bernd ternes

Wissenschaft, was nun?


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Zu jeder Zeit steht, was die Belange der Menschen, des Lebens und des guten Lebens, der Zukunft und der Organisation von Sinn und Zukunft anbelangt, immer viel, manchmal alles auf dem Spiel. Gewiß hängt die Einschätzung über das Vakantwerden bis dato gewißer Weltbilder, Versorgungen, Leistungen usw. davon ab, wieviel Aufmerksamkeit diejenigen bekommen, die darauf aufmerksam machen; die Maßeinheit für Aufmerksamkeit ist immer noch das Quantum an Angst und Tod, das verbreitet werden kann. Aber das ist, unterhalb oder jenseits eines ideologiekritischen Ansatzes gesehen, konstitutiv für menschliche Gesellschaften: daß Beschreibungen von Wirklichkeiten und deren Veränderungen selbst Teil der beschriebenen und dadurch sich ändernden Wirklichkeiten werden; daß also Gesellschaften neben der zeitextensiven Mutation durch "Evolution" auch die Information "durch" Kommunikation besitzen, um Veränderungen zu bewirken. Unterschieden werden können diese Informationen dadurch, ob sie weitgehend in Menschfleisch gearbeitet sind oder nicht.

Innerhalb der heutzutage weitgehend diskreditierten Hegelschen/Marxschen Dialektik war der Versuch, die Einheit gebrochener Welt zu verstehen, als Akt des Bestimmens von Welt und Materie eingebunden in einen Prozeß des Zusichkommens: ergab sich Identität von Form und Materie, dann strahlte ebendiese identische Bestimmung auf die Bedingungen zur Erfüllung identischer Bestimmung ab. Jede fortzusetzende Bestimmung von Form und Materie mußte sich also fortentwickeln, mußte ihr Anderes werden, um wiederum identische zu sein. Der Prozeß der Bestimmung von Form und Materie gebahr Zeit als Bedingung der Entwicklung von Geschichte, doch irgendwann dahin zu gelangen, wo das Andere nicht mehr in einen Vermittlungsstrudel hineingerissen werden muß, weil Gesellschaft bei sich angekommen ist. Das Identische in der Dialektik war solange das Nichtidentische, wie die Gesellschaft noch auf bestimmte Identität angewiesen ist; diese aber, und das war der dialektische Optimismus, gehe vorüber: Die Gesellschaft besitze die Produktivkräfte schon in sich, diese Form der Bestimmung von Form und Materie, von Identität, hinter sich zu lassen. Die Emanzipation vom Zwang des Identischmachens wäre zugleich die Emanzipation der Gesellschaft von Natur.

Daß identische Bestimmungen von Formen und Materie – logische, soziologische, technologische Bestimmungen – nicht bloß die Bedingungen der Bestimmung mitverändern, sondern die Formen und die Materie; daß ein Vermittlungsstrudel sondergleichen am Werke ist bei gleichzeitiger absoluter Gewißheit, daß kein Ziel, kein Zu-sich-Kommen der Gesellschaft, keine Emanzipation von Natur diesen Strudel bahnen könnte (außer Mehrwert, versteht sich): Das erleben wir gegenwärtig in den modernen kapitalistischen Gesellschaften; und zwar mit solch einer Wucht, daß der Verdacht, hier handele es sich um Effekte einer hegemonialen Ideologiesemantik (incl. konspirierender Subjekte), vorerst in die zweite Reihe zu rücken ist. In der ersten Reihe geht es wohl oder übel darum, davon auszugehen, daß wir zur Zeit in einem Spiel mitspielen, dessen Kreisziehung enorm ist, und dessen Ambivalenz noch virulent ist: Denn es ist ein verspieltes Spiel. Was steht auf dem Spiel? Grobschlächtig darf man vielleicht folgende, unterschiedliche Daseinsdimensionen und unterschiedliche Wirklichkeitsbeschreibungen betreffende Punkte erwähnen:

