DAVOR LÖFFLER - ÜBER DIE AUSWIRKUNGEN DER ENTDECKUNG DER ZENTRALPERSPEKTIVE Inhalt
Einleitung Einleitung Das heutige Europa mit all seinen Nationen, seinen Eroberungen und Errungenschaften wäre ohne jene Idee des florentinischen Bildhauers und Baumeisters Brunelleschi (1377-1446) wohl niemals zustande gekommen, die das gesamte damalige Weltbild förmlich auf den Kopf stellte: die Erfindung der Zentralperspektive. In jener Epoche der Renaissance keimte eine völlig neue Denkweise auf, die zum Ausgangspunkt der Expedition Europas in die neuen Kolonialgebiete nicht nur der Erde, sondern auch des Geistes und der Natur wurde. Ihren Ursprung fand diese Denkweise in den in gebildeten Kreisen aufkommenden Lehren eines Meister Eckhart (1260-1327) oder des Wilhelm von Ockham (1285-1349), zentral hierin war ”die Frage nach der intuitiven Erkenntnis, zusammenhängend damit das Individuationsprinzip” [Hirschberger, J.: Geschichte der Philosophie. Freiburg i.B. 1980, Band I, S. 560] und dem Umstand, daß man sich auf die antiken Schriften der Römer und Griechen besann und somit die europäische Kultur aufnahm, was die südeuropäischen Hochkulturen des Altertums in ihrer Blütezeit geschaffen hatten, was zu einem Sprung in der Ausdifferenzierung des vorhandenen Gedankengutes und somit zu neuartigen Weltsichten führte. Diese neuen Weltsichten erzwangen ein modernes Programm der Haltung gegenüber der Welt und dem Leben, das sich im Laufe der Epochen in folgenden Merkmalen kristallisiert hat: Der allseitige Mensch -” l'uomo universale”- kann durch seinen Verstand und das Postulat von dessen Freiheit, unabhängig von höheren Mächten dem Fortschritt des Geistes zu neuen und immer neuen Grenzen, also einer Entgrenzung des Menschen in seiner entdeckten Individualität, alles verfügbar machen und somit der Zivilisation eine systematische Kulturerweiterung mit dem Ziel des Wohlstandes ermöglichen. Unschwer erkennt man, das dies auch heute noch die gängige Ideologie ist, auf der die vereuropäisierte Welt wie wir sie sehen beruht. Diese Arbeit hat das Ziel, auf die Entdeckung der Zentralperspektive einen neuen Blick zu werfen um ihr eine grundlegende Rolle bei der Entstehung dieser Ideologie und der folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen der europäischen Geschichte zuzuschreiben. Vorbereitung der Expedition Die Mathematik ist der Schlüssel des Verstandes zur Welt, denn ihre Gesetze hat der Geist mit der Welt gemein. Die Erfahrung verrationalisiert sich in einer Regel einer mathematischen Formel, die in ihrer Logik Endgültigkeit ist. Umgekehrt wird der Verstand erfahrbar, verweltlicht, indem er eine mathematische Formel aus seinem Garten der logischen Endgültigkeit pflückt und in eine Regel transponiert. Unerlässlich hierbei ist ein Medium, eine Methode, mit deren Hilfe man die Welt abbilden kann um sie handhabbar und strukturiert festzuhalten, wodurch sich die Regeln sichern, beweisen und objektivieren lassen. In diesen ´Raum´, in dem die Welt eingefangen ist, könnte jeder Verstand hineinschauen und wiedererkennend vergleichen, ob er dieses Gewächs in seinem Garten schon fand oder erst finden muß. [Vgl. Kant, I.: Prolegomena zu einer jeden künftigen Wissenschaft, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1965, S.320] Ein Zugang zu diesem Garten ist die Empirie. Es geht im Folgenden also um Objektivität im weitesten Sinne. Im Mittelalter spielte diese keine Rolle, denn die Bibel und deren klerikale Auslegungen erforderten und duldeten keine Weltfassung, die frei auf persönlicher Erfahrung und deren Ableitungen des Verstandes beruhte; ein für sich entscheidendes Subjektives, das nur in Relation zu einem Objektiven bestand findet, bedeutete Ketzerei. Eine Idee der objektiven Bestimmbarkeit der Welt durch einzelne Subjekte widersprach dem Postulat der Unantastbarkeit, Unmanipulierbarkeit von Gottes Schöpfung, so auch jedes Menschen Leben und Seele, und der einzigen göttlichen Wahrheit. Aber bald begann sich dieses finstere Mittelalter mit dem Auftreten der ersten Geldbürger zu lichten. Im Florenz des dreizehnten Jahrhunderts florierte der Handel und dies führte zum Aufblühen der Saat, die die Scholastik in den Jahrzehnten zuvor ausgesät hatte: ungeneigt, den erwirtschafteten Reichtum und die somit gewonnene Möglichkeit eines unabhängigen Lebensstils der Kirche oder den Feudalherren zu überlassen, fanden die reichen und gebildeten Bürger Zuflucht in eben diesen neuen Ideen der Individuation und der daraus resultierenden Freiheit, Moral und Seelenheil ”objektiv” bestimmen zu dürfen (dieses ”objektiv” ist natürlich keines, diese Individuen haben nur ein von der damals zwar offenkundig morsch gewordenen aber noch gängigen Dogmatik abweichendes Programm, untereinander sind sie weitgehend gleich und bestimmen sich auch die gleichen Wahrheiten). ”Mit Ausgang des 13. Jahrhunderts aber beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen,[...].” [Burckhardt, J.: Die Cultur der Renaissance in Italien. 