Eine Talkshow
»was liegenbliebt beim aufheben«
Journalist, Soziologe, Philosoph und Leidender unterhalten sich über
Soziologie, Theorie, Gesellschaft und Fernsehen
[ 1. Das vollmundige Intro ]
MODERATOR: Guten Abend, meine Damen und Herren.
Soviel Anfang war nie (O.NEGT/A.KLUGE); soviel Ende war nie (R.KURZ) - wie heute. Heute, das heißt das ausgehende 20.Jahrhundert, wenngleich diese Zeitbestimmung, dieser Versuch, zu sich zu kommen, etwas Armseliges an sich hat. Wo Anfang und Ende - von was, das werden wir hoffentlich in dieser Runde herausbekommen - in eins treffen, da werden Differenzierungen der `Welt` und der `Wirklichkeit` kopflos, da sind Ja und Nein, Entwicklung und Regression, sachlicher und symbolischer Nihilismus, Lebendigkeit und Apathie, wirkliche Realität und telematisch vermittelte nur noch durch einen Hauch von Entscheidung voneinander getrennt. Konstruktionen, Bilder und Modelle von Welt konkurrieren nicht mehr nur untereinander, sie konkurrieren mit Welt; zwar noch in ihr, aber: Auch deren genuine Ordnungskategorien, wie etwa Zeit, Raum, Biosphäre, Organik, werden sich wohl oder übel in den Sog einer ex-rationalen Abstraktion hineinziehen lassen und in den schwarzen Löchern der Virtualität zu technischen Artefakten verwandelt.
Was ist zu tun, was zu denken, wenn sich die Zukunft der Menschheit ausnimmt wie das Hereinbrechen unvorstellbar gewaltiger Fluten: Soll man Dämme bauen oder doch besser schwimmen lernen? Soll man sich auch weiterhin dem sogenannten Katastrophenparadoxon verpflichtet fühlen und annehmen, die Weltmarktgesellschaften - verstanden als Handlungssubjekte - nehmen nur die Probleme und Aufgaben in Anschlag, die sie auch lösen können? Oder hat man das Projekt Menschheit schon jetzt von einer Theorie des Parasitismus aus zu bedeuten, die für alle Ebenen des menschlichen Seins eine Entwicklungsgeschichte schreibt, welche eine Logik zwischen Paradoxie, Paralogie und Paralyse herauszufinden sucht, um vielleicht doch noch einen parasitropischen `Weltgeist` zu inthronisieren?
Was ist zu tun, wenn die maßgeblichsten Aneignungsformen `des` Menschen, mit denen er eine endgültig nicht-sympathetische, also eine entzauberte Natur verfügbar und kontrollierbar, also eine Natur für sich machte, wenn also diese Aneignungsformen wie Arbeit, Sprache, Wissenschaft im wahrsten Sinne ihren Geist aufgeben, sich also der Kontingenz, der undialektischen Destruktion und der reinsten Relativität überantworten und den Menschen am Ende eines welthistorischen Verdinglichungsprozesses zurücklassen entweder als verhungertes Kind, als körperloses Gehirn, das durch Einspeisung in telematische Netzwelten zu sich kommt, oder als kriegerische Monade? Was ist zu tun? Hat man neue Aneignungsformen, die die zerrütteten und zerrüttenden ersetzen, wenn nicht gar aufheben sollen, wiederum über Aneignung auszubilden? Kann oder muß man den Zirkel der Aneignung von Welt und Enteignung von Welt, den Zirkel der Befreiung von Natur und der Unterdrückung der eigenen, den Zirkel der Vergesellschaftung des Menschen und der Entmenschlichung der Gesellschaft, verlassen, um überhaupt noch eine Öffnung im verseuchten Denken zu finden, durch die die Zukunft der Gesellschaft zumindest Einlaß findet in die Warteschleifen des Andenkens?
Oder ist nicht alles doch bloß halb so wild: Die Vernichtung der Biosphäre; die Ablösung der Kollektivität menschlichen Handelns durch einen technologisch rigiden Kommunismus der Sachen, wie es ROBERT KURZ nennt; die Ausschaltung von gesellschaftskritischer Theorie; die vollständige Auflösung der gesellschaftlichen Reproduktionsform `der Moderne` durch die Engültigkeit des Versagens von Markt und Staat? Oder, etwas konkreter angesetzt: Die Insuffizienz der Sozialsysteme, der Wirtschaftssysteme, der psychischen Systeme angesichts stetig wachsender Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, angesichts von `Völkerwanderungsbewegungen`, fortschreitender Individualisierung bei abnehmender Autonomie, angesichts der Auflösung traditionaler sozialer Bindungen, traditionaler sozialer Rollenverteilungen, angesichts zunehmender Ausfransung der Geschlechterspannung und zunehmender Androgynisierung von Sexualität; angesichts des Abwanderns bestimmter Funktionen wie Vertrauen, Sicherheit, `Sinn`, die die Gesellschaft bisher über Kommunikation und über Institutionen leistete, in den Drogenkonsum, in die nur scheinbar politisch motivierte Aggressivität, in die mafiöse Organisation: Sind das nicht doch alles lösbare, d.h. aufhebbare Probleme, die einzeln, also innersystemisch abgetragen werden können, und zwar mit den bewährten Abtragungsinstrumenten, die wir seit gut 400 Jahren benutzen: Mit Analyse, Rationalisierung, Interventionismus, Kontrolle, (Sozial-)Technologie, kommunikativen Kompromiß, Gewaltmonopolisierung, Markt(ir-)rationalität, Krieg?
Wem also soll man seine Stimme leihen: HEINER MÜLLER, der die Wahrheit zu sich kommen sieht, wenn sie mit Fleischermessern durch unsere Schlafzimmer geht, oder eher HÖLDERLIN, der in der wachsenden Gefahr das Rettende herannahen sieht? Gibt es gar noch soetwas wie eine Mitte und ein Dazwischen, in der und in dem sich die Gesellschaft, der Mensch, die Zivilisation durchzuwurschteln vermögen, ohne von einer Lehre des Zerfalls à la CIORAN beschrieben werden zu müssen?
