Bernd Ternes
Die Gewalt in der Gewalt des Rechts
Mondialität als Extramundanes im Schlepptau des
Mundanen
Die Begriffe Mondialität
und Mundanität werden im Sinne Michel Serres‘ benutzt: "Le monde mondial
des choses, la Terre, le monde mondain de nos contrats, le droit" (derselbe,
Le contrat naturel, Flammarion 1992, p28f.).
"Haben Sie eine Weltanschauung?"
"Ach, ich schau die nicht mehr an!"
Matthias Deutschmann
Aber wo schaut er hin, der Befragte, wenn er die Welt nicht mehr anschaut?
Schaut er fern, um nichts mehr zu sehen? Und: Kümmert das die Welt?
Und die anderen Welten?
Das folgende geht etwas umständlich der Frage nach, ob man noch
auf die Welt kommt, ob man nur in der Welt ist ohne Gegenüber, und
ob die mundane Welt noch auf der mondialen Welt ist; es zieht sich auf
an Einsichten von Michel Serres, Peter Fuchs, Günther Teubner, Walter
Benjamin und Jaques Derrida; es zieht an bei der Frage, was sich im Verhältnis
von erster Welt (die Gewalttätigkeit der Gewalt) zur zweiten Welt
(die Gewalt des Rechts, gewalttätig zu sein) und von zweiter zur ersten
vermutlich geändert hat; und es verzieht sich beim Gedanken, daß
Mikro- und Makrostrukturen sozialer Welt mittlerweile so hermetisch, so
in-sich geworden sind, daß sie "Mundialität" (verstanden als
mondial/mundan)
nur noch als Katastrophe evozieren: Als Karambolage gewalttätiger
Umschließung und Einschließung. Subjektloser Hilfeschrei im
stummen Universum.
1
Das Bild, das sich Michel Serres für die Front seines Buches "Le
Contrat Naturel" (1990, dt. 1994) ausgesucht hat, ist nicht nur beeindruckend,
sondern auch vielsprechend für das, was er zu sagen hat. Francisco
de Goyas "Kampf zweier Burschen mit Stöcken" ("Fight with Cudgels",
"Hommes se battant avec des bâtons"; 1820-23) macht in der überlebensgroßen
Ignoranz der Schlagenden gegenüber der Tatsache, daß sie sich
ihre Köpfe einzuschlagen versuchen, während sie langsam im Treibsand
bzw. Sumpf versinken, ein gleichsam überlebensgroßes Sinnbild
auf, ein Sinnbild, das Serres auszufüllen sucht mit der totalen Behauptung,
daß das, was bei Goya der Sumpf ist, heute die Ausmaße des
Erd-Planeten angenommen hat:
"Denken Sie sich die Umwelt dieser Kämpfe weg, schauen sie nur
auf die Konflikte und Auseinandersetzungen, die erfüllt von Menschen,
aber entblößt von aller Gegenständlichkeit sind - und sie
haben das Theater, das auf unseren Bühnen gespielt wird, die meisten
unserer Erzählungen und Philosophien, die Geschichte und die Sozialwissenschaften
in ihrer Gesamtheit: jenes interessante Spektakel, genannt 'Kulturschauspiel'.
Wer aber sagt je, wo sich Herr und Knecht bekriegen?
Unsere Kultur verabscheut die Welt [org.: Notre culture a horreur du
monde; B.T.].
[...] In unsere Kultur [..] bricht sie ein: die Natur. Einst lokal -
jener Fluß, jener Sumpf; heute global - der ERD-PLANET".
Michel Serres, Der
Naturvertrag, dt., FFM 1994, p14.
Es handelt sich jedoch nicht alleine um einen einseitigen Einbruch, den
Serres feststellt. Ökologische Kommunikation, ökologische Philosophie
jenseits irgend einer Naturphilosophie ruht beinahe auf dem Wissen, daß
die sogenannte wissenschaftlich-technische Zivilisation sich nicht mehr
nur auf die "Natur" legt, sondern mit einer niegekannten Interventions-,
Kreations- und Destruktionskapazität mittlerweile bei der klimatischen
Atmosphäre, beim reellen morphing, bei der evolutiv generierten
genetischen Informationsproduktion gelandet ist.
Daraus zieht Peter
Sloterdijk dringliche sozialphilosophische und weltpolitische Konsequenzen:
"Air conditioning wird sich als das raumpolitische Grundthema des kommenden
Zeitalters durchsetzen. [...] Die explizite Klimapolitik ist das Fundament
der neuen Ökumene, so wie explizite Klimatechnik die Basis konkreter
Gemeinschaftsbildungen sein wird"; derselbe, Sphären II. Globen, FFM
1999, p1007.
