Bernd Ternes

Der Zufall des Schicksals Mensch
versus
Schicksalsproduktion am zufälligen Menschen

Masse, Maß, Medium: Menschsein wider Form

"Entscheidung wollen, heißt nicht mehr Schicksal ergreifen, sondern in sicherer Machtstellung gewaltsam sein"
Karl Jaspers,
Die geistige Situation der Zeit, (1932),
Berlin/New York 1979, p71


"Es ist gefährlich, dem Menschen zu eindringlich vor Augen zu führen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm seine Größe zu zeigen. Und es ist weiter gefährlich, ihm zu eindringlich seine Größe ohne seine Niedrigkeit vor Augen zu führen"

Blaise Pascal,
Gedanken, (um 1670),
Stuttgart 1997 
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Auch knapp 400 Jahre nach Beginn dessen, was man Neuzeit, Aufklärung, Moderne und moderne Gesellschaft zu nennen pflegt, stecken Menschen weiterhin inmitten dieser Katastrophenzeit, die sich im Vergleich zu den vorangegangen Zeiträumen ausnimmt wie eine Atomexplosion zu einem normalen Gewitter. Die Führung in der Gestaltung eines neuen Niveaus der Dosierung gesellschaftlich wirksamer Destruktion, Kreation und Produktion übernimmt zur Zeit ein reflexiv in die kannibalische Phase eintretender Kapitalismus. Dieser gibt Anzeichen dafür, daß in seiner wesentlichen kreativen Destruktions-Produktivkraft, der verwissenschaftlichten Technologie, der Versuch unternommen wird, von einer sicheren Machtstellung aus nun gewaltsam Entscheidungen zu wollen, also im Jasperschen Sinne Schicksal zu ergreifen. Was Jaspers noch durch einen Gegensatz trennte - Schicksalsergreifung in der Dimension des Menschsein-Daseins auf der einen Seite, gewaltsame Machtergreifung in der Dimension der Durchsetzung einer bestimmten Menschsein-Form auf der anderen -, scheint sich nun aneinander anzuschließen: und zwar technisch operational. Kann man für diesen Anschluß - mit einiger Grobschlächtigkeit, gewiß - in Hegels Figur des absoluten Geistes die idealistisch-philosophische Vorläuferin erkennen, der Geist, der vom Himmel gestiegen ist und sich schon in den Straten des Geschichtlichen bewegt (und Gespenster produziert), um dann doch die Stillstellung von Geschichte in der Zukunft zu betreiben (eigentümlich formuliert: Kairos resorbiert zeitliche Geschichte, um Chronos als Form arbeitslos zu machen), bewegt sich der Geist heutzutage in den Straten der Kombinatorik des Genoms und der Biologie. Es ist der biologische, nicht mehr ausschließlich der geschichtliche Mensch, der jetzt in eine restrukturierte Politökonomie eingespannt wird.
Es ist z.B. bezeichnend, daß ein Essay über Stand und Forschung des sogenannten Genomprojektes plötzlich die Überschrift trägt: Vorstoß ins Innerste des Menschen (Ernst-Ludwig Winnacker, in: Du, Heft 702, 1999/2000, p44-47). Das Innerste: das Erbgut.
Ja, man könnte fast eine perfide Neubesetzung erblicken, die darin besteht, daß der Vorgang, der nach Marx die politische Emanzipation der bürgerlichen Epoche überwindet und zur menschlichen Emanzipation führt, wenn und genau wenn der wirkliche individuelle Mensch in seinem individuellen Leben, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden sein wird , sich heute nur dann mit solch Ziel einstellte, wenn der wirklich individuelle Mensch in seinen individuellen Verhältnissen ein biologisches Wesen geworden sein wird.
Siehe hierzu die Auseinandersetzung Dietmar Kampers mit der Marxschen Unterscheidung politischer und menschlicher Emanzipation in seinem Aufsatz Das Ende der bürgerlichen Revolution. Grundlinien einer Logik der Geschichte, in: derselbe (Hg.): Abstraktion und Geschichte. Rekonstruktionen des Zivilisationsprozesses, München/Wien 1975, p180-204, hier: p186ff.
Kann man - Grobschlächtigkeit auch hier - in den Konzepten der materialen Geschichtlichkeit von Menschen, der formalpragmatischen Aktualisierungsdimension des kommunikativen Handelns als Monitor eines im anthropologischen Substrat Gebundenden, und schließlich im Konzept des Körpers als "subjektiver Faktor" Gesellschafts- und Menschenbilder ausmachen, die die Aufgabe übernahmen, die Nichtfestgestelltheit des Tieres namens Mensch zu behaupten, also sich gegen die Naturalisierung des Menschen stellen, die als Konvergenz der Menschenwelt auf sich selbst behauptet wird, so ist man zur Zeit auf einen in sich vielfältigen Körper-, Geist- und Lebewesenkonservatismus verwiesen, will man dem neuen, asozialen Vergesellschaftungsschub, der sich den Menschen als körperliches Lebewesen aneignet, irgend Paroli bieten. Aber das kann nicht das letzte Wort sein; und sollte es auch nicht. Denn wenn man die neusten statthabenden und schon jetzt im Prospekt einsehbaren "Anthropotechnologien" nicht anthropologisch-historisch dekontextualisiert, dann sind ebendiese Technologien auch Fälle des schon 30 000 bis 100 000 Jahre anhaltenden Sachverhalts, daß mit der Erschaffung des Menschen die natürliche Auslese selbst transformiert worden ist.
