Markus Bürgin

ILLUSION UND REALITÄT
Versuch über Das perfekte Verbrechen
von Jean Baudrillard


INHALT
EINLEITUNG
DAS PERFEKTE VERBRECHEN
DAS OPFER - DIE WELT ALS ILLUSION
Die materielle Illusion
Die objektive Illusion
DAS VERBRECHEN - DIE VERNICHTUNG DER WELT ALS ILLUSION
Welt als Realität
Simulation, Dopplung, Hyperrealität und Virtualität
Hohe Auflösung und integrale Realität
DIE UNVOLLKOMMENHEIT - SPUREN DES NICHTS
Die objektive Ironie der Welt
DAS RADIKALE DENKEN
DAS PERFEKTE VERBRECHEN - TROSTLOSE ANALYSE IN EINER GLÜCKLICHEN SPRACHE ODER RELIGIÖSE MELANCHOLIE?
POSTSCRIPTUM
LITERATUR
 
 

EINLEITUNG
Eine wissenschaftliche Arbeit über Das perfekte Verbrechen von Jean Baudrillard zu schreiben, ist ein zwiespältiges Unterfangen. Wenn es so etwas wie den "Geist" eines Buches oder wenigstens den Duktus eines Denkens gibt, so kann man den des perfekten Verbrechens zwar nicht mit Gewissheit identifizieren, da es sich auf spielerische Art und Weise konventionellen Festlegungen verweigert. Mit Sicherheit kann man jedoch eine Negativbestimmung (selbstverständlich ist "negativ" hier nicht in der abwertenden Bedeutung verwendet) vornehmen: Text und Denke des perfekten Verbrechens sind aus programmatischen Gründen nicht der traditionellen Methodik wissenschaftlichen Schreibens oder Denkens verpflichtet. Weder inhaltlich noch formal ist Baudrillard um intellektuelle Einverleibungen und ihre akademische Garantie durch Zitat und Fußnote bemüht. Auch findet man kaum präzise Begriffsklärungen oder Thesen und dazugehörige Begründungen in Argumentform.

Vielmehr rekonstruiert das perfekte Verbrechen auf maskierte, also seinerseits "verbrecherische" Weise das nicht ganz perfekte Verbrechen der Vernichtung der radikalen Illusion der Welt.

" … jedes Denken muß vor allem versuchen, sie [die Realität, M.B.] zu demaskieren. Dafür muß es selbst maskiert vorgehen und sich als Trugbild anbieten, ohne Rücksicht auf seine eigene Wahrheit." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 155.
Zwar ist dieser Prozeß einer wissenschaftlichen Beschreibung zugänglich, doch die Beschreibung selbst kann dabei nicht ohne weiteres als integraler Bestandteil der Strategien des Verschwindens entlarvt werden, sondern würde sich lediglich als "Instrument der Klärung" reproduzieren. Denn dieses Instrument vermag seinerseits die der Klärung inhärente Verklärung so zu verklären, daß von der Unerklärlichkeit und deren Verschwinden nichts bliebe. Die wissenschaftliche Betrachtung dient ja nicht zuletzt dazu, die Ungeheuerlichkeit dessen, was sich zeigt, im Modus des Beschreibens zugunsten eines in seiner Komplexität reduzierten und tröstlich kohärenten Bildes von der Welt untergehen zu lassen. In diesem Sinne muß eine solche Beschreibung des Verbrechens das Verbrechen reproduzieren oder wenigstens zu seiner Perfektion beitragen. Das ist eine Strategie des Verbrechens. Doch das Geheimnis der Welt, ist diesem Zugriff verschlossen. Es bliebe eine nach Perfektion strebende Operationalisierung wissenschaftlicher Informationszeichen im Namen der Auslöschung ihrer eigenen Unvollkommenheit.

Das perfekte Verbrechen verfolgt eine andere Strategie.

Noch von einer Planung und Berechenbarkeit implizierenden Methodik zu sprechen, ist für das perfekte Verbrechen nicht angemessen; dennoch werden sowohl in der Analyse als auch im Gegenentwurf des radikalen Denkens Mittel zweckrational zur Erlangung von Zielen eingesetzt.  Beispielsweise impliziert das radikale Denken wenigstens eine temporäre Festlegung auf eine Gegenwartsdiagnose, die "zuendegedacht" werden und von deren "Ende" her dann die Welt "radikal" in den Blick genommen werden kann. [Ich danke Dr. Bernd Ternes für diesen Hinweis, M.B.]
Es beschreibt nicht nur, sondern führt eine neue From radikalen und paradoxalen Denkens vor, das dem Mechanismus des Verschwinden-lassens vielleicht widerstehen, wenigstens aber Zeugnis ablegen kann von den Strategien des Verschwindens der Welt als Illusion in einer Welt als integraler Realität.
Baudrillard hegt offensichtlich beide Hoffnungen.  Die des Aufzeigens der "Spuren des Nichts" ist evident, die des Widerstehens offenbart sich versteckt, so zum Beispiel: "Wenn das Denken darin scheitert, nichts zu sein, dann wird etwas von ihm bleiben." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 228.
Baudrillards Spurensuche orientiert sich demnach am "Nichts", der einzig untrüglichen Fährte des Verschwindens.

Für meine Spurensuche ergibt sich daraus jedoch ein Problem. Denn die Spannung zwischen dem, wovon und vor allem wie Baudrillard im perfekten Verbrechen schreibt und der Bearbeitungsweise einer jeden wissenschaftlichen Arbeit und damit auch der vorliegenden ist groß. Es besteht ein Grundwiderspruch zwischen dem Aufzeigen der Modi des Verschwindenlassens, die mit der Illusion auch gleich das Verschwinden verschwinden lassen und der Unmöglichkeit, jene nicht im Beschreiben zu reproduzieren.

Diese Grundkonstellation macht die wissenschaftliche Bearbeitung jedoch nicht unmöglich, sie bedarf aber einer besonderen Vorgehensweise und Rechtfertigung. Ich gehe in dieser Arbeit anders als Baudrillard selbst vor. Denn - von der Anmaßung eines solchen Projekts ganz abgesehen - die Durchführung des radikalen Denkens ersetzt seine Erklärung nicht. Der von einem besseren Verständnis der Theorie zu erwartende Gewinn bleibt zwar dem genannten Grundwiderspruch ausgesetzt, doch kann auch dieser Widerspruch selbst überhaupt erst verstanden und nachvollzogen werden, sofern er in einem Vokabular der wissenschaftlichen Untersuchung wenigstens plausibel gemacht werden kann.

Zudem spricht Baudrillard kaum explizit über oder von einer Theorie, die seinem Vorgehen zugrundeliegt; vielmehr führt er ein radikales Denken vor, in dessen Perspektive sowohl die Problemdiagnose als auch die verordnete Kur immer schon vorausgesetzt und daher oft nur versteckt auszumachen sind.