Nun gut. Der Trümmerhaufen vordringlich linker bzw. linksbürgerlicher Utopien, Hoffnungen, Gesellschaftsentwürfe, Fortschrittskonzepte, linker Gesellschaftskritik war noch nie so groß wie heute, so scheint es. Vielleicht ist aber die Aussicht, die solch ein Berg bietet, wenn man ihn besteigt, niemals weiter und übersichtlicher gewesen wie heute, freilich ohne die kategorialen Abstraktionen im Handgepäck zu haben, die erneut die Wahrnehmung, die Bedeutung, das Denken und die Realität linear hierarchisieren; abstrakte Synthese, vorallem begrifflicher Art, bleibt aus. Es verhält sich mit den zeitgenössischen Diskursen über Gesellschaft und Welt etwa so, wie es HAMMER-PURGSTALL über die Namensvielfalt des Kamels im Arabischen beschrieben hat: Dort, im Arabischen, gäbe es fünf- oder sechstausend verschiedene Namen, die das Kamel bezeichnen; doch keiner von diesen Namen liefert einen allgemeinen biologischen Begriff des Kamels, sondern drückt nur konkrete Einzelheiten, etwa Gangart, Gestalt, Größe, Farbe, Alter usw. des Tieres aus0. Die sprachliche bzw. wissenschaftliche Klassifizierung, die Abstraktion fehlt, die die unendlich verschiedenden Vielheiten in einer Einheit zu sammeln hätte. So auch bei den Eskimos, die tausende von Namen für das Eis besitzen, nicht aber den Begriff `Eis` ihr eigen nennen. Wir dagegen, die wir eine verwissenschaftlichte, eine technisierte, eine auf Klassifizierung, Abstraktion, Hierarchisierung und Identität ausgerichtete Geschichte des Denkens, Handelns und Bedeutens besitzen, scheinen nun an einen Punkt angekommen zu sein, von dem aus ebendiese wissenschaftlichen und systematischen Abstrakta, mit denen `die` Welt auf Identität und nicht auf Differenz ausgerichtet wurde, verschwinden, scheinen an einen Punkt angekommen zu sein, von dem aus wir in die chaotische Welt der Konkreta zurücktauchen und uns neu einzuüben haben in die sprach- und denkökonomische Bewirtschaftung der unendlichen Fülle von Einzelerkenntnissen, von stofflichen Erscheinungen und von bezeichnenden Sprachen. Kurz und gut: Eine Renovierung der Orientierung und Organisiation unserer Wahrnehmungs-, Bedeutungs-, Sprach- und Denkwelt steht an, und wir wissen dabei noch nicht einmal, ob zu renovieren oder abzureissen ist. Synkretismus und Synergismus ersetzen Synthesis; Sympraxis wohl auch Mimesis; Mathesis, Perspektivismus und Digitalismus ersetzen zunehmend Logik, identitäre Vernunft und das sprachliche Symbol usw.: Allenthalben scheint alles im Fluß, und doch scheint gleichzeitig alles erstarrt; überall werden Feststellungen gesprengt, Vorstellungen entstellt, Annahmen verweigert, und doch bleibt im Hintergrund eine überlebensgroße `polare Trägheit` zurück, wie es PAUL VIRILIO nennt. Die alte erkenntnistheoretische Frage, ob ich nur das sehe, was ich weiß, oder nur das weiß, was ich sehe, stellt sich als Marginalie heraus angesichts der katastrophalen Dimension dessen, was durch das bisherige Zusammenspiel von Wissen und Erkennen alles unbesehen, verdrängt, vernichtet wurde.
Wie ist weiterzudenken, womit ist weiterzudenken, worin ist weiterzudenken, nachdem die Natur, die Geschichte, die Sprache, die Kommunikation und der Kommunismus den Menschen keine Heimstatt bieten können, die mehr bietet als das Gesetz des Dschungels des Kapitalismus, mehr bietet als die Situierung von Versöhnung und Frieden als bloße Abwesenheit von Krieg und gegenseitiger Androhung totaler Vernichtung, mehr bietet als das von vielen schon als Gesetz bezeichnete Faktum, nach dem es nur einigen wenigen gut gehen kann, wenn es den meisten schlecht geht, mehr bietet als bloß agonale Diskurse? Wie sind auch weiterhin Programme, die auf genuin gesellschaftlichen Kategorien fußen und die in sozialen Begriffen begriffen werden, in die gesellschaftpolitischen Diskussionen einzuspeisen, in Diskussionen, in denen die Auseinandersetzung über politische und soziale Systeme zunehmend dem Debattieren über Ökologie, Religionen, Nationalismus und kulturelle und individuelle Identität weichen muß? Wie ist die Gesellschaft moralisch, rechtlich, politisch und sozial programmierbar, wenn der Sieg des Individuums und des dahinterstehenden politökonomischen Systems, der angesichts zusammenfallender Gesellschaften kollektiver Ordnung lauthals ausgerufen wird, sich in Wirklichkeit als das endgültige Aus des Individuums herausstellt?
Nun gut; das sind die etwas grundlegenderen Fragen für unsere heutige Talkshow. Antworten sind nicht zu erwarten, dafür wohl eine Menge Ratlosigkeit, wie ich hoffe [lacht angestrengt]. Zu Gast sind nicht KARL MARX und GÜNTHER ANDERS, die unter der Moderation von ERNST BLOCH über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft und der Zivilisation räsonieren - wie sich das MATHIAS DEUTSCHMANN einmal gewünscht hat - , sondern Hans Rühm, Leiter des Instituts für Politik-Marketing in Starnberg, Klaus Perne, Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Berlin, und Bernd Joost, Chefredakteur des Hessischen Rundfunks.
Zwei Themenkomplexe haben sich in den letzten Jahren sehr massiv en vogue gehalten, Themenkomplexe, die als eine Art Brücke verstanden werden können, dem Erstarren der techno-wissenschaftlichen Gesellschaften und dem der schon apologetischen Diskurse über ökonomische, soziale und philosophische Rationalitäten zu entfliehen; der eine Komplex handelt von Ästhetik, von Kunst und Kultur im allgemeinen, der andere von den Revolutionismen einer fortschreitenden Telematisierung der Gesellschaft. Beide Komplexe scheinen sowohl auf der kommunikativen wie auf der Handlungsebene, also auf der Ebene der Weltinterpretation und der der Weltveränderung, enorme Energien freizusetzen, Energien, die - wie eben erwähnt - nach dem Zerfall der Dispositive namens Geschichte, Sprache und Kommunismus mehr oder weniger referenzlos in den Straten der Reflexion, der Diskussion und des gesellschaftlichen Handelns umherschwirren und wohl noch immer unter einer populären Fassung des Postmodernismus eingeordnet werden.
Bleiben wir zu Beginn beim zweiten Zentrum gesellschaftsverändernder
und gesellschaftinterpretierender Energie, der Telematik. Herr Rühm,
wie haben wir uns eine Gesellschaft vorzustellen, die sich im Endstadium
der Vernetzung von Computern befindet, die den Horizont der Ausstattung
von unendlich vielen Schnittstellen unterschiedlichster Übertragungs-,
Vermittlungs- und Verteilverbindungen erreicht hat, die die Digitalisierung
von Tätigkeiten, Arbeitsprozessen und Wissensformen im Alltag, am
Arbeitsplatz, in der Freizeit nicht mehr zu überdehnen vermag? Wie
können wir uns den menschlichen Umgang in solch einer informationstechnologisch
beherrschten Gesellschaft vorstellen? Wie die Formen der Wissensvermittlung,
der Sozialisation, der Produktion und der kulturellen Reproduktion? Wie
wird die Politik funktionieren? Wie die sozialen Sicherungssysteme? Wird
es zu einer völlig neuen Konzeption oder besser gesagt zu einer neuen
Ideologie dessen kommen, was bis dato als bürgerliches Subjekt, als
Individuum, als Staat begrifflich gehandelt wurde?
[ 2. Verständigungskompetenz und neue Infrastruktur ]
RÜHM: Nun, das sind wohl der Fragen zuviele. Ich möchte bloß einen Punkt herausgreifen, nämlich den der gesellschaftlich notwendigen Sprachkompetenz, um in solch einem Szenario von Gesellschaft richtig kommunizieren zu können. Richtig kommunizieren heißt einfach, daß man weiß, wie und wo man Wissen abrufen kann, daß man weiß, was wichtige und unwichtige Informationen sind, und daß man versteht, Computerhard- und software zu bedienen, um vom Fluß des Daten- und Informationsaustauschs nicht ausgeschlossen zu sein. Es scheint nämlich evident, daß die neuen Verkehrsinfrastrukturen mehr erfordern als die alten Infrastrukturen, die sich schon mit einem Führerschein und mit dem Fahren eines PKWs zufrieden gaben, um es salopp zu sagen. Die neuen Infrastrukturen erfordern vorallem sprachliche und interpretative Kompetenz, und zwar in einem Ausmaß, das eine tiefgreifende Reform der institutionalisierten Ausbildung provoziert.