Jon Elster, Subversion der Rationalität, dt., FFM/New York 1987, p46.
Und zwar durch die Konkurrenzierung der Mutation mit Information, Kommunikation und, wie es aussieht, Technologie. Wer sich also gegen die jetzt praktisch werdende, ins Menschenfleisch vorstoßende Transformation durch die Bio- und Gentechnologie ausspricht, scheint gezwungen zu sein, plausibel zu machen, warum diese Transformationsgestalt keine ist, die auf der exzentrischen Positionalität des Menschen ruht, sondern eher eine ist, die diesem einen Herstellungsreich angehört, von dem Günter Anders sagt, daß wir uns dieses Reich schon längst nicht mehr vorstellen können. Man müßte also nachvollziehbar machen können, warum die infrage stehenden Anthropo-Technologien weder die Unfreiheit minimieren, die in der menschlichen Ohnmacht besteht, Affekte zu mäßigen und zu bezwingen, noch die Gewalt des Schicksal verkleinern, indem sie den Menschen wieder ein Stück weiter in den Bann der eigenen Gewalt stoßen. Man müßte zeigen können, daß die Gewalt des Schicksals und die menschliche Unfreiheit mit der Vergesellschaftung der "Biotechniken" (als Erweiterung der sattsam bekannten "Kulturtechniken") zunimmt, ohne sich einer Referenz zu bedienen, die sich mehr oder weniger implizit einem platten religiösen oder sozialdarwinistischen Menschenbild verdankt. Aphoristisch gefragt: Hat der Mensch ein Recht auf eine bestimmte Verhältnismässigkeit von Zufall und Schicksal, ein Recht auf eine sogenannte Latenz des Daseins? Gibt es materiale und historische Limits für das, was dem Schicksal und was dem Zufall zufällt? Oder erleben wir zur Zeit nur eine schneller wachsende Erkenntnis darüber, daß die soziohistorische und die soziokulturelle Verfasstheit von Menschen durch und durch intermediäre, interime Organisationsweisen der Menschen sind, Qua(u)lquappen, die sich immer als Frösche fehlidentifizierten? Auf den Menschen bezogen hieße das: Besitzt er eine Disposition für alle möglichen Inhalte und Machenschaften (d.i. die kulturelle Nulllage bzw. die Unterbestimmtheit des Menschen), die sich aber nur als beschränkte realisieren lassen, beschränkt im Sinne von Formvorgaben (die Inhalte wären Zufall, die Form Schicksal)? Oder erlaubt es die Disposition des Menschen, schicksalshafte Formen als noch verhinderte zufällige Inhalte zu bestimmten, die in einer noch zu findenden Form zweiter Ordnung dann zu zufälligen Formen werden und damit ein neues Niveau immanenter Unendlichkeit realisierten, eine Unendlichkeit, die sich nach der Information (das Digital) und der Energie (das Atom) nun auf die 'primäre Verkörperung der Information' anwendete (das Gen)?
Die Gene, also die Abschnitte des Erbgutes, die Informationen für Eiweißbestandteile tragen und heutzutage isoliert werden können (E.-L. Winnacker), als primäre Verkörperung von Information zu bezeichnen, ist nur dann plausibel, wenn man zelluläre, multizelluläre, multiorganische Organismen bloß als körperliche Anhängsel der Geninformation ansieht, auf die es nur insofern ankommt, als daß die Evolution der genetischen Information im Daseinswirklichkeitsbereich namens "Leben" stattfindet und also auf diese Raum und Zeit auf sich anwenden müssenden Körperlichkeiten/Materialitäten angewiesen ist. - Auch hier wieder eine zutiefst christliche Auffassung des Verhältnisses von Körper und Geist (Information).
Die Bestimmtheit von Inhalt und Form wäre nun eine, die sich an der Materialität, an der Physiognomie, der Kultur (Zeichen) festmachen ließe (empirischer Konstruktivismus), oder eine, die sich im zeitlichen Verhältnis von Form und Inhalt zum Ausdruck bringt, und sich dort einer wahrhaften Rigidität rühmen kann, einer Rigidität des Passens von Form und Inhalt, die etwas Ungeheuerliches an sich hat. Wird nämlich die diesem Verhältnis von Inhalt und Form inhärente Zeit nicht eingehalten, interferieren Form und Inhalt nicht mehr, d.h.: die hier zeitliche Form ist nicht mehr fähig, den Inhalt passend (gewaltlos) aufzunehmen. Der Inhalt kann nun erlöschen, oder: der Inhalt findet Unterschlupf in einer anderen Form, oder aber: der Inhalt wird selbst zur Form. Will sagen: Formen kommen mit Inhalten und Inhalte mit Formen in ein Verhältnis, dessen inhärente Zeit nicht die ihre ist. Diese Aussage wäre also ein Plädoyer, zeitliche Einheiten von Inhalt/Form-Verhältnissen als Materialität der zeitlich vereinheitlichten Formen und Inhalte anzusehen und nicht als Modus, von ihnen zu abstrahieren.

