Selbstausfällung, genannt Liebe
Eine unausgegorene Beilage zum Hauptgericht Liebe kann sich nicht selbst, getragen von Liebenden, starten. Könnte sie das, wüßten Liebende nichts von ihrem Lieben. Liebe kann nicht anschliessen; Es geht hier nicht
um Liebe als symbolischer Code, der gerade die Funktion hat, Menschen mit
sehr eigenartigen Gefühlen an ein (wie immer fragiles) dauerhaftes
"Und so weiter" anzuschliessen; sondern es geht hier - grob gesprochen
- um Liebe als Name für den Versuch einer Existenzform, die keine
Geschichte zeitigt, da sie jeden Tag neu aufgebaut werden muß.
sie kann nur ein- oder ausschliessen.
Liebende, die meinen, es sind sie, die jetzt zu lieben beginnen, würden
sich nur lebend fortsetzen und ihr fortsetzendes Leben verlieben (im Sinne
von verweben), Liebe, die nicht bezeugt, daß sie Geschenk ist, sondern
den Liebenden wähnt, sie hätten es mit entschieden Gegebenes
zu tun, nimmt den Liebenden Entscheidenes: die Gewissheit, Liebe niemals
in Händen, also behandeln zu können. Liebende, die denken, Liebe
entstehe zwischen ihnen selbst, also innen, und komme nicht von außen,
verwechseln sich: Sie müssen davon ausgehen, daß es an ihnen
liegt, ob sich Liebe ausdrückt, müssen also glauben, in ihrem
Liebe-Ausdrücken der Liebe ein Tableau zu stellen, das entscheidet,
ob Liebe ist oder nicht. Dabei ist es vielmehr so, daß Liebe nur
einmal ins Reich der sozialen, handlungsbezogenen, modelnermöglichenden
Wirklichkeit hineinragt: nämlich dann, wenn sie fällt ('Die Liebe
fällt, wohin sie will’; unbeeindruckt von den Verrenkungen der Menschen,
rastlos etwas und jemanden zu finden, vor das und vor dem sie sich beugen
können).
Liebe wird vom Außerhalb, das selbst nichts von seinem Außerhalb-Sein weiß, in dasjenige gedrückt, was man Liebende nennt. Liebe fällt hin und fällt dabei Liebende aus. Ganz christologisch
könnte man hier an diese imaginierte Romanstelle in Dostojewskis 'Großinquisitor'-Kapitel
denken, in der "ER" hinabsteigt auf die glühenden Plätze der
südlichen Stadt, ganz still und unbemerkt, "aber alle - sonderbar
ist das - erkennen ihn. Das könnte eine der besten Stellen der Dichtung
sein", schreibt Dostojewski weiter, "ich meine dies: woran Ihn alle erkennen"
(Die Brüder Karamasoff, München 1985 [1906], p404f.) Prosaischer
könnte auch ans Immunsystem gedacht werden, das in der Lage ist, jedes
vor-handene Antigen auf der Erde Molekül für Molekül zu
identifizieren, aber auch jedes zukünftige, und zwar ohne Kognition.
Dieser Verhalt wird manchmal
erkennbar, bemerkbar, erfindbar, etwa in der Vorstellung, von einem anderen
als den geliebten Mann, als die geliebte Frau geträumt zu werden.
Der Preis dafür, eine Ahnung zu erlangen (und diese womöglich
nicht mehr zu vergessen), daß man selbst nicht zu lieben beginnt,
ist: Man verbleibt in der Abstraktion des Geschlechts, ohne Zugang zu dem
einen und einzigen Geschlecht (des einzigen Mannes, der einzigen Frau).
Das Geschlecht ist Person, aber die erkannte, bemerkte, erfundene Person
hat nur Geschlecht.