Nicht nur die globale Natur tritt also in die Geschichte ein, sondern auch
die globale Geschichte in die Natur.
Michel Serres, a.a.O.,
p16.
Dieser Fall, dieses Hineinstürzen der Natur in die Geschichte, also
das Einbrechen (und nicht: Einrechnen!) der mondialen Welt in die mundane
Welt einerseits, das Hineinstürzen der Geschichte in die Natur, also
das - nun eine wesentliche Verschiebung! - In-sich-Einbrechen der mundanen
Welt in die zumindest extramundane Welt: dieser Fall sei nach Serres ein
Novum in der Philosophie, also noch nicht begriffen.Und da zudem die Geschichte
es auch noch nicht begriffen hat - "Die Geschichte, brodelnd, bleibt der
Natur gegenüber blind" -, bedürfe es eines neuen Vertrages zwischen
Gesellschaftsgeschichte und Naturgeschichte, eines Vertrages, der den Hiatus
zwischen beiden Geschichten ineins aufheben und aufrechterhalten soll.
Michel Serres, a.a.O.,
p20. Man könnte hier auch die Glanvillesche Fassung einsetzen, daß
die Geschichte ein Objekt geworden zu sein, das zugleich ein Kein-anderes-Objekt-Beobachtendes
und ein Von-keinem-anderen-Objekt-Beobachtetes "ist". Ein solches Objekt,
so Glanville, bewohnt das Universum anderen unbekannt. Es weiß nicht,
daß es das Universum bewohnt, noch weiß das Universum, daß
es ein Bewohner ist.
Es geht also um ein neues Verhältnis zwischen dem Sich-Recht-Schaffen
der Gewalt der Naturgeschichte und der maßlos, planetar gewaltsam
gewordenen Gewalt des Rechts der Gesellschaftsgeschichte. Denn man kommt,
so scheint es, beinahe nicht umhin, den der ziel- und zweckgerichteten
technologischen Zivilisation inhärenten Ausscheidungen und Defekten
der Natur, der Gesellschaft und der Psyche eine Art konspirative Organisiertheit
zu unterstellen, so als gäbe es nicht nur eine Akkumulation des Abfalls,
sondern auch eine Emergenz, gar eine Synthese desselben.
"[...] breiten sich
Armut, Verelendung und Verwahrlosung gleichmäßig über den
gesamten negativ gleichzeitig gemachten Erdball aus." - Robert Kurz, Das
Ende der Neuen Weltordnung. Ein Essay zur globalen Ökonomie und Politik
nach dem Epochenbruch, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 1/1995,
p23-42, hier: p38.
Und diese erzwingt, dem Erd-Planeten einen rechtlichen Status, einen Status
als Rechtssubjekt zu geben: das Ausgeschlossene muß eingeschlossen
werden. Aber wie? Fakt ist, daß die gesellschaftliche Exkorporation
des Todes seine höchste Stufe erreicht hat: die planetare Dimension.
In dieser drängeln sich die 'Defekte' mittlerweile titanenhaft. Dieser
Dimension, diesem Format scheint nur noch der Blick der Rache oder aber
der Blick des Rechts (auf Verträge, die die Parteien verträglich
machen) gerecht werden zu können, so wie ihn Serres einnimmt. Es geht
also um das Erfassen einer extrem unvergleichlichen Befindlichkeit der
inneren und äußeren Ökologie der Menschengattung, und um
Initiierung einer Verfassung, die Mundanität und Mondialität
"verträgt".
Dem Blick Serres‘ auf die Gewalt der Natur, die sich gewaltsam Recht
verschafft, indem sie in diejenige Welt einbricht, in der Gewalt in Recht
und Recht in Kriegsvertrag und Krieg sich morphisiert hat, korrespondiert
ein anderer, eher systemtheoretischer Blick, den man als kausale oder auch
als symptomatische Antwort auf den Vorgang der zunehmenden, meist grausamen
"Erdung" der Welt verstehen kann. Dieser systemtheoretische Blick hat nicht
das Verhältnis zwischen Erd-Planeten und soziokultureller Welt vor
sich, sondern das Verhältnis zwischen Kommunikation und Bewußtsein
innerhalb der Welt, die als Weltgesellschaft, als weltgesellschaftliche
Kommunikation verstanden wird. Und zwar scheint sich im Verhältnis
von Kommunikation und Bewußtsein etwas abzuspielen, was als Wiederholung
gelten kann, als Wiederholung der Blindheit der Geschichte gegenüber
der Natur. Ja, vielleicht passiert hier etwas, das als letzte Abwehr der
Welt verstanden werden kann, dem Einbruch der Mondialität autistisch
und hermetisch geschlossen zu begegnen. Peter Fuchs beschreibt das so:
"Ich will [..] sagen, daß die weltgesellschaftliche Kommunikation
dazu übergeht, ihre Adressen im Selbstkontakt zu fabrizieren. Das
tut sie in einem gewissen Sinne immer, insofern die Adresse eine kommunikative
Konstruktion ist, aber die Konstruktion kann mehr und mehr darauf verzichten,
einen empirischen Gegenhalt zu haben. Das System beginnt, sich seine Umwelt
zu erfinden. Und die nicht erfundene Umwelt (das reale Bewußtsein)
kann herumkaspern, soviel es will, es wird immer weniger berücksichtigt.