1860 in www.gutenberg.aol.de/burckhar/renaiss/rena201.htm] Sie durften sich also nun z.B. nach Belieben bereichern oder Gewalt an sich reißen, alte Codexe wie Ehre oder Loyalität wichen messerscharfem Kalkül und Gier, um ungehemmt das Lebensglück zu erreichen. Die Idee der Individuation entstammt zwar den Gedankenspielen der Scholastiker, die empirische Erkenntnisprinzipien an die Stelle der einfachen Annahmen und des Nichthinterfragens setzten, aber alle von ihnen waren im Grunde noch Mystiker in verschiedenen Schulen, die ihre Ausbildung und ihr Studienumfeld natürlich innerhalb der Klöster fanden; gekannt und vielgeachtet wurden später nur noch jene, die sich mit Weltlichem beschäftigten (bei Schlichtungen zwischen adeligen Machthabern und Rom vor allem) oder direkt Streitigkeiten mit dem Klerus hatten. [Vgl. Weischedel , W.: Die philosophische Hintertreppe. München 1975, S.99 und S.107ff.] Der Prozess der Individuation selbst aber, von einer Idee, einer Fassade, einer Mode eine echte internalisierte Geisteshaltung zu werden, erforderte eine Notwendigkeit oder eine Nützlichkeit innerhalb jener Konstellationen, in denen sich eine Geisteshaltung äußert, nämlich innerhalb der Gesellschaft. Diese schon oben beschriebene Gesellschaft war das bürgerliche Florenz der beginnenden Neuzeit. Es wurde erkannt, das es schlicht nützlich war, ein Individuum zu sein, denn dann konnte man sich -das Paradoxe am Folgenden ist die Pointe- mit anderen Individuen zusammenschließen und sich gegenseitig als einheitliche Bekenner zum Individualismus und der damit verbundenen Loslösung von den klerikalen Restriktionen zum persönlichen Lebensglück bestätigen. Den Inbegriff des Individuums aber , das freie Künstlergenie, gab es zu dieser Zeit noch gar nicht. Soviel zur glorreichen Heraufkunft des Individuums. Das Individuum, wenn es nun beansprucht zu existieren, muß sich eine Welt manifestieren, muß sich in einer Welt finden, in der es sich rückkoppelnd manifestieren kann, sonst verliert die Idee ihren Bestand, besonders wenn es eine Idee der empirisch erfahrbaren Wahrheit ist. Die Schnittstelle zwischen Welt und dem dem Individuum vorausgesetzten Verstand ist die Mathematik (vgl. oben). In ihren klaren Regeln läßt sich die Welt verständlich strukturieren. Die Proportionen der Kunst der Griechen (literarische, musische, abbildende - als verstandesgeformte Weltempfindungsveräußerungen) wurden mathematisch festgelegt. [Vgl. Hirschberger J.: Geschichte der Philosophie. Freiburg i.B. 1980, Band I, S. 25] Abbildende Kunst wurde im Mittelalter zumeist nur zur Illustration wichtiger Ereignisse wie Krönungen oder Vertragsabschlüssen und selbstverständlich Bibelstellen verwendet. Dabei wurden auf das flache Papier flache, zweidimensionale Figuren gezeichnet, eine naturgetreue Abbildung war nicht nötig, denn die Intention beschränkte sich auf ein Festhalten einer bestimmten Konstellation, die innerhalb der Lebenswelt eine Relevanz hatte. Man muß sich das Weltbild des Mittelalters vor Augen führen: Die Erde ist eine Scheibe, Gott waltet über ihr im Himmel. Gott schaut also von oben hinab und sieht einzelne Ereignispunkte auf der Scheibe, z.B. Menschen oder Vulkane. Er bestimmt die Dinge und deren Ablauf in einer Weisheit, die für den Menschen selbst nicht fassbar ist. Ein Geschehen kommt über den Menschen, unerklärlich, nicht nachvollziehbar. Darum ist es dem klösterlichen Maler des Mittelalters auch nicht möglich, etwas anderes als ein schlichtes Flachbild zu zeigen, es geht ihm nur um das Zusammentreffen der mit symbolischen Piktogrammen bezeichneten Ereignisträger, denn diese wiederum sind auch nur symbolische Träger des Erdenschicksal bestimmenden Willen Gottes. Proportionalität ergibt sich nur aufgrund unterschiedlich herausragender Trägerfunktionen, also der Machtverteilung: Kaiser und Papst und deren Insignien werden gegenüber deren Bediensteten oder Residenzpalästen übergroß gezeichnet, selbst Gesichter sind kaum voneinander zu unterscheiden. Dies ändert sich bekanntlich in der Renaissance drastisch. Brunelleschi, ein Baumeister, erschließt 1413 die Perspektive, die ein Hervorheben individueller Nuancen erst ermöglicht, ein In-die-Welt-Heben, ein Festhalten einzigartiger, individuell konstellierter Wesenszüge, die in die Welt hinauswirken. Dazu nahm er einen Spiegel und zeichnete auf dem Spiegel die Linien und Flächen des Abbildes des Florentinischen Domes nach. [Laurenza, D.: Leonardo daVinci - Künstler, Forscher, Ingenieur, In: Spektrum der Wissenschaft - Biographie, 1/2000, S.18] Brunelleschi analysierte die Zeichnungen und verglich sie mit seinen