10 Thesen für die Formenzukunft
1.
Es gibt mindestens 3 Unmöglichkeiten, die das nachdenkende menschliche
Leben begrenzen und an die Begriffe Leben, Tod und Zeit geheftet werden
können: Die Unmöglichkeit, den Tod zu töten; die Unmöglichkeit,
das Leben zu töten; die Unmöglichkeit, die Zeit zu töten.
Geschichte ist der Wechsel in der Dringlichkeit dieser Tötungszwänge,
-notwendigkeiten und -wünsche, also der Wechsel im Verhältnis
der Unmöglichkeiten.
2.
Innerhalb der fortgeschrittenen historischen Formationen der Menschengattung
hat sich die melancholische Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit,
den Tod zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Sterblichkeiten
auszurotten; hat sich die aggressive Einsicht in die Tatsächlichkeit
der Unmöglichkeit, das Leben zu töten, eingestellt; die Grenze
ist hier, Lebendigkeiten zu töten. Übrig geblieben ist die momentan
statthabende Zeit, die noch versucht, an die Grenze der Tatsächlichkeit
der Unmöglichkeit, die Zeit zu töten, heranzukommen.
3.
Dabei geht es allerdings nicht um das Töten der Zeit, sondern um
das Leben: Man nimmt den Umweg über die Zeittötungsphantasmen
und -techniken, um an die Lebenstötung heranzukommen; so wie man den
Umweg über die Lebenstötung nahm, um an die Ausrottung des Todes
heranzukommen (so wie man, politisch gewendet, heutzutage den Umweg über
die ökologische Frage geht, um an die soziale Frage wieder heranzukommen).
Die momentane Zeit, in der Zeit getötet werden soll, um eigentlich
wieder am LebenTöten anzuschließen, ist damit eine doppelt virtuelle:
virtuell im Sinne der tatsächlichen Verkehrszeitlichkeit (elektronische
Zeit und Welt), virtuell im Sinne eines "menschengattungsgeschichtlichen"
Zuges, der eingespannt ist in folgende Pole: 'Wir sind nichts, was wir
suchen, ist alles' und: "Abgezogenheit von allem Lebendigen, das war es,
was ich suchte." (Hölderlin, Fragment von Hyperion, in: Werke und
Briefe, hgg. v. Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Bd. 1, Frankfurt
a. M., 1969, S. 459.)
4.
Zeit zu töten wäre der Vorgang, über eine Aneigungsmacht
über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügen zu können;
also die Macht, vergangene Zeit zu einer gegenwärtigen/zukünftigen
zu machen, oder, schon schwieriger, zukünftige Zeit zur gegenwärtigen
zu machen, oder, am schwierigsten: zukünftige Zeit als vergangene
zu machen. - Machen heißt bis jetzt: vorstellen, ästhetisieren,
erinnern, imaginieren. Machen hieße jedoch, wenn Zeit wirklich getötet
werden könnte, daß passierte Ereignisse, daß Gestalten
in Zeit, Raum, Energie und Materie material, energetisch, räumlich
und zeitlich verschoben werden könnten. Kurz: Vergangenheit wäre
keine Eigenschaft der Zeitgegenwart, sondern die Gegenwart des Erinnerns
wäre Eigenschaft der Vergangenheit. Kurz: Zeittötung wäre
das, was nicht einmal Gott und was sich nicht einmal Hegel zutraute, nämlich:
Wirklichkeiten ohne Zeitanwendung und Zeitverbrauch rückgängig,
vorgängig zu "machen".
5.
Der Zustand der Ungeteiltheit von Körper und Geist (gemeinsamer
Träger: Mensch), der Zustand der Ungeteiltheit von Natur und Gesellschaft
(gemeinsamer Prozeß: Stoffwechsel), und der Zustand der Ungeteiltheit
von "Individuum" und Gesellschaft (gemeinsamer Horizont: Lebenswelt): Sie
alle sind Gestalten eines vorübergehenden Prozesses von nun reflexiv
geworde-ner Evo-lution, der als Prozeß ebenfalls vorübergeht.
Vielleicht war es schon immer so, nur daß auch material bzw. evolutionär
heute mehr als früher die Zeitlichkeitsform in den Blick rückt.
Evolution mutierte Geschichte; Geschichte (Geist und Gesellschaft) kommt
an ihre Grenze, den Zeitraum der natürlichen Evolution gemeinsam mit
Natur und Körper teilen und sich reproduzieren zu müssen; zugleich
kommt Natur und Körper an ihre Grenze, im "alten" Herr-Knecht-Modus
(Herrschaft) und Knecht-wird-Herr-Modus (Selbstzucht, Selbstdiziplin) ausgebeutet,
deformiert und eliminiert zu werden; Geschichte beginnt, Evolution zu produzieren.