Nun wäre genau das, daß Inhalte und Formen nicht nur nicht ihre inhärente Zeitlichkeit in Gestalt ausdrücken, sondern gar überhaupt keine inhärente Zeitlichkeit, die ihnen passt, besitzen (das wäre der Beginn einer Anthropologisierung von Unsicherheit und einer Ver-zeitlichung von Welt, der Beginn einer Einsicht in die eigene Monstrosität des Menschen, so Montaigne), und dabei dennoch funktionieren, bestehen, dauern und verwendbar sind, Ausweis dafür, was man die Artifizialität des Menschen, verstanden als sein natürliches Vermögen, bezeichnen könnte. Bezogen auf Wahrheit hieße das dann, daß sich ebendiese nicht mehr in aus einer natürlichen, kosmologischen oder auch ungebrochen anthropologischen Sphäre herrührenden Wesensformen einstellt, sondern daß sie jetzt die Welt beliebig aufzulösen und zu rekombinieren vermag und dabei ihre Wahrhaftigkeit einzig in der Methode des Auflösens und Rekombinierens in Form (!) zu bringen braucht.

Bezogen auf die Masterform und das Mastermedium Sinn heißt es bei Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, FFM 1997, p54): "Sinn kann, verkürzt gesagt, nur als Form reproduziert werden. Die Welt selbst bleibt als stets mitgeführte andere Seite aller Sinnformen unbeobachtbar. Ihr Sinn kann nur in der Selbstreflexion des Formgebrauchs sinnhafter Operationen symbolisiert werden." ders., Critique - Privatized an Disarmed, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 9/1999, p121-131, hier: p127.
Aber nochmals: Wäre dieses In-Form-Bringen überhaupt vergesellschaftungsfähig? Ließe es sich anwenden auf eine aus Menschen bestehende Gesellschaft?
 

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Man darf also davon ausgehen, daß einer bestimmten Erfindung und zwei Grundverhältnissen dieser ereignisexplosiven Epoche namens Neuzeit resp. Aufklärung (weit: 16. bis 20. Jahrhundert, eng: 18. bis 20. Jahrhundert) erneut Transformationen ins Haus stehen, von de-nen nicht auszumachen ist, wie sie auszumachen sind: handelt es sich um Variationen, um Selektionen, um Eliminationen, oder doch um Kreationen? - Die Rede ist von der Erfindung des Menschen und den Verhältnissen zwischen Schicksal und Zufall sowie vom Wechselverhältnis zwischen Masse und Individuum. Um beim letzten zu beginnen: Galt das größtmögliche "Glück" für die größtmögliche Zahl, also für die Masse ("Bevölkerung" im wissenschaftlichen, "Volk" im politischen Rassismus) lange Zeit als nicht zu hintergehende Instanz und Legitimationsadresse auch noch für das letzte Massaker, scheint sich nun, da, so Zygmunt Bauman recht hat, "we are all individuals now; not by choice, though, but by necessity", das größtmögliche "Glück" für die diverseste, einzigartige Zahl als Wertpenetrationszentrale dazuzugesellen.