zentralperspektivischen Versuchsskizzen, womit er sich schließlich der beiden Axiome der zentralperspektivischen Malerei versicherte: einem Fluchtpunkt hinter dem Horizont , auf den alles zulaufen zu scheint, und die Proportionsregeln der Größe für sich entfernende Gegenstände, die mit der Euklidischen Geometrie zu fassen sind. Damit bestimmte Brunelleschi die Regeln der das echte Sehen simulierenden Perspektive. Somit fand er in erster Linie aber eben die Regeln des Sehens, der visuellen Wahrnehmung. Diese macht achtzig Prozent der Gesamtwahrnehmung und folglich dominierende achtzig Prozent der wahrgenommenen Welt aus. Empirie beruht auf der wahrgenommenen Erfahrung der Welt. Somit könnte man sagen, Brunelleschi habe der Empirie ihr erstes objektives Methodenraster, ihr erstes Regelwerk geschenkt, indem er die der Empirie vorausgesetzte Weltwahrnehmung selbst durch die Geometrie mathematisierte. Damit wird das zu Beginn des Kapitels erwähnte Medium zwischen Welt und Verstand initialisiert und aufgrund seiner schnell erkannten Nützlichkeit bald institutionalisiert. Die Perspektive ist ein Schlüssel zum Gartentor der Empirie. Ein Kompott aus den Früchten jenes Gartens ist der Individualismus. Kolonien des Geistes 1. Das Ich in der Mitte der Welt ”Methodologien” des Individualismus kennt man zum Beginn des 3. Jahrtausends viele, zuletzt die fröhlich-bunte Technogemeinde mit ihrem Slogan des ”Feiere deine Großartigkeit in einem eigenen Tanz”. Im Florenz der beginnenden Renaissance geschah Ähnliches unter den Geldbürgern. Sie feierten ihre neuen Attribute Selbstbewußtsein und Autarkie in unsagbar teuren Gemälden, die sie bei der Künstlergilde in Auftrag gaben. Porträts, deren Qualität und Kunstvollendung in der möglichst detaillierten und lebensechten Abbildung der Person bestand. Aber diese Person muß sich erst selbst entdecken, sich selbst erst in der Welt wiederfinden, eine Beschreibung des Gesichtes durch eine andere Person reicht nicht aus. [Das Wiedererkennen in einem Spiegel dient noch heute als Selbstbewußtseinsbeweis bei höheren Säugern wie Affen oder Walen.] Das eigene Gesicht muß verweltlicht werden, indem es sich im Porträt manifestiert. Dazu dient die perspektivische Malerei. Perspektive bezeichnet nicht nur den Blickwinkel, sondern auch den Standpunkt. Diese beiden Aspekte vermag die Malerei mit zentralperspektivischer Methode überhaupt erst zu vereinen. Eine gemalte Person kann nur in einem dreidimensionalen Raster erstens eine Position einnehmen und zweitens in eine Richtung blicken. Es entsteht also im Vergleich zur oben erklärten Flachmalerei eine neue Dimension an möglichen Ausrichtungen und Kombinationen der nun zu übergeordneten Objekten, Aussagen verbundenen Ereignisflächen im Bild. Dem Betrachtenden wird plötzlich bewußt, daß er sozusagen auf eine eingefrorene Szene blickt, mit sich bewegenden, lebenden da ausgerichteten Objekten. Damit wird sein Subjektives, sein Individuelles herausgekitzelt, denn er erkennt verschiedene Ausrichtungen und kann diese in Relation zu seiner Selbst setzen, weil sich alles im Gemälde um eine Achse zwischen ihm und dem genau gegenüberliegenden Fluchtpunkt befindet. Es entsteht der Eindruck, der Betrachter stehe im Mittelpunkt, da sich die Gegenstände mit ihrer Entfernung von ihm verkleinern. Das Ich in der Mitte der Welt wird somit erst geboren, wenn es die Möglichkeit anderer Ichmöglichkeiten erkennt, wenn im virtuellen Raum, im Auge des Betrachters, verschiedene Ausrichtungen legitimiert werden, da sie auf dem Bild statisch sind, aber demgegenüber der Betrachter einen Status für jede Situation wählen kann und sich das agile Individuum im und als Relationszustand zum im Moment Anderen erfährt. Die Idee Individuum findet ihre Bestätigung erst in der Erfahrung, die Welt an einem perspektivischen Raster brechen zu können. Auf das Prinzip dieses Rasters kommt man aber nur mit Brunelleschis Entdeckung. Ein verdeutlichendes Beispiel: einem zweidimensional ohne Tiefe gezeichneten Vogel ist nicht einmal die Flugrichtung zu entnehmen, einem lebensecht räumlich gezeichneten aber sogar vielleicht noch dessen Befinden oder Geschwindigkeit. Folglich ermöglicht ”perspektivisches Weltrastern” erst ein Ent-decken verschiedener Statu und den damit verbundenen Wirkungszusammenhängen. 2. Die Welt um die Individuen Damit zapft sich der Mensch auch von dem ab, was wir heute als Natur bezeichnen. Ein Gemälde besteht im Grunde nur aus farbigen Flächen. Man stelle sich vor, daß ein oben erwähntes Ereignisbild des Mittelalters aus dem Papier o.