Theoriekröpfe
Es fällt in der gegenwärtig wieder stärker zu Bewußtsein kommenden Bildungs-, Wissens- und Denkkrise der akademischen Reflexionskultur immer schwerer zu unterscheiden zwischen Texten, die bluffen, und solchen, die tatsächlich Bausteine sein können für neue Interpretationsmuster. Der oft und angesichts einer dramatischen Ausdünnung historischen Wissens eingeklagte notwendige Rekurs auf geschichtliche Hintergründe gegenwärtiger Geschehnisse führt oft zu Texten und auf Texte, die nur wichtig sind zu wissen für solche, die die Historiographie selbst als geschichtlichen Gegenstand sehen.
Der oft gehörte und meistens auch zutreffende Spruch, ohne historische Kenntnisse verstünde man die Gegenwart nicht, ist zunehmend nur eine sich objektiv gebende Einschüchterung durch diejenigen, die ihre Interpretationshegemonie betreffs Gesellschaft, Ethik und Wissen auf einem gesellschaftlich absteigenden Ast wähnen. Es geht nämlich schon lange nicht mehr darum, den Kodex überlieferungswürdigen Wissens, Glaubens und Hoffens von Generation zu Generation neu zu bestimmen und zu bewerten, Altes zu bewahren oder Neues zu wagen, sondern vielmehr um die Existenz eines solchen Kodex und seine Einschleusbarkeit in kommunikatives Handeln resp. Verhandeln überhaupt. Reethnisierung, Verrechtlichung und Rekulturisierung vormals genuin sozialer, sozialpolitischer oder auch einfach politideologischer Sachverhalte und Probleme zeigen auf jeweils verschiedene Art und Weise an, daß sich Wissen in seiner kritikaussetzenden, in seiner argumentativen, in seiner revidierbaren und reflektierten Kompetenz immer weiter zurückzieht, wenn es um die Kalibirierung gesellschaftlicher Spannungen, Vorstellungen und Problemlösungen geht.
Natürlich gilt das auch für das Wissen über Gesellschaftstheorien und für diese selbst: Theorie der Gesellschaft ist nicht verschollungsresistent; zugleich hat sie nicht, wie vormals die Religion mit der Theologie, die Macht und die Kraft, ihre vermeintliche gesellschaftliche Obsoletheit quasi zu überwintern und immer wieder, wie Theologie, in Zeiten desolater Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sich anzubieten.
Man kann es sehen am historischen Materialismus, wie schnell eine vermeintliche Institution sich als Sternschnuppe erweist; man kann es generell sehen an der Soziologie, die noch vor 25 Jahren als Königswissenschaft galt und als eigentliche Ausführerin einer nachmetaphysischen Philosophie; man kann es schließlich sehen an dem Kommunikationsungetüm Systemtheorie, das zwar als Theorie wie keine andere die akademischen Diskursreservate ansteckt, aber nichtsdestotrotz akademisch bleiben wird, da eine ihrer Grundentscheidungen, nämlich sich nicht an social problems, sondern an theoretischen Abstraktionsgewinnen zu orientieren, unwiederruflich das systemtheoretische Wissen auf die jeweilige Diziplin einschränkt. Großformatiger noch sind Thesen, die einem Ende der Diskussionswissenschaft und generell dem Ende einer institutionellen, auf Zusammenhänge spezialisierten Reflexion das Wort geben.
Pragmatismus und Operationalismus in der Theorie, Kommunitarismus und Subsidiarität in Belangen der moralischen und sozialen Anleitung für den gesellschaftlichen Verkehr, sowie Opportunismus und Finanzismus in der Politik decken immer unverholener Schnittstellen gesellschaftsrelevanter Entscheidungen, Unterlassungen ab und lassen grand theory recht alt aussehen bzw. nur noch als Referenz für sophistische Talkshows, minoritäre Symposien oder vereinsamte, philosophisch interessierte Manager zu. Und natürlich für theoretisch interessierte Wissenschaftler.
Die soziale Welt hat den Zenit ihrer theoretischen Interpretierbarkeit, ihr Repertoire an Emergenzien des Neuen verbraucht. Andere Fakultäten denn sozialwissenschaftliche teilen sich nun den Gegenstandsbereich "soziale Gesellschaft" unter sich auf, sei es die Biologie, die Kognitionswissenschaft, die Ökonomie oder Theologie. Die soziologischen Rufer stimmen dem indirekt zu, entweder dadurch, daß sie immer flachere Beschreibungsangebote liefern (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Informationsgesellschaft), oder indem sie dafür plädieren, auf einen Gesellschaftsbegriff in Gänze zu verzichten. Übrig bleiben Kröpfe.