6.
Evolution hat für ihr Evoluieren Zeit in Anspruch nehmen können,
die nur zu denken dem Menschen sehr schwer fällt. Der Mensch will
diese Zeitspanne, in der Kom-plexität entstand, die zu simulieren
der Mensch nicht fähig ist, komprimieren-, um evoluierende Natürlichkeit
zu produzieren: Nicht Technik soll eingerahmt bleiben durch die viel zu
wenig realisierte Naturpotenz, sondern: Die Natur hat eine Untermenge der
Technikkultur zu werden.
7.
Kann also Zeit, die bisher vertikal, linear, sukzessiv geordnet war
und immens extensiv, und nur extensiv zu gebrauchen war durch die Natur,
transformiert werden oder vielleicht auch nur evakuiert werden in eine
Organsiationsform, die eher Attribute wie horizontal, kreisförmig,
akkumulativ und intensiv verträgt?
8.
Die Gegenwart ist zur Zeit eine doppelt virtuelle, so wurde gesagt.
Die erste Virtualität wird durch Elektronik und Bilder manifest, die
zweite in dem unterstellten gattungsspezifischen Zug, dem Leben zu entgehen
resp. es zu töten. In der ersten Virtualität wirkt nun "obergründig"
das Imaginäre eine totale Tautologie als Vorbereitung einer rigorosen
Immanenz (als qualitative neue Gestalt von Vergesellschaftung). Man könnte
fast sagen, hier wiederhole sich Geschichte in anderen Registern; könnte
sagen, daß die "erste" Logifizierung und Abstraktifizierung (Symbolisierung),
die sich noch auf Raum, Sozialraum und Symbolik bezog, in die falschen
Dimensionen von Welt hineingriff, durch das Reale (das Nichtsignifizierbare,
das Unsichtbare, das Paradoxe) aber uno actu "korrigiert" wurde, und nun,
in der eigentlichen agonalen Bipolarität, Reales vs. Imaginäres,
auch die eigentliche Dimension von Welt trifft, in der Abstraktion zu sich
kommt und aufhört, untergründig historisch zu sein: nämlich
die Dimension des Imaginären. Diese Dimension ist "obergründig"
oder paragrundhaft, weil sie fortgeschrittener selbstreferentiell ist als
alle bisherigen historischen Weltan- und Weltenteignungsmittel. Sie hat
kein Unsichtbares, kein Nichtdarstellbares, kein Illusorisches (Baudrillard)
mehr nötig, eben weil bei ihrem Gesellschaftlichwerden nicht wie sonst
eine zukünftige Gegenwart unterströmig gestartet wird. Mit dem
Totalwerden der Imagination wechselt vielmehr die Art des Wechselns und
Transformierens von historischen, sozialen und psychischen Wirklichkeiten.
Es gibt nichts mehr, auf das man zurückgreifen kann, dessen Eigenart
es ist, sich des Zugriffs zu entziehen. Die Wirklichkeit der Welt im Imaginären
ist, was sie ist. Sie holt damit auf und ein, was sonst nur der Natur unterstellt
wurde, nämlich das zu sein, was sie ist.
9.
Wenn nur noch Reales und Imaginäres, also Kreatur und Kreation,
Auszugsgestalten für den Kampf um die Wirklichkeitsform von Welt bereitstellen,
dann werden essentielle Begriff wie Vermittlung, Bezeichnung, Information,
Text, Kontext u.a. mehr als nur problematisch. Denn: Vorausgesetzt, die
elektrische Realisation von Information (Strompräsenz/Stromabsenz)
gehört nicht nur zur Umwelt der autopoietischen Information, sondern
ist Element schlechthin der nichtautopoietischen Information, und die Information
in ihrer hegmonialen Gestaltung als Bild ist gänzlich absenzlos (also
referenzlos), also unfähig, in sich das Nichtdasein, das Wegsein zu
informieren, dann könnte es plausibel sein anzunehmen, daß das
informationelle Imaginäre nun als ganzes das ganz Reale geworden ist:
Das informationelle Imaginäre ist sich selbst (nicht für sich
selbst) das ganz Absente. Wie ist das noch zu denken?
10.
Auf der Suche nach Sonden, die das so befragte Zudenkende registrieren könnten, wäre es von Vorteil ...