Ich will dieses Phänomen versuchsweise das Phänomen der Hyperautonomie
der Gesellschaft nennen, das Phänomen der Hyperautonomie der Funktionssysteme.
Ich könnte auch sagen: das Phänomen der großen Entkopplung
von empirischem Bewußtsein und der Konstruktion sozialer Adressen."
Peter Fuchs, Das seltsame
Problem der Weltgesellschaft. Eine Neubrandenburger Vorlesung, Opladen
1997, p141f.
Während also - um es leicht kryptisch zu formulieren - das System
namens Welt/ Geschichte/ Kultur/ Mundanität sich nicht mehr leisten
kann, die Umwelt namens Umwelt/ Natur/ Mondialität als Umwelt zu behandeln
und zu verschandeln, steigert im gleichen Atemzug das System namens Kommunikation
seine Form, die Umwelt namens Bewußtsein als Umwelt zu behandeln,
ja, es macht sich noch unabhängiger von dieser Umwelt und wird, so
Fuchs, hyperautonom. Oder anders und grob vereinfachend: Das Hegelsche
Lauffeuer einer Beendigung der Endlichkeit des Menschen durch Verwirklichung
des Bewußtseins als unendliche Beziehung auf sich selbst wird gelöscht
durch die in die Geschichte einbrechende Gewalt der mondialen Welt, die
die Menschen wieder daran erinnert, der Endlichkeit, der Limitation, der
Geschichte, die nicht Vernunft ist, anzugehören.
Erhellendes dazu bei
Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, dt., hg. v. P. Engelmann,
Wien 1988, darin: Fines hominis, p119-141, hier: p128f.
Zugleich aber scheint sich die Unendlichkeit in der Dimension sozialer
Systeme fortzusetzen, indem diese Systeme zumindest ausprobieren, wie es
ist, ohne Rekurs auf eine auch nicht mehr vorhandene Vernunft der Gesamtgesellschaft
durch eine unendliche Beziehung auf sich selbst sich selbst zu reproduzieren,
und dabei das Bewußtsein in eine extrem endliche, dürftige,
empirische Figur verwandeln, durch die jetzt Endlichkeit schimmert in dem
Maße, wie es bei Hegel dem Körper geziemte. Das Bewußtsein
wird beinahe das Unbewußte der Kommunikation, so Fuchs.
Versuchte man, eine kausale Beziehung zwischen diesen beiden Bewegungen
auszumachen, wäre der Ansatz, von einer Ökonomie der Beziehungskapazität
von Systemen auszugehen, nicht ganz sinnlos: Man müßte dann
sagen, daß in dem Maße, in dem Gesellschaft sich zwingend mehr
ins Benehmen, ins Vertragen, in Verbindung mit der mondialen Welt der Dinge
zu setzen hat, sich das Ausmaß des Verbindens mit der mundanen Welt
der Psychen, Bewußtseine und Menschen verkleinert. Das liefe also
auf ein "Entweder oder" hinaus, bedingt durch die logische (?), soziologische
(?), systemische (?) Knappheit des Mit-der-Welt-Seins: Entweder kümmert
sich die aus der Mondialität herausgebrochene mundane Welt um ihr
Verhältnis zur Außen-Umwelt, oder sie kümmert sich um die
Integration der in die Innen-Umwelt des Gesellschaftssystems hineingefallenen
Menschen. Marcuses Annahme, erst durch Versöhnung mit Natur könne
überhaupt Versöhnung der Menschen miteinander passieren, fiele
definitiv heraus.
Versuchte man, eine symptomatische Beziehung zwischen den oben skizzierten
Bewegungen auszumachen, dann könnte man eine Perspektive der Fraktalität
wählen im Sinne des Mathematikers Benoit Mandelbrot, der sich in den
60er Jahren mit Geometriken unregelmässiger Eigenschaft, also etwa
Küstenlinien, Bergketten u.ä., beschäftigte, und dabei feststellte,
daß sich Unregelmässigkeiten auf jeder Ebene, in jedem Maßstab
wiederholen (eine Messung der wirklichen Länge etwa der Küste
Großbritanniens würde daher das Ergebnis 'unendlich' liefern,
da die Unregelmässigkeit einer Küstenlinie einen immer genaueren
Maßstab erforderte, bei jedem Maßstab aber die alte Unregelmässigkeit
wiederkehrte); bei genauerem Hinsehen könne man sogar nachweisen,
daß sich bis ins Atomare hinein die komplexen Strukturen durchhalten.
