Last Exit Poth
Über den einzigartigen
nihilistischen Realismus in Chlodwig Poths Zeichnungen Last Exit Sossenheim
"Unsere amtierende Wahrheit
ist die des Nihilismus"
Jean Baudrillard
Sossenheim und der Titel - "Geprägt von Tradition und Moderne liegt dieser Stadtteil Frankfurts zwischen der Nidda und der Autobahn Frankfurt-Wiesbaden" - so beginnt die Homepage Sossenheims (http://www.sossenheim.de/index.htm) und zugleich eine Ahnung, was es mit Sossenheim auf sich hat. Kurz gesagt: Sossenheim steht stellvertretend für das, was von Tradition und Moderne geprägt ist und in der Nähe einer Autobahn liegt; also für praktisch alles.
Als "Suzinheim", als Heim des Suzo, erscheint Sossenheim erstmals gesichert im Jahre 1218 in einer Urkunde, in der der Mainzer Erzbischof dem Mariengredenstift in Mainz den Zehnt der Kirche zu Nied übertrug, zu deren Sprengel Sossenheim gehörte. Sein Name weist es als Gründung zur Zeit der fränkischen Landnahme (5./8. Jahrhundert) aus. Ritter, Patrizier und Klöster waren die Grundherren in Sossenheim - so erfährt man es auf der 1999 eingerichteten Homepage. Aber warum erzähle ich das? Vielleicht deswegen, um milde einer Ahnung Ausdruck zu verleihen, daß Poths Sossenheim gar nicht existiert, nie als Realität stattfindet und stattgefunden hat, selbst nicht einmal verschwunden war; und die Sossenheimer selber mit dieser witzigen Verankerung ihrer Nichtrealität in etwas, was man Geschichte nennt, dem wohl auch auf der Spur sind. Naja. Erwähnenswert noch, daß sich in Sossenheim bis 1911 die Hasenhaarschneiderei zu einem Wirtschaftsfaktor entwickeln konnte.
Was hat nun dieser Ort, daß er das wirklich selten zu vergebende Attribut "Last Exit" sein eigen nennen kann? Er hat Chlodwig Poth als Bewohner. Der mußte sein Domizil im sehr schönen Frankfurter Holzhausenviertel aufgeben, weil der neue Eigentümer der Wohnung auf Eigenbedarf machte. Poth schreibt: "Ohne dieses verachtungswürdige Spekulantenarschloch hätte ich nie in Sossenheim mein Milieu gefunden, säße ich immer noch im langweiligen Holzhausenviertel, das mich nie zu nichts inspiriert hat."
Zeichnen und Malen - Für die Bilder der Serie Last Exit Sossenheim vervollkommnete Poth eine bestimmte Technik des Zeichnens, deren Beginn er auf 1982 datiert. Damals war er in New York, photographierte Wände, Häuser, Straßen, um diese zuhause nachzuzeichnen. Wie? "Mit farbigen Tuschen wollte ich Schraffuren übereinanderlegen. Mit der Zeichenfeder wollte ich malen oder wenigstens dem Malen zeichnend so nahe kommen wie möglich. [...] Neu und anders war an den New York-Blättern, daß sich nun die Linien zu Flächen verdichten und daß alles Karikaturistische aus ihnen streng verbannt ist" (dito). Die Verbannung hörte jedoch bald auf und es entstanden in der Folge gezeichnete Kurzreportagen städtischer Ereignisse, Ansichten und Landschaften. Wenn Menschen in den Zeichnungen zu sehen waren, dann wieder mit Blasen.
