Die Leidenschaft der Selbstverachtung
Ich will nicht den Eindruck vermitteln, etwas über Leidenschaft
als Selbstverachtung zu sagen.
Ich möchte eigentlich nur auf eine bestimmte Topographie innerhalb
des psychosozialen Universums hinweisen, auf einen Topos, der sich nicht
mehr mit Adornos Beschreibung deckt, nach der das masochistische Vergnügen,
kein Ich mehr zu sein, genau die Rolle eingenommen habe, die vorher der
Narzißmus inne hatte, als das Ich als libidinöses Objekt noch
nicht zerfallen war; auf einen Topos, der sich aber auch nicht deckt mit
der Beschreibung des Indivuums als einer Wunschmaschine, die nur noch von
dem Wunsch angetrieben wird, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie
die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der
es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod, nämlich
das Leben. Olfaktorisch gesprochen: Zwischen dem wesenden Individuum, das
nicht mehr seinen eigenen Verwesungsgeruch riechen kann, und dem wesenden
Individuum, das seinen Verwesungsgeruch nicht mehr riechen will, könnte
ein Individuum hausen, das sich an den eigenen Gestank gewöhnt in
dem gleichen Maße, wie er zunimmt. Die Zwitterfassung dafür
wäre vielleicht eine leidenschaftliche Selbstverachtung. Nach meiner
jetzigen Erfahrung oder besser Nichterfahrung spielt es für das Einsetzen
oder Aussetzen dieser leidenschaftlichen Selbstverachtung keine Rolle,
ob man geliebt wurde, während man liebte, ob man nur liebte, ohne
geliebt worden zu sein, ob man nicht geliebt hat, während man geliebt
wurde. Will sagen: Liebespassion, Liebesintimität, Vermählung
und dergleichen bleiben Parasiten - wenn auch mächtige - der Art der
Selbstbeziehung. Das gilt - ich spreche als Mann - nur für eine Ausnahme
nicht: für diejenigen Männer, die tatsächlich Frauen lieben,
so lieben, wie Dantons Marion die Männer liebte ("alle Männer
verschmolzen in einen Leib"): Männer, die Frauen lieben, müssen
soviel Verachtung der Frau gegenüber vor sich und ihr verbergen, daß
ihnen kein Platz mehr bleibt für die Selbstverachtung. Nun gut.
I
Die Leidenschaft der Selbstverachtung
»Die beste Verwahrung gegen Leidenschaften aller Art ist nahe, gründliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand.« Johann Gottfried Seume
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Leidenschaft hat im alldaylife immer einen kleinen Bonus parat für
das, was sie adjektiviert. Es glänzen nicht nur die Augen des Leidenschaftlers,
wenn er von seinem Sammeln, seiner Liebhaberschaft, seinem Engagement spricht,
sondern auch die des Zuhörers. Nehmen doch beide teil an etwas, was
sich auf eine implizit hoch angereichterte Form sowohl der Kontingenz als
auch dem Zwang entzieht und einen eigenartigen dritten Horizont öffnet,
in dem man zwar nicht mehr Herr seiner Sinne ist, aber auch nicht seinen
Sinnen unterworfen; zwar nicht mehr auch anders könnte, aber auch
nicht notwendigerweise das tun muß, was man tut. Leidenschaft läßt
sich scheinbar nicht gradualisieren, nicht einordnen in eine Spanne, die
auf der einen Seite markiert ist mit Kontingenz/ Indifferenz (entweder
man hat sich zu etwas zu entscheiden, oder es reicht das vegetative Nervensystem
aus, etwa beim fernsehen), und auf der anderen Seite markiert ist mit den
Begriffen Pflicht/Zwang/Sucht (unübertroffen Peter Lorres Darstellung
des Kindermörders in Fritz Langs "M. Eine Stadt sucht einen Mörder"
von 1931, als er vor dem 'Ganovengericht' sein "Ich will nicht, ich muß.
Ich muß!" herausschreit).