ä. hochgeklappt und komprimiert wird. Es entsteht eine Fläche mit einer bestimmten Farbe. Im dreidimensionalen Bezeichnungsraum kommt einer Fläche wie im zweidimensionalen eine Funktion zu, sie ist Träger einer bestimmten Aussageintention. Aber hier in einem grundlegend anderen Zusammenhang, hier werden mannigfaltige Aussageintentionen durch unendliche Kombinationen ermöglicht. Es entsteht eine Zeitlichkeit. Bei einer fortlaufenden Hausfassade muß die weiter entfernte Wandfläche kleiner gezeichnet sein als die nähere. Dies impliziert einen Unterschied in der Erreichbarkeit, Distanz umgrenzt die eigene Weite, was näher am Körper ist, ist auch zeitlich schneller erreichbar. Distanz ist also über Zeit fassbar. Zeit ist die Grenze zwischen der Natur und der dem Individuum implizierten Lebens- , also Wirkungssehnsucht, denn der Mensch kann gegen das Chaos oder den Zufall oder Gottes Willkür nur den Versuch der Vorausberechnung der kommenden Ereignisse setzen, dies erfordert aber eine präzise Vereinheitlichung der Geschehensmöglichkeiten, z.B. in einer Sekunde, und deren numerisch-systematische Einteilung, um optimal wirken zu können. Hängt man viele zu Flecken komprimierte Ereignisflachbilder hintereinander, entsteht folglich Entwicklung. Je feiner das ”Entwicklungsraster” ist, desto mehr Wirkungsflächen pro Zeiteinheit entstehen, dadurch kommt es zum Eindruck einer Beschleunigung der Zeit, da mehr Ereignisse pro Zeiteinheit zu bewältigen sind. Zentralperspektivisches Malen enthält also immer die Möglichkeit, Zeit und Raum zu ´über-sehen´ mit Hilfe einer verstandesimmanenten Logik. Logische Entwicklung ist Kultur (da der Mensch versuchen kann innerhalb seines Gartens zu finden, was seine Sehnsüchte stillt), unlogische ist Natur (da die Natur das ist, was er noch nicht beackert hat und nur zufällig für das Individuum Sehnsuchtsstillendes wachsen kann). [Vgl.: "Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg der Menschen."; aus Le Corbusier: Städtebau. Übersetzt und hg. v. Hans Hildebrandt. Stuttgart 1929, S.10] Zwischen dem Betrachter des Bildes und seinem entfernten Gegenüber, das ja eigentlich in ihm selbst ist, baut sich eine Welt der zeitlichen und teilweise fassbar logischen Welt auf. Jenes Ich im Fluchtpunkt ist die Manifestierung eines angenommenen zukünftigen Ichs, denn da könnte Ich auch sein. Das Individuum ermöglicht sich selbst durch die Annahme, es gäbe eine Entwicklung bis hin zum Fluchtpunkt, zum Jenseitigen, auf die es zurückblicken könnte um festzustellen, wo es wirkte und wo nicht, wo es gewesen war, also lebte und wo nicht. Jeder Betrachter aber sieht ein anderes Bild, achtet auf andere Dinge, weshalb Interpretationen so wichtig sind, da sie die Interpretierenden in ihren Sichten auf das Bild einen und objektive Weltschau simulieren - und sie damit die logischen Entwicklungen und Zusammenhänge rezipieren, also Kultur schaffen durch Interpretation. Das Individuum erschafft sich selbst in seiner Wirkfreiheit auf dem Weg zum Fluchtpunkt und wenn es bestrebt ist, an soviel wie möglichen Ereignispunkten zu wirken, ist sein Ideal der allseits gebildete Mensch, das höchste Kind der neuzeitlichen Kultur. Goethe schreibt: ”Willst zur Unendlichkeit du schreiten, geh nur nach allen Seiten.” Der Homo Universalis ist geboren. Und Natur als dessen bedingende Nemesis. Kolonien der Natur ”Wo irgend ein gelehrter Mann seinen Sitz aufschlägt, da ist gute Heimat.” [Ein unbekannter Gelehrter: Codri Urcei vita, zit n. Burckhardt, J.: Die Cultur der Renaissance in Italien. 1860, in www.gutenberg.aol.de/burckhar/renaiss/rena201.htm] Wie denn? Ist um den Gelehrten, wenngleich er ein Mann ist, kein Ort auf der Welt mehr unheimlich? Heute wissen wir, daß es sich Gelehrte schon an den unwirtlichen Polen der Erde und sogar auf dem Mond bequem machen können. Aber was haben sie mitgenommen, was befähigte diese Gelehrten, was macht sie aus? Als der Renaissance- mensch, Anwärter zum Homo Universalis, die weitgefächerten Möglichkeiten erkannte, der Welt mittels der Methodik der Perspektive habhaft zu werden, begann seine geplante Dressur der Natur. 1. Die Natur im logischen Verstand Natur im Gegensatz zur Kultur ist nicht voraussehbar und nachvollziehbar. Sie ist das zu fürchtende, plötzliche und zufällige Geschehen, das chaotische Wilde, das Undurchschaubare. Nachdem das Weisheitsmonopol Gottes gefallen war, machte man sich daran, dieses Weltenchaos, den komplizierten Knoten der Wirkungsstränge aufzudröseln und auf verstandesmäßig fassbare Gesetze hin zu prüfen. Mit Hilfe der zentralperspektivischen Zeichnung kann man in der Realität Vergängliches, Vorüberrauschendes umfangen, einfangen und zähmen. Erst eine zentralperspektivische, technische Zeichnung eröffnet dem Menschen den Zugang zu jenen Räumen, in denen die endgültigen Gesetze herrschen, die die Natur ausmachen. Ermöglicht wird dies durch die mediale Funktion der Perspektive: sie dient als Verbindung zwischen dem Verstand und der empirischen Welt, indem sie einen virtuellen Raum erschafft, worin sich Verstand