Die Krankheits- und Besserungsmetaphorik ist nicht umsonst gewählt, denn das radikale Denken führt nicht zu begrifflicher Klarheit, sondern zu einem neuen, vitalen Umgang mit der Produktion theoretischen Wissens.  "Das Denken ist ein äußerst seltenes Lebensmittel geworden, unerlaubt und unbezahlbar, das an geheimen Orten und nach esoterischen Regeln angebaut werden muß." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 163. Der Gedanke, Theorie könne und solle heilen, stammt von Ludwig Wittgenstein. Vgl.: Ders., Philosophische Untersuchungen, 133 und 255, in: Werkausgabe Band 1, Frankfurt, 91993
Das Buch ist daher in Teilen kryptisch. Ich werde dagegen ein Sprechen über die Theorie versuchen, das ein Höchstmaß an Verständnis des perfekten Verbrechens ermöglicht, von dem das perfekte Verbrechen handelt. Dazu unternehme ich Rationalisierungsversuche, die in dem genannten Spannungsverhältnis gefangen sein werden. Doch das bedeutet nicht, daß sie unmöglich oder nutzlos sein müssen. Denn gerade wenn es der Fall ist, daß das radikale Denken von der herkömmlichen, auf einer Realitätskonzeption von Subjekt und Objekt basierenden Herangehensweise qualitativ endgültig verschieden ist, kann der Text durch ein eine um Konsistenz und Kohärenz bemühte Interpretation nichts verlieren.
"Jedenfalls sind [radikales, M.B.] Denken und Reales unvereinbar. Vom einen zum anderen ist kein Übergang nötig oder natürlich." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 150.
Er kann damit natürlich auch nicht auf dem gleichen Terrain gewinnen, allenfalls gelingt eine verstehende Annäherung, ein Zugewinn an Ausdrucks- und möglicherweise Überzeugungskraft auf der Anderen Seite.
Im Grunde haben beide Seiten schon gewonnen, wenn die Lektüre dieser Arbeit durch die genannten Modifikationen weniger ermüdend geworden ist.
Bestenfalls kann diese Arbeit also zu einem reflektierten Verständnis des von Baudrillard Aufgezeigten in einer Art und Weise beitragen, die Klärung ermöglicht, ohne den Blick auf die diesem Modus der wissenschaftlichen Beschreibung innewohnenden Mechanismen der Verklärung und deren Verklärung zu verstellen.
Im übrigen bleibt die Frage offen, ob das radikale Denken dem Gefangensein in der beschreibenden Sprache wirklich entgehen kann.
Die vorgenommenen Interpretationen, Begriffsklärungen und ihre Kritik sind daher nicht auch nur dem Anspruch nach letztgültig, sondern haben Vorschlagscharakter. Ihre mögliche Überzeugungskraft gewinnen sie nicht aus dem Verschwindenlassen möglicher Zweifel, sondern aus ihrem Beitrag zu einem reflektierten Verständnis des Textes und dieses Verständnisses selbst.

Ich werde dazu in einem ersten Schritt unter Zuhilfenahme weiterführender Literatur von Baudrillard einige zentrale Aspekte des perfekten Verbrechens herausarbeiten. Im zweiten Teil werde ich eine kritische Würdigung versuchen und mit einem Postscriptum schliessen.

DAS PERFEKTE VERBRECHEN
Das perfekte Verbrechen besteht in der Vernichtung der Welt als Illusion zugunsten einer vollständig realisierten Welt. Was ist damit gemeint?

DAS OPFER - DIE WELT ALS ILLUSION
Die Welt als Illusion bezeichnet einerseits den Zustand, in dem und an dem das Verbrechen begangen wird. Andererseits liegt die Welt als Illusion nur dank eines konstitutiven und unwiderruflichen "Urverbrechens" vor. Die Dialektik von Opfer und Täter entlarvt Baudrillard als Effekt der Illusion. Insofern tut sich kein Widerspruch zwischen der Opferrolle der Illusion im perfekten Verbrechen und ihrer Genese im Urverbrechen auf. "Letzten Endes sind Täter und Opfer ein und dieselbe Person. (…) Letzten Endes sind Objekt und Subjekt ein und dasselbe." (S. 10)

Die Welt hat grundlegend illusorischen Charakter. Die Illusion ist für das Gegebensein der Welt überhaupt konstitutiv. Das "Urverbrechen" besteht gerade darin, die Welt dem Menschen als Illusion zum ersten mal gegenübertreten zu lassen, sie ihm als das Erste Objekt zu geben und sich dadurch als das erste zur Erkenntnis befähigte Subjekt zu konstituieren. Insofern ist sie ebenso wünschenswert wie unausweichlich.

Baudrillard entwirft die Illusion nicht im herkömmlichen Sinne der Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis, die von den Menschen hilflos auf die Welt gestülpt wird, sondern als ein Produkt der Welt selbst. "Gegenüber dem Subjekt als unbeugsamem Produzenten von Sinn steht die Welt als unermüdlicher Produzent von Illusion - einschließlich der des Sinns, mit der unfreiwilligen Beihilfe des Subjekts." (S. 35) Der implizite Hochmut der kantischen Vermutung wird erst entlarvt, indem sie auf den Kopf gestellt wird. Es ist Welt, die mit uns spielt, sie produziert die radikale Illusion, nicht wir. Menschen imitieren, produzieren und reproduzieren Sinn, den faden Abklatsch einer Beziehung zur Welt, aber den ursprünglichen Zusammenhang lösen sie weder auf, noch konstituieren sie die Illusion.

Doch mit der Illusion beginnt auch das Spiel von Schein und Sein. Mit diesem Schritt aus der primordialen Ordnung wird sie unwiderruflich und unaufhörlich in eine "wirkliche Wirklichkeit" und eine Welt der Doxa einteilt. Die Illusion ist die Art und Weise, "… wie die Dinge sich für das ausgeben, was sie sind, während sie ganz und gar nicht dahinter stehen. Im Schein sind die Dinge das, wofür sie sich ausgeben."

Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 34.  Im Original heißt es allerdings nicht "Schein", sondern "apparence", also eher Erscheinung.  Diese Wortwahl hilft zu verstehen, daß es sich bei dem, was Baudrillard unter Schein versteht, nicht lediglich um Defizitäres, die Doxa handelt, sondern eben auch um die Erscheinungsweise der Welt, das "dispositif" der "apparence". Vgl.: Baudrillard, Jean, Le crime parfait, Paris, 1995, 34. - Marginalie zur Fußnote: Das ist übrigens ein gutes Beispiel für die Von Baudrillard behauptete Unübersetzbarkeit der Sprachen, vgl.: Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 141
Erkenntnis wird in diesem Moment möglich und bleibt unwiderruflich ihrer eigenen Ungesättigtheit ausgeliefert.
"Ebenso wie die wenigen Sekunden des Urknalls unergründlich sind, so sind die wenigen Sekunden des ursprünglichen Verbrechens irreversibel." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 12.
Insofern generiert die Illusion die Welt immer nur als einen defizitären Zustand, eine Verheißung, die innerhalb des Spiels, das sie selbst erst ermöglicht nie in Erfüllung gehen kann. "Die radikale Illusion ist die des Urverbrechens, durch das die Welt von Anfang an verändert ist, niemals identisch mit sich selbst, niemals real. Die Welt existiert nur aufgrund dieser definitiven Illusion: das Spiel des Scheins - Ort des unaufhörlichen Verschwindens aller Bedeutung und aller Finalität." (S. 21)

Wo und wann auch immer Menschen in ontologischer oder erkenntnistheoretischer Hinsicht in der Welt ein "Etwas" vermuten und es im Denken und Sprechen konstitutieren, erliegen sie ihrem Schein. Denn in Wirklichkeit ist an all den Stellen, wo wir Materie, Substanz, mit sich selbst identische, ganze Objekte vermuten, tatsächlich ein "Nichts". Die Welt ist in diesem Sinne "radikal unvollkommen" und zieht sich hinter ihren eigenen Schein zurück. "Daß die Welt Illusion ist, beruht auf ihrer radikalen Unvollkommenheit." (S. 22)

Die materielle Illusion
Die materielle Illusion bezeichnet die Vermutung, daß wir es in der Welt mit Materiellem zu tun haben. Doch die Welt ist tatsächlich sowohl räumlich als auch zeitlich endgültig von sich selbst abwesend. "Die Abwesenheit der Dinge von sich selbst, die Tatsache, daß sie nicht stattfinden, obwohl sie so tun als ob, die Tatsache, daß alles sich hinter seinen eigenen Schein zurückzieht und deshalb nie mit sich selbst identisch ist, darin liegt die materielle Illusion der Welt." (S. 13)

Die Welt ist nie am Ort ihres Erscheinens, vielmehr dort wo sie erscheint immer schon wieder abwesend. Einleuchtend wird diese These am Beispiel des Sterns im Fernglas, der im Moment des Sichtbarwerdens selbst immer schon an einer anderen Stelle ist oder bereits gar nicht mehr existiert, als dort, wo der Betrachter ihn ausmacht. (S. 86) In kleineren Dimensionen verhält es sich genauso mit dem Zugang zu allem Materiellen und sei die Verzögerung auch noch so klein. Gegenwart ist illusorisch aber so unausweichlich wie das Verschwinden der Welt in ihrem Schein.