ders., Critique - Privatized an Disarmed, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 9/1999, p121-131, hier: p127.
Nicht mehr nur allein die Masse Mensch gilt als Maß, um Grausamkeit als Normalität durchzusetzen, sondern nun auch das individuelle Lebewesen namens Mensch, dem die sozialbiologisch neuen Maße von Gesundheit und Perfektion nun maßgeschneidert offenbart werden. Galt die wie auch immer ideologisch durchherrschte Ausrichtung des de jure-Individuums aufs soziokulturell Allgemeine und war dafür das vornehmliche Ausrichtungsinstrument der Krieg nach innen und nach außen, so wird nun die Ausrichtung des de facto-Individuums aufs biologisch allgemein Machbare betrieben, diesmal mit den Ausrichtungsinstrumenten der "life sciences", der "life industries", der Biotechnologie und -macht. Salopp könnte man den Wechsel so formulieren: Vom "Einer für alle" (ein Totales für vieles) zum "Totalen Einen unter totalen Einen" (viele Totale ohne ein Totales). Das Arbeitsteilungsgespann Kulturindustrie (im Sinne Adornos) und Industriekultur (im Sinne Brockmans) hat sich das total allgemein gewordene Besondere als letzte Form zum Material gemacht, und zwar empirisch in der Form der fensterlosen Monade, des passiven Subjekts, des mit Angst und Schmerzunempfindlichkeit vollgepumpten Kommunikationsteilnehmers, in Form der in seiner biologischen, körperlichen und genetischen Ausstattung manipulierbaren Kreatur. Neben den verallgemeinerten Einzelnen, denen sich die Sozialisations- und Uniformierungsagenten namens Staat, Geld und Recht gewaltsam bis mächtig annahmen und dabei bis zuletzt noch (contre coeur) an einer bestimmten Unverfügbarkeit des "Sozialen" mitbauten, tritt nun der vereinzelte Allgemeine, dessen Allgemeinheit nicht mehr einer soziologischen, sondern einer biologischen Plastizität zugeordnet wird, von der zur Zeit ideologisch nur noch im Rahmen von Implementations- und Kompatibilitätsproblemen gespro-chen wird (z.B.: Ethisierung positiver Eugentik), nicht mehr aber im Sinne der Frage, ob man Menschen in der Gesellschaft zuvörderst als biologisch-genetisch-chemisch-neuronale Module aufzufassen habe (nachdem der Mensch als Staatsbürger im Abbau begriffen ist).

Galt der Durchsetzung des Fiktions-Individuums eine Anthropologie, die noch darum kämpfen mußte, eine bestimmte partikulare Erscheinungsform als hegemoniale zu behaupten (weiss/Rasse, männlich/Geschlecht, europäisch/Geographie), war also noch ein Diffe-renzbewußtsein auszumachen zwischen den "historischen" Menschsein-Formen und der Seinsform Mensch, so hat es nun den Anschein, als ob mit der de facto-Anthropologie versucht wird, die Konstruktion namens Mensch hinter sich zu lassen und ihn als Kreatur/Medium zu bestimmen, als Lebewesen, wobei dieser Bestimmung nun die Aufgabe zufällt, den Horizont des Menschseins endgültig mit einer spezifischen Menschenform kurzzuschliessen. Diese spezifische Menschenform (der Mensch als Lebewesen), die sich bis jetzt noch ex negativo in der Behauptung äußerst, der Mensch sei keine besondere Materie, sondern eine spezifische Organisation von Materie , ist zur Zeit als Problemstellung die Phantasie schlechthin für avancierte Technowissenschaften (Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft, Bio- Reproduktions-, Medizin-, Eugenikwissenschaften). Kurz: Der "herausgetretene" Mensch, der ineins einen Horizont der Offenheit schuf und diesen als seine Grenze durchsetzte, beginnt nun, sich einzurichten in der Nonlimitationalität seines Horizonts (d.i. die abstrakte Unendlichkeit der Menschenform), nachdem das Phantasma einrastete, daß nicht nur das, was menschengemacht ist, auch wieder zurückgenommen werden kann, sondern auch das, was nicht menschengemacht ist. Und das ist, wie es aussieht, zur Zeit dasjenige, was zum Teil den Menschen ausmacht (Genetik). Man beginnt also, nicht mehr nur Menschen soziokulturell zu formen, sondern Menschenformen: dies, wie sollte es anders sein, passiert gleichsam in der soziokulturellen Welt, tut zur Zeit jedoch so, als passiere es im Auftrage der Naturgesetze ("die Evolution und das Genom haben immer recht!"). Was damit zum Ausdruck kommt, läßt sich in der Struktur als eine zum Stillstand gekommene gesellschaftliche Dialektik und in den daraus sich ergebenden Prozessen folgendermaßen beschreiben: "Barbarei ist ein 'Zustand' der Gesellschaft, in dem die Konsequenzen mißlungener geschichtlicher Praxis jede Geschichte dadurch verhindern, daß sie menschliche Erfahrung und menschliches Begreifen trennen und die erfahrungsunfähige Erkenntnis in eine abstrakt positive und eine abstrakt negative Spielart spalten."