und Natur in ihrer gemeinsamen Mathematik spiegeln können. Die Geometrie mit ihren in der Renaissance und Antike nur sehr wenigen verständlichen und handhabbaren Grundformen wie des Kreises oder des Würfels vermag die im Bild lebensecht nachgeahmte Welt sozusagen häppchenweise, verstandesgerecht zu tranchieren. Dadurch entstehen kleine, untersuchbare Elemente, die in ihrer räumlichen und zeitlichen Virtualität auf ihren Kausalnexus hin untersucht werden können. Das obige Beispiel des Vogels erweitern wir nun um einen Jäger mit Pfeil und Bogen: im zweidimensionalen Bild sind der Vogel und der Jäger nur repräsentativ, flach gezeichnet, in einem möglichen zweiten Bild sieht man Jäger, Vogel und Kochtopf. Man erkennt hier nur das Zusammentreffen der Figuren, deren Ausrichtung, Intention und Wirkungsweisen aber bleiben der Willkür oder der Erfahrung überlassen, über die wahren Zusammenhänge lässt sich keine objektive Aussage treffen, da es von Kultur zu Kultur unterschiedlich angesehen und darum unterschiedlich wahrscheinlich ist, daß Menschen Vögel jagen und dann womöglich kochen und essen. [Hätte sich Marco Polo auf den Reisen durch den fernen Osten der perspektivischen Zeichnung bedienen können wären seine Berichte wohl glaubhafter gewesen.] Weil sich in einer zweidimensionalen Art der Abbildung keine zeitliche Abfolge entwickeln kann, sind die genauen Wirkungszusammenhänge auch nicht ableitbar. Ganz anders verhält es sich in einem perspektivisch lebensecht gezeichneten Bild: es ergeben sich klare Sinnzusammenhänge, da ein solches Abbild eine dynamische Szene einzugefrieren vermag und somit Zeitlichkeit, also Entwicklung, durch die Ausrichtung oder Intention der Figuren suggerieren oder simulieren kann. In unserem Beispiel wäre es möglich zu erkennen, welchen Vogel der Amazonasindianer auf ungefähr welche Entfernung mit einem wie beschaffenen Pfeil und Bogen jagt - und wenn dem Vogel eine bestimmte Richtung und Geschwindigkeit hinzu gemalt wurde, könnte man sogar den Vorhaltepunkt des Jägers berechnen, damit der Pfeil gleichzeitig mit dem Vogel einen bestimmten Ort erreicht. Ein perspektivisch gezeichnetes Abbild impliziert also Entwicklung, die in ihrer raum-zeitlichen Virtualität auf ihre Logik und ihren Nutzen geprüft werden kann. Um jedoch die genaue Entwicklung, hier des Pfeilfluges, vorauszusehen, braucht man deren Gesetze, umgekehrt sind Entwicklungen auch auf ihre Gesetze hin untersuchbar, die Empirie muß vorher aber eines von beiden entdecken (solche Gesetze nennt man heute Naturgesetze). Diese vom gelehrten Menschen im Garten der Logik aufgefundenen Gesetzmäßigkeiten, Muster und Regeln, lassen sich in der Virtualität der Perspektivzeichnung züchten und kultivieren. Es entsteht ein zufallsfreier Raum, in dem nur die dem Verstand bekannten oder dem Erforscher relevanten Regeln ablaufen und er sozusagen aus der Welt heraustranchierte Gesetzesklumpen in einzelne Stränge zerkauen kann. Entwicklungen kann man simulieren, die Wirkung von Gesetzen ebenfalls, jedoch nur in einem stark umgrenzten, überschaubaren Rahmen. 2. Der Verstand in der logischen Natur Die Komplexität der Naturwirkungen ist also in diesem Rahmen, in diesem virtuellen Raum ausgeschlossen. Es entsteht ein von der Natur mit ihrem chaotischen Charakter abgespaltener Zustand der Künstlichkeit. Um aus einem Experiment die notwendig objektiven Schlüsse ziehen zu können, muß sich der Vorgang während des Experiments bei gleicher Anordnung immer gleich wiederholen. Dies ermöglicht nur der künstliche Zustand ohne natürliche, zufällige Einflüsse. Diese Künstlichkeit bietet die Perspektive. Wenn die gesamte Welt perspektivisch, geometrisch aufgerastert ist, ergibt sie sich als ein großer Komplex mechanistischer Wirkungen, es ergibt sich eine unendliche Vielzahl an Kombinationen und Variationen ihrer Wirkungen und Elemente. Diese Variationen sind aber eben auch künstlich herzustellen im virtuellen Raum der Methodik der Perspektive. Das Feuer als frühe Kulturleistung stellt eine solche künstliche Variation der naturimmanenten Elemente und Wirkungen dar, die sich in der Form des Lagerfeuers aus der Künstlichkeit in die Welt hinausstülpen konnte, denn außerhalb des kulturmenschlichen Wirkungsgrades würde es verlöschen. Folglich macht sich der Kulturmensch in Fliesgleichgewichten gefangene und methodisch-wissenschaftlich gezähmte Entwicklungen der Naturgesetze zu seinem Nutzen. Diese Entwicklungen nehmen nur ihren Lauf, wenn Menschen sie antreiben. Demnach ist es dem Menschen und der Kultur der nützlichste, reibungsloseste und am meisten energieerhaltende Weg zu überleben, die Entwicklung der gezähmten Naturentwicklungen bis zum maximalen Wirkungsgrad fortzutreiben. In der Technik ist eben diese Nutzbarmachung der Naturgesetze in der Ausdehnung der Künstlichkeit