Auch in zeitlicher Hinsicht ist die Welt nie voll gegenwärtig, nie identisch mit sich selbst. Gegenwart gibt es nur als absolute Gegenwart in einem einzigen Zeitpunkt. Doch sowohl die Phänomene unseres Bewußtseins als auch die der Welt liegen immer in größeren zeitlichen Einheiten vor. Anders wären Ereignisse, Sequenzen von Eindrücken oder Erinnerungen weder wahrnehmbar noch erklärbar. Die absolute Gegenwart eines einzigen Zeitpunktes wäre nicht zu ertragen; Baudrillard spricht von der "Epilepsie der Gegenwart". (S. 88)

Die raum-zeitliche Entfernung der Welt von sich selbst konstituiert eine endgültige Abwesenheit der Welt von sich selbst. Erst durch das Verschwinden, das Sich-entziehen wird sie uns zugänglich als etwas, das immer bereits abwesend ist. Das ist die materielle Illusion der Welt.

Die objektive Illusion
Die objektive Illusion bezeichnet die Vermutung, daß wir es in der Welt mit ganzen, in sich zusammenhängenden Objekten zu tun haben. Zwar ist das, was wir wahrnehmen untrennbar eins in unserer Wahrnehmung und Beschreibung, doch zwischen den beschriebenen Teilchen selbst herrscht keine gesetzmäßige Kommunikation. Vielmehr handelt es sich um den Austausch kontingenter Effekte. (S. 89) Anders formuliert: die Teilchen verhalten sich zwar den Beschreibungsmodellen entsprechend, doch sie selbst wissen nichts von diesen. Die Effekte und ihre Kontingenzen erzwingen laufend eine Revision ihrer Beschreibungen und nicht umgekehrt.

Dieses Verhältnis kehrt sich auch im Stadium der Virtualität nicht um.  Denn zwar beginnt die Welt, sich den Zeichensystemen entsprechend zu verhalten, doch als Teil ihres ironischen Spiels, nicht als eine Funktion von Gesetzmäßigkeiten. Dazu siehe unten.
Es bleibt die ernüchternde Einsicht, daß die Welt auch engültig nicht-objektiv ist. "Sie bleibt im Grunde das große, entsetzliche Rätsel, vor dem wir uns durch die formelle Illusion der Wahrheit schützen." (S. 13)

Und dennoch ist die Welt unleugbar als Welt gegeben. Doch die Grundverfassung dieses Vorhandenseins ist illusorisch. Die Materielle und objektive Illusion bezeichnen gerade diejenigen Vorstellungen, die wir im Zugang zur Welt nicht nicht haben können und ihn uns damit ermöglichen. Aber sie schliessen gleichzeitig jede From von Unmittelbarkeit und Identität aus - denn die Welt liegt nur als eine immer schon verschwundene vor. Insofern ist die Illusion zum einen konstitutiv für den "Welteffekt": die Vorstellung, daß wir es überhaupt mit einem wie auch immer geordneten Etwas zu tun haben, in der sie notwendigerweise immer verschwindet. Zum anderen ist dieser illusorische Schein auch der Moment, in dem sich die Welt in ihrer Unfassbarkeit als nicht explizierbares Rätsel zeigt. Der illusorische Charakter der Welt ist also der unhintergehbare Modus, in dem die Welt unaufhörlich verschwindet und sich zeigt.

Baudrillard knüpft an diese Diagnose die anthropologische Vermutung, daß der Mensch als Teil der Welt auch ein Teil von beiden Momenten sei, des Verschwindens und des Sich-Zeigens, des Nichts und der Illusion der Welt. (S. 99) Aus diesem Grund kann er annehmen, daß der Mensch überhaupt dazu in der Lage ist, die Illusion als solche zu erkennen sich auf die Suche nach dem Verschwindenden und Verschwundenen zu machen. Denn das Verschwinden hinterlässt Spuren. Die Spuren des Nichts, die untrüglich davon zeugen, daß einmal Etwas gewesen sein muß, wo jetzt das Nichts als Leere gähnt. An diese Spuren kann sich der Mensch heften.

DAS VERBRECHEN - DIE VERNICHTUNG DER WELT ALS ILLUSION
Die Welt als Illusion ist unerträglich. "Um diesem drohenden Entsetzen zu entgehen, müssen wir die Welt entschlüsseln, und damit die ursprüngliche Illusion vernichten. Wir ertragen weder die Leere noch das Geheimnis, noch den reinen Schein." (S. 13) Aus diesem Grund entwerfen wir die Welt als eine sinnvolle Realität und ein dazugehöriges Zeichensystem, das den Bezug zum Objekt herstellen soll. Das Verbrechen besteht in der Vernichtung der Welt als Illusion und der "… Sättigung durch absolute Realität." (S. 100) Seine Perfektion liegt in der Verwischung der Spuren dieser Vernichtung. "Dies ist die Quintessenz des Verbrechens: wenn es perfekt ist, hinterlässt es keine Spuren mehr. Was uns die Existenz der Welt bestätigt, ist ihr zufälliger, krimineller, unvollkommener Charakter. Darum kann sie uns nur als Illusion gegeben werden." (S. 22)

Welt als Realität
Die Welt wird von uns als Realität konzipiert, um der radikalen Unvollkommenheit des illusorischen Welteffektes zu entgehen. Erst in einer Welt, in der es klare Trennungen von mit sich selbst jeweils identischen Subjekten und Objekten gibt, in der Gesetzmässigkeiten herrschen, anhand derer die Welt sich entschlüsseln läßt, können wir uns Gewissheiten verschaffen und uns unserer selbst im Verhältnis zu anderen und der Welt versichern. Dadurch wird die Welt erträglich. "Nirgends können wir den Beweis unserer Existenz oder ihrer Authentizität leisten. Die Existenz, das Sein, das Reale sind strenggenommen unmöglich. Die einzige Lösung dieser Situation, abgesehen von metaphysischer Zuflucht zu einem höheren Willen (…), ist das Verbrechen." (S. 68)

Nach dem Urbild der Trennung von Leben und Tod wird die Welt als objektiv und gegenwärtig erfunden und in Abgrenzung dazu Subjekte als das Andere der Objektivität.

Vgl.: "… alle Trennungen, die die unterschiedlichen Strukturen des Realen bilden (...) haben ihr Urbild in der Trennung von Leben und Tod. Und so wird jedes abgetrennte Teil, für das das andere sein Imaginäres ist, in jedem Bereich der "Realität" durch dieses wie durch seinen eigenen Tod heimgesucht." Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München, 1991, 211.
Diese Grundkonstellation ermöglicht die Schaffung von Wissen, das auf der Opposition von Subjekt und Objekt basiert und es ermöglicht, die objektive Welt und die anderen Subjekte zu begreifen und unter dieses Wissen zu subsumieren. Der Effekt einer realen Welt ist jedoch "… nur der strukturelle Effekt der Trennung zweier Teile, und unser berühmtes Realitätsprinzip ist mit all seinen normativen und repressiven Implikationen nur die Verallgemeinerung dieses disjunktiven Codes auf allen Ebenen. Die Realitat der Natur, ihre "Objektivität" und Materialität", entsteht erst durch die Trennung von Mensch und Natur - eines Körpers und eines Nicht-Körpers… ." (S. 209)

Für den Bereich der Subjektivität dient die große Erzählung der Menschen als Träger eines freien Willens dazu, den Menschen seiner Eigengesetzlichkeit zu unterwerfen, um sich von der schicksalhaft undurchsichtigen Regel der Welt zu befreien. Analog wird die objektive Welt den Gesetzen der Kausalität unterworfen, um nicht der unerträglichen Kontingenz ausgeliefert zu sein.

Simulation, Dopplung, Hyperrealität und Virtualität
Diese Konstruktion der Welt als Realität basiert auf Simulation. Durch die Nachahmung der Welt im Zeichen wird das Nachgeahmte selbst als Realität fraglos. Diese Bewegung der Tranformation der Zeichen ist durch ein zunehmendes Eigenleben der Zeichen gekennzeichnet und führt in letzter Konsequenz zum Untergang der Illusion.

