bernd ternes

Vorsätze zum Stand des bemühten Nachdenkens



A) Das Dunkel im Rampenlicht

Rainald Goetz' Wut fasst die Lage der Zeit und die der Geschichte (oder vielmehr des Erinnerns?) des okzidentalen (oder verwissenschaftlichten) Menschen im Singular sehr gut zusammen: Das Problem ist die extreme Materialferne des theoretischen Produkts der Analyse des Materials. Unsere Zeit ist die Zeit der (wenn man so sagen darf) Götterdämmerung ebendieser Ferne des Produkts zum Material, aus dem es besteht. Aber die Frage ist: Besteht das Produkt noch aus Material? Und: Gibt es noch Material jenseits des Produkts (der Analyse, der Abstraktion, der Synthese)? Oder, diesen Aussageradius teilsystemspezifizierend (hört man schon hier Luhmann?): Stimmt es, daß 'Bewußtsein für die Wissenschaft nur ungeordnetes "Rauschen" ist, unerläßlich zwar, aber auch nicht mehr'? Allenthalben kreist die Erinnerung, kreist die Aufarbeitung um diesen monolithischen Entfernungsabgrund, beinahe so wie der Befreier Prometheus', der, immer wieder zurückgeworfen von der Welle des Gestanks, die Prometheus und der zugeschissene Fels verursachten, weitere dreitausend Jahre das Massiv umkreiste. Der Effekt dieses Umkreisens und Aufschiebens der Befreiung: Gewöhnung, und zwar dynamische. Denn der Gestank nahm zu in dem gleichen Maße, wie der Befreier sich an ihn gewöhnte.

Freilich wird diese Gewöhnung an den Gestank (d.i. das selbstproduzierte Elend einer sich mittlerweile nur noch kapitalistisch organisierenden technologischen Zivilisation), wird diese wachsende annährungslose Vertrautheit mit dem geschichtlich Ausgeschiedenen, wird schließlich die endlos benötigte und deswegen nie mehr endlose Zeit, um ans zu Befreiende (als letzter Mythos) zu gelangen, nur dann einsichtig, wenn klar ist, daß keine Zeit mehr zur Verfügung steht für einen Zeithorizont, der die Ignoranz deckt, daß der, der ausscheidet, nicht wahr haben will, daß er der ist, der ausgeschieden wird.

Zuletzt hat noch Peter Furth eine prägnante Enttäuschungslandkarte angefertigt für die Zeit des nicht abzusehenden Aufenthalts in dieser Wüste zwischen Erwartung und Gewärtigung, die vorallem für die Utopieamputierten enorm gewachsen ist. Seine nachtotalitäre Ideologiekritik hält fest an der Ambivalenz des Ent-täuschens, also fest an einem Begriff der Approximation: nicht mehr in Richtung Revolution, auch nicht mehr in Richtung Wahrheit, sondern in Richtung des Begreifens der eigenen Befindlichkeit, das sich nicht wieder als Material für eine Verrechnung des Jetzt angesichts zukünftigen Heils einspannen läßt. Er schreibt: "Am Ende dieses Jahrhunderts nun ist die Erfahrung nicht mehr zurückzuhalten, die besagt, daß zur Rationalität Angst und Schrecken gehört und Grausamkeit, daß sie nicht hell und durchsichtig, sondern dunkel ist, daß sie nicht zwanglos den Menschen begegnet und sie leicht mit sich nimmt, sondern daß sie unwiderstehlich wie ein Schicksal ist. Das können wir heute, am Ende des Jahrhunderts der totalen Mobilmachungen durch eine sicherlich massenhafte, unscheinbare, jedem Nachdenken widerstehende Erfahrung wissen". Und: "Was ist geschehen und was geschieht, wenn die Erinnerung dem sich Erinnernden seine Fremdheit mit sich zeigt?" Und schließlich: "[...] wenn wir uns als Gewesene nicht verstehen, können wir dann noch vernünftigerweise uns als Werdende verstehen wollen? Ein Rationalismus ohne die Anerkennung seiner dämonischen Schattenseiten erzeugt Obskurantismus und, schlimmer, Depression". (Wem der letzte Satz zu hart klingt, dem bietet C.Castoriadis eine beinahe optimistische light-Version an: "Die Unmöglichkeit, aus den begrenzten Entwicklungstendenzen einen einheitlichen Determinismus des Gesamtsystems Geschichte zu konstruieren, ist nicht aus der Komplexität der sozialen Materie zu erklären, sondern aus dem Wesen des Gegenstands Gesellschaft: das heißt aus dem Umstand, daß das Gesellschaftliche (oder Geschichtliche) als wesentlichen Bestandteil Nicht-Kausales enthält".)
 