auf die gesamte Welt durch ihre mathematische Rasterung in der Perspektive realisiert. Wenn die gesamte Welt gerastert ist, ist sie mathematisiert und kann nun in Künstlichkeit versetzt werden. Sie wird technisierbar und manipulierbar. Ohne die Idee der perspektivischen Weltanschauung ist dies nicht geplant möglich. Die ”Entzauberung der Welt” beginnt. Der Gelehrte ist nur dort ein Kosmopolit, wo er sein Weltrastern, seine Kategorien anwenden kann. Er ist in der Welt zu Hause, die er sich zu seinem zu Hause macht. Tief unter der Erde oder weit im Himmel, immer trägt er seine Kultur mit sich, immer trägt ihn seine Kultur dorthin. Gewächse der Kolonialgebiete Kolumbus wurde von seiner Kultur nach Amerika getragen und er trug sie mit sich dorthin. Die Studien der Antike führten auch zu einer Wiederentdeckung der Berechnungen des Erdumfangs von Ptolemäus, welche er sich als eine Kugel vorstellte. Dessen Berechnungen ermutigten Kolumbus, den westlichen Seeweg nach Indien zu suchen. [Dr. R. H. Tenbrock, Prof. Dr. K. Kluxen, Prof. Dr. H. E. Stier (Hrsg): Zeiten und Menschen, Band I München 1970, S. 108] Diese Annahmen widersprachen dem damals noch vorherrschenden aristotelischen Weltbild völlig, das die Erde als eine Scheibe darstellte. Kolumbus war sich wohl sehr sicher und entdeckte 1492 Amerika im Glauben, Indien erreicht zu haben. Die notwendigen Hilfsmittel der Weltumseglung waren der erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts in der Seefahrt aufkommende Kompass und das Astrolabium des Hipparch (ein Vorläufer des Sextanten), mit denen die Erde in ein geometrisches Raster eingeteilt werden konnte. Mit diesen Hilfsmitteln wurde die Erdoberfläche in kleine mathematische Teile zerschnitten, immer entlang der festen Nord-Süd Achse. Diese ist analog zu der festen Linie zwischen dem Betrachter und dem ihm entgegengesetzten Fluchtpunkt innerhalb perspektivischen Zeichnung, immer zieht sich diese Linie nach oben, nach hinten vom Betrachter aus weg, welche Position er auch einnimmt. Die Möglichkeit, der Welt ein solches geometrisches Schema aufzuerlegen wird folglich erst mit der Geometrisierung, der Perspektivierung der Welt erkannt. Die Folgen dieser Perspektivierung führten zur Überlegenheit der Anwender dieser Methoden, also zur überseeischen Expansion des lateinischen Europas mit all ihren die Weltgeschichte determinierenden Auswirkungen wie der Unterwerfung und Auslöschung der Kulturen der kolonisierten Gebiete oder dem Anreifen der USA zur Supermacht, selbst das ”moderne” Schlagwort der Globalisierung war ja im Grunde auch der Antrieb jener damaligen Expansionen. Die perspektivische Weltsicht führte zur Annahme einer runden, sich um die Sonne drehenden Erdenkugel, bewiesen wurde sie aber erstmals von Kepler (1400-1499), geriet aber erst später zur Kopernikanischen Wende. Kopernikus bewies mit einem mathematischen Modell das heliozentrische Weltbild und nahm dem Menschen mit seiner Astronomie den ersten Rang unter den Wesen des göttlichen Kosmos. Dieses Modell, das zu einem Paradigmenwechsel führte, der dem Menschen sein Auf-sich-allein-gestellt-Sein in einer Welt von vielen zu Bewußtsein brachte, ist nur innerhalb eines perspektivischen Raumes möglich, jener Virtualität, die Vektoren zur Unterteilung von Zeit und Raum enthält. Die Folgen sind spätestens über die Philosophie in die Kultur eingeflossen, was sich am Beispiel der Wirkung von Kants Philosophie verdeutlicht, die die kopernikanische Wende erst vollzieht, indem Kant darlegt, daß die Gegenstände der Erkenntnis sich nach dem Menschen richten müssen und nicht umgekehrt. [Hirschberger, J.: Geschichte der Philosophie. Freiburg i.B. 1980, Band II, S.289] Dieser Ansatz hilft dem Menschen, sich nach dem Verlust der behüteten Sonderstellung zurecht zu finden. Die gesamte Aufklärung mit ihren tiefgreifenden Folgen über die Französiche Revolution mit den Ideen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gedankenfreiheit, der Etablierung des Individuums für jeden Vernunftbegabten mit all ihren notwendigen Elementen wie dem Anrecht auf jede Information zur Ermöglichung der eigenverantwortlichen Entscheidung, also einer Voraussetzung der modernen Medien, beruht folglich auf dem aus dem Blickwinkel der Zentralperspektive entstandenen Kopernikanischen Paradigmenwechsel. Die Geräte, mit denen Astronomen wie Kepler, Galilei und Kopernikus auf das neue Weltbild stießen, bestanden aus sinnvoll angeordneten, geschliffenen Linsen. Wie im 4. Kapitel dargestellt, wurden im virtuellen Raum der Perspektive, der Schnittstelle zwischen Verstand und Welt, neue Kombinationen bestimmter Gesetze und Elemente erprobt, bis die Linsenkrümmung gefunden wurde, die das einfallende Licht zum wahrnehmenden Auge im richtigen Winkel brach (man vergleiche dazu Leonardo´s Studien der Optik, die alle auf dem Zeichenbrett entstanden) [Laurenza, D.: Leonardo daVinci - Künstler, Forscher, Ingenieur, In: Spektrum der Wissenschaft - Biographie, 1/2000, S.8 sowie S. 93ff.]