Die Last Exit-Bilder Poths, die tatsächlich bis auf ein paar Ausnahmen (das sind dann Wald- und Flurmotive rund um Sossenheim) Sossenheim aufs Papier bringen, haben eine ganz bestimmte Reihenfolge ihres Verfertigens: Zuerst werden Photos gemacht, locker aus der Hüfte, so Poth. Photos von Sossenheim, von Straßen, Häusern, Einfahrten, Tankstellen, Plätzen usw. Ist das Photo bestimmt, wird das Motiv mit Bleistift vergrößert und übertragen. Danach beginnen die Schraffuren der größten vorhandenen Flächen des Bildes, gefolgt vom Schraffieren der kleineren. Ist das im Blick, entscheidet sich, ob die Zeichnung Personal bekommen soll und wenn, welches. "Gewöhnlich", so Poth, "frag’ ich mich: Wen hatten wir denn zuletzt? Zwei Schulkinder, einen Rentner. Könnte es jetzt doch mal eine – sagen wir – 25jährige Frau sein" (p22). Selten passiert es, daß er sich selbst in die Zeichnung einschleust. Ist auch hier Klarheit erreicht, steht nur noch an zu entscheiden, ob es diesmal Gedanken- und/ oder Sprechblasen sein sollen (es kommt auch vor, daß das gesprochene Wort unterhalb der Zeichnung steht). Das Ausfüllen der Blasen mit treffenden Worten passiert oft erst nach Beendigung des Zeichnens. Zum Schluß geht Poth die Zeichnungen noch mit Buntstiften an, um hier ein wenig zu höhen, dort ein wenig zu vertiefen, hier Glanzlichter zu setzen, dort etwas zusammenzuziehen. Fertig. Fertig ist dann eine Zeichnung, die, egal, wie wieviele Großflächen sie zeigt (Häuserfassaden, Himmel), immer zeigt, woraus sie besteht: nämlich aus Linien und Strichen. Man könnte nun an eine andere Sorte von basalen Bildelementen denken, die Pixels ("Picture Element") computergenerierter Bilder, die man dann zu Gesicht bekommt, wenn das Bild unverhältnismässig vergrößert wird. Hielte man ein Chlodwig Poth-Bild neben ein Computerbild, dann könnte man analogisierend auf eine Unterscheidung kommen, die Gottfried Wilhelm Leibniz im Lehrsatz 64 seiner Monadologie ausführte. Dort heißt es:
Daher ist jeder organische Körper (Leib) eines Lebendigen eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft. Eine durch menschliche Kunst verfertigte Maschine ist nämlich nicht in jedem ihrer Teile Maschine. So hat zum Beispiel der Zahn eines Messingrades Teile oder Bruchteile, die für uns nichts Künstliches mehr sind und die nichts mehr an sich haben, was in bezug auf den Gebrauch, zu dem das Rad bestimmt war, etwas Maschinenartiges verrät. Aber die Maschinen der Natur, d.h. die lebendigen Körper, sind noch Maschinen in ihren kleinsten Teilen bis ins Unendliche. Das ist der Unterschied zwischen der Natur und der Technik, d.h. zwischen der göttlichen Kunstfertigkeit und der unsrigen.Poths Bilder besäßen das Unendliche; nicht das Unendliche des Maschinenhaften, sondern das der Wirklichkeit von Erfahrung (also: Indiskretion). Es ist so, als ob die aus Atomen bestehende Welt innerhalb des physikalischen Spektrums eine besondere Korrespondenz halten würde zur aus Linien und Strichen bestehenden Welt innerhalb der Darstellung der Wirklichkeit von Erfahrung; Poth Linien sind für die künstlerische Weltdarstellung, was die Atome für die physikalische Weltgestaltung sind. Weltdarstellungen dagegen, die computergeneriert sind, gleichen eher den von Leibniz erwähnten Zahnbruchteilen eines Messingrades, die für uns nichts Künstliches mehr haben. Digitale "Picture Elements" 'drücken‘ eigentlich nur noch Darstellung aus, "Poth Elements" hingegen stellen noch Ausdruck dar. Ja, so kann man es - weit hergeholt, gewiß! - sagen.
Der nihilistische Realismus - Es ist wie immer müßig zu versuchen, etwas Kongeniales über etwas anderes zu schreiben, noch zudem über etwas in einem ganz anderen Ausdrucksregime, dem des Bildes resp. der Zeichnung. Kann man lesend verstehen, was, wie und wohinein Poth zeichnet, wenn man seine Bilder nicht oder noch nie gesehen hat? Vielleicht ja, auch wenn man dabei noch weiter entfernt wird von dem, was und wie Poths Bilder sind, und man doch eigentlich nur das erfährt: Daß man lesend kaum bis nichts von ihnen erfährt. Ich behaupte ja zudem, daß das, was Poths Bilder erfahrbar machen, einzig nur durch Poths Zeichnungs-Bilder erfahrbar wird, so daß in den nächsten 15 bis 20 Minuten nur eins - hoffentlich - tatsächlich erfahren wird: Einen zunehmenden inneren Druck, sich so schnell es geht Poths Bilder anzuschauen.
"Mehr Nihilismus wagen heißt, Gott nicht länger in Zweifel zu ziehen", meint Matthias Beltz.
Wenn im folgenden paraphrasiert wird, daß die Wirklichkeit in Poths Zeichnungen das ist, was sie ist, muß man sich diese Tautologie in etwa so kompliziert herleitend denken, wie noch vor einer Minute zu lesen war. Aber der Reihe nach.