So interpretiere ich auch die Aussage: "…wir leben in einer Welt, in der es die wichtigste Aufgabe des Zeichens ist, die Realität verschwinden zu lassen und dieses Verschwinden zugleich zu vertuschen."  Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 17.  Ich halte das für ungeschickt und inkohärent.  Nach allem was Baudrillard über das Verschwinden schreibt, geht die Welt als Illusion im Übermut der Zeichen unter, nicht aber als Realität.  Als solche wird sie in einem autoreferentiellen Zeichensystem erst erschaffen.  Aber der Wortlaut des Originals spricht ebenfalls gegen diese nachsichtige Interpretation.  Dort ist ebenfalls von "réalité" statt von der Welt die Rede.  Baudrillard, Le crime parfait, 18.
"…die Tötung der Illusion der Welt zugunsten einer absolut realen Welt - genau das ist die Simulation." (S. 33) Wir überschütten uns mit Bildern der Welt, die darin als immer schon realisierte in Echtzeit übertragen wird. Doch in Wirklichkeit ist auf ihnen von der Welt und ihrem Verschwinden nichts mehr zu sehen; sie entsteht vielmehr im Simulakrum als Realität. (S. 21)

Mit dem Einbüßen der Beziehung der Bilder und Begriffe zur Welt, erwachen die Simulakra, übernehmen die Zeichen nach dem Verlust aller ursprünglichen Bedeutung die Macht.(S. 120, 151)  In der Abwesenheit eines weltbezogenen Bedeutungszusammenhangs erstrahlen sie im künstlichen Licht ihrer Leere; und nichts bleibt verschont. Die USA machen es in Reinkultur vor:

Baudrillard spricht zwar in "Amerika" immer nur von Amerika und "den Amerikanern", er meint aber manchmal die Vereinigten Staaten von Nordamerika und manchmal den Mythos Amerika.
"Alles kann Gegenstand einer zweiten, der ewigen Geburt des Simulakrum werden. Die Amerikaner sind nicht nur Missionare, sie sind auch Wiedertäufer: da sie die Urtaufe versäumt haben, träumen sie davon, alles noch einmal zu taufen. Sie gestehen nur diesem späteren Sakrament Bedeutung zu, das, wie man wohl weiss, nur die Neuauflage des ersten ist, aber eben viel wahrer - die perfekte Definition des Simulakrum kurzgesagt." (S. 61)

In einer ersten Stufe dienen die Zeichen als Dopplung. Sie repräsentieren die Welt, die sie gleichzeitig als eine in feste Objekt- und Subjektbereiche trennbare Wirklichkeit konstituieren und von anderen geschlossenen Objekten abheben. Bereits in diesem Stadium wird das Verschwinden der Welt verleugnet; denn im Bild von der Welt ist ihr rätselhaftes Verschwinden nicht mehr präsent. Sie wird als eine feste Größe fraglos. Ein Beispiel: "Die Bilderverehrer von Byzanz waren spitzfindige Leute, die vorgaben, Gott um seines Ruhmes willen darzustellen, sie jedoch gerade dadurch, daß sie Gott in Bildern simulierten, das Problem seiner Existenz verschleierten. Von seinem Platz hinter jedem dieser Bilder war Gott nämlich verschwunden. Er war nicht tot, er war verschwunden. Das Problem stellte sich also gar nicht mehr. Durch Simulation war es gelöst." (S. 16/17)

Im Stadium der Hyperrealität erlangt das Zeichen durch Rekontextualisierung einen anderen und höheren Stellenwert als den, den es als Repräsentation hatte. Aus dem Repräsentationskontext entnommen und in einen neuen Kontext gestellt, erlangt es seine Bedeutung nicht mehr durch die Unmittelbarkeit und Nähe zum Objekt, sondern durch den "Raum der Bedeutungslosigkeit" und wird somit höherrangiger als die Welt selbst. Denn für Bedeutungen wird der von der Repräsentation entlassene Zeichenkontext selbst konstitutiv. Das mediale Abbild erlangt mehr und mehr Eigenleben, wird immer realer. Die Opposition dieses "Lebens" des Bildes gegen seinen "Tod", die Welt als Illusion, verschärft sich; allerdings ohne die kathartische Erwartung einer Auseinandersetzung, sondern die Welt geht einfach schweigend in ihrem hyperrealen Double unter. (S. 114)

Dennoch lebt dieser Bedeutungskomplex von einem Restbezug zur Welt, da die Deplazierung stets den ursprünglichen Kontext als Referenz benötigt und sei es nur, um ihn zu verwischen oder zu negieren. Baudrillard beschreibt diese Vorstufe des Virtuellen anhand von Marcel Duchamps Flaschentrockner: "Es gibt einen Vorläufer dieser medialen Fauna der virtuellen Technologien, dieser immerwährenden Realityshow: das Ready-made. (…) Der aus seinem Kontext, seiner Idee und seiner Funktion ausgelöste Flaschentrockner wird realer als das Reale (hyperreal) und kunstvoller als die Kunst (…)." (S. 51/52) Diese Analyse gilt nicht nur für den Bereich der Kunst, sondern auch für ganze Kulturen. Es tun sich erschreckende aber einleuchtende Parallelen zwischen Kriegen und für normal gehaltenen Umständen auf: "Amerika ist weder Traum noch Realität, es ist Hyperrealität. Eine Hyperrealität, weil eine Utopie, die von Anfang an als schon verwirklicht gelebt wurde." (S. 44) Sarajewo "…ist die Hölle, aber eine gewissermaßen hyperreale Hölle, die durch die ermüdenden medialen und humanitären Aktivitäten noch hyperrealer geworden ist, da diese die Haltung der ganzen Welt ihnen gegenüber noch unverständlicher erscheinen lassen."

Baudrillard, Kein Mitleid mit Sarajevo, in: Lettre International, Nummer 31, Berlin, 1995, 91.
In dem außer Frage Stehen der Realität, der Unmittelbarkeit der Übersetzung der Welt in frag- und antwortlose Zeichen, liegt sowohl die Obszönität und Andersartigkeit dieser Neuen Welten, als auch ihre geteilte Hyperrealität.

Auf der Stufe der Virtualität treten die Zeichen vollständig an die Stelle der Welt und vertuschen deren Verschwinden. Die Zeichen sind nicht mehr repräsentational, sie funktionieren vollständig autoreferentiell. Die Illusion der Welt geht in der Zeichenoperationen unter. Wo kein Etwas mehr vermutet werden kann, da kann das Verschwinden und das resultierende Nichts nicht als ein Defizit verstanden werden. Im Kern der Virtualisierung und damit des Verbrechens steht die vollständige Abkopplung der Welt von den Zeichen durch eine gewaltige Transformation von Welt in Information, die mit Hilfe effizienter Technologien betrieben wird. In einem "…gigantischen Apparat an Sinn, Berechnung und Effizienz, der all unsere technischen Artefakte bis hin zur aktuellen virtuellen Realität umfaßt, geht die Illusion des Zeichens zugunsten seiner Operation verloren." (S. 34) Denn in dieser Transformation der Welt in selbstreferentielle Zeichen geht das Kontingente, der Ereignischarakter der Welt so vollständig unter, daß noch nicht einmal eine Ahnung vom Verlust der Welt bleibt.

Die USA sind in dieser Hinsicht Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung, in der der binäre Code immer bestimmender für alle gesellschaftlichen und individuellen Interaktionsprozesse wird. Der Code, das digitale Bild ist ein Simulakrum der "dritten Art", der virtuellen Stufe, in der das Strukturgesetz des Wertes herrscht. Dieses Strukturgesetz ersetzt die alten Natur- und Marktgesetze des gesellschaftlichen Tausches und operiert aufgrund flottierender, nicht mehr wirklichkeitsbezogener Wertdeterminationen.