Dietmar Kamper, a.a.O. (1975), p194f.
Wenn dem so ist, wäre jede gesellschaftliche Praxis, die behauptet, dem Geworfensein handlungs- und denkleitendes Entwerfen abzutrotzen, doch nichts anderes als Schicksalsproduktion von innen. Immanente Schicksalsproduktion hat hier nichts gemein mit der Wendung, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen oder in die anderer zu legen: Vielmehr - und wieder eigentümlich formuliert - zieht eine Geschichtlichkeit abgestreift habende Zeit, zieht ein technologischer Chronos den bis dato noch zeittranszendendierenden Kairos ein, macht ihn sich gefügig und verfügbar, um sich als Chronos auf sich selbst anzuwenden. Um es zu verdeutlichen, ist es sinnreich, sich die Entwicklung der Menschen und sei es nur der letzten 500 Jahre anzuschauen, und zwar anhand einer Kurve innerhalb eines Koordinatensystems, für die beinahe gleichgültig ist, ob sie die Anzahl der Menschen, das Wachstum der Städte, die Erfindung von Techniken, den Verbrauch von Gütern etc. darstellen soll: immer wird sie für die letzten 150 bis 100 Jahre einen vertikalen, beinahe senkrechten Ausschlag machen.
Das gilt wohl nur für eine bestimmte menschliche Angelegenheit nicht: für den Krieg, also für die Häufigkeit des Kriegführens und Tötens.
Nimmt man sich etwa den Anstieg des Erdölverbrauchs heraus, in eins mit der absoluten Größe, so kann man formulieren: Es wird in einer historischen Sekunde verbraucht, was Millionen von Jahren brauchte, um zu werden.
"Man nimmt an, daß sich Erdöl aus abgestorbenen [..] Tieren und Pflanzen in schlecht belüfteten, marinen Ablagerungsräumen durch chemische Reaktionen unter Mithilfe von Bakterien bildet. In dem zunächst enstehenden Faulschlamm verläuft die Umwandlung der organischen Substanz in Erdöl (Mikronaphtha) bei hohem Druck und hoher Temperatur. Aus diesem vorwie-gend tonigen Erdöl-Muttergestein wandert das feinverteilte Erdöl in Form von Öl-in-Wasser-Emulsionen (Migration), wo es sich unter undurchlässigen Deckschichten in Erdöl-Fallen und Erdöl-Fangstrukturen zu Lagerstätten anreichern kann." Brockhaus, Naturwissenschaften und Technik, 5 Bde, Wiesbaden 1983, Bd.2, p54.
Unvorstellbare Zeiten lösen sich auf, zwar nicht in Luft, aber in Schadstoffen und in Wärme. - Passiert jetzt mit der möglichen organisch-biologisch-materialen Produktion von Lebewesen und Lebendigkeiten nicht das gleiche, nur nicht im Sinne des Verbrauchs, des Verlöschens einer unvorstellbar langen Zeit der allgemeinen und dann spezifisch/speziellen organischen Evolution, sondern im Sinne einer Stauchung, Komprimierung, Digitalisierung, Intensivierung, Technologisierung der Evolutionszeit? Ist es nicht so, als ob man mit den neuen Bio- und Anthropotechnologien im übertragenden Sinne die Möglichkeit an die Hand bekommen hat, den Atomkern von der Atomhülle zu befreien, also Evolution von dieser unendlich langen und scheinbar leeren Zeit abzutrennen?
Nach dem Rutherfordschen Atommodell von 1911 konzentriert sich die gesamte positive Atomladung und fast die gesamte Atommasse auf den Atomkern, der im Mittelpunkt eines Atoms konzentriert sein soll, während sich die negativ geladenen Elektronen in einem großen Abstand um den Kern bewegen und damit die Atomhülle bilden; wonach also der größte Teil eines Atoms leerer Raum ist.
Zumindest das Phantasma, daß dies gelingen könnte, scheint Realität zu sein, also das Phantasma, die Welt sei nun in Gänze positiv geworden, bedürfe also nicht mehr des Umweges über Negativität und über die Zeit der Evolution, sondern könne direkt kurzgeschlossen werden mit einer intensiven Zeit der Produktion und mit Technologie.
 