. In den neuzeitlichen Maschinen und Automaten verwirklicht sich die Möglichkeit der Kultur, künstliche Energieflüsse in Fliesgleichgewichten einzufangen und sie zu nutzen. Keine komplexe technische Apparatur ist aber ohne eine präzise Zeichnung ihres Planes möglich, die die genauen Maße der (geometrischen) Formen wiedergibt. Vor jeder technischen Anwendung wird die perspektivische Weltrasterung angewendet, um nutzbare künstliche Objekte in die Welt zu setzen und die Welt stellenweise in eine Künstlichkeit zu versetzen. Der technische Fortschritt und die Naturwissenschaften sind also ein der perspektivischen Weltsicht immanenter Prozess, allein schon wenn sie ganz koscher um das Wissen um des Wissens willen betrieben wird. Es wird sogar das Allerheiligste, Unantastbare in Segmente zerschnitten: der menschliche Körper. Die neue perspektivische Weltsicht verlangt ein Sezieren des Wahrgenommenen und so geschieht es in den frühen Universitäten, daß unter Geheimhaltung die ersten Leichen geöffnet und untersucht werden. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit wird hier der Mensch selbst ein Mathematikum, ein dem logischen Verstand habbarer Gegenstand. In der frühen Medizin vollzieht sich die Trennung von Seele und Leib, welche die Geistesgeschichte der gesamten Neuzeit maßgeblich beeinflußt hat. Der Leib kann sich die Welt nur bedingt gefügig machen, eben soweit seine Organe in die Welt hineinreichen. Der Verstand aber vermag mit Hilfe der Perspektive Technik zur Entgrenzung des körperlichen Wirkungskreises zu schaffen, indem technische Apparaturen seine Organe und Sinne entlasten, überbieten oder ersetzen, wie Arnold Gehlen darlegt. [Vgl. Gehlen, A.: Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, S.8f. sowie: Anthropologische Forschung, Hamburg 1961, S.93 f.] Somit läßt sich der Wirkungskreis innerhalb eines perspektivischen Weltmodells im Grunde bis zur Unendlichkeit, nämlich dem Fluchtpunkt hinter dem Horizont vorantreiben, man muß das Wahrgenommene nur immer weiter, immer feiner quantifizieren und geometrisieren, es in manipulierbare Künstlichkeit versetzen. Ohne die Idee eines solch mächtigen Werkzeuges zu kennen, hätte Calvin nicht den Ruf des alttestamentarischen Gottes hören können: Machet euch die Erde untertan. [Weber, M.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hg. v. Paul Siebeck, Tübingen 1934, S.92 Fßnt.] Die von Max Weber aufgezeigte Entstehung des Kapitalismus aus dem Protestantismus und Calvinismus hätte nicht stattfinden können. Auch die Akkumulation des Kapitals wurde erst durch die Anwendungen der Perspektive ermöglicht, denn die Entdeckungen der ausbeutbaren Kolonien rund um die Erde (vgl. oben) , so Marx, ”....bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.” [Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1: Der Produktionsprozess des Kapitals. Frankfurt/M 1969, S. 694] Der Aufstieg des Unternehmers, des Bürgertums und der Stadt sind unmittelbare Folgen. Die Medizin und Anwendung der Technik führten zu einem stetig steigenden Bevölkerungswachstum. Je mehr Menschen es gab, desto dringlicher wurde eine Harmonisierung der Kräfte innerhalb der Gesellschaften. Notwendig ergaben sich Superstrukturen wie heutige bürokratische Rechtsstaaten oder das morgige ”Globale Dorf”, um die Massen in effizienten Einklang zu bringen. Aus diesen Skizzen wird ersichtlich, daß sich die Entwicklung Europas mit allen Implikationen für die übrige Welt ohne die Entdeckung der Zentralperspektive nicht vollzogen hätte. Samen aus den Kolonien Die Kehrseite der Medaille wird dem entgrenzten Europäer und allen ”Vereuropäerten” allmählich bewußt, denn Grenzen des Wachstums der Entgrenzung zeichnen sich langsam auch am Horizont der 1. Welt ab. Das weltumspannende Prinzip der Perspektive des neuzeitlichen Menschen in seiner Sezierwut und der Besessenheit, alles zu seinem Wohl hin zu manipulieren, stellt sich mehr und mehr als lückenhaft, für manche sogar schon bedrohlich dar. 1. Der Schmetterling und die Stadtmauer Das Verständnis für die Welt ist mittlerweile soweit vorgedrungen, daß es erkannt hat, daß gewisse Dinge nicht weiter verstanden werden können. Zumindest nicht mit dem Modell des Perspektivenprinzipes (Diese Erkenntnisse dämmerten ungefähr gleichzeitig mit dem Wechsel der wissenschaftlichen Hauptsprache auf, die um die letzte Jahrhundertwende vom Lateinisch-Griechischen ins Angelsächsische wechselte). Das Rutherfordsche Atommodell mit seinen sich drehenden Kügelchen hat sich als sehr krückenhaft herausgestellt, da es mit seinem perspektivisch-geometrischen Charakter den wirklichen