"Man" kann nicht das Geschlecht lieben, wohl aber mit dem Geschlecht eine geschlechtliche Person (es spielt hier keine Rolle, ob man das Geschlecht, das man hat, zwischen den Beinen, im Herzen oder im synaptischen Spalt wähnt). "Man" kann nicht die Liebe lieben, wohl aber mit der Liebe den anderen. Meint man, die Liebe zu lieben, ist es nicht nur auch, sondern ausschließlich Literatur, die betrieben wird. Unter der noch sehr
viele leiden, denn diese Literatur ist mitverantwortlich dafür, daß
eine Notwendigkeit zu Herstellung der funktionierenden bürgerlichen
Gesellschaft, nämlich eine Art Solidarisierung von Liebe und Ehe,
flächendeckend passierte. Nun, nachdem diese Literatur gesprengt,
sei jener "Sinn für die Bitterkeit des Alleinseins in der Intimität
wiederzugewinnen", der darob verlorenging, so Luhmann (Liebe als Passion,
FFM 1982, p159.
Man kann lieben wollen, wenn
man es nicht kann (zu lieben). Man kann jedoch nicht lieben, wann man will.
Könnte man das, wäre lieben (als Aktivform) etwas, zu dem ich
mich verhalten könnte. Lieben als Tätigkeit unterminiert jedoch
ein Verhältnis zu es; es erlaubt keine Beobachtung (wenn auch die
Möglichkeit, unendlich zu sprechen).
Nur wer lieben will in einer Weise, die sowohl verdunkelt, daß es ein Lieben-Wollen ist, das statthat, als auch hervorhebt, daß es ein Nicht-anders-Können-als ist, das stattfindet, wird heimgesucht durch den Terror der ex-klusiven Liebe. Exklusive Liebe kämpft sowohl gegen das mögliche Vergehen durch Zeit, als auch gegen mögliche Vergehen durch andere: Also gegen das eigene Vergehen. Nur wem die zweisame Anbetung in der Liebe Fortsetzung der gemeinsamen Anbetung im Glauben ist, kann die liebende Exklusivität als terroristische zeichnen, die dem Terrorismus der glaubenden Inklusivität in nichts nachsteht (Bedürfnis/Zwang nach Zweisamkeit und nach Gemeinsamkeit gehörten demnach zusammen). Liebe ist 4-D-materiell. Sie hat eine Sperre, die hindert, daß Liebe im Gedanken, in der Vorstellung, in der Schrift, in den Bildern passiert (was nicht ausschließt, daß lieben wahnhaft gebaut ist). Liebe ist das irdische Brot, nicht das himmliche in Schrumpfform. Wenn Dostojewskis Kardinal-Großinquisitor dem mittlerweile schon eingekerkerten, nach 1500 Jahren wieder zurückgekommenen Jesus folgendes sagt: "Um der gemeinsamen Anbetung willen haben sich die Menschen mit dem Schwert gegenseitig ausgerottet. [..] Und also wird es sein bis zum Ende der Welt, selbst dann, wenn aus der Welt die Götter verschwinden: gleichviel, dann wird man sich vor Götzen niederwerfen. Du kanntest dieses Grundgeheimnis der Menschennatur, Du konntest es unmöglich nicht kennen, doch Du verschmähtest das einzige Positive, das Dir vorgeschlagen wurde, um alle zu zwingen, sich widerspruchslos vor Dir zu beugen: das irdische Brot [...]", Fjodor M. Dostojewski,
Die Brüder Karamasoff, a.a.O., p413f.
so spricht der Kardinal noch
als freilich zynisch gewordener skeptischer Wissender: Er weiß darum,
daß die Freiheit in der Liebe und im Glauben den Menschen beanspruchen
und ihn eigentlich zu ihm kommen lassen; er weiß darum, daß
der Mensch die Liebe Gottes verdient hätte. Doch er wertet seine Erfahrung,
daß die Menschen dadurch eklatant überfordert sind, höher
und optiert daher nicht für die Freiheit, zur Liebe/ zum Glauben,
sondern für die Freiheit vom Hunger. Knechtet uns, aber macht uns
satt - Darüberhinausgehendes hält die Menschennatur in den Augen
des Großinquisitors nicht aus. Der Kardinal macht Jesus für
das Scheitern des glücklichen Menschen verantwortlich, indem er ihm
vorhält, den Menschen zu hoch geachtet zu haben: Hätte Jesus
den Menschen weniger geachtet, so hätte er auch weniger von ihnen
verlangt: und das "wäre der Liebe näher gekommen" (p417). Der
zu hoch geachtete Mensch bricht unter der permanenten Erinnerung, allein
zu sein, in Zerstreuung aus. Seine Liebe ist Angst, Angst davor, nicht
und ir-gendwann nicht mehr erfüllt zu werden (transzendentaler Verdruß).