B) Das verspielte Ausleuchten von Welt

Es geht also um Anerkennung, daß man geschichtlich verloren hat und jetzt in der frei flottierenden Zeit verloren ist, genauer: daß die, die auf das Pferd gerichteter Zeit setzten, um mittels Entzauberung des Heiligen ebendieses Heilige spurlos im Profanen zu versenken, und daß die, die glaubten, der innerweltliche Zukunftshorizont der Moderne könne die vertikale Ausrichtung auf Transzendenz eben in dem Maße bewältigen, wie der Zukunftshorizont diese Ausrichtung horizontal aufhebt (nämlich durch beständige Vervollkommnung des Wissens, des Gemeinwohls, der Naturaneignung), verloren haben und verloren sind (so jedenfalls sieht es Giacomo Marramao). Es geht um Anerkennung der Nötigung, all jene Begriffe abzuschreiben, die soviel soziale Symbolik vermittelten, daß völlig aus dem Sinn geriet, wie abhängig sie an den Mythen des Fortschritts und der Revolution, an der Futurisierung und der Entwerfbarkeit der Geographie und der Historie befestigt waren, aber auch aus dem Sinn geriet, daß das Entfernen der Vielfalt und Widerständigkeit des Materials (der Natur, der Geschichte, des Selbst) mittels der Materialferne seiner abstraktifizierenden Zurichtung, also mittels der Realisation des Abstrakten, die gefährlichste praktikable Illusion war, die sich die Moderne leisten konnte. Die Effekte sind heute, d.h. seit gut einem viertel Jahrhundert, von Tag zu Tag immer deutlicher zu besichtigen (man wandert sozusagen via TV-Sonde in den eigenen verfaulenden Röhrensystemen innerer und äußerer Natur umher und liegt doch die ganze Zeit auf dem Operationstisch). Das Vernichtete der Ökologie, der Sinne, des Körpers, der Verständigung und des Artikulationsvermögens ist alles andere als Abfall und nichtig, will sagen: alles andere als endgültig kontextbefreit und auf Sonderdeponien, in Gewaltausbrüchen, in Talkshows und auf dem Arbeitslosenamt abladbar. Das Gegenteil scheint der Fall: Man kommt beinahe nicht umhin, den der ziel- und zweckgerichteten technologischen Zivilisation inhärenten Ausscheidungen und Defekten der Natur, der Gesellschaft und der Psyche eine Art konspirative Organisiertheit zu unterstellen, so als gäbe es nicht nur eine Akkumulation des Abfalls, sondern auch eine Emergenz, gar eine Synthese desselben (manche sprechen schon von Rache resp. von einer negativen Gleichzeitigkeit des eindimensionalen Weltsystems). Fakt ist, daß die gesellschaftliche Exkorporation des Todes seine höchste Stufe erreicht hat: die planetare Dimension. In dieser drängeln sich die 'Defekte' mittlerweile titanenhaft. Dieser Dimension kommt keine Analyse etwa des Umbaus der Industriegesellschaft, keine Analyse der Reorganisation der Beziehung zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnis, auch keine Analyse emanzipativer Potentiale in der Theorie als Voraussetzung der Entfaltung dann empirischer mehr nach (auch C.Castoriadis' reformulierte Praxisphilosophie nicht); desweiteren auch keine Analyse des Projekts einer Umschrift psychischer Welten in rein kommunikative, wie es P.Fuchs anstrebt. Dieser Befindlichkeit der inneren und äußeren Ökologie der Menschengattung kann nur noch die Frage gerecht werden, die für die Möglichkeit des Austritts aus der wissenschaftlich-technologischen Kultur Antworten sucht, einer Kultur, die sich via des "absoluten Geistes" namens Weltmarkt über alle menschlichen und nichtmenschlichen Gesellschaften der Erde ausgebreitet hat und, an ihrem logisch anderen Ende, zur globalen Rationalisierung auch der natürlichen Materie führte, deren ihr zugefügten Pathologien in ihrer Vernichtungsgewalt die letzte große Einheit der Gattung ausmachen (und dabei in Jahrhunderten aufgebaute und "gewachsene" Differenzierungen kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art mit einem Schlag zur Indifferenz verdammen; mit der zur Zeit anhaltenden Renationalisierung, Reethnisierung etc. erleben wir das wilde Umherzucken eines angeschossenen Tieres, auf dem 'Europa' sitzt).
 