- Auch wenn es unsauber ist, hier Fraktalität zu vermuten, da Mandelbrot
den Radius ebendieser außerhalb der Mathematik nur in der Natur ausmachte
und nicht auf genuin mundane Vermittlungsverhältnisse oder gar auf
"soziale Tatsachen" anwendete, ist es doch, mit Whitehead im Rücken,
plausibel denkbar, daß sich die Formen der Beziehungen zwischen Menschen
und Menschen und zwischen Menschen und Gesellschaft sowie die Formen der
Beziehungen zwischen Gesellschaft und mondialer Erde ein und derselben
komplexen Struktur verdanken (vielleicht derjenigen Struktur der Form der
Beziehung der Planeten zueinander und zum Polyversum?).
Prozeß und Realität.
Entwurf einer Kosmologie, dt., FFM 1979 (1929), p79ff., p166ff.; man müßte
allerdings den Whiteheadschen "Gott" ersetzen.
Man spürt vielleicht, daß hier eine falsche Unendlichkeit der
Spekulation am Werke ist. Kann man es kleiner machen? Peter Sloterdijk
hat eine ähnliche Bogenspannung vorgenommen, allerdings innerhalb
des Radius‘ der mundanen Welt, und mit dem entscheidenden Unterschied,
die Arten und Weisen globaler Beziehungsformen als abgeleitete Formen zu
betrachten, abgeleitet von dem Mikrouniversum interpersonaler Sphären.
Sloterdijks "allgemeine
Theorie der autogenen Gefäße" startet von einer grundlegenden
Überzeugung aus: daß nämlich alle Großprojekte wie
die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt
und die Mediasphäre auf die "Nachahmung der unmöglich gewordenen
imaginären Sphärensicherheit" zielen. Das kann nur schief gehen,
da sich moderne Gesellschaften in "schalenloser Zeit" aufhalten. Unbehagen
allerorts: Netze und Versicherungen ersetzen nicht die himmlichen Schalen;
die Telekommunikation nicht "das Umgreifende". "In einer elektronischen
Medienhaut will sich der Menschheitskörper eine neue Immunverfassung
schaffen": zu spät. Siehe derselbe, Sphären I. Blasen, FFM 1998,
p25.
Eine ähnliche Rangordnung, die das Makrologische als Ausfluß
eines Mikrologischen deutet, bietet Humberto R. Maturana an.
"Ich bin der Meinung,
daß die Aufgaben des täglichen Lebens die grundlegenden Aktivitäten
unserer menschlichen Existenz sind, weil alle technischen Aktivitäten,
wie verfeinert sie auch immer erscheinen mögen, nur Ausdehnungen der
Aufgaben des täglichen Lebens sind und faktisch als alltägliche
Aufgaben gelebt werden. So ist z.B. die Biologie eine Ausdehung des sich
um die Tiere und Pflanzen des Haushalts Kümmerns, Chemie ist eine
Ausdehnung des Kochens, Physik eine Ausdehnung des Hausbaus, Philosophie
ist eine Ausdehnung der Aufgabe, die Fragen von Kindern zu beantworten
[...]"; derselbe, Biologie der Realität, dt., FFM 1998, p10f.
Wie dem auch sei: Unterstellt man eine Art Fraktalität in den Beziehungsformen
der mundanen und der mondialen Welt, dann wäre das Herausfallen dieses
eigenartigen Artefakts Welt aus der Erde und das Herausfallen des ebenso
unbegreiflichen Artefakts Mensch sowohl aus der Natur wie aus der Gesellschaft
nichts mehr, was einen Unterschied ums Ganze bildete. Ek-sistenz des Menschen
als Substanz des Menschen könnte dann nicht mehr behauptet werden.
Und wenn man den Sprung vom Unterschied Natur/ Sprache zum Unterschied
Gewalt/ Recht macht: könnte das also bedeuten, daß sich die
Opposition zwischen Gewalt und Recht immer weniger als Unterschied, der
einen Unterschied macht, halten läßt? Wenn also der Rechtsstatus
des Krieges sich immer weniger unterscheiden lassen sollte von der Rechtslosigkeit
objektiver Gewalt, und Serres‘ Satz, daß der Krieg uns faktisch und
kraft des Rechts vor der unbegrenzten Reproduktion von Gewalt schützt,
nicht mehr gilt: Was liegt dann vor?