Sogar das Recht kann sich ein Verbrechen aus Leidenschaft vorstellen
und die überzeugt dargelegte Leidenschaftlichkeit der Tat als strafmildernd
vereigenschaften, ohne an der Zurechnungsfähigkeit des de jure-Individuums
Abstriche vorzunehmen (was bei konstatierten psychischen Defekten statt
hat): Das leidschaftlich tätige oder zumindest motivierte Rechtssubjekt
behält seine vollständige personale Integrität.
Und erst recht in der Wissenschaft hat die Leidenschaft ein derart
komplexes standing, eine derart großes Oppositionsmandat gegenüber
der Koalitionsregierung Logik, Rationalität, Reliabilität und
intersubjektiver Approximation an Objektivität - das Seume-Zitat setzt
Leidenschaft und Wissen beinahe in ein Ausschließungsverhältnis
-, daß auch weiterhin die folgenden Sätze Webers stellvertretend
für die Uneindeutigkeit der Bewertung von Leidenschaft in der Wissenschaft
gelten: Einerseits: "Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie
gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht
streng zur Sache gehört, am meisten aber: eigene Liebe und Haß".
Aber: "Ohne [...] diesen Rausch, diese Leidenschaft [...] hat einer den
Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für
den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun
kann" (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.
von J. Winckelmann, Tübingen 31968, p494 und p589).
Nochmals: Egal, ob im Alltag, im Recht, in der Wissenschaft (die Kunst
habe ich jetzt außen vor gelassen: hier gehört Leidenschaft
nach Meinung von vielen eo ipso zu den Bedingungen zur Ermöglichung
künstlerischer Aktivität überhaupt) oder sonstwo: immer,
wo Leidenschaft als Eigenschaft ausgemacht wird, scheint sich das Tun,
Lassen, Erleben und Empfinden einwenig zu veredeln, bekommt eine gewisse
Dignität, wird ein Wert an sich, ja sogar Ziel vieler Anstrengungen.
Zumindest für diejenigen, denen die 'Pflicht und Schuldigkeit' nicht
mehr im Nacken sitzt, weil sie sich vorstellen können, daß Pflicht
und Neigung, Pflicht und Leidenschaft problemlos in eins fallen können.
- Leben, so Viktor von Weizäcker, heißt nicht mehr und nicht
weniger, als leidenschaftlich nicht tot sein. Leidenschaft scheint eine
besondere Klebefläche für Lebendigkeit zu besitzen.
Nun scheint es also ausgemachte Sache, daß Leidenschaft in ihrer
begrifflichen Dimension einen gewissen ästhetischen, einen ethischen,
einen Lebens-Bonus mitschmuggelt. Oder ist es nur einer normalen konventionellen
Sprachregelung geschuldet, Leidenschaft nicht als maligne, nicht als Malusträger
zu betrachten (natürlich abgesehen von der amour fou, von der Leidenschaft,
die den Tod ignoriert)? Man kennt das vom Begriff des Rhythmus: Auch dessen
Erreichen, Einhalten und Erleben scheint, egal, worum es sich handelt,
per se etwas Gutartiges an sich zu haben. Man fragt einfach nicht nach
möglichen Rhythmen des Tötens, des Verzweifelns, des Analysierens,
des Zerstörens, des Mißlingens. Und wenn, dann unter anderen
Begriffen: Wiederholungszwang, Traumatisierung, Fixation usw. Diese einseitige
Wertung des Rhythmus läuft darauf hinaus, Rhythmus per se als Ausweis
des Lebendigen, des Lebenwollens zu deuten, ihn also nicht indifferent
zu halten gegenüber der Frage, ob Rhythmus eine Eigenschaft des Lebens
ist oder eine des Sterbens. - Ähnliches hat meines Erachtens mit dem
Begriff Leidenschaft statt: Man fragt nicht nach möglichen Leidenschaften
etwa des Täuschens, des Verletzens, des Verachtens und des Selbstverachtens.
Auch dafür stehen wieder andere Begriffe bereit, andere Vokabulare,
die den infragestehenden Sachverhalt günstigenfalls psychologisierend,
in der Regel wohl jedoch pathologisierend zu beschreiben und zu erklären
suchen.