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Hinter diesem neuen, sich auf den reell gesellschaftlichen Monitoren abspielenden Wechselverhältnis scheint ein grundlegender Wechsel zu stehen: Nämlich des Verhältnisses zwischen Schicksal und Zufall. Es handelt sich dabei schon lange nicht mehr um das Schicksal der Ummündigkeit, um das der Sorge, der Knechtschaft, der Pein und des Seins auf der einen Seite und dem durch rational-wissenschaftliche Welt- und Gesellschaftsartifizialisierung zusammengestauchten Schicksal auf der anderen, das nun auf den Namen Zufall hört und als Wahrscheinlichkeitsgröße einen schwachen Restrisikohauch des "Menschsein-Daseins" in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinträgt. Die Spannung, die sich ergab einerseits aus der Unmöglichkeit, den Menschen derart in soziale Systeme einzufügen, "daß seine Reproduktion (auf welcher organischen oder psychischen Systemebene immer) eine soziale Operation wird und durch die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme vollzogen wird", und andererseits aus der gleichzeitig stattfindenden Emanzipation der Gesellschaft von den Menschen, diese Spannung scheint sich aufgelöst zu haben in eine nicht leicht zu denkende neue Komposition von Zufall, Kreation und Schicksal.

Niklas Luhmann, Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen, in: Peter Fuchs/ Andreas Göbel (Hg.): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, FFM 1994, p40-56, hier: p54.
Vielleicht hilft fürs nicht leicht zu Denkende kybernetische Begrifflichkeit. Mit dem Einlaß "natürlicher" Formbildungsprozesse und -codes in den technologischen Konstruktionsraum, in dem an der permanenten Erweiterung der Auflöse- und Rekombinationsfähigkeit gearbeitet wird, scheint sich ein Wechsel einzustellen, wie er beim Transformieren einer Trivialmaschine (Transformationsfunktion) zu einer selbstreferentiellen/historischen Maschine statthat: Nur jetzt in umgekehrter Richtung!

Trotz eines immens gewachsenen Wissens über lebende, wachsende und vergehende Körper blieb das Wissen immer eines, das auf der Nichtfassbarkeit der historischen Maschine namens körperliches Leben "schwamm". Alle Trivialisierungen noch so komplexer Art (bis hin zur anthroposophischen Medizin und der Psychoanalyse) ruhen auf der Unerkennbarkeit und Nichtprogrammierbarkeit von Leben. Leben ist nicht diskret, es ist nicht zuverlässig kreativ und destruktiv, sondern "nur" zufällig. Diese Zufälligkeit produzierte im Falle des Menschen die Schicksalsgestalt namens Mensch, die, wie Leben, Tod und Zeit, die Eigenschaften des Ungedachten, Nichtgedachten, Unvorstellbaren, Unsagbaren, Unvordenklichen, des Überwältigenden nicht abzustreifen vermag. Mit den avancierten Bio-, Gen- und Em-bryonaltechnologien scheint nun die dringlichst zu untersuchende Phantasie verbunden, auf trivialem (technischem) Wege zuverlässig zufällige Kreativität zu erzeugen.