Der weniger geachtete Mensch verklumpt unter der permanenten Erfahrung,
nicht allein zu sein. Seine Liebe hat angst, nicht erlaubt zu sein (einfacher
Ge-nuß). Liebe dazwischen?
* Was das irdische Brot im Verhältnis zum versprochenen himmlichen ist, das wäre die ausfällende Liebe im Verhältnis zur eternistischen. Ausfällende Liebe löste ein, daß genug für alle da sei. Unter dem Titel "Das
höchste Gut" beschreibt Pascal Einsichten derjenigen, die diesem Gut,
d.i. das Finden des Glückes in Gott, am meisten nahegekommen sind:
Ebendiese "haben verstanden, daß das wahre Glück so beschaffen
sein müßte, daß alle es ungeschmälert und unbeneidet
zugleich besitzen könnten und daß niemand es gegen seinen Willen
verlieren könne [...]"; Pascal, Gedanken, Stuttgart 1997, p109. -
Die letzte Bedingung muß man heute streichen.
Der Preis dafür: Man weiß
nicht mehr, für wie lange. Die Zeit der Liebe hat sich losgelöst
von der Zeit des Lebens: Die Liebe birgt nicht mehr das Leben, das Leben
birgt (wie lange?) Liebe. Lieben kann jetzt sterben ohne Einfluß
aufs Leben. Lieben kann jetzt sich ereignen ohne Einfluß aufs Leben
Das ist die Situation
des Großinquisitors, der, mit seiner Rede fertig, auf eine Entstummung
von IHM wartet. Der aber bleibt stumm, nähert sich dem Inquisitor,
küsst ihn auf die Lippen. "Der Kuß brennt auf seinem Herzen,
aber er bleibt bei seiner früheren Idee" (p428).
(und erreichte damit den Stand
des Sterbens, das keinen Einfluß haben kann auf die Liebe). Dieser
Liebessachverhalt wurde schon immer als paradoxer beschrieben und auszuhalten
gesucht, entweder durch die klassische Rationalität der gepflegten
Irrationalität, durch die romantische Versuchung der Ironie und der
Unaufrichtigkeit (beides nur sehr schichtspezifisch verwendbare Formen),
oder heutzutage durch die Trivialisierung des Liebesparadoxes.
Niklas Luhmann, Liebe
als Passion, FFM 1982, p70.
* Aller Anfang ist schwer. Liebe fängt nicht an. Die Wucht ihrer Explosion, mit der sie hereinbricht, zerstört nichts, zerstückelt nichts, zerstreut nichts, sondern läßt im Nu hochkompliziert Verwobenes enstehen. Es ist so, als würde eine gezündete Granate aus einem Haufen ein Haus aufbauen; es ist so wie das, was der rückwärtslaufende Film einer Sprengung zeigte. Sie ist verdorben, noch bevor sie in Berührung kommt mit verlaufender Zeit, gedächnisgestütztem Liebesumgang und erwartungskorsettiertem Tun. Liebe hasst deswegen Geschichte. Geschichte setzt immer einen Anfang, wie indirekt auch immer. Liebe hat keine Geschichte. Aber die Geschichte ist voll mit unterschiedlichsten Versuchen von Liebenden, der Liebe zur Geschichtslosigkeit zu verhelfen. * Danton: Nein, Julie, ich
liebe Dich wie das Grab.