Ich stelle mir jetzt einmal einen konkreten Fall vor. Da ist jemand in Besitz eines PCs inklusive aller notwendigen Peripheriegeräte, und zudem am ISDN-Netz angeschlossen. Daneben ist er noch verkabelt, liest jeden Tag zwei Zeitungen...
JOOST:...Welche Zeitungen, Herr Rühm? Welche? Da fängt es doch schon an...
RÜHM:...Das können Sie auch schon beim Fernsehn einwenden. Aber wenn Sie nicht totalitäre Strukturen wollen - und das wollen Sie sicher nicht - , dann müssen Sie den Menschen auch ihre Wahlfreiheit lassen, auch wenn sie sich für Anspruchsloses oder gar Falsches entscheiden - das geht den Staat nichts an, wie es Hérault in `Dantons Tod` einmal sagt. Aber das ist jetzt nicht mein Problem. Ich gehe also von dieser Person aus, die über alle Informationszugänge verfügt, von der Zeitung bis hin zur Datenfernübertragung. Die Informationen, die er sich kommen lassen kann, sind mehrheitlich privatwirtschaftlich vertriebene Informationen, abgesehen von der Tagesschau und ein paar Politsendungen, die er sich beim öffentlich-rechtlichen Vertrieb ansieht. Er hat Video, sagen wir zwei Zeitschriften im Abo, liest neben den `bürgerlichen` Zeitungen noch eine Zeitschrift aus der `Alternativpresse`; den Kultur- und Wortprogrammen des öffentlich-rechtlichen Radios ist er nicht abgeneigt..., so. Zudem hat er noch Zugang zu Bildschirmtext und steht seit kurzem mit einer Datenbank in Verbindung, die ihn mit speziellen Information aus der Wirtschaft versorgt. Und zuguterletzt besucht diese Person regelmässig ausgesuchte Buchhandlungen und versorgt sich mit Büchern.
MODERATOR: Äh, was wollen Sie jetzt damit zum Ausdruck bringen, Herr Rühm?
RÜHM: Moment, ich bin noch nicht am Ende. Ich möchte jetzt nur an einer Einzelperson konkretisieren, was man als neue Infrastruktur der Gesellschaft zu bezeichnen pflegt. Also, diese Person hat noch ein Faxgerät zuhause, Telefon natürlich auch, ist, sagen wir, Mitglied in einem elektronischen Mailbox-Club, und hat zudem noch regen sozialen Kontakt mit Menschen. Man könnte also sagen, dieser `user` ist telematisch, ist kommunikationstechnisch auf der Höhe der Zeit, wenn nicht gar darüber. Er kann dies aber nur, wenn er mit den Maschinen umgehen kann - natürlich braucht er auch das nötige Geld, sicher; auf den materiellen Aspekt möchte ich jetzt aber mal verzichten. Also, er muß diese Instrumente als Mittel nutzen können, darf also keine größeren Lücken aufweisen im Wissen verschiedener Computersprachen und Betriebssysteme, kurz: Er muß sich auskennen im Bedienen, Befehlen und Kommunizieren mit diesen Maschinen, und er muß wissen, wie er die Maschinen untereinander kommunizieren lassen kann. Man könnte diese Wissensvoraussetzung vielleicht vergleichen mit der für das Lesen anspruchsvoller Tageszeitungen; ist man hier nicht im Besitz einer elaborierten Sprachkompetenz, dann bleibt man einfach in der Sprache stecken, anstatt mit ihr etwas zu erfahren. Für diese elaborierte Sprachkompetenz war und ist in unserer Gesellschaft die institutionalisierte Ausbildung zuständig, also die Schule. Die öffentliche Schule als gesellschaftliche Infrastruktur hat dafür zu sorgen, daß das Niveau der Sprachkompetenz nicht mehr nur eine abhängige Variable der Schicht- und Milieuzugehörigkeit sei. Mit dieser Aufgabe ist ja gleichzeitig unterstellt, daß der Erwerb differenzierter und differenzierender Sprachkompetenz eine zutiefst gesellschaftspolitische Aufgabe darstellt, also dementsprechend mit Macht organisiert und von Macht durchdrängt ist, vorallem ideologischer - denken Sie nur an die Aufregung des weissen Establishments in den USA angesichts einer zunehmenden Spaltung der ohnehin sehr schwach integrierenden Schule in eine solche mit weisser, bürgerlicher Kultur als ideologischen Hintergrund, und in eine solche, die sich wohl auf ein sogenanntes Afro-Curriculum zu stützen beginnt: Damit wären dann wohl die letzten Integrationshoffnungen, die eine gemeinsame Schulausbildung noch evozieren konnten, endgültig einem Ethnozentrismus zum Opfer gefallen - ; aber nun gut.
Mit der Telematisierung von Kommunikation und Information, über die wir hier ja im Zusammenhang der neuen Infrastrukturen reden, eröffnet sich nun eine neue Aufgabe und ein neues Projekt, was die Sprache anbelangt. Jetzt ist es nicht mehr der linguistische Code, sondern der - lassen sie mich sagen - digitale Code, der gesellschaftlich virulent wird. Diesen digitalen Code nicht zu beherrschen wird in Zukunft bedeuten, nicht über elaborierte Sprachkompetenz zu verfügen. Man wird ausgeschlossen sein von Diskursen innerhalb spezifischer Gruppen, ausgeschlossen von solchen innerhalb einer situationalen Öffentlichkeit; betreut wird man hingegen von solchen "Diskursen", die speziell für von relevanten Diskursen Ausgeschlossene angeboten werden, also etwa der Regenbogenpresse und den allein auf Unterhaltung fixierten Fernsehnprogrammen.
Diesen digitalen Code zu beherrschen bedeutet nun erstmal - ich halte mich jetzt an die kognitive Linguistik1 - , bedeutet also erstmal, analytisch Sprache gebrauchen zu können. Analytisch Sprache gebrauchen heißt in unserem Zusammenhang nichts anderes als das handwerkliche Wissen zu besitzen, um einen Computer richtig zu bedienen, mit ihm zu arbeiten und mit ihm in Kommunikation mit anderen eintreten zu können. Analytische Gebrauchskompetenz des digitalen Codes ist also die Kompetenz, alles Mögliche - Sprache, Bilder, Töne, Funktionen usw. - so für und mit der digitalen Maschine zu übersetzen, daß die Maschine genau die Funktionen erfüllt, die ich von ihr erwarte. Man könnte auch sagen, die formale Logik reicht hier aus, um die Produktion und Zirkulation von Daten erfolgreich zu bewältigen. So. Kann man erfolgreich analytisch digitalisieren, hat man schon viel erreicht. Kommt da aber nun nichts mehr hinzu, bleibt man also ein wenn auch gewandter user, dann auch ein idiot savant, ein wissender Idiot, so wie jemand, der gut und gern Auto fährt, aber nicht weiß, wohin und wozu. Oder wie jemand, der die Verfahrensregeln der Börse in- und auswendig kennt, aber völlig hilflos wird, wenn mal wieder andere Systemlogiken - etwa psychologische oder politische - den Gang der Kurse bestimmen denn die der Ökonomie.