Michel Serres, Der
Naturvertrag, a.a.O., p30. Kühl statistisch unterfüttern kann
man dies durch die Feststellung, daß im 20. Jahrhundert mehr Menschen
durch staatlich organisierten Terror denn durch sich Krieg erklärende
Parteien getötet worden sind. Siehe: Tagesspiegel, 11.01.2000, p28,
"Das Zeitalter der Völkermorde" (Rezension eines Vortrages von Hartmut
Böhme).
Ich meine: vor als Welt?
2
Liegen für diese Behauptung überhaupt Vorgänge vor, die
auf Änderungen des Stellenwerts des Rechts im Verhältnis zur
Gewalt eingehen, also auch auf die Rechts-Gewalt? Wenn man die philosophische
Perspektive der Klärung des Woher und des Wie von Gewalt, Gesetz und
Recht für einen Moment hintanstellt und eine eher soziologische einnimmt,
die erst einmal innerhalb des Recht-Universums nach Verhältnisänderungen
Ausschau hält, dann könnte man den Hinweisen Gunther Teubners
folgen, der innerhalb des mundanen Weltrahmens eine Änderung der Rechtsquellen,
der Normenhierachie und der Gewalt- und Vertragstätigkeit des Rechts
vernimmt.
Derselbe, Des Königs
viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierachie des Rechts, in: Soziale
Systeme, 2/1996, p229-255. Teubners kritische Auseinandersetzung mit dekonstruktiven
Rechtstheorien bleibt im folgenden unbeachtet.
Und zwar stellt Teubner im Rahmen der Globalisierung des Rechts 'spontane'
Rechtsbildungen fest, die die traditionelle Normenhierachie politisch-staat-lichen
Rechts dadurch wirksam stören, daß sie massenhaft Normen eines
globalen Rechts ohne Staat, ohne nationalstaatliche oder völkerrechtliche
Institutionalisierung hervorbringen.
a.a.O., p229. Teubner
sieht diese Polykontexturalisierung durch Globalisierung als Bedingung
zur Ermöglichung dekonstruktivistischer Rechtstheorien an, die selber
genau diese 'Basisbedingung' ihres diskursiven en vogue-Seins nicht mitreflektieren.
"Historisch hat sich die lex mercatoria, die transnationale
Rechtsordnung der Weltmärkte, als der bisher erfolgreichste Fall eines
eigenständigen 'Weltrechts' jenseits der inter-nationalen politischen
Ordnung erwiesen. Multinationale Konzerne schließen miteinander Verträge,
die sie keiner nationalen Gerichtsbarkeit und keinem nationalen materiellen
Recht mehr unterstellen. Sie vereinbaren, ihre Verträge einer von
nationalen Rechten unabhängigen Schiedsgerichtsbarkeit zu unterstellen,
die ihrerseits Normen eines 'transnationalen Handelsrechts' anwenden soll.
[...] Doch geht die Bedeutung des Rechts ohne Staat weit über das
reine Handelsrecht hinaus. In 'relativer Autonomie' gegenüber dem
Nationalstaat wie gegenüber der internationalen Politik bilden sich
heute unterschiedliche Sektoren der Weltgesellschaft aus, die globale Rechtsordnungen
eigener Art aus sich heraustreiben. [...] Der Unterschied zwischen hochglobalisierten
gesellschaftlichen Teilsystemen, besonders der Wirtschaft, und einer nur
internationalisierten, aber nicht ausreichend globalisierten Politik bringt
das Rechtssystem in eine institutionelle Schieflage."
Teubner, a.a.O., p236,
237, 238.
Diese Schieflage, so abschließend Teubner, drücke sich darin
aus, daß das Rechtssystem nicht mehr souverän Macht und Machtmißbrauch
kontrollieren könne (war das ihre Augabe, ihre Funktion?), da sich
polykontexturales Recht von "blinden" Umwelten beherrschen lasse, für
die die politische Souveränität zur Herrschaft keine Gefahr mehr
darstellt, quasi abgehängt worden ist, und nun nur noch "selbstzerstörerische
Tendenzen kollidierender Diskurse" (Teubner) etwas Sicht in die blinden
Umwelten hineintragen; wenn überhaupt.
Man könnte das nun in eine etwas andere Terminologie übersetzen
und zu folgender Paraphrase kommen: Die maßgebend kapitalistisch
mobilisierte Globalisierung des Rechts führt zu einer Änderung
im Verhältnis der beiden das Recht betreffenden Gewalten, der rechtsetzenden
und der rechterhaltenden Gewalt: das Recht verliert die Gewalt, die Gewalt
des Rechts monopolistisch zu setzen (Rechtsstaatsmonopol als Schutz der
Gewalt, ausschließlich Recht und damit Unrecht zu setzen). Das (europäische)
Recht verliert damit an Autorität, "die individuelle Gewalt zu verbieten
und sie in dem Maße zu verurteilen, in dem sie nicht dieses oder
jenes Gesetz bedroht, sondern die 'Rechtsordnung‘ selber."