Es scheint, dies im Hinterkopf haltend, nicht mehr sinnreich, Texte zu produzieren, die soziale Wirklichkeit nur als in Kauf zu nehmenden Umweg und als theoretische Deutungen einfach tolerierende Welt akzeptieren, die also mehr oder weniger mutig autologisch vorgehen, um dann letztlich doch nur über die Richtigkeit/Wirksamkeit/Abstraktionsgewinne der Methode und der Theorie zu befinden, oder damit sogar zu behaupten, sich methodologisch und theoretisch dem zirkulären und autopoietischen Gegenstand namens Gesellschaft rechtens angepasst zu haben. Was aber dann? Wie weiterhin mit Sozialtheorie?

Vielleicht und im ersten Schritt mit offengelegter Theorie. Diese, so könnte man sagen, schaut auf das Ausgehen ihrer Schau- und Sehkraft; sie weiß nicht mehr zu unterscheiden zwischen der Verschwommenheit des Sehens und der Verschwommenheit des Gegenstandes, entscheidet sich also nicht mehr zwischen einer klaren Sicht aufs (noch) Verschwommene (Rationalismus) und einer (noch) verschwommenen Sicht aufs Klare (Metaphysik); sie schaut auf das Kaputtbeobachtete, auf die nicht mehr nur rhetorisch konzedierte Insuffizienz ihrer Erkenntnisproduktion, ohne allerdings andere Sinn- und Sinnesinstanzen (Plausibilität, Wahrnehmung) ins Geschirr zu nehmen, und ohne von Abstraktion zu lassen: Denn mit was sonst kann sie Texte antreiben, die weiterhin einen soziologischen Anspruch ihr eigen nennen? Offengelegte Theorie wäre so wie der blinde Steuermann aus Matthias Zschokkes Theaterstück Brut, der auf die Frage, ob er denn, blind, wie er ist, als Steuermann des Piratenschiffes nicht überflüssig sei, antwortet: "Wir alle sind überflüssig. Bei mir Blindem ist es nur am sichtbarsten".

Offengelegter Theorie geht es darum, die wissenschaftsgeschichtliche Auffassung Whiteheads im folgenden Zitat vollständig anzuerkennen und 'zurückzubuchstabieren', von der Erkenntnis ausgehend, daß die dort besagte Kontrolle der Analyse von und des Nachdenkens über konkrete Tatsachen zu einer explodierenden Unkontrollierbarkeit konkreter und abstrakter Tatsachen geführt hat, als welche sich die modernen Gesellschaften in ihrer Artifizialisierung formiert haben: "Nichts ist eindrucksvoller als die Tatsache, daß die Mathematik, nachdem sie sich zunehmend in die höheren Regionen immer radikalerer Extreme des abstrakten Denkens zurückgezogen hatte, mit einem entsprechenden Zuwachs an Bedeutung für die Analyse der konkreten Tatsachen wieder auf die Erde zurückkehrte. Die Wissenschaftsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts liest sich wie ein lebendiger Traum des Platon oder des Pythagoras. In dieser Hinsicht war das siebzehnte Jahrhundert nur Wegbereiter der folgenden Epochen. Damit hat sich das Paradoxon umfassend bestätigt, daß die höchsten Abstraktionen die geeignetsten Mittel sind, um unser Nachdenken über konkrete Tatsachen zu kontrollieren." Das kontrollierte Nachdenken, die kontrollierende Abstraktion, das Erstellen theoretischer Konzepte zur Kontrolle von Heterogenität, die Sicherheit angewandter Vernunft: Davon ist auszugehen und ineins wegzugehen. Davon auszugehen deswegen, weil die moderne Gesellschaft im strikten Sinne material abstrakt "ist" und dementsprechend auch nur Sonden mit Funktionstüchtigkeit ausstattet, die gleichsam abstrakt (zirkulär, paradox, selbstreferentiell, autopoietisch) sind. Keinerlei theoretischer Romantizismus hilft in die Gesellschaft hinein, nicht einmal ein theoretischer Ethizismus (Kommunitarismus) und auch nicht eine historische Anthropologie, die im Aufweis der materialen und körperlichen Bedingungen als auch der Unterdrückung des Körperlichen zur Ermöglichung einer geschichtlichen Loslösung der Gesellschaftsverkehre vom Körper, von den Sinnen und von der Wahrnehmung die Einsicht in die geschichtlich selbstverständlich gewordene Unmöglichkeit "abstrakten Lebens" als Kritik aufrechterhält.