 C) Die Laterne kommunikativer Rationalität: Wem spendet sie Licht?

Was aber ist mit der kulturellen Moderne, auf deren lebensweltliches Rationalitätspotential die Theorie des kommunikativen Handelns setzt? Was setzt die dieser planetaren negativen Identität, dieser geschlossenen Rache des Ausgeschiedenen entgegen? Aus der Sicht kommunikativer Vernunft sind ja die kognitiv-instrumentelle Verfügbarmachung einer objektivierten Natur/Gesellschaft ebenso wie die zweckrationale Selbstbehauptung im Gewande subjektiver Selbstverwirklichung bloß abgeleitete Momente, die sich gegenüber einer durch kommunikative Strukturen geprägten Lebenswelt, gegenüber der Intersubjektivität von Verständigungs- und Anerkennungsverhältnissen einfach, dafür aber unglaublich rigide verselbstständigt haben. Subjektzentrierte Vernunft, so Habermas, ist Produkt einer Abspaltung und Usurpation, und zwar eines gesellschaftlichen Prozesses, in dessen Verlauf ein untergeordnetes Moment den Platz des Ganzen einnimmt, ohne die Kraft zu besitzen, sich die Struktur des Ganzen zu assimilieren. Dieses Vereinnehmen durch eine verdinglichte und verdinglichende Subjektivität nun sei nicht, wie Horkheimer und Adorno ebenso wie Foucault fälschlicherweise annehmen, genau der irreversible weltgeschichtliche Hauptvorgang, so wie wir ihn heute allenthalben besichtigen können, denn: die tiefe Ironie dieses Vorgangs bestehe darin, so Habermas weiter, daß das kommunikative Vernunftpotential in den Gestalten moderner Lebenswelten erst einmal entbunden werden mußte, damit die entfesselten Imperative instrumenteller Vernunft auf die verletzte Alltagspraxis zurückwirken und dabei dem Kognitiv-Instrumentellen zur Herrschaft über die unterdrückten Momente praktischer Vernunft verhelfen konnten. Das kommunikative Vernunftpotential wird also, so Habermas, letztlich im Verlaufe der kapitalistischen Modernisierung sowohl entfaltet als auch entstellt. Mit diesem 'sowohl als auch' sei also ein Stratum vorhanden, das nicht durch die auch noch so filigranen Infiltrationen instrumenteller Rationalität kontaminiert ist. Es gelte, die Seite der blockierten, der gehemmten Entfaltung stärker ins Auge zu fassen und die formalpragmatischen Bedingungen zur Ermöglichung einer Entfaltung kommunikativer Vernunft in der herrschaftsfreien Rede zu eruieren. Das Moment einer nichtgewaltsamen, einer transzendentalen Vernunft liege im Substrat der formalpragmatischen Verständigungsbedingungen der Menschengattung geborgen. Das Elend der gesellschaftlichen Vergangenheit und Zukunft sei demgemäß nicht auf ein Zuviel an Rationalität, sondern auf ein Zuwenig bzw. auf eine halbierte Rationalität und deren Gestaltwerdung rückzuführen. Da nun das Gewebe kommunikativer Handlungen sich aus lebensweltlichen Ressourcen speist und gleichzeitig das Medium bildet, durch das sich die konkreten Lebensformen reproduzieren, behält die kommunikative Vernunft konstitutiv einen reagierenden bzw. einen erwidernden Charakter. Ihre Eigenart ist es, sich bei Übergriffen durch eine systemische Rationalität nicht widerstandslos zu ergeben (vorausgesetzt, man hat sie weiter entfaltet); sie ist jedoch nicht in der Lage, selbst expansiv auf die schon systemisch durchrationalisierten Bereiche instruktiv einzuwirken: ihr bleibt dafür nur die negative Dialektik in Gestalt expansiv zunehmender Pathologien der kulturellen, kommunikativen und sozialisatorischen Reproduktion, durch die symptomatisch angezeigt wird, daß etwas in der Dosierung der Handlungs- und Verständigungskoordination schief läuft. Kurzum: Die Theorie des kommunikativen Handelns weist dem verständigungsorientierten Handeln die Vermittlungsfunktion zu, durch die sich die vernünftige Praxis als eine in Geschichte, Gesellschaft, Leib und Sprache konkretisierte Vernunft einzig begreifbar werden kann. Übergehe man diesen Ort der Vermittlung entweder rückwärts mittels eines neuen Aufgußes der Subjekt-Objekt-Beziehung, in der es nur Aneignung und Enteignung gebe, oder aber vorwärts mittels eines endgültigen Ablassens vom Begriff Gesellschaft und dem Anerkennen einer nicht mehr zu fassenden Hyperrealität, oder schließlich abwärts mittels einer Theorie, die gar nichts mehr mit dem Begriff Vermittlung anzufangen weiß, sondern nur noch mit operational geschlossenen, sich autopoietisch reproduzierenden, sich "gegenseitig" irritierbar haltenden selbstreflexiven Systemen arbeitet, wie es etwa Luhmann tut, dann bleiben, so muß man Habermas verstehen, nur noch die von Furth angeführten Alternativen: Obskurantismus und Depression.