Das könnte dann so aussehen, daß die nun herstellbaren menschlichen embryonalen Stammzellen, die sich in die ca. 300 Zelltypen ausdifferenzieren können, aus denen ein Säugetierorganismus zu bestehen scheint, nicht zum Klonen ganzer Organismen eingesetzt werden, sondern zum sogeannten therapeutischen Klonen: "Die Zellen würden zu diesem Zweck mit einem Cocktail von spezifischen Wachstumsfaktoren in bestimmte Zelltypen und Organe umgewandelt, die dann in den Organismus, aus dem der Zellkern stammte, zurückverpflanzt werden" (E.-L. Winnacker, a.a.O., p45).
Von einer sicher gewähnten Machtposition (der der In-Formationsmacht) aus wird also das Verhältnis von "phylogenetischem" Schicksal und "ontogenetischem" Zufall gesellschaftlich eingezogen und "angeheftet" an den jeweils einzelnen zufälligen Menschen.
"Gerade der Freiheit scheint die Anthropotechnik trotz aller Beschuldigungen so Rechnung tragen zu wollen, dass sie statt des bisherigen 'Geburtenfatalismus', des Zufalls, der Kontingenz der 'Natur' die bewusste 'Merkmalplanung' (Sloterdijk) verheißt, die freieste aller möglichen Welten. Die anthropotechnische 'Menschenproduktion' schließt auch hier an die Schöpfungsidee der Genesis an, die die Genetik nicht umsonst in ihrem Namen beerbt hat und deren zentrale Annahme sie teilt: dass zu schaffen 'sehr gut' sei. Gott, der die Menschen mit dem metaphysisch nötigen 'kleinen Unterschied', aber doch auch mit der ihm eigenen Großzügigkeit 'nach seinem Bilde' schuf, war der erste Biotechnologe, nur dass er als technisch retardierter Schöpfer noch nicht ganz so exakt arbeitete. Jeder Kloner ist sein - relativ bescheidener - Nachfahre, der 'nach seinem Bilde' kopiert. Ludger Lütkehaus, Diktat der Geburt. Der Angriff der Biowissenschaften auf Natalität und  Kindheit, in: Die Zeit, 52/99.
Es ist nicht mehr Technologie, die sich (zumindest noch in der öffentlichen Rhetorik) als sozial implementabel ausweisen muß; vielmehr wird die soziale Gesellschaft nun in die Beweispflicht gedrängt, sich als "technologisierbar" zu erweisen. Es ist die Crux und die Pointe, daß es dabei am wenigsten um den Menschen geht (negative und positive Eugenik), wenn nun mit seiner Aneignung als biologisches System die beiden vorangegangenen Aneignungssystematisierungen (der Mensch als psychisches und als Umwelt des sozialen Systems) komplettiert werden, auch wenn die Rhetorik derzeit auf nichts anderes verweist als auf mögliche Erleichterungen und Schmerzminimierungen durch biotechnologische und wohl bald gentechnologische Inter-ventionen. Vielmehr scheint sich ein 'evolutionsgenetischer' Blick langsam und doch immer weniger verschämt auf den gesellschaftlichen Menschen zu senken; sieht dieser Blick in den organisch-materiellen Organismen und Lebewesen bloß Träger bzw. Wirte für die Reproduktion der genetischen Information (ein zutiefst christlicher Gedanke), so scheint es nicht ganz ausgeschlossen, daß - im Blick die menschliche Gesellschaft - der vergesellschaftete Mensch bloß noch die Wirtshülle darzustellen scheint: nur für welchen Parastiten?