Ebensowenig wie ein mehr oder weniger theoretisch fundiertes Unterschreiten des Standes gesellschaftlicher Abstraktion hilft ein prononciertes Forcieren oder Überschreiten ebendieser Abstraktion in Form einer teleonomisch angesetzten Konzeption, die die Entwicklung menschlicher Gesellschaften und der gesellschaftlichen Menschen im "Techniker Mensch" kulminieren bzw. kumulieren läßt: So die nah an Heideggers Technikphilosopheme angelehnte Fassung Wolfgang Schirmachers etwa, die davon ausgeht, daß mit dem Eintritt in die Welt der Technik zwar die menschliche Geschichte aufgehört habe, aber daß dies nichts anderes bedeute als der Beginn des wahren Lebens, denn nun könne die Gesellschaft der Techniker namens Menschen endlich die metaphysischen Krücken namens Ökonomie, Politik und Ethik aus den Händen legen ineins mit dem Abbau des geschichtsmächtigen Sozialisationsvehikels Staat. Ebenso nicht weiter hilft die Fassung eines Marshall McLuhan, die innerhalb seiner umfassenden Medientheorie eine libidinös bestimmte Beziehung zwischen menschlichem Körper und Maschine entwirft, in der der per se insuffiziente Körper qua narzißtischer Kränkung in die Einverleibung und Substitution durch die Maschine getrieben wird, ohne daß dies bewußt gemacht werden könnte. Oder schließlich die Fassung einer durch Maturanas Biophilosophie angereicherte soziologische Systemtheorie, die mit ihrer Theoriepenetrationszentrale namens Sinn und der letzten Abstraktionsfassung von Einheiten, nämlich die selbstreferentielle, operational geschlossene, nichttriviale autopoietische Maschine, den Boden zu bereiten versucht für eine Sicht auf soziale Gesellschaften, in der sich die a-historische Autopoiesis-Systematizität im Bereich Sozialität Geschichtlichkeit (Sinn) nur deswegen erlaubt, um die notwendigen Bedingungen zur Erfüllung der geschichtslosen Autopoiesis zu reproduzieren: Alle diese Fassungen also, die den Stand der gesellschaftlichen Abstraktion theoretisch fundiert überschreiten, sind gleichsam nicht hilfreich, um weiterzukommen im Verstehen dessen, was heute in modernen Gesellschaften passiert und passiert ist. Anstelle einer Suche nach dem eigenen richtigen Platz zwischen einem unterschreitenden und einem überschreitenden Ausgehen von der Abstraktionswirklichkeit moderner Gesellschaft ist es vielleicht sinnvoller, Gedanken zu entwickeln, die ein Von-ihr-Weggehen plausibilisieren, ohne sie hinter sich zu lassen oder zu bringen. Und das ist schwierig, also Thema dieser Arbeit. Wie schreiben?
 