Das Ablassen vom Begriff Arbeit als Rahmengeber gesellschaftlicher Praxis und das Einschwenken in die Bahnen der soziokulturellen, der symbolischen Reproduktions- und Praxisbedingungen mag tröstlich erscheinen und manchem Ausblick verschaffen für die mühevolle Weiterarbeit an der Vervollkommnung des Projekts der Moderne. Man muß auch nicht wieder und wieder den polemischen Wortwechsel wiederholen, wer nun das emanzipative Potential der Moderne verrät und dementsprechend unterkomplex argumentiert: Derjenige, der noch auf eine essentielle Differenz zwischen unabgegoltener Vernunft der Moderne und der Gestalt der Moderne pocht, oder derjenige, der in der gestalteten Moderne deren Vernünftigkeit als zu sich gekommen (und damit nur noch Desaster) sieht. Sieht man es für heutige Verhältnisse vielleicht etwas außer der Mode so, daß die Moderne letztlich immer noch am besten als eine ökonomische (also als eine noch kapitalistische) Gesellschaftsformationszeit begriffen wird, ohne allerdings das Eigenverhalten, den Eigenwert und den Systemcharakter der soziokulturellen Re- und Produktion in Abrede zu stellen, aber auch nicht ihre Begrenztheit als Erklärungs- und Verstehensgröße außer Acht zu lassen, dann kommt man, vielleicht etwas grobschlächtig, zu anderen Ansichten. Etwa zu der, daß alle Hürden, die der Prozeß der kulturellen Moderne aufstellen konnte oder - vorsichtiger ausgedrückt - aufstellen könnte, um das Übereinanderherfallen auf den Markt zu beschränken, als längst überwunden zu gelten haben: dies nicht, weil diese Hürden etwa nicht übersprungen und damit als Institutionen nicht legitimiert worden wären (gerade heute werfen sich die professionellen Gesellschaftsdeuter mit Vehemenz auf die Kultur), und auch nicht, weil sie immer wieder aufs neue aufgehoben worden wären. Nein: Die Hoffnungen auf den kulturellen Zusammensatz des gesellschaftlichen Menschen sind deswegen perdu und als Basis für dessen Zusammenhalt obsolet, weil sich herausstellte, daß die Laufbahnen, auf denen Hürden installiert zu sein scheinen, solche der in sich heteronomen Freizeit und nicht solche der Arbeit sind. Daß sich Arbeit Stadien erlaubte, in denen Freizeit exekutiert werden konnte, erscheint nur noch mit dem Attribut 'epochal' richtig gedeutet werden zu können. Die Laufbahnen draußen in der gesellschaftlichen Praxis haben keine Hürden, allenfalls solche in Gestalt der Zurückgebliebenen, der Umgefallenen und Zertrampelten, die auf den Bahnen der Markt- und noch-Sozialstaat-Gesellschaft herumliegen und über deren Sanierung die kommunikative Vernunft herrschaftsfrei räsonieren möchte. Will sagen: "Weder als Staatsbürger- noch als Marktsubjekt kann das moderne Individuum des warenproduzierenden Systems seine Krise mehr bewältigen, mögen seine Ideologen auch immer neue Worte kreieren, um die sie noch nie verlegen waren".