Vgl.: Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, 79 ff. Und: Baudrillard, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, 39.
"… jeder Term eines Systems hat Wert nur durch seine Beziehung zu den anderen, zu allen anderen Termen; kein Term hat Wert an sich, vielmehr geht der Wert aus der totalen Austauschbarkeit der Elemente hervor, er ist die dem Code entsprechende variable Geometrie: strukturaler Wert." (S. 42)

Zum Beispiel: Der Wert von Währungen wird wie die Bedeutung von Zeichen in einem von der Welt losgelösten Spiel ermittelt, in dem die auf Differenzen basierende Struktur der anderen bedeutungstragenden Faktoren und Terme den eigenen Wert bestimmt. Das Paradoxale dieser Entwicklung besteht in dem Widerspruch zwischen den kleinsten bedeutungsgenerierenden Einheiten, den minimalen Differenzen in immer kleiner werdenden Einzelinformationen und der Undifferenziertheit der Simulation. "… Ununterscheidbarkeit ist der Höhepunkt der modernen Simulation. Es gibt auch hier kein natürliches Universum mehr, man kann Wüste und Metropole nicht mehr unterscheiden."

Baudrillard, Amerika, 142.  Es handelt sich wohlgemerkt nicht mehr um einen dialektischen Widerspruch, der einer Kritik zugänglich wäre. So argumentierte Baudrillard noch in Kool Killer wenn er die subversive Wirkung der Inhaltsleere von Graffitisprüchen in New York beschreibt: "Vor allem aber wurden zum erstenmal die Medien in ihrer Form selbst attackiert, also in ihrer Produktions- und Verteilungsweise.  Und zwar eben deshalb, weil die Graffiti keinen Inhalt, keine Botschaft haben. Es ist diese Leere, die ihre Kraft ausmacht."  Baudrillard, Kool Killer, 29/30.  Diese vom Paradigma der materiellen Produktion geprägte Argumentationsform hat er in den späteren Werken ausdrücklich aufgegeben.
Die Simulation verwischt darin die Spuren des Verbrechens, indem sie immer glatter, "perfekter", ihre Oberfläche immer glänzender wird und von der zugrundeliegenden Digitalisierung des Analogen und dem Analogen selbst keine Spur mehr bleibt.

Diese Entwicklung ist trostlos, da sie eine Kunst der Vergegenwärtigung des Illusionären im Imaginären unmöglich macht. "Amerika ist überhaupt nicht surrealistisch. Es ist ein Universum der Simulation, das heißt, es kennt keinen Kunstgriff, nicht einmal den des Traums." (S. 190) Der symbolische Tausch wird asymmetrisch, das entleerte, von aller Illusion gereinigte Objekt zum Fetisch, es entsteht das Gesamtbild einer hyperrealen Welt. In der sterilen Virtualität feiern wir unseren Drang nach Unsterblichkeit, schaffen vollständig leidenschaftlose Objekte, perfektionieren ihren Tod, der, als ein reales Eigenleben maskiert, auftritt, um die Welt als Illusion, das Leben in einem asymmetrischen Tauschverhältnis zu verschlucken. (S. 70) Antworten der Anderen Seite sind nicht mehr gefragt, ja es wird überhaupt nicht mehr gefragt im Spiel der sich selbst aufladenden und reproduzierenden Antworten: "In der Sphäre der Medien (…) wird zwar gesprochen, aber so, daß nirgends darauf geantwortet werden kann." (S. 92)

Hohe Auflösung und integrale Realität
Der paradigmatische Schlüsselbegriff für den Prozeß der Virtualisierung durch Überführung von allem in Zeichen ist die "Hohe Auflösung". "Überall kennzeichnet die Hohe Auflösung jenseits aller natürlichen Determination den Übergang zu einer operationalen - genauer gesagt "hochauflösenden" - Formel, zu einer Welt, in der die referentielle Substanz immer knapper wird. (…) Das hochauflösende Bild: Es hat nichts zu tun mit Darstellung, noch weniger mit ästhetischer Illusion. Die gesamte generische Illusion des Bildes wird durch die technische Perfektion vernichtet." (S. 53/54)

Durch die Zerstückelung in digitale Einheiten ihre Zusammensetzung und die resultierende Bilderproduktion wird die Welt als vollendet und völlig gegenwärtig dargestellt. "Die eigentliche generative Formel (…) ist die Formel der Binarität, der Digitalität …" vermittels derer wir unaufhörlich Bilder und Zeichen produzieren. (S. 115) Das zugrundeliegende Ereignis, das dem Strom der Vorhersagbarkeit widerstreitet, gerät aus dem Blick und verschwindet sogar in der Information.

Die Welt wird also durch die Transkription in Informationszeichen mehr und mehr als Realität konstitutiert, "realisiert". Die Zeichen selbst tragen keine Spur vom Kontingenten, Geheimnisvollen oder Unfassbaren. Sie sind vielmehr objektiv. In der Objektivität der Zeichen wird die Welt als Realität konstituiert und ihr Realitätscharakter steht nicht mehr in Frage. Die Welt als Illusion verschwindet darin und wird durch eine völlig desillusionierte, totale Gegenwart in vollendeter Echtzeit ersetzt. "Das perfekte Verbrechen ist das einer uneingeschränkten Realisation der Welt durch Aktualisierung aller Daten, durch Transformation all unserer Handlungen, aller Ereignisse in reine Information - kurz: die Endlösung, die vorzeitige Auflösung der Welt durch Klonung der Realität und Vernichtung des Realen durch sein Double." (S. 47)

Diese Transkriptionen macht Baudrillard exemplarisch in verschieden Bereichen menschlicher Lebenszusammenhänge aus: Zeit wird in Echtzeit überschrieben, den Modus der unverzögerten, totalen Aktualisierung, der in der geradezu obszönen Vorwegnahme der Vollendung aller Vollzüge endet. "Die Künstliche Intelligenz: Das ist die langersehnte Realisation des Denkens, vollständig materialisiert durch die unaufhörliche Interaktion aller Virtualitäten in Analyse, Synthese und Berechnung, ebenso wie die Echtzeit sich durch die unaufhörliche Interaktion aller Augenblicke und aller Beteiligten definiert." (S. 56) Das Denken wird in Zeichen und deren Operation überschrieben, in dem der Gedanke im Rechner und seiner permanenten Aktualisierung untergeht. Die künstliche Intelligenz vollendet die Vorwegnahme des Gedankens durch den Rechner. In der gleichen Weise transkribieren wir Körper in Genom, Sexualität in Pornographie, Sprache in numerische Sprachen. (S. 53) Immer mit dem gleichen Ergebnis: hochauflösende Bilder in Echtzeit ersetzen das kontingente Ereignis, das zu beschreiben die Bilder einmal angetreten waren. Die Realität des Beschriebenen weicht der Realität der Beschreibung, die Vollendung des Ereignisses ist immer schon in der Information enthalten.

DIE UNVOLLKOMMENHEIT - SPUREN DES NICHTS
Dieses Verbrechen ist allerdings nicht perfekt. Es hinterlässt Spuren des Verschwindens, "… denn die Welt verrät sich durch äußere Anzeichen - sie sind die Spuren ihrer Inexistenz, die Spuren der Kontinuität des Nichts. Denn sogar das Nichts, die Kontinuität des Nichts hinterlässt Spuren. Und durch sie verrät die Welt ihr Geheimnis." (S. 11) Wäre das Verbrechen perfekt, so könnte es nicht als solches identifiziert werden. Die Unvollkommenheit ist also in diesem Sinne konstitutiv für das Verbrechen. Es gilt, die sinnlose Sprach- und Bilderhäufung in der Welt zu durchdenken und zu mindern, um die verschwundene Konstellation des Geheimnisses und des ursprünglichen Sinns wiederzufinden.