Kann man sich eine leidenschaftliche Selbstverachtung vorstellen, bar
Pathos, bar Koketterie, bar Symptomatisierbarkeit? Und woher nähme
sie ihre Glut? Oder schaffte es solch eine Leidenschaft nur bis zur Geste,
zur Andeutung, zum Epigrammatischen, weil sie, als richtig praktische Paradoxie,
reflexiv nicht auszuhalten wäre? Wäre sie fähig, Leiden
zu produzieren, genau weil zu wenig Leidenschaft im Spiel ist? - Sicher
hört man hier etwas heraus, was mit der Selbsterfahrung des Bewußtseins
zu tun hat, oder auch mit der Erfahrung der eigenen Erfahrungslosigkeit;
worum es aber geht, ist dies: Gibt es eine eigenständige Leidenschaft
der Selbstverachtung, weil man weder fähig ist, sich selbst zu lieben,
noch fähig, sich selbst zu zerstören? Also weder »leidenschaftliche
Wärme noch leidenschaftliche Kälte.« (Novalis), aber trotzdem
etwas, das nicht ausschließlich mit der Frage "Was steckt dahinter?"
bespielt werden müßte?
II
»Wahre Leidenschaft erkennt man daran, daß
sie den Menschen, den sie erfaßt hat, zerstört,
wenn ihr Gegenstand unerreichbar ist.«
Carl Jakob Burckhardt
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Während nach Seume das Feuer der Leidenschaftlichkeit eines Menschen
für Objekte, Sachverhalte, Handlungen, Erlebnisse usw. gelöscht
wird durch die nahe und gründliche Bekanntschaft mit eben dem Leidenschaftsagens,
er damit also implizit Wert darauf legt, Leidenschaft eher als ein Vermögen
der Erfahrung denn als ein im Form-Imaginären zu sich kommendes Bedürfnis
auszuzeichnen (die Leidenschaft als 'Gegenstand' läßt sich durch
die Erfahrung des leidenschaffenden Gegenstandes noch irritieren), forciert
Burckhardt dies in gewisser Weise noch, indem er die elementare Angewiesenheit
der Leidenschaft auf Verkörperlichung, auf Realisierung, auf Habhaftwerdung
so stark zum entscheidenden Kriterium ihrer Wahrhaftigkeit macht, daß
sich die Erfahrung auch noch ex negativo als bestimmender Modus hält;
da hilft kein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, kein Meditieren
und Flüchten, kein "Es mit sich selbst ausmachen". Aber nicht nur,
daß Burckhardt Leidenschaft wohl unauflösbar verkoppelt mit
dem Umgesetztwerden, dem Entfernen von widerständiger Welt, also Leidenschaft
landen läßt in derjenigen Realität, die die Vorstellung
immer und immer wieder der Wahrnehmung aussetzt, macht seinen Vorschlag,
Leidenschaft zu umschreiben, so anspruchsvoll und immer noch diagnostisch
wertvoll (dazu später). Vielmehr liegt bei ihm die Hürde deswegen
so hoch, weil er in die wahre Leidenschaft einen point of no return einbaut,
einen Moment, in dem man alle Brücken hinter sich abgebrochen haben
muß, eine Stelle, die zu einem totalen "Alles oder nichts" zwingt,
eine Nacht, aus der herausgetreten man seinen Namen wechseln muß.
Und die Hürde liegt deswegen so hoch, weil Burckhardt - so lese ich
es zumindest - der Leidenschaft eine inhärente Ungewißheit auf
Erfüllung, auf Erreichung, auf vorübergehende Stillung einbaut,
so, als ob die Unsicherheit, die Leidenschaft überhaupt wahrnehmen
zu können (wahrnehmen im Sinne von 'einen Termin wahrnehmen'), zur
Bedingung der Ermöglichung der Leidenschaftlichkeit gehört. -
Ein wahrer Leidenschaftler würde sich also dadurch zu erkennen geben,
daß er auf die Frage, ob er wisse, daß er sich der Gefahr aussetzt,
selbst zerstört zu werden, antwortete: 'Ja' bzw. 'Das ist mir gleichgültig'.