Akzeptierte man, daß der abstrakte Universalismus okzidentaler Rationalität sich einzig als bloßer Reflex der dinglichen Realabstraktion des Geldes decouvriert, und diese Realabstraktion in einer überschlagenden Totalität mittlerweile auf die Implementation konkreter Arbeit, auf die Implementation des Besonderen angewiesen ist, dessen noch nicht ganz nachvollziehbare neue Vernutzung in den Prozessen der Verdinglichung zur Zeit als comeback des maoistischen "Laßt tausend Blumen blühen" ideologisch mit Hoffnung aufgefüllt wird, dann könnte man sich ohne weiteres folgendem Statement Bernhard Giesens anschliessen, nämlich: "Während Codes in traditionellen Gesellschaften die Einheit disparater Teile zu erzeugen hatten, geht es in postmoderner Lage eher um die Erzeugung des Anscheins von Vielfalt in einer Gesellschaft, die einheitlich geworden ist. Freilich: Kulturelle Vielfalt kann dabei nur den Anschein der konkreten Dinge erzeugen und bleibt - genau besehen - eben auch nur eine Codierung. Was dann bleibt ist die Erkenntnis, daß diese Trauer nicht heilbar ist". Man erinnert sich eben nur noch daran, den roten Faden verloren zu haben, nicht mehr daran, was genau es war, das sich durch die Geschichte ziehen lassen sollte. Genau das verhindert, das Ganze (der Geschichte) wieder logisch "hinzubekommen"; denn wäre dies möglich, dann träte der Zwang wie Phoenix aus der Asche, nach einem tieferen Sinn suchen zu müssen; und dieses Suchen bzw. dieser Sinn wäre dann nicht mehr anders zu kontextualisieren, als es R.Rorty in einem impliziten 'Entweder oder' vorführte: Entweder Demokratie oder Philosophie resp. Transzendenz.
 

D) Ist Desintegration organisierbar?

Die Welt ist aus den Fugen. Diese Einsicht ist nicht neu. Neu ist oder war, diesen Tatbestand so zu deuten: sie ist endlich die Fugen los; also als einen Akt der Befreiung vom Identischmachen zu sehen. Jede Befreiung aber hat ihren Preis, der zumeist erst ex post herausgefunden wird. Der Preis des Nicht-mehr-Fügens ist, daß Freiheit aufhört, eine (syntaktisch gesprochen) zweiwertige Relation zu sein: Es heißt dann nicht mehr frei von oder frei zu, sondern nur noch: Freiheit aushalten (Richard Rogler).