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Eine mögliche Unterscheidung von Texten in solche, die kompliziert sind, sich dennoch einfach zur Darstellung bringen, die also ihre Mühe, ihre Unvernünftigkeit, ihre Zufälligkeit und ihren Selbstzweifel quasi im professionellen Handhaben verklappen, und in solche Texte, die einer Offenlegung der sie antreibenden Theorie folgen, kann von einer zweiten Unterscheidung konkurrenziert werden, nämlich der zwischen Texten, die sich, und Texten, die über etwas sich aussagen. Gemeinhin angebracht ist diese Unterscheidung auf der Ebene von Textgattungen, etwa der Philosophie und der Literatur. Literarische Texte haben meistens auch ein "Etwas", doch sind sie literarische Texte deswegen, weil sie sich aussagen: Der Focus Wahrheit ist hier fehl am Platze, er wird durch Wahrhaftigkeit (Stilsicherheit, Unterhaltungswert, Schönheit der Zerissenheit usw.) des Textes gefüllt. Anders bei philosophischen resp. wissenschaftlichen Texten: Sie gelten, wollen sie als solche Texte gelten, als einfache Transmissionsbänder, einzig da, um der Approximation des Textredens an das in Rede stehende Etwas die Eine-Richtung-Bewegung zu gewährleisten, die Richtung auf Wahrheit hin.

Man kann davon ausgehen, daß sich die "Gattungsunterscheidung" auch innerhalb wissenschaftlicher Texte wiederholt, leicht verändert zwar, doch in der Geltungsdimension unverändert. Der hierfür gewöhnlich angebrachte Schied ist der zwischen theoretischen und metatheoretischen Texten. Theoretische Texte bekommen, betrachtet aus metatheoretischer Perspektive, den Status von Texten, die sich aussagen (wie immer auch diese Sichtweise gekoppelt ist an wissenschaftstheoretische Kriterien), während metatheoretische Texte – und das ist jetzt das Entscheidende – nicht die Geltungsdimension Wahrheit aufrechterhalten (exponiert an den "Etwasen" Theorie), sondern selbst zu etwas zutiefst Literarischem werden, zu einer eigentlichen Form der Poesie, einer wegen mir kalten Poesie, die sich nicht mehr interpretativ erkenntnistheoretisch daran messen lassen kann, was sie über Theorien und theoretische Texte aussagt, sondern nur noch daran, wie sie im Gefängnis des "Meta" sich selbst ausspricht bzw. sich vorm Ersticken bewahrt. Metatheoretische Texte benutzen Wissenschaftlichkeit so, wie poetische Texte die Alltagsschriftsprache benutzen: Es geht beiden Textsorten nicht mehr ausschließlich darum, etwas darzustellen oder auszudrücken, sondern tatsächlich darum, die Unmöglichkeit und Inadäquanz des Darstellens und Ausdrückens selbst zu Gestalt zu bringen; beide sind in hohen Graden strikt selbstbezüglich, aber selbstbezüglich aus Verlegenheit, nicht aus einer "Drift" der soziokommunikativen Evolution heraus. Die Verlegenheit besteht darin, daß sich beide Sorten strukturell mit Überdosen an Heterogenität/Abstraktion/Komplexität von Welt versorgen und trotzdem nicht auf das Wahrnehmen ausweichen, das ja im Ensemble Empfinden/Wahrnehmen/Denken die größten Aufnahmekapazitäten für die Relationen von Weltwirklichkeit sein eigen nennt. Die Verlegenheit ist also, an einen Punkt angekommen zu sein, an dem man schweigen müßte, es aber nicht kann, an dem man sprechen wollte, es aber auch nicht mehr kann, und nun auf die Suche geht nach einem Nichtschweigen, das kein Sprechen, und nach einem Nichtsprechen, das kein Schweigen ist.

Im Folgenden soll es um einen Text gehen, der metatheoretisch-poetisch geformt ist, sich selbst aussagt unter Einhaltung der Umwege namens "Theorien als Gegenstände", "Thema", "Erkenntnisinteresse"; um einen Text, der sich im Offenlegen seiner selbst verfolgt, und der – wie fast jeder Text, der sich nicht durch themenzentrierte Diziplin und raumzeitliche Limits meint einschränken zu müssen – der Phantasmagorie nachhängt, Maßstäbe zu setzen für die wissenschaftliche Einsicht in die Maßlosigkeit des Bedeutens, Interpretierens und (kausalen, funktionalen) Zusammenhängens bestimmter Weltsachverhalte, in eins mit der Einsicht in die beinahe zwanghafte Wiederholung und Stabilität sich durch die anthropologische, politische und soziale Geschichte der menschlichen Zivilisation hindurchziehender "sozialer Tatsachen". Nochmals: Wie schreiben?
 