Vgl.: Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 14/15.  An der entscheidenden Stelle heißt es "Um die Spur des Nichts (…) wiederzufinden, muß man also die Realität der Welt mindern."  Im Original wird allerdings das Wort "ôter" verwendet, also eher "abziehen" als "mindern".  Das ist interessant, weil es dem "abstrahere" nahesteht und insofern dem abstrakten Denken als einer Strategie des Wiederfindens Raum läßt. Baudrillard, Le crime parfait, 16.
Zum anderen zerstört sich die vollendete integrale Realität fortwährend selbst. Echtzeit ist selbst in der höchsten Beschleunigung unmöglich, die Spuren des Verschwindens der Welt gehen nie vollständig unter. Der Grund hierfür liegt darin, daß Echtzeit in Wirklichkeit gar nicht möglich ist. Es wird immer eine Verzögerung bleiben und sei sie auch noch so gering. Zwar suggeriert sie eine "… unmittelbare Nähe des Ereignisses zu seinem Double…", doch diese "… direkte Transkription hat etwas Obszönes, denn die Verzögerung, der Aufschub, die Spannung sind für die Idee und Rede essentiell." (S. 55)

Im übrigen finden sich in allen, also auch den für perfekt gehaltenen, Zuständen immer auch Risse und Unebenheiten. "Wir hinterlassen überall unsere Spuren - Viren, Lapsus, Keime und Katasrophen -, Zeichen der Unvollkommenheit, die Handschrift des Menschen im Herzen der artifiziellen Welt." (S. 71) Einer der Keime ist die Delegitimierung. Der auf einem Konzept von Subjektivität basierende Wille richtet sich, nachdem die Moderne all ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt hatte, schliesslich gegen sich selbst. Alles wurde dem Willen unterworfen, so auch seine postulierte Freiheit. Das unbeabsichtigte Ergebnis lautet: Es besteht zwar Freiheit, etwas zu wollen, doch keine Freiheit von dieser Freiheit mehr: "Wir sind nicht mehr frei, nicht zu wollen."

Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 26. Dieser Gedanke stammt ohne Zweifel aus der Dialektik der Aufklärung, er wurde prominent von Lyotard im Postmodernen Wissen reformuliert.
Einen anderen Virus macht Baudrillard in den Zerfalls- und Zerstörungskriegen im ehemalgen Jugoslawien aus. Dort wird die "Transparenz des Bösen" offenbar, eine vitale Regung der Welt als unheimlicher Unfassbarkeit, über die glatte Welt des realisierten Europa immer nur zeitweise und unvollständig hinwegtäuschen kann. "Das unterdrückte und verdrängte Geschwür, das alles andere verdirbt, das Virus, dessen Symptom von nun an die Lähmung Europas ist." (S. 91)

Die objektive Ironie der Welt
Die objektive Ironie der Welt besteht darin, daß sie zwar in den Technologien der Virtualisierung als Illusion untergeht, sie aber dennoch in der vollendeten integralen Realität selbst wieder als Illusion in Erscheinung tritt. Denn das Verbrechen an der Welt ist ein Teil der Welt und die hat unhintergehbar illusorischen Charakter; es bleibt seinerseits ein Rätsel. (S. 10) Insofern wird das Verbrechen selbst von dem, was es zu vernichten sucht, in seinen Vollzügen immer wieder eingeholt. "Letztendlich stehen wir vor zwei unvereinbaren Hypothesen: die der Vernichtung aller Illusion der Welt durch die Technik und das Virtuelle - oder die einer ironischen Bestimmung aller Wissenschaft und allen Wissens, wodurch die Welt und die Illusion der Welt fortbestehen würden." (S. 117) Doch mit der Bestimmung der Welt als illusorisch und ironisch bleiben beide Thesen zutreffend.

Hier wiederholt sich die paradoxale Bewegung des Verschwindens und Zeigens der Welt auf einem anderen Niveau. In diesem Sinne ist und bleibt die Welt uns endgültig überlegen.

Vgl.: "…die Welt ist überlegen. Dies bewahrt uns vor der Illusion des Willens, auch des Glaubens und des Verlangens. Vor der metaphysischen Illusion, etwas dafür zu können, und die Weiterführung des Nichts zu vereiteln. Unser Wille ist wie eine Scheinschwangerschaft oder eine künstlich innervierte Prothese." Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, 24.
So taucht zum Beispiel in den Technologien der Virtualisierung im vollendeten Zeichen die Illusion wieder auf. Der Überdruß einer vollständig aktualisierten Bilderflut in Echtzeit, die einhergehende Leere können auch als eine Erscheinungsform der Welt als Illusion verstanden werden. Der Bock der Virtualisierung, der sich in den kreativsten Weltgärtner verwandelt, nicht nur obwohl, sondern auch weil er dazu bestellt wurde. Das ist Baudrillards Ironie.

DAS RADIKALE DENKEN
Radikales Denken ist die Gegenstrategie zum Verbrechen. Es unterscheidet sich in mehrerlei Hinsichten vom kritischen Denken. Die Möglichkeit kritischen Denkens ist in einer vollständig realisierten Welt nicht gegeben. Denn der dazu erforderliche "Außenstandpunkt" ist selbst ein Teil der Subjekt-Objekt Unterscheidung und damit der Simulation. Im übrigen gibt es keine Beweise, daß zwischen kritischen Ideen und der Welt ein Bezug herstellbar ist. Der Bezug löst sich in der realisierten Welt auf, da sowohl die Welt als Realität vollständig autoreferentiell funktioniert als auch die Ideen als Teil der Simulation keinen Einfluß auf sie nehmen können. Die Bezüge zwischen Welt und Ideen sind in der Welt als Realität abgeschafft.

In der Perspektive des radikalen Denkens erscheint beispielsweise die Situation in Jugoslawien als Teilstück einer verdrängten europäischen Bewegung, die sich unterhalb der Realitätswahrnehmung der Fernsehbilder abspielt. Baudrillard denkt von der finalen Vollendung dieses Prozesses her: "Alle Staaten Europas befinden sich in einem Prozeß der ethnischen Säuberung. So sieht das wirkliche Europa aus, das sich heimlich, still und leise im Schatten der Parlamente herausbildet, und Serbien ist seine Speerspitze. (…) Keine Solidarität der Welt wird etwas daran ändern, das wird wie durch ein Wunder erst dann aufhören, wenn die Vernichtung an ihrem Ende angelangt sein wird, an dem Tag, an dem die Demarkationslinie des 'weißen' Europa gezogen sein wird." (S. 91/92) Schöne Aussichten.

Das radikale Denken setzt auf den Illusionscharakter der Welt. (S. 150) Es denkt von der Vollendetheit des Realen her, es überhöht und überspitzt, ist noch schneller, um in dieser Perspektive das vertuschte Verschwinden der Illusion in den Blick zu bekommen. Es führt eine ironische Matrize des Denkens ein, die die Illusion der Welt in der Realiät sichtbar machen kann. Dieser Modus ist anfallsartig und beruht auf der Originalität seiner Sprache statt auf der Wahrheit seiner Aussagen. (S. 104-106, 147) Radikales Denken unternimmt eine Gratwanderung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Sinn und Unsinn, Welt und Nichts, abstrahiert von der Realität der schönen neuen Welt, um der Welt und dem Sprechen über sie die Illusion wiederzugeben. "Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben - unbegreiflich - und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher." (S. 164)

DAS PERFEKTE VERBRECHEN - TROSTLOSE ANALYSE IN EINER GLÜCKLICHEN SPRACHE ODER RELIGIÖSE MELANCHOLIE?
Man kann Baudrillard Vieles ankreiden: Begriffliche Unschärfe, unlogische Argumente, unwissenschaftliche Vorgehensweise, eine ineffiziente Relation von Textmenge zu Bedeutung und kryptische Ausdrucksweise um nur einige zu nennen. Nach der Lektüre stellt sich für einige Punkte allerdings Verständnis ein, manches davon erscheint sogar als notwendig. Und dennoch: viel von dem, was Baudrillard zu sagen hat, könnte auch sehr viel klarer, knapper und begrifflich stringenter formulier werden, ohne dem Inhalt Abbruch zu tun. Doch ich halte diese Kritik für ein Nebengleis ins Abseits. Denn wenn die Analyse des perfekten Verbrechens zutrifft, handelt es sich bei den in dieser Kritik vorausgesetzten Maßstäben selbst nur um eine Reproduktion von Simulakra, die bei Befolgung zwar ein Maximum an Kohärenz erzeugen können, aber den Weltbezug in keiner Weise sichern. Im Gegenteil, sie sind Teil seiner Vernichtung. Insofern muß mit dem Text anders umgegangen werden.