Heute, nachdem für den sozialen Raum alle "positiven" Inklusionsformen und Identitäten (wie Solidarität, Klasse, Bürger, Steuerzahler, Genossen, Wähler etc.) ihre historische Zeit hinter sich gelassen haben (zumindest auf der Metaebene), scheint sich Aushaltung als letzte Form des Zusammenhalts psychosozialer und individueller Räume (und noch mehr: Zeiten) massivst auszubreiten; der Zusammenhalt dessen, was sich da millionenfach mit der ersten Person Singular bezeichnet, ist nur ein negativer. Massengesellschaften scheinen mit ihrer Produktion von Gütern, Infrastrukturen und Verhaltensformen für die Masse nun auch beim Wahnsinn als Gut für die Masse angekommen zu sein, vorausgesetzt, man versteht Wahnsinn als Zustand, "den begriff ich gebrauchen zu müssen;- und auch: den begriff ich nicht mehr gebrauchen zu können." Positive Bestimmungen des eigenen Selbst, des Selbstbewußtseins können nicht mehr greifen, da sich diese Inklusionen gleichsam als "falsche Seite" des Ichs herausgestellt haben: die falsche Seite der Verwechslung von Zusammensatz und Zusammenhalt. Solange der "Satz" einigermaßen komplett darstellbar war in einer auf Verdrängung und auf Verrichtung von Arbeit fixierten Kultur sowie in Konventionen der Kopplung des Ichs mit Leistungen der Arbeit, der Sexualität, der Sozialrevenue und der Bezahlung, solange konnte diese Setzung (als) Halt fingieren (noch beobachtbar bei der Trümmergeneration). Anders bei denen, die wissen, das jede Verkopplung des Ichs mit: Biographie, Sozialrevenue, Leistung, Bildung, Selbstkritik, Sex, Gedanken oder gar Weltbildern immer und immer nur eine Verkopplung auf Zeit ist (die also ihr Nichtwissen um die Nichtvorhandenheit eines Ich-Selbst verloren haben und das nicht mehr vergessen können): Unbefragbare Identität als Ausnahme (in Momenten). Übrig bleibt die Lokalisierung einzig entlang einer höherstufigen Kontinuierung der Abbrüche und Unterbrechungen, entlang einer nur ausnahmsweise unterbrochenen Permanenz des sich Fremdseins, entlang einer Unwahrscheinlichkeit von Nullsummen ergebenden Gleichungen zwischen mir und dem, der dieses mir (nämlich ich) bedenkt bzw. reflektiert.

Angst zu haben davor, mit einer selbstgewissen Identität, die von anderen beobachtbar ist, zu scheitern, wechselt seit gut einem Jahrzehnt mit der anderen, breiteren Angst, eine gewisse Identität zu besitzen, die man selbst vor sich und dann auch vor anderen zu vertreten und zu verantworten hätte: Identität als Gestalt der eigenen Formgebung wäre die Katastrophe, nicht mehr die Abwesenheit von Identität. In diesem Wechselspiel von Haben und Nichthaben, Sein und Nichtsein, Ich und Nichtich hat sich, da eine klare Position, eine klare Station bis auf weiteres nicht mehr installierbar zu sein scheint, die Angst als externe Klammerung des "eigenen" Amalgams aus Fremd-, Selbst- und Erinnerungbild eingespielt, als die sich selbst einbringende Unterscheidung von Welt, die als die eine Seite die andere notwenig macht: Nichtangst. Nichtangst wäre dementsprechend die Abwesenheit nicht von Angst, aber des Dranges nach Identität. Zur Zeit entschlagen sich jedoch die meisten Menschen aus Angst des Wunsches nach einer Identität als Abwesendheit von Identität, und landen glücklos in einem Kreislauf ohne Ende: Je mehr sie von sich Abstand nehmen, beziehen sie sich auf den, der Abstand nimmt, und nicht auf das, was sie in einer Leere zurückliessen. Je mehr sie aber Leere auffüllen, desto stärker wird die Angst, die dieses Vakuum besetzt; desto bemerkbarer (Schmerz zumeist) wird hingegen das Vorhandensein eines Ichs (als schmerzendes); desto größer also der Drang, Abstand zu nehmen. Abschied zu nehmen vom "eigenen" Markt-, Konsum- und auch Verzweiflungs-Ich scheint in dieser abendländischen Kultur wohl nicht mehr erlernbar (und der ferne Osten ist fern). Also bleibt nur: Sich, also diesen immer selben Anderen, aushalten, und das auf einem Niveau, wo Konstanz einzig in einer immer höheren Quote an Auflösungs- und Rekombinationsmöglichkeiten sich darzustellen hat, als eine wirkliche Latenz, als eine wirkliche Virtualität, als jederzeit sich anders zusammensetzender Zusammensatz. Körper geben also keinen Halt mehr. Aber sie bilden Sätze, machen Sätze (also: springen).