Kann man sich vorstellen, daß die Tatsache, daß der Mensch, verstanden als  Einheit chemo-pysikalischer, elektrischer, biologischer, physiognomischer, genetischer und vielleicht gar ethiologischer und anthropologischer Zusammensätze, seit mindestens 30 000 Jahren relativ unverändert geblieben ist, mitnichten aber die Gesellschaft, verstanden als Einheit all dessen, was zwischen Menschen (einfache Warenproduktion) und zwischen den "Zwischens" von Menschen (abstrakte Warenproduktion) sich zusammensetzt und wieder auflöst; kann es also sein, daß diese Tatsache einen Kränkungsstatus bekommt? Und sich nun Phantasien bilden, die in der Evolution von menschlicher Gesellschaft nur der Vorhof der Variationsebene fest-machen; und nun mit der Genetikologie des Menschen die Selektionsebene des evolutiven Schubes ansetzen, eines Schubes, der aufs körperliche Leben aus ist, nicht mehr aber auf die evolutiven Erfindungen namens gesellschaftliche Kommunikation und Bewußtsein? - Es sperrt sich allerdings noch zu denken, daß Evolution nur der langwierigste strategische Umweg zur Beseitigung der Abhängigkeit des Lebens von Körperlichkeit sein könnte; vielleicht muß man das Universum denken können, um nachzuvollziehen, daß sich Leben, Körper, Geist und Welt so zueinander verhalten wie die Sterne im All. Wohl realistischer wird allerdings sein, dieses Zueinanderverhalten aufzufassen wie das Zueianderverhalten von in Umlaufbahnen fliegenden Weltraumschrott, bestehend aus nicht mehr gebrauchten Satelliten: Der schon längere Zeit installierte Orbit des Imaginären, in dem sich die Menschen in ihrem denkenden Vermögen zernichten (unterhalten), scheint eine Vorstufe gewesen zu sein für das im Kommen begriffene Orbit der Existenz, in dem sich die Menschen vornehmlich in aseptischer Beobachtung, in gewaltsam entschiedener Karambolage, oder als losgelöste Dinge aufeinander beziehen werden. Oder, kryptisch formuliert: Mit der nun auch mikrosoziologisch anhebenden Biomacht setzt sich die vor vielen tausend Jahren begonnene Spaltung von Kultur und Natur, setzt sich die vor einigen hundert Jahren begonnene Spaltung von Körper und Geist, setzt sich die seit gut 120 Jahren vollständig gewordene Spaltung von Menschen und Gesellschaft fort in eine Spaltung von Zeit und Welt: was diese Emanzipation der Zeit von Welt bedeutet, ist m.E. nicht mehr aussprechbar.

Das meint die Spaltung der Gesellschaft in das System der Bedürfnisse einerseits, in den Warentausch andererseits. Oder: "Die kapitalistische Produktion findet statt nach Gesetzen nicht der Produktion, sondern des Austauschs, aber der gesellschaftliche Austausch hat den Inhalt nicht des Austauschs, sondern der Produktion", so Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, FFM 1970, p149.
Daß es sich um eine dritte Unmöglichkeit handelt, scheint allerdings plausibel. Denn es gibt mindestens 3 Unmöglichkeiten, die das nachdenkende menschliche Leben begrenzen und an die Begriffe Leben, Tod und Zeit geheftet werden können: Die Unmöglichkeit, den Tod zu töten; die Unmöglichkeit, das Leben zu töten; die Unmöglichkeit, die Zeit zu töten.

Geschichte ist der Wechsel in der Dringlichkeit dieser Tötungszwänge, -notwendigkeiten und -wünsche, also der Wechsel im Verhältnis der Unmöglichkeiten. Innerhalb der fortgeschrittenen historischen Formationen der Menschengattung hat sich die melancholische Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, den Tod zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Sterblichkeiten auszurotten; hat sich die aggressive Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, das Leben zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Leben-digkeiten zu töten. Übrig geblieben ist die momentan statthabende Zeit, die noch versucht, an die Grenze der Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, die Zeit zu töten, heranzukommen.

Dabei geht es allerdings nicht um das Töten der Zeit, sondern um das Leben: Man nimmt den Umweg über die Zeittötungsphantasmen und -techniken, um an die Lebenstötung heranzukommen; so wie man den Umweg über die Lebenstötung nahm, um an die Ausrottung des Todes heranzukommen. Die momentane Zeit, in der Zeit getötet werden soll, um eigentlich wieder am LebenTöten anzuschließen, ist damit eine doppelt virtuelle: virtuell im Sinne der tatsächlichen Verkehrszeitlichkeit (elektronische Zeit und Welt, steigende Unabhängigkeit der Welt von ihren gegenwärtigen 'Trägern'), und virtuell im Sinne eines "menschengattungsgeschichtlichen" Zuges, der bis dato mit dem Starten einer Verweltlichung, Manifestierung, Objektivierung des Virtuellen immer eine neue, noch latente Virtualität mitinitiierte (was man als Dialektik, als Fortschritt, vielleicht sogar generell als Geschichte beschrieb).
Wenn dem so ist, dann leben wir Menschen nun reell in der Nachgeschichte, die für manche schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hat. Nachgeschichte entreißt, nachdem die Geschichte das soziale Leben (die soziale Frage) dem animal rationale entrissen hat, dem Leben das leben.

"Das Leben lebt nicht".