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Es gibt Formulierungen zu Beginn größerer und weitausholender Texte, die eine bestimmte Attraktivität für sich haben, nicht zuletzt für den Schreiber selbst. Sätze wie: "Im Folgenden geht es nur um das eine Problem:...", oder: "Die folgende Untersuchung versucht folgendes Problem auf den Punkt zu bringen..." zeitigen eine Art Beruhigung für Leser und Schreiber, gewährt solcher Einsenkwinkel doch die Aussicht auf Übersicht, auf klare Fragestellung, auf eine Nichtüberhebung dessen, was der Text an Erklärungsvolumen abzudecken hat. Wirft man Blicke auf Titel, die in den letzten 10 Jahren im Bereich der soziologischen und philosophischen Vokabularien veröffentlicht wurden, fällt, wenngleich empirisch nicht validiert, auf, daß sogenannte "Ein-Punkt"-Monographien bzw. "Ein-Begriff"-Monographien sich sehr stark verbreitet haben. Und nicht nur sie, auch Tagungen, Symposien, Kongresse beschäftigen sich in beinahe konkretistischer Manier mit nur noch einem begriffsgeschichtlich tradierten Begriff, sei es Kontingenz, Wahrnehmung, Mimesis, Beobachter, oder aber sie beschäftigen sich mit der performativen Dimension von Kultur, nicht mehr mit der informativen. Der wissenschaftspublizistische Hang zur Kompilation, zur Transgression des "Wörterbuchartikel-Schreibens" korrespondiert mit einem impliziten, durch die postmoderne Rhetorik angeworfenen Verdikt: Daß nämlich nur noch mit den Beständen zu rechnen sei; dies aber immer feingliedriger, nuancierter, ausdifferenzierter, genauer. Die soziale Welt habe den Zenit ihrer theoretischen Interpretierbarkeit, ihr Repertoire an Emergenzien des Neuen verbraucht. Andere Fakultäten denn sozialwissenschaftliche teilen sich nun den Gegenstandsbereich "soziale Gesellschaft" unter sich auf, sei es die Biologie, die Kognitionswissenschaft, die Ökonomie oder Theologie. Die soziologischen Rufer stimmen dem indirekt zu, entweder dadurch, daß sie immer flachere Beschreibungsangebote liefern (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Informationsgesellschaft), oder indem sie dafür plädieren, auf einen Gesellschaftsbegriff in Gänze zu verzichten. Andere verwerfen die Möglichkeit, heutzutage noch intellektuelle Kritik üben zu können. Dem kommt entgegen, daß immer mehr Mitglieder der Gesellschaft dieser keine Achtung und Erwartung mehr entgegenbringen, durchaus nicht nur von denen, die gesellschaftlich verachtet werden und an die keiner mehr Erwartungen knüpft. Große gesellschaftstheoretische Entwürfe, auch solche, deren vornehmliches Ziel die Übersetzung praxisphilosophischer Denkgelenke in soziologische Handlungstheoreme ist, sind nicht nur Ausnahmen, sondern schon längst einer wissenschaftstheoretischen Dechiffrierung entwichen und in Dimensionen weltanschaulicher oder politischer Doxa eingewandert. Das gilt auch für Luhmanns Metatheorie sozialer Systeme, und ebenso für die schon etwas gesellschaftstheoretischen Anspruch verloren habende Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas. Auf eine noch genauer einzugehende Art bewahrt die Historische Anthropologie die Großformatigkeit dieser Theorien bei gleichzeitiger Ablehnung aller universalistischen Implikationen: Sie fragt weiter nach den großen Zusammenhängen von Geschichte, Natur, Körper, Sprache und Gesellschaft, doch sie fragt nicht mehr für die eine Welt, für den einen Menschen (männlich, weiss), für die eine Theorie. Sie invertiert gewissermaßen die homogenisierte Welt und die homogenisierenden Imaginationen, im Wissen, daß sie damit selbst nur ein Effekt ebendieser Homogenimagination darstellen und daß vermeintlich Diverses auch nur Derivat diverser Homogenisierungen sein könnte.

