Dudeck

Bilder von Torsten Seidel und Stephan Dudeck, Archepress Bildagentur


aktuelles:

Leben mit der Taiga; Fotoausstellung und Seminar



anverwandtes:

J. O. Habecks Ewenken-Seiten

Mongolia Homepage

Allgemeines zu Indigenen Völkern Westsibiriens (z. Z. außer Betrieb)

Infoe Köln


unverwandtes:

Anorganischer Fotoresist



Diese Seite wurde mal angesehen


© Stephan Dudeck 1997