Jacques Derrida, Gesetzeskraft.
Der "mystische Grund der Autorität", dt., FFM 1991, p73.
Im Law’s Empire, selbst gegründet auf Gewalt, entstehen rechtsgewalttätige
Unabhängigkeitsbewegungen, deren Gewalt nicht mehr - gesamtgesellschaftlich
gesehen, wie immer das auch gehen soll - Gewalt ist im Sinne der force
de loi, sondern nun etwas mehr von dem beinhaltet, was die Gewalt als
violance
meint.
Ich bitte zu berücksichtigen,
daß damit nicht gesagt, unterstellt oder gemeint ist, daß sich
die force-Gewalt des Staates weniger grausam darstellt und nun, mit diesem
neuen, mehr violance beinhaltenden Gewalt-Konkurrenten aus der Globalisierungsdimension
im Rücken, irgendwie gerettet oder geschützt werden müßte.
Könnte man sagen, daß das, was Bewußtsein fürs Kommunikationsystem
und das Kommunikationssystem fürs Bewußtsein zu werden beginnt,
sich im Verhältnis des staatsrechtlichen Rechts zum globalweltgesellschaftlichen
Recht und ungedreht wiederholt? Wenn Bewußtsein das Unbewußte
der Kommunikation bedeuten könnte, könnte dann die staatsrechtliche
force-Gewalt
für das global institutionalisierte Recht ein blinder Fleck werden,
so wie in anderer Richtung eben dieses globale Recht zur violance
wird fürs staatsrechtliche?
Dieses etwas umständliche Fragen will auf folgendes hinaus: Nämlich
so zu tun, als ob das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht (inklusive
ihrer beiden Gewaltmodi) so zu denken ist wie das Verhältnis von mondialer
zur mundanen Welt. Gerechtigkeit macht die Gewalt der Setzung und Sprechung
von Recht befragbar; sie erzwingt, das die Gewalt des Rechts niemals vom
System Recht eingeholt werden kann, was ja dazu führte, daß
das gesetzte Recht seine eigene Setzung immer als rechtens durchsetzen
würde.
Die ausführliche
Fragefassung gibt Walter Benjamin: "Es drängt sich die Frage auf,
ob Gewalt jeweils in bestimmten Fällen Mittel zu gerechten oder ungerechten
Zwecken sei. Ihre Kritik wäre demnach in einem System gerechter Zwecke
implizit gegeben. Dem ist aber nicht so. Denn was ein solches System, angenommen
es sei gegen alle Zweifel sichergestellt, enthielte, ist nicht ein Kriterium
der Gewalt selbst als eines Prinzips, sondern eines für die Fälle
ihrer Anwendung. Offen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt,
als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei. Diese
Frage bedarf zu ihrer Entscheidung denn doch eines näheren Kriteriums,
einer Unterscheidung in der Sphäre der Mittel selbst, ohne Ansehung
der Zwecke, denen sie dienen." Zur Kritik der Gewalt, in: W.B.: Aufsätze,
Essays, Vorträge, GS, Bd II·1, FFM 1991, p179-203, hier: p179.
In diesem Sinne wäre Gerechtigkeit, wie Derrida sagt, eine Heimsuchung
des Rechts, eine Provokation, eine moralische (?), menschliche (?), göttliche
(?) Sperre, die verhindert, daß sich Recht hyperautonomisiert und
so tut, als gäbe es kein Recht mehr außerhalb ihrer selbst.
Wenn nun aber mit der Globalisierung des Rechts die Gewalt der Rechtsetzung
sich in den blinden Subsystemen zu vollziehen scheint, in Subsystemen,
die also Recht schaffen und praktizieren außerhalb der gesellschaftshistorisch
hegemonialen Autoritäts- und Gewaltform namens Staat, aber genau deswegen
nicht mehr mit Gerechtigkeit provoziert, konfrontiert und kritisiert werden
können, d.h.: wenn sich bei dieserart Recht die Unterscheidung zwischen
der Gerechtigkeit des Rechts als Rechtssprechung und -setzung einerseits
und der Gerechtigkeit des Rechts als Recht (dieses oder jenes Gesetz) andererseits
nicht mehr halten läßt: dann touchiert diese neue Gewalt der
Rechtsbildung eine Gewalt, die nicht mehr in mundanen Kategorien alleine
(altmodisch: "Sittlichkeit") zu fassen ist.
wie harmlos auch immer
sie auszusehen vermag; siehe: G. Teubner, a.a.O., p237.