Es verhält sich hier mit der Leidenschaft vielleicht so wie mit dem
Wollen: "wüsste man, wie das geschieht, was man wollen nennt, dann
wüsste man schon insofern nicht, was man wollen nennt, als man nichts
wollen kann, wenn man weiss, wie das geschieht, was man wollen nennt",
so Franz Josef Czernin. Heißt das aber, Leidenschaft sperrt sich
dem Wissen, gar der Reflexion?
Nun gibt es sehr viele, keineswegs in Gram eingehüllte, keineswegs
verharmte, keineswegs vertrocknete Menschen, die von sich behaupten können,
wegen eines gebrochenen Herzens, nicht trotz eines solchen doch eigentlich
recht unzerstört zu leben und gelebt zu haben. Und auch nicht wenige
haben keine außergewöhnlichen Probleme, zu denen zu gehören,
die Leidenschaft als Jugendsünde abtun und damit die Vernunft zur
Alterserscheinung degradieren (Hans Kasper).
Die Mehrheit jedoch - das ist meine Vermutung, gestützt auf meine
Perspektive auf das, was bürgerliche Existenz geheißen -, die
Mehrheit also identifiziert sich ohne Wenn und Aber pejorativ mit dem koreanischen
Sprichwort »Ein Raum, der sich leicht erwärmen läßt,
wird auch leicht kalt«: Und leidet darunter. Die Mehrheit der Bürger
leidet darunter, nicht so leidenschaftlich zu sein, sich nicht solch eine
Leidenschaft zu leisten, wie es die Burckhardtsche Fassung nahelegt. Und
gleichzeitig kann sie diesen überfordernden, diesen das Selbst überschreitenden
Anspruch an die wahre Leidenschaft nicht vergessen, nicht aufgeben, zwar
pragmatisieren, variieren, modifizieren, realpolitisieren, aber es hilft
nichts: Die Begegnungen mit ihm sind unvermeidlich. Diese Mehrheit der
Bürger umschrieb Hans Peter Dreitzel einmal so (Haben und Sein. Notizen
für die unterdrückte Seite, in: Günter Dux/ Thomas Luckmann
[Hg.]: Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth
Plessner, Opladen 1974, p169-174):
"Hast Du nichts, bist Du nichts: das Bürgertum hat das Haben auf den Besitz gebracht. Das Sein als defizienter Modus des Habens, als sein bloßes Negativ. || Ich bin nicht, weil ich habe, ich habe nicht, weil ich bin: das ist unsere Welt" (p172).Und (p174):
"Anthropologisch sind Haben und Sein verschränkt; historisch geraten sie meist außer Balance. Heute habe ich, was ich nicht bin, und bin nur, was ich nicht habe. Das Haben hat sich verselbständigt, der instrumentale Aspekt obsiegt. || Selbst die Habgierigen sterben aus. Wir haben schon genug, wir sind nicht gierig. Wir haben genug. [...] Nur auf dem Umweg über andere hat sich der Mensch. Nur auf dem Umweg über sich selbst ist der Mensch".Was jetzt?