So wie in den Höhen christlichen Glaubens ebenso wie in einigen Medientheorien der Körper das inkaufzunehmende Gefäß für die Seele wie auch hauptsächliches Hindernis ist, das eine vollständige Einspeisung des Geistes ins Netz zu verhindern weiß, so ist, vergleichbar, zumindest für den modernen, sprich im hiesigen Fall: den telekommunikativ ansozialisierten Menschen die doch recht statische Geographie ein Dorn im Auge fluiden, ephemeren, bewegt beschleunigten Existierens. Wohlgemerkt: die räumliche Geographie, nicht die soziale; hier herrscht seit der durchschlagenden Individualisierung eher Großmangel vor, die dazu führt, daß schon die Wiederbegegnung mit einem bekannten Gesicht zu einem gemütsbildenden Ereignis wird. Auf die räumliche Geographie angewiesen zu sein: das heißt ganz unspektakulär, jeden Tag immer dasselbe Haus zu verlassen, immer dieselbe Straße hinunterzugehen oder zu fahren, immer an derselben Ampel oder derselben U-Bahn-Station warten zu müssen, immer dieselben Häuser, Häuserfassaden, Auto- und Menschenschlangen gewärtigen zu müssen. Es heißt, strikt dasjenige Umfeld akzeptieren zu müssen, das der wohnende, sich fortbewegende, arbeitende Körper, der man auch ist, erzwingt (vorausgesetzt, man ist nicht Nomade, Handelsvertreter, wechselt nicht alle 3 Monate seine Wohnung und seinen Arbeitsplatz usw.; also vorausgesetzt, man gehört zur großen Mehrheit der Normalen).
Was Poth zeichnet, ist - so könnte man gar nicht mal so verkehrt sagen - der räumliche Radius, der noch erlaubt, daß man gehört wird und jemanden rufen kann. Es sind die Straßen Sossenheims, die Straßen, die Geschäfte, die Autos, die gehenden, fahrenden, spazierenden Menschen, kurz: es ist die Öffentlichkeit, deren langanhaltenden Immergleichheit all die ausgesetzt sind, die schlicht und einfach in einem Ort an einer festen Adresse wohnen;
Das gilt gerade auch für die Gedanken- und Vorstellungswelt und die kleinen Wortwechsel der Menschen in den Zeichnungen: Da ist nichts gestellt, nichts bemüht daherkommend, nichts an den Haaren herbeigezogen. Vollkommene alltägliche Öffentlichkeit der Gedanken und Sprechaktome ist zu besichtigen, so banal, einleuchtend, dumm, selbstverständlich wie Dinge: da sieht man von der Seite die schon erwähnte Autobahn, im Hintergrund begrenzt durch Bäume und Häuser, und aus einem der fahrenden Wagen entweicht die Gedankenblase "Scheiße nochemal! Ich hab Gabi versprochen, daß ich sie heute vögle, un ich hab nich ans Länderspiel gedacht!"; man sieht eine Straße mit parkenden Autos, Häuserwände mit Werbeplakaten, und auf dem Gehweg zwei Schuljungen, die folgenden Wortwechsel haben: "Du deutsch, du ungläubig; alles klaa?" - "Alle Türken stinken!" - "Stinks selber!"; oder man sieht eine schwarzgeteerte Straße, wieder Autos, Hauswände, ein Plakat ("think big!"), und im Vordergrund einen alten Mann gehen, dabei denkend: "Sofort nach meinem Tod gehört die ganze Menschheit ausgerottet!". Oder, abbrechend: eine grinsende Frau geht an einem Geschäft vorbei, mit einer Tragetasche in der Hand, dabei sich eine Szene bildlich denkend, in der sie ihren Mann mit einem Messer ersticht und dabei "Da hastes, Du Sau!" ausruft.
So weit alles normal. In einer Zeichnung sehen wir, auf dem Flachdach eines evangelischen Gotteshauses, den Herrgott und den Teufel. Der Teufel steht da mit weitgeöffneten Armen, Vorwurf zeigend, während der Herrgott folgendes sagt: "Wirf mir doch nicht dauernd diese abscheuliche Architektur vor! Als ich den big bang auslöste, konnte ich doch nicht ahnen, daß sowas dabei rauskommen würde."
Man möchte Poth dafür danken, daß diese abscheuliche Architektur des Sozialen, des Öffentlichen, des Baulichen, letztlich: das diese Architektur der Realität des Raumes ihn dazu brachte, solcherart Zeichnungen rauszulassen.