Verschränkte man diese "makrostrukturelle" Behauptung der Gerechtigkeitsaustreibung
zudem noch mit der Behauptung, auch "mikrostrukturell" sei Gerechtigkeit
auf dem besten Weg zu verschwinden:
"Zum Glauben an die
Menschheit und die Welt gehört zwingend die Idee der Gerechtigkeit
und damit die der gerechten Strafe. Die Idee, weil es die gerechte Strafe
real noch nie gegeben hat. Sie existiert nur in der Gestalt einer Hoffnung
oder Erwartung, egal ob des Jüngsten Tages, eines bewaffneten Aufstandes
oder eines Revolutionstribunals. Diese Hoffnung und Erwartung aber ist
tot. [...] Das ist dann der Punkt, wo die Gewaltphantasien einsetzen müssen.
Sie versprechen eine Welt, wo wirklich einmal die Letzen die Ersten wären
und uns die Ausbeuter nicht später als bewunderte Wohltäter begegnen.
So können die Gewaltphantasien den Glauben an die Menschheit retten
und vor der fürchterlichsten Verzweiflung schützen." Wolfgang
Pohrt in: konkret, 1/2000, (Rubrik: Pohrt antwortet), p26-27, hier: p26.
Kann man dann noch ignorieren, daß mit der Globalisierung als Etikett
und mit der Ausfransung von sozialen Systemen als Realität soetwas
passiert wie eine 'mimetische' Wiederholung des Außen/ Innen-Schemas
Mondialität/ Mundanität, nur daß jetzt das Außen
selbst in die Mundanität eingemeindet ist und sich als Quintessenz
des Innen zu verstehen sucht? Oder anders und nochmals kryptischer, staccato:
Die Weltarmut in der Welt, die sich durch partnerlose Punkte (Bewußtseine)
und ein beliebiges Ringsum auszeichnet, heftet sich nun abstrakter an die
Welt selbst;
Peter Sloterdijk,
Globen, a.a.O., p614.
die Weltarmut innerhalb des In-der-Welt-Seins ergänzt sich durch eine
Weltarmut der Welt selbst im Modus des Auf-der-Welt-Seins, wobei die Welt,
auf die die Welt "kommt", der ERD-PLANET ist; das menschliche In-der-Welt-Sein
wie das weltliche Auf-der-Welt-Sein führen zu einer Aufsprengung haltgebender
Beziehungssetzungen, weil das Passen-in keinerlei Korrespondenz mehr hält
zu einem Passen-auf:
Zur Verwendung dieser
In- und Auf-Passungen im sprachphilosophischen und wahrheitstheoretischen
Rahmen siehe Hauke Brunkhorst, Kritische Theorie als Theorie praktischer
Idealisierungen, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 4/1997, p81-99,
bes. p86ff. - Die Unmöglichkeit, vom In-unsere-Welt-Passen auf ein
Auf-die-Welt-Passen zu schliessen, wird vielleicht im Falle des Zu-sammenpassens
von mundaner und mondialer Welt zu einer Unerträglichkeit, die sich
in Gewalt äußert.
so wie die Menschen in der Welt durch Gewalt eine dünne Verbindung
aufrechterhalten mit der Vorstellung einer gerechten Welt, die auf sie
passt und in die sie passen, so übergibt sich die in-sich eingeschlossene
Welt mit ihrer Weltarmut in die Weltlosigkeit der Steine (Heidegger), um
durch die mondialen Gewalten in ihrem Innen ohne Außen den Test darauf
zu führen, doch auf einer Welt (Erde) zu sein, die nicht weltlos ist,
weil sie eben die mundane Welt 'beherbergt'. - Man spürt, dieser Punkt
ist schwer zu formulieren oder schlicht schwach formuliert: man könnte,
zur Erhellung, andere Sätze sagen, auf eine bestimmte Ableitungs-
oder Nichtableitungsbeziehung verweisen, wie z.B.: "Nicht die Technik wird
isomorph zur Natur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils relevanten
Kombinationsraum isomorph zu dem, was man technisch ausprobieren kann."
Niklas Luhmann, Die
Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.
Oder: "Während in Jena Sprache, Arbeit und Handeln auf Gegenseitigkeit
nicht nur Stufen des Bildungsprozesses des Geistes, sondern Prinzipien
seiner Bildung selber waren, werden in der Enzyklopädie [ Hegels;
B.T.] Sprache und Arbeit, einst Konstruktionsmuster für die dialektische
Bewegung, nun selber als untergeordnete Realverhältnisse konstruiert".