Im Folgenden soll es um große Theorie gehen, zumindest in der Sachdimension. Will sagen: Es soll das Aroma eines grundrissigen Entwurfs einer Theorie der Gesellschaft vermittelt werden; und dabei hat die Theorie, die protoentworfen wird, die ganze Gesellschaft im Blick (die in Indien, die in Afrika, die in Europa, die vor 200 Jahren, die im Kriege, die religiöse, die technische, die mediale usf.). Es soll also nicht um zeitlich und räumlich spezialisierte Anschauungsformen von Vergesellschaftung gehen (natürlich werden diese behandelt), sondern um eine Theorie der Vergesellschaftung von/durch Gesellschaft.

Dabei ist es wohl unvermeidlich, kurze Exkursionen zu tätigen in einige Theorien, die sich der selben Frage verpflichtet fühlen (Durkheim, Marx, Parsons, Habermas, Luhmann u.w.), sowie längere Exkursionen zu unternehmen in das, was man Tradierung, Wissensüber- und Wissenvermittlung von Generation zu Generation nennt; denn hier, bei der Frage, wie sich Gesellschaften informieren, gibt es erheblichen Klärungsbedarf ob eingetretener Veränderungen. Bei diesen Exkursionen wird es wichtig sein zu unterscheiden zwischen Texten, die bluffen, und solchen, die tatsächlich Bausteine sein können für neue Interpretationsmuster. Denn der oft und angesichts einer dramatischen Ausdünnung historischen Wissens eingeklagte notwendige Rekurs auf geschichtliche Hintergründe gegenwärtiger Geschehnisse führt oft zu Texten und auf Texte, die nur wichtig sind zu wissen für solche, die die Historiographie selbst als geschichtlichen Gegenstand sehen. Der oft gehörte und meistens auch zutreffende Spruch, ohne historische Kenntnisse verstünde man die Gegenwart nicht, ist zunehmend nur eine sich objektiv gebende Einschüchterung durch diejenigen, die ihre Interpretationshegemonie betreffs Gesellschaft, Ethik und Wissen auf einem gesellschaftlich absteigenden Ast wähnen. Es geht nämlich schon lange nicht mehr darum, den Kodex überlieferungswürdigen Wissens, Glaubens und Hoffens von Generation zu Generation neu zu bestimmen und zu bewerten, Altes zu bewahren oder Neues zu wagen, sondern vielmehr um die Existenz eines solchen Kodex und seine Einschleusbarkeit in kommunikatives Handeln resp. Verhandeln überhaupt. Reethnisierung, Verrechtlichung und Rekulturisierung vormals genuin sozialer, sozialpolitischer oder auch einfach politideologischer Sachverhalte und Probleme zeigen auf jeweils verschiedene Art und Weise an, daß sich Wissen in seiner kritikaussetzenden, in seiner argumentativen, in seiner revidierbaren und reflektierten Kompetenz immer weiter zurückzieht, wenn es um die Kalibirierung gesellschaftlicher Spannungen, Vorstellungen und Problemlösungen geht. Natürlich gilt das auch für das Wissen über Gesellschaftstheorien und für diese selbst: Theorie der Gesellschaft ist nicht verschollungsresistent; zugleich hat sie nicht, wie vormals die Religion mit der Theologie, die Macht und die Kraft, ihre vermeintliche gesellschaftliche Obsoletheit quasi zu überwintern und immer wieder, wie Theologie, in Zeiten desolater Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sich anzubieten. Man kann es sehen am historischen Materialismus, wie schnell eine vermeintliche Institution sich als Sternschnuppe erweist; man kann es generell sehen an der Soziologie, die noch vor 25 Jahren als Königswissenschaft galt und als eigentliche Ausführerin einer nachmetaphysischen Philosophie; man kann es schließlich sehen an dem Kommunikationsungetüm Systemtheorie, das zwar als Theorie wie keine andere die akademischen Diskursreservate ansteckt, aber nichtsdestotrotz akademisch bleiben wird, da eine ihrer Grundentscheidungen, nämlich sich nicht an social problems, sondern an theoretischen Abstraktionsgewinnen zu orientieren, unwiederruflich das systemtheoretische Wissen auf die jeweilige Diziplin einschränkt. Großformatiger noch sind Thesen, die einem Ende der Diskussionswissenschaft und generell dem Ende einer institutionellen, auf Zusammenhänge spezialisierten Reflexion das Wort geben. Pragmatismus und Operationalismus in der Theorie, Kommunitarismus und Subsidiarität in Belangen der moralischen und sozialen Anleitung für den gesellschaftlichen Verkehr, sowie Opportunismus und Finanzismus in der Politik decken immer mehr Schnittstellen gesellschaftsrelevanter Entscheidungen, Unterlassungen ab und lassen grand theory recht alt aussehen bzw. nur noch als Referenz für sophistische Talkshows, minoritäre Symposien oder vereinsamte, philosophisch interessierte Manager zu. Und natürlich für theoretisch interessierte Wissenschaftler.