Das ewige Auftauchen und Verschwinden ist eine Grundfigur im Denken von Baudrillard. Alle Entitäten befinden sich in diesem parmenideischen Strom der Veränderung, kurz scheinen sie in einer Zustandsform auf, Verschwinden aber schon im gleichen Moment, bleiben immer unfassbar und haltlos. So ist das Verschwinden der Welt im Urverbrechen der Illusion ebenso ein Auftauchen, wie das Vernichten der Illusion in der integralen Realität auch ein ironisches Sich-Zeigen der Welt ist. Nichts entkommt dieser Bewegung, nicht einmal das Verbrechen, das seine Vernichtung zum Gegenstand hat. Daher muß auch die Analyse des Verbrechens selbst Teil des Verbrechens wie der Illusion sein. Die Beschreibung wird zum Instrument dessen, was sie beschreibt. In diesem Sinne schreibt sie die Welt und wird von ihr geschrieben.

Das sind unverkennbar Heideggersche Gedanken.  Eine Neuformulierung des gleichzeitigen Zur-Welt und Zur-Sprache-Kommens und des Einkehrens in das zähmende Haus des Seins.  In der ersten Bewegung erfindet der Mensch die Welt als seinsvergessene Realität in seiner Erkenntnis und der Sprache.  In der zweiten Bewegung gehört der Mensch immer schon zur Ordnung des Seins, als dessen Hüter er bestellt ist.  Das Sein verschwindet und zeigt sich indem sich die reale Welt konstituiert.  Das sind auch die Grundzüge des Denkens von Baudrillard.  Die letztgültige Übermacht des Seins wird bei Baudrillard als "Ironie der Welt " unvollständig reformuliert.  Sein Entwurf leidet an der Gleichordung der Welten.  Anders als Heidegger kann Baudrillard nicht für ein endgültiges Einholen der Realität durch die Illusion argumentieren, da er die Übermacht der Welt nicht als eine neue Qualität einführt, sondern in dem Prozess des ewigen Eingeholtwerdens der Welt von der Realität, und umgekehrt verharrt (siehe nächster Abschnitt).  In der Heideggerschen Konzeption ist die Überordnung des Seins deutlich.  Dort ist das Menschsein des Menschen immer nur vom Sein selbst, nicht von der Welt definiert.  Die Bewegung ist asymmentrisch.
Der Text erlangt einen verbrecherisch realen Charakter und entkommt dennoch nicht der ironischen Einholung durch die illusorisch verfasste Welt.

Wenn aber der Prozeß auch die Beschreibung und das Beschriebene umfasst, so gibt es wiederum keinen Grund, warum die Ironie der Welt das Verbrechen und sein Anderes, die Illusion, an irgendeiner Stelle dieses Prozesses final einholen sollte. Vielmehr beginnt die Bewegung immer von Neuem. Die Realität ist ein Verbrechen, ist eine Illusion, ist ein Verbrechen, ist eine Illusion. Die Ironie der Welt sichert keinen letzlichen Rückhalt der Welt in der Illsuion, auch sie erscheint nur temporär an der Schnittstelle zwischen dem an Perfektion grenzenden Verbrechen und dem Wiederauftauchen der Illusion in den Prozessen des Verbrechens. Die Wiederauferstehung der Welt als Simulakrum ist ihrem Untergang im Simulakrum, ist ihrer Wiederauferstehung als Illusion, ist ihrem Untergang als Illusion gleichgeordnet. Das immerwährende Flottieren orientiert sich an diesen Polen, findet aber weder einen Anfang noch ein Ende.

Die Behauptung, eine solche Position sei nicht hoffnungslos und depressiv (S. 160), grenzt an einen zynischen Abgesang auf die Ironie der Welt. Der Trost im Akt des schönen Schreibens wirkt wie ein hilflosesr Gefangensein in der selbstverordneten, aller Kritikmöglichkeiten beraubten Perspektive. Ein Verschwinden wird lamentiert, ohne daß jemals genau bestimmt werden könnte, um was es sich handelt, ohne daß noch ein Standpunkt möglich wäre, von dem aus der Prozeß nicht nur beschrieben, sondern auch kritisiert werden könnte. Und gerade im Prozeß des Verschwindens taucht all das Illusorische wieder auf, das durch die Machtübernahme der Simulakra vernichtet werden sollte. Das gegenseitige Durchdrungensein der Illusion mit der integralen Realität erhebt fortwährend sein Medusenhaupt. Es erlaubt Anbetung und verspricht die Offenbarung, spielt mit seiner Trranszendenz und verspricht uns unablässig Immanenz.

Diese Figur ist ihrereseits ein guter Kandidat für ein großes Simulakrum, das es zu entlarven gälte!
Religiöse Melancholie in Reinkultur.

Aber nehmen wir an, die Ironie der Welt wäre der Moment, wo sich die Illusion immer wieder unweigerlich aufrichtet. So muß man fragen, wie die Realisierung der Welt überhaupt als etwas Gefährliches, etwas Negatives erscheinen kann, ist man sich doch des wiederkehrenden Sieges der Illusion gewiß. Wozu und vor allem wogegen richtet sich die Strategie des Radikalen Denkens? Insofern ist Baudrillards Illusion vom Heideggerschen Sein unterschieden, das die Realität gar nicht einholen muß, weil sie sich immer schon im Haus des Seins, der Sprache konstituiert. Gelassene Freiburger Philosophiepastorale wider die französische Hoffnungslosigkeit, die als solche ohne die Kritik, die sie selbst unmöglich macht aber gar nicht sein, geschweige denn sich in einer revolutionären Erwartung trösten könnte.

So hat man mit Baudrillard nichts in der Hand gegen die infernalische Europadiagnose des Sarajewo-Artikels; zum ironischen Trost aber auch keinen überzeuegenden Grund für sie. Die Graffitisprüche an den New Yorker Häusern haben die Welt entgegen der Vermutung im Kool Killer auch nicht angehalten, geschweige denn die Erwartung erfüllt,die Medien in ihrer Produktionsweise angegriffen zu haben.

Und dennoch: Die Virtualisierung gewinnt aller Orten. Alle wissen, daß etwas verloren geht, doch mit dem Verlorengehen geht auch das Sensorium für das, was da verlustig geht, verloren. Für die Beschreibung dieser Prozesse sind die von Baudrillard vorgeschlagenen Modelle in höchstem Maße hilfreich. Das perfekte Verbrechen ist in der Tat mehr Baukasten eines experimentellen Vokabulars, das sich nicht in seiner Stringenz, vielmehr in seinem Ansteckungscharakter beweisen will. Kann damit die Welt auf neue, interessante und womöglich angemessene Art und Weise in den Blick genommen werden? Finden sich Motive eines absichtlich aus den Fugen geratenen Denkens nicht sogar häufiger in der Welt als kohärente Erzählungen, seinen sie klein oder - ganz unpostmodern - ein grand récit? Solche Fragen werden den Texten von Baudrillard gerecht. In dieser Hinsicht eröffnet sich mit dem perfekten Verbrechen ein neuer und radikaler Wort-Schatz, der eine unzeitgemäße Bestandsaufnahme der virtualisierten Welt der Simulakra ermöglicht.

POSTSCRIPTUM
In diesem letzten Teil soll den vorangegangenen Gedanken Gerechtigkeit widerfahren, indem die immanente Tragfähigkeit des Vokabulars anhand einer Bilderfahrung sichtbar gemacht wird. Kann Baudrillard helfen, mehr und/oder neu zu sehen? Ist das vorgeschlagene Vokabular brauchbar für die Beschreibung der Lebenssituation von Menschen in Zeiten medialer Dauerbeschallung?