Was also neben der analytischen Fähigkeit hinzukommen muß, ist der reflexive Sprachgebrauch, ist eine reflexive Kommunikationskompetenz, die nicht notwendig eine kommunikative Kompetenz vorausetzen oder zur Folge haben muß. Und das heißt im eigentlichen Fall nichts anderes als die Fähigkeit zur Selektion. Nicht ein Zuwenig an Information ist das Problem, auch nicht ein Zuwenig an öffentlicher Enthüllung - Enthüllung verstanden als journalistische Fortsetzung philosophischer Aufklärung. Das Problem ist vielmehr ein Zuwenig an öffentlicher Verständigung darüber, welche Informationen, Themen und Kommunikationen zu vernichten, unbrauchbar, unwesentlich, desinfomierend sind. Es fehlt das Öffentlichmachen der jeweils individuellen und subsystemischen Selektionen - gerade angesichts des gegenteiligen Trends, alle Differenzen innerhalb der ökologischen Diskursdimension zu verwischen - , und es fehlt tatsächlich bei vielen die Fähigkeit, Kommunikation abzubrechen und auszuwählen. Kommunikative Mehrdeutigkeiten, die die Regel sind und in den meisten Fällen Mißverständnisse und Fehldeutungen provozieren, lösen sich immer noch mehrheitlich in Handlungssituationen auf. In die muß ich aber erst einmal kommen. In die komme ich aber nicht, wenn ich bloß ein indifferentes Verhältnis zu dem habe, was medial übersetzt wird, wenn ich also die software in keiner Interaktion mehr denken kann mit einer sozialen Wirklichkeit, sondern nur noch in einem Funktionsverhältnis zur hardware; wenn ich also die Kommunikation nur noch bis zur Grenze ihrer eigenen Medien führe, nicht aber mittels dieser Medien bis zur Wirklichkeit vordringe, also letztlich in einem abgekoppelten System von Zeichen verweile, das von einigen schon den Status der Welthaftigkeit zugesprochen bekommt2.
Ich behaupte jetzt allerdings nicht, daß der maßgebliche Umgang mit den Verständigungs- bzw. Gebrauchsanweisungsregeln von Mensch-Maschinenkommunikationen keinen reflexiven Gebrauch von Sprache mehr zuläßt oder gar per se ausschließt. Für manche hochinformatisierten Betriebe gilt dies im Gegenteil nicht3. Auch die innerbetrieblichen sowie intersystemischen Kommunikationsprozesse scheinen Anlaß für gegenteilige Ansichten zu geben4. Nehmen sie zum Beispiel die Untersuchungen, die sich mit der betrieblichen Transformation und Objektivation von Erfahrungswissen in Plannungswissen und der Transformation des Pannungswissens in Anwendungswissen beschäftigen. Deren Credo ist doch, daß nicht überall der funktionale Imperialismus wütet, sondern im Gegenteil die Übertragung von betrieblichen Produktions-, Steuerungs- und Kontrollaufgaben auf elektronische Informations- und Steuerungssysteme gerade wieder der reflexiven Informationskompetenz und der Selbstbeobachtung beteiligter Menschen bedarf. Gerade das unternehmerische Ziel, möglichst viel an betrieblichen Aufgaben auf Maschinen zu delegieren, also möglichst viel an betrieblichen Aufgaben zur instrumentell-funktionalistischen Rationalisierungsschlachtbank zu führen, gelingt nur, wenn - um im Bild zu bleiben - neben der Schlachtbank ein zur Tafel erhobener Tisch steht, an den sich alle, vom Dateninputer bis zum Wissensingenieur, einfinden und sich an den üppigen Kostbarkeiten kommunikativer Selbstbeobachtung, verständigungsorientierter Interpretation und intersubjektiver Szenariensimulation stärken...
JOOST:...Herr Rühm, ihre Koketterie mit der Dialektik betrieblicher Informatisierungsprozesse in allen Ehren. Auch ich sehe die Potenz für Alternativen in diesen Paradoxien, aber es reicht...
RÜHM:...Lassen Sie mich doch den Gedanken fortführen, Herr Joost. Ich komme schon noch auf das zu sprechen, was Sie gerade...
JOOST:...Nein nein, sehen Sie, auch wenn Sie dieses von Ihnen gemalte Bild, dieses positive Bild auch nur im wirtschaftlichen Bereich zu erkennen glauben, liegen Sie meines Erachtens falsch. Es geht doch um viel Weitergehendes...
MODERATOR: Ähh...wäre es jetzt nicht doch angebracht, den anfänglichen Gedanken fortzuführen, also wie und vorallem welche Auswirkungen der neuen elektronischen und informationellen Infrastrukturen für den einzelnen, also für den Alltags-, Freizeit- und Privatmensch zu beschreiben sind, damit wir mal länger als nur für einen Augenblick einen roten Faden in der Hand halten? Ich bin überzeugt, die Zuschauer sehen sich sonst außerstande, weiterhin Ihren Ausführungen zu folgen. Herr Joost, Sie...
JOOST:...Ich weiß, daß es nicht leicht ist, hier noch direkte Zusammenhänge herzustellen. Wir würden auch gerne einen roten Faden in der Hand halten, glauben Sie mir! Wenn sich jetzt unsere Diskussion für den Zuschauer eher zu einem Fadenknäul verwickelt, so liegt das weniger an unserer Ignoranz als vielmehr im Versuch begründet, Komplexes durch unentwegtes Umkreisen und Einkreisen mit Deutungen genauer zu fassen, auch auf die Gefahr hin, sich an diesem Kreisen, an dieser eigenen gedanklichen Bewegung zu berauschen. Aber es ist doch noch anders: Es ist vordringlich der Sache geschuldet, über die wir hier reden, oder vielmehr dem Sachverhalt, daß hier scheinbar von einem Thema zum anderen gehüpft wird. Lassen Sie mich dennoch zu den Ausführungen Rühms Stellung nehmen. Ein Verständnis für die Neuinfrastrukturierung der Gesellschaft, des Privatlebens, der Freizeit und des Alltags kann nur aufbauen, wer die Abläufe innerhalb des sozialen Subsystems Wirtschaft kennt - womit ich nicht zum x-ten Mal das Basis - Überbau-Theorem zur Geltung bringen möchte.
Herr Rühm, Sie behaupten anhand des Beispiels betrieblicher Informatisierung, daß die Installation und Implantation eines hegemonialen digitalen Codes, jetzt mal verstanden als der vorherrschende Modus instrumenteller Rationalisierung schlechthin, daß also dieser Code keineswegs dazu führt, einem Neotaylorismus das Wort reden zu müssen5, der sich, wie damals im Universum handwerklichen Könnens und Wissens6, heute nun im Universum denkwerklichen Könnens und Wissens ausbreitet und wie ein Krebsgeschwür alles das auslöscht, was der beteiligte Mensch an Selbstkontrolle, intellektueller Fähigkeit, kreativer Improvisation und kommunikativer Supervision einzubringen vermag, also all das auslöscht, was die Sprache als interaktives Handlungssystem auszeichnet, um Sprache bzw. Kommunikation nur noch in ihrer Dimension als Zeichensystem auszurichten bzw. um Sprache durch Steuerungsmedien zu ersetzen. Sie sehen vielmehr soetwas wie antitayloristische Tendenzen, Tendenzen, die den Menschen als Partner elektronischer Systeme, als Kontrolleur auszeichnen, und nicht als Anhängsel, als Appendix der Maschinen, wie es bis dato für die Entwicklung der industriellen Technik kennzeichnend war.