Dabei ist auch nach über 2000 Jahren millionenfachen Nachdenkens die Frage, was der Mensch, was die Menschen, was das Leben, was soziale Gesellschaften sind und sollen, weiter unbeantwortet, weil unbeantwortbar. Der Hauptgrund dafür ist, daß Menschen weiterhin alleine sind auf der Erde, also nur mit sich, aber niemals mit etwas anderm in Beziehung treten können, das ihnen eine dialogische Rekonstruktion oder zumindest eine Inspiration, eine Vergleichbarkeit comme il faut erlaubte. Weite Zeitstrecken gesellschaftlicher Evolution können wissenssoziologisch rekonstruiert werden als Versuche, mit Agenten, Mächten, Göttern eine solche Beziehung zu imaginieren; die Erfindung der Geschichte spätestestens in der Renaissance kann interpretiert werden als großangelegter Versuch der Menschen, von der penetranten Ausrichtung auf einen archimedischen Punkt wegzukommen, um sich mit den eigenen Problemen zu befassen; und die explodierende Technik des Menschen muß verstanden werden als ein Versuch, sich selbst ein gleichberechtigtes Gegenüber zu konstruieren; die Detonation der Diskurse und Ergebnisse im Bereich der Evolutionstheorie, der Gen- und Biotechnik schließlich scheinen gegenwärtig die Vorbereitung abzugeben, um aus der paradigmatischen Abwesenheit eines dem Menschen angemessenen Gegenübers auszuscheren und mit der Erfindung einer neuen Evolution des Lebens, einer wissenschaftlichen und zutiefst vergesellschafteten, zeitlich extrem komprimierten Evolution der Evolution der Frage nach dem Menschen, dem Leben und der Gesellschaft endgültig auf die Spur zu kommen.

