(epd) Moral, meint der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann, ist "immer ein Symptom für das Auftreten von Pathologien". Das penetrante Insistieren auf Moral steht, kommt es in den Massenmedien vor, im Zusammenhang mit dem alltäglichen "Verschweigen der unaufgeregten Normalität". Die moralische Ladung wird noch einmal verdoppelt, wo Journalismus den Skandal in den eigenen Reihen prozessiert, dem anders als mit Moral, und sei sie noch so doppelt, kaum beizukommen ist.
Ein Lehrstück in dieser Sache war der "Fall" Lutz Bertrams im vergangenen Jahr. Der blinde ORB-Starmoderator verschwand seinerzeit, der informellen Mitarbeit beim MfS überführt, zunächst in der Versenkung. Das begleitende Medienecho war vehement und zwiespältig, kreiste dort, wo es die Ereignisse reflektierte, vorrangig um Fragen journalistischer "Glaubwürdigkeit". Der Schriftsteller Jürgen Fuchs bemerkte damals in einem ORB-Bericht, er verstehe überhaupt nicht, "wie ein Journalist sein journalistisches Handwerk gar nicht macht, also dem eigenen Fall nachgeht, auch der eigenen erpresserischen Situation, in die er geraten ist, wo er wahrscheinlich, wir wollen ihm das schon glauben, einen Reisepaß wollte, eine höhere Beweglichkeit wollte, und dann eben diese Typen da vom Geheimdienst kommen, Bedingungen stellen..."
All dies ist jetzt noch einmal kompakt und gedruckt nachzulesen. Klaus-Peter Wenzel, Berliner Arzt und Publizist, hat einen Materialband vorgelegt, der Biographisches, medial Verarbeitetes und in Gaucks Akten Nachlesbares zum "Fall Bertram" dokumentiert. Wenzel präsentiert das Material wohltuend sachlich, leistet sich einen Fußnotenapparat und enthält sich weitgehend der Bewertung. Diese unaufgeregte Darstellung steht teils in frappantem Kontrast zum Inhalt, namentlich dem Medienecho. In der Rückschau wird sichtbar, wie schnell viele Journalisten seinerzeit mit Urteilen zur Hand waren, obwohl die Faktenlage nicht allzuviel hergab.
Als wenige Wochen nach der "Enttarnung" MfS-Akten mit Einzelheiten auftauchten, überschlagen sich die Spekulationen, der IM habe nahezu die komplette DDR-Rockszene bespitzelt. Danach entscheidet auch der ORB, sein Angebot einer Tätigkeit als Musikredakteur nicht mehr aufrechtzuerhalten. Hingegen antwortet in einem anderen Buch, dem bei Bertrams Verleger Christoph Links erschienenen Band "Rockmusik und Politik", ein Offizier und hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter auf die Frage nach der Bedeutung Bertrams für die zuständige MfS-Abteilung lakonisch: "Nein, diese Erkenntnisse waren für uns von geringem Wert, sie spielten für unsere Arbeit keine Rolle. Ich kannte ihn auch nicht unter seinem Decknamen. Wenn er für unsere Abteilung wichtig gewesen wäre, hätte ich ihn auf dem Tisch gehabt."
Viele Kommentare kreisten um die Frage, die Bertram in seiner letzten Morgensendung an seine Hörergemeinde stellte, auf Absolution hoffend: "Habe ich das moralische Recht nicht verwirkt? Ist das hier nicht eine sittliche Anstalt, die in einer eklatanten Weise verletzt worden ist?" Und mancher hielt dem Moderator vor, in seinen rund 3000 Radiointerviews immer wieder hartnäckig insistierend nach Stasi-Verstrickungen gefragt zu haben, obgleich er doch, wie sich dann herausstellte, selbst im Glashaus saß. Auch Wenzel zitiert Passagen aus Bertrams im Berliner Links-Verlag erschienem Buch "Huhu, liebes Radiovolk", aus Interviews mit Christa Wolf, Karl-Eduard von Schnitzler oder Sahra Wagenknecht, die mehr oder weniger deutlich die MfS-Thematik ansprechen.
"Aber wehe, wenn etwas so klar nicht aufzurechnen ist, dann kommt meist die Moral aufs Tapet", hieß es in einem Leserbrief. Ist Journalismus eine moralische Angelegenheit? Wird er unglaubwürdig, wenn diffuse moralische Prinzipien verletzt werden? Und welche wären das? Kungeleien mit Geheim- und anderen Diensten dürften auch heute nichts völlig Ungewöhnliches sein. Gibt es eine Sonderschuld, die sich nicht mit strafrechlichen Bordmitteln "bewältigen" läßt und die dennoch ein praktisches "Berufsverbot" zu verhängen erlaubt?
Klaus-Peter Wenzel bietet eine Menge Randmaterial rund um den Bertram-Fall, skizziert die Amnestiedebatte der Jahre seit 1994 und liefert eine Reihe von "Nachbemerkungen" zur Problematik der Informellen MfS-Mitarbeiter, die bis hin zu psychologischen und anthropologischen Überlegungen reichen. Weniger interessiert ihn sichtlich das journalistische Sonderproblem am Fall Bertram, die Frage, ob frühere IMs als Journalisten arbeiten können, sollten oder dürfen. Eine Frage, die in der Praxis, zum Beispiel bei Bertrams früherem Arbeitgeber, an pluralistisch besetzte Kommissionen delegiert wird, wie fast alles, was eigentlich unentscheidbar ist.
Die weitgehend wertfreie Präsentation Wenzels läßt den Leser am Ende mit offenen Fragen zurück. Bertrams immer noch lückenhafte Selbstoffenbarungen und die unvollständigen MfS-Akten erlauben kein rundes Bild. Der Moderator ist inzwischen, mangels beruflicher Alternativen, Medienberater der PDS. Zum Thema will er sich nicht mehr öffentlich äußern, jede Mitarbeit am Buch hat er abgelehnt. Dies ist, auch im juristischen Wortsinn, sein gutes Recht. (mr)
Klaus-Peter Wenzel: Der Fall Lutz Bertram. Dokumentation einer Verstrickung. Mit einem Vorwort von Christoph Links. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 1996.
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