Quantenzuständen überhaupt nicht nahe kommt; die Zweiwertigkeit des Lichtquants läßt sich nun nicht mal mehr als Modell grob darstellen: betrachtet man es als Teilchen ergeben sich andere Erfahrungen als wenn es als Welle untersucht wird, beides zugleich geht nicht im perspektivischen Weltbild und somit nennt man es ein Paradoxon. Dies sind zwei sehr frühe Beispiele, die die Unzulänglichkeit des perspektivischen Weltrasters aufzeigen. Wohl hat man damit diese Tiefen erreicht, aber wie oben dargelegt dient die Verfeinerung der Untersuchungsnetze eben dem manipulierenden Verstand, der Künstlichkeits- und Kulturnutzungsraum wird damit weiter augedehnt. In die Bereiche der Quanten läßt sich zwar virtuell hineinblicken, aber nicht mehr zielgerichtet eingreifen, wie Heisenbergs Unschärferelation verdeutlicht. Trotz dieses Wissens um die vom Verstand mit Hilfe des perspektivischen Weltrasterns nicht mehr fassbare Komplexität der Welt versucht der Mensch die Entgrenzung weiter zu treiben ohne Rücksicht auf sein Unvermögen, die von ihm betretenen Reiche auch zu steuern. Im perspektivischen Weltbild kann es keine Objekte geben, die nur eine Wahrscheinlichkeit sind: wie sollte man Schrödingers Katze in einem dreidimensionalen Bild malen? Wie soll man die fraktal-chaotischen Verlaufsentwicklung eines Sturmtiefs oder eines Massenauflaufes präzise geometrisieren um sie vorausberechnen zu können oder die Auswirkungen eines Liters Öl auf die Biosphäre eines Nebenflusses des Amazonas beschreibend zeichnen? Das perspektivische Netz stellt sich zunehmend für zu grobmaschig für die Wirkungen der zum Selbstläufer mutierten Kulturtechniken der Neuzeit heraus. Die willentliche Manipulierbarkeit der Welt findet dort ihr Ende, wo die Manipulierenden nicht mehr unterscheiden können was Natur und was Künstlichkeit ist (vgl. Kapitel 4). Durch die Geometrisierung der Welt entsteht dem neuzeitlichen Menschen aber eben dieser Eindruck, er versucht sich nach wie vor jede Sehnsucht sofort (also entgrenzt) und ohne Rücksicht auf nicht unmittelbare Folgen zu erfüllen. Da sich die Auswirkungen der europäischen neuzeitlichen Kulturethik mittlerweile über die ganze Erdkugel wölben, greifen die damit verbundenen Probleme wie die Umweltverschmutzung global, was eben zu einer Gefährdung allen Lebens auf dem Planeten führen kann. Statt der Ethik der Gefügigmachung wäre eine neue Ethik der Unantastbarkeit angebracht, wie sie z.B. Hans Jonas nahelegt. 2. Synthetisches Menschenleben Die Konsequenz dieser Berechnungswut führt auch dazu, daß der Mensch selbst ein auf seine Regeln hin sezierbares Objekt wird. Die Seele und der Leib werden als manipulierbare und optimierbare Werkzeuge zur Erlangung des Glücks angesehen. Die überbordende Psychologie und die Genforschung sind die aktuellen Ausstülpungen dieses Strebens. Der Westmensch wird Gott: der Verstand verselbstständigt sich und löst sich von allen Schranken, der Wille steht über Natur und Welt. Über der Natur, die auch den zum Fetisch verkümmerten Körper enthält. Mit seinem Charakter der Anfälligkeit auf Unwohlsein und geometrisch unästhetischen Form wird er in Künstlichkeit versetzt wo es nur geht: Unnatürliche Muskelformen, unnatürliche Gemütszustände, Makellosigkeit. Amerika hat Europa darin nur die Konsequentheit voraus, alles wird zum Produkt. Die Folgen der ausgeloteten Möglichkeiten der Gentechnik für die Gesellschaft sind nur zu erahnen, aus heutiger Sichtweise besteht aber wohl eine Gefahr darin, wenn sich natürlich entstandene Menschenoriginale, also Individuen, künstlich herstellen lassen. Eine auf den Idealen Meinungsfreiheit und Pluralismus beruhende Staatsordnung wie die demokratische (die zur Zeit als die ”beste” oder ”gerechteste” bezeichnet wird) würde angesichts künstlicher, also vorkategorisiert erschaffener Menschen keinen Sinn mehr ergeben. Das Ideal der Erfüllung der Gleichheit im sozialen Leben, der schützende Überbau des Individuums, würde zerbröckeln. Es gäbe keine andere Wirklichkeit mehr außer dem Wirkungskreis des Menschen, und dies würde bedeuten, daß auch menschliche Unzulänglichkeiten mehr denn je in den Apparat der Kulturrezension miteingebaut werden würden mit der Folge der Entwicklung zum selbstreferentiellen Überwachungsstaat. Schluss Die Entdeckung des Perspektivenprinzips schleuderte den Menschen in eine neue Dimension an Wirkungsräumen, die er bis heute auch gründlich ausgeschöpft hat. In Anbetracht der Folgen für den Planeten aber ist ein Wandel der Geisteshaltung innerhalb der beherrschenden, "perspektivenutzenden" Kulturen unumgänglich: Entweder ändert sich der Mensch oder die Welt. Vielleicht rauschen wir Europäer, genau wie die Menschen des Spätmittelalters, auf eine neue Weiche der Geschichte zu. Und hoffentlich ist sie nicht aufs Abstellgleis gerichtet. |