Neben einer Kritik an bestimmten wissenschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Finalismen, in denen die Mannigfaltigkeit Mensch und die Mannigfaltigkeit Gesellschaft auf ganz bestimmte Eigenschaften reduziert (Genetik, kommunikatives Handeln) und von da aus reduktionistisch bestimmt werden, muß gleichsam das Vorhaben einer Reformulierung bestimmter Gesellschaftsfassungen auch unter permanenter Kritik gehalten werden, um zu vermeiden, daß sich ein Teleologismus unbemerkt als Richtungsgeber der jeweiligen Interpretation einstellt, ohne gerufen worden zu sein. Mit der (Sozial-)Kybernetik etwa in der Ausführung der soziologischen Systemtherie hat teleologisches Denken eine hochakzeptable Form gefunden: Das vorgetragene Erkenntnisinteresse, innerhalb der Bereich Leben, Gesellschaft und Psyche operational äquivalenzierbare Formen, Prozesse und Bedingungsverhältnisse aufzusuchen, verwischt meist die "dahinterstehende" Auffassung eines Agens-Emanations-Schemas (in diesem Falle: Autopoiesis - evolutionäre drift-Fomen), kurz: Verwischt den Ausgangspunkt, von dem aus alles in Betracht Kommende abgeleitet oder zurückgeführt wird. Diese Art hochaufgelöste funktionale Äquivalenzierung findet in der Annahme einer Evolution der Evolution ihren Halt, mit der zwar keine Versprechungen verbunden sind etwa des Glücks, des Mehrerkennens, des Höherentwickelns; mit der aber ein Einrasten der genuin sozialen Wirklichkeit in den umfassenden und aufhebenden Autopoiesis-Kosmos bewerkstelligt wird; damit werden bestimmende und bestimmte Unterscheidungen zwischen Kultur und Natur ins nichts hinein abstrahiert und die Realität einem Prinzip subordiniert, das letztlich alles antreibt. Wenn auch ersteres mehr als nur zu begrüßen ist, wird doch damit das Leib-Seele-, das Denken-Sein- und das Materie-Immaterie-Problem nicht einmal mehr als Referenz benutzt und somit die Aktualisierung einer fatalen abendländischen Tradition des Dualismus vermieden, so muß das in vielfältiger Weise auftretende Vorhaben, genuin soziale Eigenwerte menschlicher Gesellschaften (betreffs der Selbst-Organisation, des Informationsaustauschs, der Selbsterhaltung, der Selbstperturbation, der Medien und Formen) als uneigenständige Derivate und Spuren von etwas aufzufassen, das als die Selbstschöpfung der Physis betrachtet wird, mit Bedacht, wenn nicht unter Verdacht verfolgt werden. Während Habermas 1976 noch mit Vorsicht eine bloß homologe Beziehung zwischen der Piagetschen Beschreibung der Ontogenese des Menschen und der geschichtlichen Entwicklung von Gesellschaftsformationen einführte, gehen heutige Beschreibungen über den Mensch, über menschliche Beschreibungen, über Gesellschaften davon aus, daß etwa die Strukuration des Dissipativen (Prigogine) nicht nur für den Wirklichkeitsausschnitt thermodynamischer Realität gilt, sondern auch für die Wirklichkeit soziokommunikativer Realität. Das gleiche ließe sich sagen von den naturwissenschaftlichen Konzepten Hakens (die Theorie der Synergetik), Eigens (die Theorie autokatalytischer Hyperzyklen), Hollings (die Theorie elastischer Ökosysteme), Maturanas (die Theorie der Autopoiese) und Lorenzens/Mandelbrots (die Theorie des 'deterministischen' Chaos). Sie alle werden benutzt, um die soziale Wirklichkeit entweder zu erklären, oder um zu erklären, warum die Einheit sozialer Wirklichkeit keine mehr ist, mit der man die Gesellschaft angemessen erklären könne. Die jeweiligen Ergebnisse der Theorien, alle der Frage nach der Bildung von Ordnung gewidmet, werden so behandelt, als seien sie im ontischsten Sinne real und nicht bloß Bestätigungen von Modellen über Natur resp. Naturgesetzliches. Innerhalb der Theorien, die einer Naturalisierung genuin gesellschaftlicher Verkehre und Vermittlungen das Wort reden, scheint die noch unbekannte Konzeption Hans Peter Webers die meiste Plausibilität an sich zu ziehen, geht sie doch einerseits mit den Einsichten in die Dringlichkeit der Übersetzung humanistischer Selbstbeschreibungen in "naturwissenschaftliche" Beschreibungen konform, andererseits reserviert sie der Kulturanthropologie die Hauptaufgabe der Übersetzung und entwirft damit eine genuin kulturale Wirklichkeit des Menschen, freilich auch eingerastet in einer Kosmologie der Selbsterregung der Physis.