Der ganz normale Wahnsinn scheint am Mount Everest zu herrschen, wenn wir der Photowerbung einer auflagenstarken Zeitschrift glauben dürfen. Das Magazin wirbt für sich selbst mit großformatigen Bildern von der ach so schrecklich schönen Welt. Das ins Photo gebannte Grauen bittet den ängstlich-feigen Voyeur im Zuschauer zum Tanz. Der soll das Gefühl bekommen, ein wenig herumgewirbelt worden zu sein, so als wäre ein Bild mehr als ein Bild. Und dennoch soll er natürlich gerade nicht in Kontakt treten, sondern in der Vermittlung verharren, kaufen, schauen und lesen. Doch was sieht man auf dem Bild? Was zeigt sich? Und nicht zuletzt: worin besteht der Wahnsinn?

Die Leiche eines erfrorenen Menschen liegt vor dem Photographen, sein Bild vor dem Betrachter. Die Überschrift suggeriert, es handele sich um jemand, der den Mount Everest erklimmen wollte und dabei ums Leben kam. Mehrere Ebenen können unterschieden werden: das Sterben, die Situation des Photographierens, und die des Betrachtens. Die beiden ersteren entstehen als Effekte der letzteren, wirklich sagen kann man über diese nichts. Und dennoch ist es die Eigenschaft der Betrachterperspektive, daß man nicht mehr nichts sagen - oder wenigstens vermuten - kann bezüglich der ersten beiden. Das Schweigen ist gebrochen und mit ihm die Unbescholtenheit der vergangenen Welt, von der das Bild Zeugnis abzulegen vorgibt.

Das Bild lebt als Abbild vom Verweis, dem man nicht nachkommen kann, ohne die Assoziationen, ohne das Nachdenken über das Sterben und das Photographieren. Doch genau darüber kann das Bild selbst nichts sagen. Im Gegenteil, es setzt ein kohärentes Assoziationsmuster voraus, von dessen verlässlicher Abrufbarkeit seine Wirkung lebt. "Jedes photographierte Objekt ist nur die Spur, die das Verschwinden des gesamten Restes hinterlassen hat." (S. 135)

Das Bild kann über Sterben und Photographieren immer nur als etwas immer schon Untergegangenes sprechen, obwohl es vorgibt, genau davon zu zeugen. Denn tatsächlich könnte die Bergsteigerin oder der Bergsteiger an jedem beliebigen Ort der Welt gestorben sein, beim Aufstieg oder Abstieg. Selbstmord, ein Versehen, Erschöpfung, oberhalb der "Moralitätsgrenze" hätte ja auch ein nicht mehr als solcher zu identifizierender Mord geschehen können, alles ist in dem durch das Bild gesteckten Rahmen möglich. Nur das Nichts ist nicht mehr möglich. Es ist ebenfalls verschwunden im Bild. Der grausame Tod des Bergsteigers steht außer Frage, die Notwendigkeit, auf das Bild der Leiche zu reagieren ebenso. Das Bild vom Tod ist selbst nur leichenhafter Verweis auf die Welt.

Das worauf verwiesen wird, ist bereits ein Nichts. Es ist notwendigerweise verschwunden, denn wo die Leiche jetzt wie liegt, wie es am Mount Everest aussieht, weiss niemand. Schon in dem Moment, in dem die Lichtstrahlen das Objektiv des Photographen erreichten, war das Sterben vorbei, war die Leiche bereits nicht mehr am gleichen Ort; schon die Situation des Photographierens ist vom Verschwinden heimgesucht, das Objekt erreicht schon das Objektiv nur definitiv verändert.

Die nochmalige Veränderung durch das Medium selbst vergrössert nur die Entfernung des Betrachters vom Ereignis. In diesem letzten Stadium ist nichts mehr dem Zufall überlassen, die Assoziationsketten sind klar und wenn sich das Bild nicht fügt, dann hilft eben ein wenig Text und Photoshop nach. Alles, was Mensch, Welt und Sterben gewesen ist, ist dem Bild gründlich ausgetrieben. Seine Sprache operiert mit der Entgegensetzung zum verinnerlichten Bildschrim des Lesers in seinem Leserwohnzimmer. So lange man es auch betrachtet, auf dem Bild gibt es vom Unfassbaren des Todes im Eis nichts zu sehen. Sein Wert bestimmt sich von der Kompatibilität und damit der Austauschbarkeit seiner Reizauslöser, Bedeutung hat es nur für den und im Leserbildschirm. Die Repräsentation des gestorbenen Menschen ist verschwunden.

"Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums - Werbung, Photo, etc. - und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts - nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal." (S. 114)

Das Ereignis des Sterbens, ja auch das des Bildermachens ist verschwunden und nur seine Abgeschlossenheit, seine vollendete Realisierung ist im Abbild präsent. Dem Tod des Bildes korrespondiert die Lebhaftigkeit seiner Verweise und dem Tod im Bild die Lebendigkeit des Sterbe-Ereignisses. Und umgekehrt sichert die Abwesenheit des realen Sterbens dem Bild seinen Status als hyperreale Realität, festigt das Reale als das Andere, den Tod des Bildes und läßt das Objekt damit als leeren Fetisch auferstehen.

Und dennoch funktioniert es, wähnt sich der Betrachter in der Realität. Der ironische Witz ist, daß das auch stimmt. Nur ist eben diese Realität eine illusionslose Realität, die als hyperreales Simulakrum existiert. Man sieht auf dem Bild die leere Hülle eines untergegangenen Todes. Das Sterben ist zum hyperrealen Tod geworden, das Ereignis zum antagonistischen Tod seiner Abbildung.

Sterben ist kein Wahnsinn. Eher deliriert die Normalität des Glaubens, nach der Bilderschau den Tod gesehen zu haben. Es klafft eine gähnende Leere, alles an dieser pietätlosen Mount Everst Inszenierung ist so hoffnungslos weit weg von der Welt, daß man sich unweigerlich nach dem Frieren und dem Sterben zu sehnen beginnt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit vielen ästhetischen Erfahrungen.  Die Stripperin in der Volksbühneninszenierung von Bataille exemplifiziert genauso die hoffnungslose Unmöglichkeit ihrer eigenen Nacktheit; die Begrenztheit der rauschhaften Entgrenzung.  Jürgen Kuttner sprach neulich – ebenfalls in der VB - über Big Brother von RTL2, so als würde etwas fehlen, man aber nach dem Fall der ideologiekritischen Mauerargumente nicht mehr sagen könnte, was hier abwest.  Die Reihe der Beispiele liesse sich fortsetzen.  Mit Baudrillard kann diesen Fällen nachgeholfen werden: Es fehlt das Ereignis, das quer zur Determination der hyperrealen Kausalketten liegt, das Unfassbare, das Böse, das Leben, kurz: alles, was nicht von vornherein für die Mattscheibe der Anderen bestimmt ist und einen eigenen, nicht auf Austauschbarkeit beruhenden Wert hat.
Thanatos läßt grüssen. Die Abwesenheit des Todes im Bild läßt ironischerweise die Hoffnung auf ein Sterben als einer extremen Möglichkeit des Lebens wiederauferstehen.

Mit Baudrillard erhält man ein reiches Vokabular für die Beschreibung ästhetischer Erfahrungen, ohne sich selbst ad absurdum führende kritische Implikationen. Es ermöglicht eine gedankliche Verschnaufpause im allgemeinen Grundrauschen, das längst zum Dauerlärm geworden ist. Es regt zum Quer- und Neudenken an und inspiriert das Sensorium der Phantasie. Insofern halte ich es für das Sehen und eine Phänomenologie der Lebenserfahrung trotz der genannten theoretischen Schwächen für unverzichtbar.

LITERATUR
Baudrillard, Jean Das perfekte Verbrechen, München, 1996
Baudrillard, Jean Le crime parfait, Paris, 1995
Baudrillard, Jean Cool memories II, in: Amerika, München, 1995
Baudrillard, Jean Kein Mitleid mit Sarajevo, in: Lettre International 31, Berlin, 1995
Baudrillard, Jean Amerika, München, 1995
Baudrillard, Jean Der symbolische Tausch und der Tod, München, 1991
Baudrillard, Jean Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978
Wittgenstein, Ludwig Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Band 1, Frankfurt, 91993