Hieß es für die arbeitenden Menschen im Zeitalter der materiell-mechanischen Maschinisierung von Prozessen, Energie und Räumen: `Wer es nicht schafft, sein Denken aufzugeben, also sein Wisssen und Können, der fliegt`, so heißt es im Zeitalter der immateriell-mikroelektronischen Mediatisierung von kommunikativen, konzeptionellen und koordinierenden Prozessen: `Wer nicht denken will, nicht denken kann, der fliegt`. Also raus. Und das nicht nur aus dem Betrieb, sondern wohl auch aus dem Arbeitsmarkt7.
Nun hat sich in den letzten 20 Jahren nicht nur innerhalb des Arbeitsmarktes erhebliches getan; der Arbeitsmarkt selber hat innerhalb der Interpenetrationszonen von Systemen (R.MÜNCH) einen neuen Ort zugewiesen bekommen8. Für eine immer weiter wachsende große Minderheit hat er seinen intermediären Charakter verloren, weil diese wachsende Minderheit nicht mehr zu denen gehört, die aus bloß - ich sag mal - peripheren oder konjunkturellen Gründen aus Arbeitsverhältnissen intermittieren, sondern zu denen, die voll von dem betroffen sind, was man systemische Rationalisierung der Wirtschaft zu nennen pflegt.
MODERATOR: Können Sie uns diesen Begriff ein wenig erläutern9?
[ 3. Von der Verarbeitung der Krise der Arbeitsgesellschaft ]
JOOST: Lassen Sie mich gerade noch den Arbeitsmarkt umkreisen. Also: Für eine stetig wachsende Zahl von erwerbsfähigen Menschen ist der Arbeitsmarkt kein interzonaler Aufenthaltsort, kein Korridor, kein Wartezimmer mehr, sondern eher eine offene Haftverwahrung, flankiert mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulungsprogrammen, kommunaler Sozialhilfe und einer in den Anfängen befindlichen Revitalisierung des Subsidiaritätsprinzips - die Tatsache übrigens, daß diese objektiv vorhandene Minderheit sich scheinbar nicht selbstbewußt begreift, daß also nicht einmal Spurenelemente einer Arbeitslosenkultur oder einer allgemeinen Arbeitslosenmentalität jenseits derjenigen fatalistischen feststellbar ist, die LAZARSFELD und andere einmal quasi exemplarisch ausmachten10, sollte man nicht bloß als eine Leistung funktionierender Sozialstaatlichkeit abbuchen... also, der Arbeitsmarkt...
PERNE:...Sie überraschen mich jetzt aber, Herr Joost. Im Zusammenhang von struktureller oder - wie Sie sagen - systemischer Arbeitslosigkeit ein Funktionieren sozialstaatlicher Institutionen oder gar des Wohlfahrtstaates festzustellen, dem es gelingt, zweifellos vorhandene Konfliktfronten in unspektakuläre Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Arbeitslosen und Sozialamt umzuwandeln, dem es also gelingt, notwendige Kommunikationen durch Sozialleistungen zu ersetzen, zeugt von einem recht kurzfristigen Zynismus, der leider recht starken Zulauf gewinnt. Sehen Sie,...
JOOST:...Aber Herr Perne. Kommen Sie mir doch nicht mit moralisch gedrungenen Prioritäten à la `Es gibt kein richtiges Leben im falschen` oder...
PERNE:...Ihr Griff in den philosophischen Himmel geht ins Leere, Herr Joost. Es geht um Differenzierung von gesellschaftlichen Prioritäten, nicht um Desavouierung sozialstaatlicher Notaggregate. Es geht doch darum, zwischen der Beschreibung von Gesellschaft als eine der organisierten Unverantwortlichkeit11 und der von Gesellschaft als eine der unorganisierten Allverantwortlichkeit12 noch weitere belastbare Beschreibungen zu finden. Das Insistieren auf die hohe Funktionsrate sozialstaatlicher Systeme ist doch gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß andere Systeme dieser Gesellschaft gescheitert sind...
RÜHM:...Oder es geschafft haben, weil sie es soweit brachten, Kosten und Probleme auf andere Systeme abzuwälzen...
PERNE:...Sozialstaatliche Alimentation und Subventionierung politischer und ökonomischer Insuffizienzen zu loben verschleiert genau das, was ich den Streit um gesellschaftliche Prioritäten nenne. Diese Prioritäten sind historisch erkämpfte und gewachsene Reaktionserfahrungen auf gesellschaftliche Widersprüche, die - selten genug - offen und unverschleiert als gesellschaftliche Paradoxien hervortreten. Diese Erfahrungen gehören zum fundamentalen Repertoire gesellschaftspolitischer Reflexion, sie sind Bestandteil unserer mentalen Kultur, wenn wir diese Kultur noch eine aufgeklärte nennen wollen.
Sehen Sie, was auch immer die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Arbeitslosigkeit zur Zeit der großen Depression der 30er Jahre, der Weimarer Zeit oder auch zur Zeit erster Konjunktureinbrüche Ende der 60er Jahre hier in der Bundesrepublik hervorbrachten: Alle basierten letztlich auf der Annahme, daß bloß ökonomische Störungen vorherrschten, die das Kapital daran hinderten, in hohem Umfang die Reproduktion der Lohnarbeit zu gewährleisten. Und diese Störungen galt es zu bekämpfen. Was heißt denn, was bedeutete denn Keynesianismus? Doch nichts anderes als die Überzeugung, daß das politische System noch in der Lage sei, durch fiskal-, sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen entscheidend das ökonomische System im ganzen korrigieren zu können. Das hieß letztlich, der Politik eine Kontrollkompetenz zu unterstellen, die dann als unterstellte Größe keine Interpretationen mehr zuließ, welche die Störungen der Transformationsleistung ökonomischer Systeme anders begriffen denn als Störungen, die durch unterlassene Einschaltung keynesianischer policy herrührten.
MODERATOR: Können Sie in wenigen Sätzen die Grundidee erläutern, die mit dem Begriff Keynesianismus bezeichnet wird?
PERNE: Nun ja, die keynesianische Wirtschaftspolitik13 - oder die Globalsteuerung, wie sie in der Bundesrepublik genannt wurde - also diese Wirtschaftspolitik ging davon aus, daß Rezessionen wirtschaftlicher Produktion und Rezessionen auf dem Arbeitsmarkt einzig der Rezession gesamtwirtschaftlicher Nachfrage geschuldet ist. Deckt sich die Nachfrage nicht mit den angebotenen Gütern und Dienstleistungen, bleibt entweder ein Teil unverkäuflich oder muß zu geringeren Preisen verkauft werden; beides führt zu sinkenden Gewinnen und damit zur Drosselung oder gar Aussetzung der Produktion; und das bedeutet Arbeitslosigkeit. Um es schon mal in Parenthese vorwegzunehmen: Gerade diese starke Kopplung von Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Produktion erwies sich als völlig eindimensionale Verhältnisbeschreibung für das, was sich schon Anfang der 70er Jahre andeutete: Jobless grouwth. Ein Ereignis, das dann in Bälde für viele Brechungen bis dato funktionierender Kopplungen verantwortlich wurde; ich nenne jetzt nur das Gespann Sozialversicherungssystem - Beschäftigungssystem, das Gespann...
MODERATOR:...Herr Perne, würden Sie doch noch erklären, was es mit dem Begriff auf sich hat, im Interesse der Zuschauer!...