Jürgen Habermas,
Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', FFM 1969, p30ff., hier: p36.
Aber diese Beispiele für Abschließungen und Ableitungen illustrieren
nicht sehr viel. Wenn man nochmals auf das Verhältnis von Recht und
Gewalt kommt, um daran zu zeigen, was es heißen könnte, daß
jetzt das Außen selbst in die Mundanität eingebrochen wird (man
muß es im Passivum sagen) und sich als Quintessenz des Innen zu verstehen
sucht, ließe sich dies sagen: Das Eingezogenwerden von Naturzwecken
und subjektiven Gewalten durch die Gewaltmonopolisierung, also Rechtsgewalt,
und durch die Rechtszwecksetzung, also die Austreibung des Naturrechts
durch das Recht der Rechtsgewalt, hat dazu geführt, daß sich
Rechtsgewalt selbst auf eine Art wandelt, die, etwas hilflos, als Wiedervernaturrechtlichung
bezeichnet werden kann, vielleicht als katastrophische Bewegung, die deswegen
passiert, um neue Kriterien zu evoluieren, die zwischen Mitteln und Zwecken
von Gewalt und Recht neue Verbindlichkeiten erzwingen.
Walter Benjamin, Zur
Kritik der Gewalt, a.a.O., p182f.
Was in diesem Zusammenhang allerdings ohne ein "Vielleicht" gesagt werden
kann, ist, daß es sich nicht mehr so verhält, wie es Odo Marquard
in der folgenden Paraphrase auf Schellings "System des transzendentalen
Idealismus" ausdrückt, nämlich: "Wo aber die Vernunft derart
ohnmächtig ist, d.h. wo sie als Gegenwartsvernunft sich der Gesellschaft
und als Gesellschaftsvernunft sich der Gegenwart versagt, überläßt
sie just dadurch zwangsläufig die gesellschaftliche Gegenwart und
Realität der Geschichte dem, was nicht verwirklichte Vernunft ist:
der Natur."
Über einige Beziehungen
zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten
Jahrhunderts, in: Derselbe, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie,
FFM 1973, p85-106, hier: p91.
Nicht die Geschichte überläßt sich der Natur: die Geschichte
macht sich zur Natur, eliminiert den Unterschied zwischen Natur und Geschichte,
verbannt die Natur beinahe in die letzte Dimension, die der Globalisierung
der Welt Rechnung trägt, nämlich in die erdplanetare. Nicht gibt
sich die Vernunft in die Hände der Natur, weil ihre Schwäche
der Aufhebung von Natur in Geschichte offenkundig sei; vielmehr "hebt"
sich Geschichte ein in Natur und verdrängt ebendiese in eine
Gestaltwerdungsdimension, die planetar Gewalt zu entlassen droht.
Vielleicht ist es nicht die mythische Manifestation der unmittelbaren
Gewalt, die sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch zeigt, sondern
vielmehr die Globalisierung des Rechts, die die rechtsvermittelte Welt
als unvermittelt rechtsgewaltige überhaupt zum Ausdruck bringt.
Walter Benjamin, Zur
Kritik der Gewalt, a.a.O., p199.
Vom Rechtspositivismus zum Rechtsphysikalismus. Nicht mehr ist es der Naturzustand,
der sich in der alles umschlingenden Selbsterhaltung zeigt, die keinen
Unterschied macht zwischen der Selbsterhaltung menschlicher Gesellschaft
und tierischer; vielmehr bringt die mit der Globalisierung zu sich kommende
Artifizialität/Mundanität der Rechtsgewalt zu Gestalt, daß
Recht Gewalt ist für den Teil der weltlosen Erde, der sich als Welt
versteht.
Der Treibsand bei Goya hat die sich schlagenden Burschen gerade bis
zu den Knieen in sich aufgenommen. Sie sind klar als menschliche Wesen
erkennbar. Heute, gut 180 Jahre später, sähe man, unter Beibehaltung
des Titels, eine ruhige Landschaft der Erde und eine bewegte des Himmels,
die sich beide im Horizont übergangslos verbinden/vertragen. Hätte
man mehr Glück, dann sähe man kreatürliche Torsi, die noch
leicht an die Form der Menschengestalt erinnerten, solange erinnerten,
bis die Landschaft mit dem Warten auf das Verschwinden des Menschen zuende
wäre. Mit Spürsinn könnte man vielleicht ahnen, daß
das letzte, was diese HimmelErde-Landschaft vernahm, ein Schreien um Hilfe
war. Es ist keinem sakralisierenden Hauch des Entsetzens geschuldet und
auch nicht einer Demut des Sich-Begebens, in der Endlichkeit des eigenen
Lebens die einzige Hilfe zu sehen. Sie ist immer bereit.