Der (wohl doch nicht) unausrottbare Zwang, die immer ins Verderben fortgleitende Liebe von Zeitdauer auf Zeitabstinenz umzustellen, saugt jedoch zumindest für den männlichen Liebenden (und also nicht mehr mann-seienden) Mann aus anderen Quellen seine Kraft gegen Vergänglichkeit, nämlich paradoxerweise aus der Angst vor einer bestimmten Dauer: der weiblichen Ausdauer. Nicht nur muß diese Angst der 'männlichen Liebe’ vor der weiblichen Ausdauer verantwortlich gemacht werden für die Pathologisierung der Frau Maren Lorenz, Kriminelle
Körper - Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums
in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999.
(in eins für den Pathos
des Mannes); nicht nur muß sie als kulturell nie ganz aufgeklärte
Basis der männlichen Promiskuität angesehen werden, die die Operationalisierung
eines der sexuellen Überlegenheit des Weibes nicht mehr Ausgeliefertseins
bedeutet; vielmehr ist die männliche Angst vor der Ausdauer des Weibes
paradoxerweise verantwortlich für den männlichen Zwang, eine
Frau auf Dauer zu besitzen.
In der zehnten Geschichte
des dritten Tages aus Giovanni di Boccaccios "Das Dekameron" (Leibzig 1988,
p376ff.) erfährt man, wie der erfahrene Mönch Rustico der jungen
Alibech aufzuschwatzen vermochte, Ficken sei "den Teufel in die Hölle
heimschicken", also Gottesdienst; nach einer Weile verlangt Alibech immer
öfter nach diesem Gottesdienst; Rustico kann dem nicht mehr standhalten
und kommt zu der allweltlich gültigen Aussage, "es gehörten gar
viele Teufel dazu, um die Hölle zu bändigen" (p381). Rustico
ist dann sehr zufrieden, daß Alibech in Bälde von Neherbale
geheiratet wird. - Wer ist heute zu solch einer großzügigen
Haltung noch fähig? Und wer dazu, die Frau im, nicht zum Trost zu
versuchen?
* Es gibt eine große, tiefe, imaginäre und doch ultrafeste Grenze von allem, und das ist die Grenze des anderen (der anderen). Die Sehnsucht nach dem anderen ist neben der Enttäuschung und dem Tod (und, für lange Zeit auch: der Liebe) das Stehauffigürchen schlechthin. Es taucht immer auf. Das Fremde, das Andere, das Begehrte taucht eines Tages auf und man will es, man sehnt es herbei, man bemerkt sich auf der Seite der Abwesenheit, der Unvollkommenheit, des Mangels, der Unfriedenheit. Eines Tages erfüllt sich das Begehren und Sehnen des anderen, es wechselt die Seite, ist nun auf der eigenen Seite und läßt im Moment der Freude, des Glücks, der Ekstase, der Verschmelzung, der... die andere Seite für einen Moment unbeobachtet, ja: läßt die andere Seite des eigenen selbst, des eigenen Wollens, Habens und Seins überflüssig werden: Man wird für einen Moment eine differenzlose Welt (mit dem anderen). Und schon, ungemerkt, hat sich das alien auf der Seite des Gewollten, des Gewünschten, des Begehrten, des Nicht-ich-Seienden eingepflanzt und wächst. Eines Tages begehrt man wieder und wieder das andere (und doch nur, unverrückbar, für ganz kurze Zeit, vorausgesetzt, man will nie sein Wollen, Begehren und Lieben tun wollen). Das ist das lustige an der Liebe: Sie ist nur an sich möglich. Liebende, die wie immer klar
wissen, daß die Zeit der Liebe kein Geschenk des Himmels, die wissen,
daß lieben kein privatisiertes Glauben, die wissen, daß der
Zwang zur Dauer einem Nullsummenspiel der Aufrechnung zweier Ängste
geschuldet ist, hätten die Chance, naß zu werden, ohne daß
ihnen der Pelz gewaschen wird. Sie könnten es schaffen, sich mit dem
anderen zu so zu verweben, daß es beim Bruch nicht zu komplizierten
Amputationen kommt. Sie könnten in den anderen eintreten wie in eine
Stadt, die - anders als bei Sartre - lebendig ist.
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