PERNE:...Ja. Also nach Keynes ist die fehlende Nachfrage der Hebel, an den anzusetzen sei. Indem der Staat diese Verantwortung übernimmt, also marktsubstitutive Funktionen annimmt, regt er einen Nachfrageschub an, der dann - um es mal modisch auszudrücken - Synergieeffekte zeitigt, die sich finanziell weit besser auswirken als die Kosten, die der Nachfrageanschub verursachte. Der Staat übernimmt also in den ausgewiesenen Nachfragelücken die Produktion wirtschaftlichen Wachstums in der Hoffnung, so früh wie möglich wieder auszusteigen, dann nämlich, wenn sich der Impuls wieder selbstläufig zu einer wirtschaftssystemischen Sequenz mit Eigendynamik entwickelt hat. Der Staat muß natürlich ein Interesse daran haben, so früh wie möglich aus diesem Geschäft des Nachfrageanschubs herauszukommen, denn er finanziert ihn hauptsächlich über direkte Schulden bzw. über unterlassene Einnahmen. Unterlassene Einnahmen stellen sich z.B. ein durch steuer- und geldpolitische Entscheidungen, also etwa durch Steuerminderung und günstige Sonderabschreibungen für Investitionsgüter usw.14. Sie stellen sich auch ein bei geldpolitischen Entscheidungen, die allerdings viel komplizierter durchzusetzen sind denn fiskalpolitische. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, mit wieviel - um es mal höflich auszudrücken - mit wieviel Sensibilität seitens der Unternehmerverbände und sonstiger Repräsentanten der Wirtschaft und der Finanzwirtschaft die konjunkturpolitischen Maßnahmen des Jahres 196715 begleitet wurden. Vor allen Dingen die Senkung des Diskontsatzes um 2% innerhalb eines knappen halben Jahres...
MODERATOR:...Stop. So interessant dieser Punkt auch sein mag; aber so geht das nicht weiter.
Herr Joost sieht in der Fähigkeit sozialstaatlicher Institutionen, auf Dauer eine minimale Existenzsicherung für volkswirtschaftlich überflüssig gewordene Arbeitskräfte zu gewährleisten, einen Pluspunkt der sozialmarktwirtschaftlichen Verfasstheit unserer Gesellschaft, vorallem wenn man berücksichtigt, daß diese Institutionen von ihrer sozial-, fiskal- und verwaltungspolitischen Konzeption her doch eigentlich nur für Notfälle, für Ausnahmezeiten eingerichtet wurden. Herr Perne sieht in den keynesianischen Reaktionsmustern auf die heutigen Krisenerscheinungen der Arbeitsgesellschaft immer wirklungsloser werdende Lösungsversuche auf Probleme, die nicht mehr als Störungen auftreten, sondern sich als feste Strukturbestandteile der kapitalistischen Gesellschaft herausstellen und somit die Handlungskompetenz des poltischen Systems letztlich ad absurdum führen...
PERNE:...Nein, so stimmt das nicht. Die Politik könnte erhebliches leisten, wenn sie mehr Selbstvertrauen besäße. [Die anderen Gäste schauen ein wenig ungläubig.] Sehen Sie, Herr Joost steht mit seiner Lobhudelei auf die sozialen Notaggregate exemplarisch für eine größer werdende Gruppe von Intellektuellen, die sich alle mehr oder weniger in Bescheidenheit auflösen und diese Bescheidenheit mit dem Etikett Realpolitik verkleben. Sicher, wenn ich alles von seinem Ende aus anschaue; wenn ich mit dem Schlimmsten rechne oder mich in ein Erstaunen über die Unwahrscheinlichkeit gesellschaftlich institutionalisierter Solidarleistungen versetze, aus dem heraus alles, was nicht gleich mit einem HOBBESschen Vokabular beschrieben werden kann, als Glücksfall beklatscht werden muß; wenn ich alles in den Diskurs des Verschwindens zerre, wenn ich letztlich gesellschaftspolitisches Handeln nur noch als Unterlassen von Unterlassungen begreife: Dann darf ich wahrlich froh sein, mich noch im Strudel anarchischen Überlebens wähnen zu können und nicht schon tot. Und jetzt? Jede weitere Demontage der Stützbalken, die dem Leben jenseits rigiden Überlebens ein wenig Statik verliehen und Unsicherheit in Risiken verwandelten, mit dem Satz kommentieren: `Man könne doch froh sein, daß sie erst jetzt morsch werden`?
Nun, das wäre nicht mal mehr ein Armutszeugnis, das wäre schon religiös.
JOOST: Also ich sehe, ich muß weiter ausholen, wenn Sie mir das gestatten. Die Verschiedenheit ist doch größer, als daß sie einem bloßen Mißverständnis entspränge. Herr Perne, sind Sie tatsächlich davon überzeugt, ich gewänne dem Umstand, daß das Einspringen sozialbehördlicher Kuratel für Millionen volkswirtschaftlich überflüssiger...
PERNE:...Sie sind nicht überflüssig...
JOOST:...Für Millionen volkswirtschaftlich überflüssiger Menschen relativ unspektakulär verläuft, etwas langfristig Positives ab? Glauben Sie im Ernst, es täte gut zu wissen, daß die meisten Menschen nicht wissen, was sie wollen? Ich bin nicht lebensmüde, Herr Perne. Ich suche nicht mehr nach Gruppen, die bloß mit der Gesellschaft spielen, anstatt in ihr zu kämpfen, und sei es nur um ein paar Definitionen. Der Fakt, daß in den nächsten Jahrzehnten wohl kaum noch jemand davon ausgehen darf, seine Lebensbiographie maßgeblich mit Arbeit vollzustopfen, kann zu einem nicht mehr kontrollierbaren Handlungsfaktor werden, dann nämlich, wenn die sich auftuenden Lücken im Gedächnissupermarkt des eigenen Lebens nicht mehr mit eigener Geschichte gefüllt werden können, sondern nur noch mit Bildern aus...
MODERATOR:...[witzig düpierter Tonfall] Also ich muß zur Kenntnis nehmen, daß Sie nicht gewillt sind, im Interesse unserer Zuschauer etwas systematischer zu argumentieren. Können wir...
JOOST:...Aber ich bitte Sie...wie wollen Sie denn...
[ 4. `Wissen und Meinen` ]
MODERATOR:...Natürlich weiß ich, daß Interdiziplinarität kein Schlagwort, keine Phrase ist, sondern notwendig. Nur sollte sie sich doch eher im analytischen Feld zur Geltung bringen, und nicht auf der Ebene der Interpretation, wo sie sehr leicht abstürzt und nur noch Assoziationen entläßt. Nichts gegen Assoziationen, nichts dagegen, Herr Joost, wenn Sie von der makrogesellschaftlichen Bedeutungsebene der Arbeitslosigkeit zur subjektiven Ebene wechseln, von der subjektiven zur psychosozialen, von dieser dann zur mediensoziologischen und so weiter. Ich bin nur der Meinung, daß dieses Verfahren, dieses assoziative Verketten unterschiedlichster Ansätze mit ihren jeweils eigenen Entstehungsgeschichten der Folgerungslogik, daß also dieses Assoziieren eher in der Literatur aufgehoben ist denn in Kontexten, die sich immer noch eines wissenschaftlichen Vokabulars bedienen. Zwischen Wissen und Meinen besteht doch...
PERNE:...Ich bin direkt froh, daß Sie unsere Diskussion auf das Problem der Form und der Methodologie wissenschaftlicher Sätze - wenn ich das mal so sagen darf - gebracht haben. Sehen Sie...