Es scheint vielversprechend, Verknüpfungspunkte auszumachen, die das Aushalten (des Selbst, der Freiheit, des Anderen) wenn nicht "logisch", so doch soziologisch mit einem Aufhalten (im Sinne von Offenheit, nicht im Sinne von Stoppen) in Beziehung setzt. Die Erfahrung der Geschichte läßt dies jedoch kontraintuitiv werden: Identität bildete sich bisher über Ausscheidung, nicht über "Aufwartung". Die Geschichte der Abfolge eines eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten über das Sakrale (als Vermittlung des Mundanen und des Dämonischen), über das Säkularisierte (als Vermittlung der Polis und des Nomos), über den Staat (als Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen), über die Information (als Vermittlung des Bewußtseins und der Materie) und über den Markt (als Vermittlung zwischen privater Produktion und gesellschaftlicher Konstitution), kurz: Die Geschichte der Abfolge von Gestalten des Prinzips Tausch wirkt immer noch ohnmächtigmachend in Vorstellungen hinein, die sich vom Zwang zur Resurrektion des Vereinten im Kompensat der Trennung freizumachen suchen. Den daraus folgenden Zustand beschreibt Friedrich Stenzler mit der nötigen Prägnanz so: "Aber Getrenntsein ist heute ein Zustand, in dem der Getrennte nicht mehr anzugeben weiß, wovon er getrennt ist, wie der Verlassene nicht mehr weiß, von wem und wovon er verlassen ist". Und, in einem Satz die Systemtheorie in ihrer diesbezüglichen Impotenz fassend (p12): "Ein System mag entlasten, aber auch es füllt nicht das 'trennende Nichts'".

Das trennende Nichts; die wachsende Wüste zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont; die mit Leichen übersäten Laufbahnen der Arbeitsgesellschaft-Moderne; das Freiheitaushalten als einziger Modus des Sichenthaltens in dem, was nicht mehr Identität genannt werden kann: das sind die Merkposten, die es strikt verbieten, immer und immer wieder aus der Ausweglosigkeit der anderen, aus ihren Ausweglosigkeiten herauszufinden, lernen zu wollen, denn auch das ist mittlerweile längst der Unterhaltung als hegemoniales Weltprinzip und Fortsetzung der Verdrängung (und Verlachung) subsumiert worden.
 

E) Aus-Sichten

Die Vernichtung der Sorgen - hieß das Projekt der Aufklärung.

Die Entsorgung der Vernichtungen - so wohl das Projekt der Zukünfte.

Entsorgung gibt es aber nicht - genausowenig wie Versorgung. Die Vorstellung, die "letale" Kopplung von Entscheidung und Ausscheidung, Selektion und Elimination befreiend zu brechen, erscheint mir absurd; sie wird nur erbrochen werden (und die beginnende Faschisierung sind die ersten erbrochenen Brocken, mag auch der Kommunitarismus noch stark Alternativen anbieten). Die Ausscheidungen der letzten sagen wir 500 Jahre sind das letzte große, furchterregende Geheimnis, das der gesellschaftlichen Zukunft aufgegeben ist. Die Zersetzung des Ausgeschiedenen (und vorallem: das Unzersetzliche; hier hätte die Psychoanalyse ihr Feld) muß erforscht werden. Nur weiß niemand, wie es anzustellen ist, nicht mehr das Abgesonderte in die Gesellschaft zu integrieren, sondern diese ins Abgesonderte, ohne dabei a priori der nichtmodernen Barbarei die Türen zu öffnen.

Aber dieses Nichtwissen ist der wichtigste Posten, den man heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, wissen sollte (auch wenn man es nicht mehr hören, geschweigedenn nicht mehr lesen kann).

ABBRUCH
 

P.S.: In dem für meine Ohren genialen Radio-Hörstück "Brut" von Mathias Zschokke (ursprünglich ein Theaterstück, fürs Radio bearbeitet und in Szene gesetzt von Jörg Jannings), die trefflichste und weitumspannende Allegorie auf die Rat-, Lust- und Orientierungslosigkeit des Denkens und der Zeit, die ich kenne, fragt der Steuergehilfe den (blinden!) Steuermann des Piratenschiffes, das seit etlichen Tagen nur noch im Kreis segelt, ob nicht auch er das Schiff steuern könne (was er faktisch schon tut, nur kein Bewußtsein davon hat). Der Blinde bejaht lakonisch. Darauf fragt der Gehilfe, wozu man ihn, den blinden Steuermann, dann noch brauche. Dieser antwortet: "Ich bin überflüssig. Wir alle sind überflüssig. Bei mir ist es nur am sichtbarsten".

Sichtbar machen, wie blind man ist, ist wohl so überfällig wie noch nie.