"Es ist meine These, daß die Menschen in den Industrieländern durch die Kraft ihrer Selbstzwangsapparatur wie durch die übermächtige Komplexität der Handlungsketten doppelt gelähmt sind. Daß es ihnen dabei gut geht, ja besser als jeder vorangegangenen Generation geht, ist ihnen offensichtlich kein Trost, sondern bloß Ablenkung. Wie manches psychische Leiden, so wird offenbar auch diese Lähmung umso spürbarer, je länger und je besser ernährt man lebt. Und sie wird auch umso spürbarer, je augenfälliger für jeden die Totalität der Bedrohung inmitten des Wohllebens wird: der Angstpegel steigt. Und diese Angst wird abgewehrt. Ich glaube durchaus, daß einige der in der klinischen Psychologie beschriebenen Abwehrmechanismen auch soziologischen Erklärungswert besitzen. Allen solchen Abwehren zugrunde aber liegt die Selbstunterdrückung überhaupt. Paul Goodman [...] hat das bereits 1952 - Auschwitz und Hiroshima waren noch ganz nah - in eindrucksvoller Weise formuliert: 'Der sich selbst unterdrückende Mensch, der zivilisierte Mensch also, muß die Sehnsucht nach Hingabe, den Wunsch nach der letzten Befriedigung, nach dem Orgasmus [..] als Wunsch nach totaler Selbstzerstörung' interpretieren."Man könnte - um jetzt gleich zu schließen - diese Diagnose für all die Bürger zutreffend finden, die es nicht geschafft haben, eine Jean Paulsche Selbstironie zu entwickeln, die es nicht mehr schaffen, zu beten - denn dafür, so eine chinesische Weise, habe man vorher alle Leidenschaften zu töten -, die sich nicht durchringen könne, im Mitleid die beste Leidenschaft zu empfinden, die ihre Selbstverachtungsleidenschaft, ihre Selbstzerstörungsleidenschaft nicht mehr mit einer anderen Leidenschaft heilen können (das einzige, was überhaupt heilen kann, so Ludwig Börne), bei denen Trennung matte Leidenschaften nicht verkümmern und starke nicht wachsen läßt (so Françoise Duc de la Rochefoucauld), kurz: für all die Bürger, die zu den vormals revolutionären Horizonten, die die bürgerliche Emanzipation wie verkümmert auch immer mit sich brachte, solch ein Verhältnis haben wie der Heiner Müllersche Prometheus zu seinem Befreier Herakles (wie bekannt wehrt sich der Müllersche Prometheus gegen seine Befreiung durch Herakles, der ihn vom Fels ablösen will). Aber: Sie blieben Bürger, d.h. - wenn ich grobschlächtig sprechen darf: sie blieben bis auf weiteres harmlos resp. noch weitgehend den sozialen und rechtlichen Sanktionen subsumiert. Ihre Selbstverachtung war noch diplomatibel, einfangbar in konventionelle Abrüstungrituale. Um nicht mißverstanden zu werden: Er ist weiterhin als eine noch nicht explodierte explosive Bombe anzusehen, der Bürger. Die Lunte ist aber noch in der Regel feucht (im Gegensatz zu manch anderem).
Aber was passiert mit solchen Menschen, die nicht mehr die bürgerliche Anonymität nutzen können, um das Schädigen und Verachten auf die eigene Person zu beschränken? Denen Bildung nicht mehr hilft, beim 'Alles herunterschlucken' den Kotzreiz zu unterdrücken? Bzw. was passiert mit denen, die mehr oder weniger zufällig in deren Nähe sind? - Daß ich jetzt auf die Amok-Kinder und Amokjugendlichen zu sprechen komme, die in den letzten Monaten verstäkrt in den Nachrichten auftauchten, ist keinem modischen Gedanken geschuldet noch ein implizites Hochlebenlassenwollen der Bürgerlichkeit sozialer Ordnung. Im Gegenteil: Sie sind bloß die andere Seite eines sich modernisieren müssenden Individuums, das sich als flexibel, volatil, allseits einsetz- und einsatzbereit, vollkommen gleichgültig gegenüber bestimmten Kontexten, Texten und Diskursen zu restrukturieren, besser: zu entstrukturieren hat. Aus den alten Bomben mit langer, feuchter Lunte werden Zeitbomben, werden Menschen, die man, so Wolfgang Pohrt, außer mit dem Messer nicht verletzen kann (in: konkret, 1/2000, p26f.):
"Menschen ohne Gewissen, ohne Selbst, ohne Scham und ohne Würde kann man außer mit dem Messer nicht verletzen. Man kann sie weder bloßstellen noch kränken, weil hinter der Fassade oder der Maske nichts ist. Sie brechen nicht zusammen, und es bricht keine Welt für sie zusammen, wenn ihnen bewiesen oder wenn öffentlich bekannt wird, daß sie verächtliche kleine Schurken sind."Leidenschaft ist in der moralischen Welt, was in der physischen die Bewegung, sagte Karl Julius Weben. Ist die Leidenschaft der Selbstverachtung noch Erinnerung an Bewegung im Stillstand, ist sie der Restposten der Erinnerung an eine moralische Welt, die, wenn nicht im Verschwinden begriffen, zumindest immer schwerer aufzufinden ist (ich meine hier natürlich Gerechtigkeit)?