MODERATOR:...Herr Perne, es geht um mehr. Es geht hier doch um die Verlässlichkeit von Aussagen, um die Tiefe und den Realitätsgehalt von Erklärungen, um...
PERNE:...Ja, um Erkenntnis, um Wahrheit. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sehen Sie, unser Aussagetableau jetzt hier in dieser Talkshow ist das der These, der Unterstellung, also der Behauptung. Wir entlassen aus unseren Köpfen kopierte oder kurzfristig erstellte Erklärungen, die als Epigramme daherkommen müssen, einfach deshalb, weil wir hier die Form Talkshow vor uns haben, und nicht einen Stapel weisses Papier, das uns etwa nötigte, unsere Erklärungen zu erklären. Wir verständigen uns hier mit aus relativ festen Ansichten entspringenden Sätzen, die ebendiese Ansichten kenntlich machen. Worüber wir uns nicht verständigen, das sind unsere Einsichten. Wir verständigen uns nicht über sie, weil wir ganz einfach voraussetzen, also unterstellen, daß sie bei jedem von uns nach gleichen Normen des Zustandekommens funktionieren. Ich könnte auch sagen, wir unterstellen bei jedem von uns, daß er seine Ansichten nach den Funktionsregeln organisiert, die auch bei den anderen statthaben. Natürlich spielen dabei erhebliche soziologische Bedingungen eine starke Rolle, die z.B. PIERRE BOURDIEU herausgearbeitet hat16. Beide Niveaus - Normen als Angleichungszwang von Sprecher und sozialem Kontext, Regeln als Angleichungszwang von Sprecher und Sprachgebrauch - dienen der Reduktion unserer Verständigungskomplexität - wie es die allgemeine Systemtheorie formuliert. Allerdings bevorzugen beide Anpassungszwänge jeweils bestimmte Diskursreservate, die sich innerhalb der Wissenschaft als naturwissenschaftliche und als geisteswissenschaftliche Diskurse herausgebildet haben. Die Reglementierung macht sich nun eher in den...
MODERATOR:...Herr Perne, ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Ich weiß auch nicht, warum Sie jetzt mit einer aufgewärmten Variante des Zwei-Kulturen - Modells wissenschaftlichen Denkens kommen...
PERNE:...Lassen Sie mich doch mal ausnahmsweise einen Gedanken zuende entwickeln, auch wenn ich mich dadurch in einen gewissen Widerspruch zum Gesagten bringe. [zum Moderator hingewendet] Was Sie eben antippten, war doch Ihr Unbehagen an der "Rückentwicklung philosophischer Reflexion auf eine nur noch privat verstehbare, sich zur Literatur verändernde Botschaft"17. Ihr Insistieren auf die Eingebundenheit von Texten in wissenschaftlichen Kontexten drückt doch elementare Abneigung gegenüber einer Philosophie aus, "die nur noch eine Gesellschaft von autistisch vor sich hin witzelnden Privatiers beglaubigt"18. Die schlicht und einfach soetwas wie `wahrheitsfähige Verständigung als prinzipiell unmöglich` einstuft19. Die also ihre aufklärerische Verantwortung preisgibt und nur noch zuschaut, wie sich "die Einheit eines sich" nur noch "technokratisch entwickelnden Gemeinwesens"20 stabilisiert.
In der Art, wie wir jetzt hier diskutieren, nämlich hüpfend, behauptend, fragmentarisch, andeutend, sehen Sie all dies bestätigt. Sehen Sie all dies nochmals verdoppelt. So. Ich kann Ihnen nun Recht geben mit dieser Ihrer Ansicht, ich könnte jetzt sagen: Ja, es stimmt, Ihre Behauptung und die hinter ihr verlaufende Argumentationsverknüpfung überzeugen qua Logik, Wahrheitsnähe oder gar Wahrhaftigkeit und qua Wirklichkeitsbezug. Aber damit ist nicht mehr getan als einem Konversationsritual, wegen mir auch einem Diskursritual zu genügen. Es wäre schlichtweg nur Höflichkeit. Verstehen Sie, Sie klagen für unser Diskutieren sowohl den Fallibilismus POPPERS als auch das Programm eines transzendental - reflexiven Letztbegründungsdiskurses APELS ein, aber all die darin vorkommenden Ingredienzen wissenschaftstheoretischer Produktionsbedingungen von Erkenntnis und Wissen sind keine Garanten mehr dafür, daß nachher auch ein wissenschaftliches Produkt entsteht, das tatsächlich etwas Wahrhaftiges von der Realität der verschiedenen Welten eingeholt hat. Es geht nicht darum, diese Produkte unterschiedlich bestätigen zu können, etwa formalpragmatisch diskursiv, hegemonial marktwirtschaftlich, dominant anthropologisch, intersubjektiv sozial oder objektiv real; es geht vielmehr darum, daß all die verschiedenen Formen der Bestätigung ihrerseits neuer Formen der Bestätigung, der Legitimation bedürfen, also auf der Kippe stehen, und sich zur Zeit kein Kandidat finden läßt, der diese Aufgabe auch nur richtungsweisend erfüllen könnte, auch wenn die nunmehr über Jahrzehnte andauernde Expedition ins Universum der Sprache das Gebilde namens Metakommunikation durchaus in die Gefilde der Verständigungsprozeduren der Alltagswelt herunterholen konnte. Aber der Preis dafür...
MODERATOR:...Herr Perne, ich bitte Sie...
PERNE:...Ich werde schon noch deutlicher. Ich möchte jetzt nicht beginnen mit dem Schlüssel, der sich Paradigmawechsel nennt und den KUHN doch wohl hauptsächlich aufs wissenschaftliche Reservat anwandte21...
RÜHM:...Und später wohl auch etwas revidierte, nicht wahr? Also einige Prinzipien oder Kriterien der Rationalität soll er doch aus dem revolutionären Wechsel herausgenommen und quasi konstant gesetzt haben, oder?
PERNE: Nun ja, wenngleich er wohl immer noch ein Verfechter dessen ist,
was Kritiker den Mythos des Rahmens zu nennen pflegen.
[ 5. Von der Gemengelage Wissenschaft, Natur, Gesellschaft ]
Die Revolutionen, auf deren Vulkanen wir heutzutage nach Erklärungen suchen, sind keine bloß wissenschaftlichen mehr, es sind zivilisatorische. ROBERT JUNGK drückte diese nicht mehr zu erweiternde Dimension einmal offensiv aus, indem er meinte, wir müssen Mut oder Glauben zurückgewinnen, um eine völlig andere Zivilisation zu denken. Sehen Sie, das wissenschaftliche Handwerkszeug, also von der Abstraktion und Analyse bis hin zur Validität, Experimentalität und Materialität, hat sich immer nur dann problematisch handhaben lassen - problematisch im dialektischen Sinne - , wenn der Platzhalter im `Text` selbstverständlich war, wenn man also sicher sein konnte, daß das Gesollte auf jeden Fall Einlaß finden würde in die Tatsachenrealität. In den meisten Fällen war solch eine Unbekannte schlicht Zukunft bzw. der Begriff Zukunft, in den entscheidenden Fällen hieß die Unbekannte jedoch Revolution. Die `Selbstvergewisserung` der eigenen wissenschaftlichen Mitteln und Methoden blieb solange außer Kraft, wie die Vorstellung inkraft war, daß das Unbekannte, das Andere prinzipiell zugänglich, daß es bloß noch einzuholen sei. Kurz: Das wissenschaftliche Denken verharrte in der Gewißheit, daß kein Fakt ein Fakt ist, solange er nicht von `uns` kontrolliert wird. Und daß er von `uns` kontrolliert werden würde: Daran bestand kein Zweifel. Diese Gewißheit der totalen Kontrollierbarkeit nährte sich nicht zuletzt davon, daß die wissenschaftlichen Exploitations- und Kontrollbedingungen vehement durch die aufkommenden Produktionsbedingungen des Kapitalismus reele Bestätigung fanden22. Die gegenseitige Affinität der Grundprinzipien von wissenschaftstheoretischen und auch methodologischen Regeln auf der einen Seite und der Produktions- und Zirkulationsregeln kapitalistischer Prozesse auf der anderen führte nicht nur sehr schnell zur Herausbildung einer affirmativen Naturwissenschaft mit naturnegierender Stoßrichtung; sie führte vorallem dazu, daß Wissenschaft sich aufzuteilen begann in einen Teil, der - salopp gesagt - auf der Strecke blieb und heute sich und mittlerweile wohl auch den Planeten zur Strecke gebracht hat, und in einen Teil, der weiterhin nach anderen Wegen, nach anderen Zielen des Projektes Menschheit suchte. Der erste Teil...
MODERATOR:...Herr Perne, wir hatten uns doch bloß darüber gestritten, wie wissenschaftlich seriös wir unsere Talkshow halten wollen...
PERNE:...[leicht verächtlich] Ich weiß, ich weiß, halten wir uns an die Titanic; gewinnen wir an Tiefe... . Ich möchte nur eine kleine Skizze beisteuern, die erhellen könnte, warum wir beim Punkt des Festhaltens an grundlegenden Differenzen von verschiedenen Sprach- und Denkwelten uns noch in Streit versetzen lassen. Also, die Naturwissenschaften sind stehen geblieben. Und zwar auf dem Boden eines unausgesprochenen Vertrages etwa folgenden Wortlautes: Es existiert keine Konvergenz zwischen Erkenntnis, Natur und vernünftigem, gutem Leben. Die Natur ist kein `Partner` sozialer Ordnung und vernünftiger Legitimation von Ordnung. Die einzige Weise, mit ihr zu korrespondieren, ist die der analytischen, technizistischen Zerlegung ihrer vernetzten Körper und Elemente, ist die der Reduktion ihrer multidimensionalen Netz- und Kreislaufsyndrome auf unzählige raumzeitlich atomisierte Naturobjekte. Nur das atomisierte Naturobjekt als soseiender Fakt läßt sich auf die entscheidenden Erkenntnisformeln bringen. Und kann somit als kontrolliertes Extrakt Bestandteil werden für neue Mischungen experimenteller Zutaten, Mischungen, die heute qua Computersimation beinahe naturidentische Komplexität erreichen.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur hat demgemäß die Gestalt des Verhältnisses zwischen Parasit und Wirt: Jegliche Handlung, jegliches Tun hat sich einzig und allein aus den Interessen des Parasiten zu definieren, auch wenn diese Interessen immer größere Umwege in Kauf nehmen müssen, also immer stärker ein Subjekt-Subjekt -Verhältnis simulieren müssen, um das eigentliche Subjekt-Objekt -Verhältnis als Herrschaftsverhältnis zumindest ökonomisch halten zu können. Die Interessen kann man auf eine kurze Formel bringen - und daran hat sich bis heute nichts geändert: Transformation der unkontrollierbaren, amorphen Kräfte und Gestalten der Natur und der Natur des Menschen zu kontrollierten, gefügigen und verfügbaren; Umwandlung der widerständigen und vernichtenden Dynamik natürlicher Prozesse in ein mehr oder weniger statisches Gefügeverhältnis; die Befreiung des Menschen als `feststehendes` Tier mittels Feststellung alles Nichtmenschlichen: Genau das war die Triebfeder, um die soseiende Materie als natürliche umzuwandeln in eine - lassen Sie mich sagen - imperative Materie als gefügige...
RÜHM: [leicht arroganter, düpierter Tonfall]...Also Herr Perne, Sie sitzen hier zwar als philosophischer Berichterstatter; das entbindet Sie aber nicht von der Selbstverständlichkeit, sinnvolle Sätze zu bilden. In was wollen Sie denn ihre zutiefst kulturpessimistische, ihre zivilisationspessimistische Rekonstruktion der menschlichen Formation namens Gesellschaft einmünden lassen? Viel bleibt Ihnen da nicht außer trotziger Triumphsolution oder einem delektablen Aufguß katastrophilen Gestammels à la HORSTMANN. Entschuldigen Sie bitte meine genervte Wortwahl. Aber das, was Sie sagen, geht eindeutig zu weit und bringt uns auch keinen Schritt weiter.
PERNE: Also erstens: Ich rekonstruiere hier nicht die Phylogenese technischer...
RÜHM: [der scheinbar Zeit brauchte, um mit seiner Polemik zu beginnen]...Nein, Herr Perne, jetzt gestatten Sie mir bitte, was Sie vorher für sich einklagten.
Wenn Sie die Fratze des Untergangs schon in den Anfängen der Menschwerdung zu erblicken glauben; wenn Sie alleine schon die anthropologisch notwendige Mutation der Menschen als biologische Lebewesen zu Menschen als geschichtliche Wesen mittels Wissen, Wissenschaft und Technik als irreversible Richtungsweisung wähnen, die dann damals schon jede Aussicht auf Kooperation und Verständigung zwischen dem Subjekt Menschenheit und der Natur als quasi selbstreferentielles Materiallager für die Lebensgrundlagen zerstörte, tja, dann weiß ich nicht, warum Sie kein Theologe geworden sind.
Die ursprüngliche technische Auseinandersetzung der Menschen mit natürlicher Umwelt anzusehen als eine, die die Zerstörung schon in sich trug, also davon auszugehen, daß Zerstörung quasi das Wesensmerkmal technischer Mittel und technischer Vermittlung sei, so wie Sie es hier durchscheinen lassen, Herr Perne, heißt doch nichts anderes als zu sagen, der Mensch sei a priori nicht lebensfähig, also die Gattung schlechthin sei nicht lebensfähig, heißt doch anzunehmen, der Mensch sei quasi das Programm der Natur, womit diese ihre Fehlentwicklungen und falschen Selektionen vernichtet23. Und das bedeutet doch nichts anderes, als daß alle Anstrengungen in der Geschichte - Enkulturation, Gesellschaftsbildung, Naturbeherrschung, Technik, Recht, Freiheit als Focus,...
PERNE:...Sie verstehen überhaupt nicht, worum es mir ...
RÜHM:...Daß alle Anstrengungen, aus einem logistischen Tier
einen Menschen mit der Möglichkeit von Zukunft, Vergangenheit und
Möglichkeiten zu bilden, nur die Funktion hatten, den sicheren Tod
zu verzögern, daß also die gesamte Geschichte des homo sapiens
reduziert werden könne auf eine Geschichte der Anwendung von Zeit
auf den Tod.
[ 6. Der Tod ]
PERNE: Also Ihr letzter Gedanke hat Sie nochmal gerettet, auch wenn Sie ihn in einen falschen Rahmen einmontierten. In der Tat können Sie eine Linie ziehen, eine Linie, die bei der Enkulturation des Menschen beginnt und bis in die jetzige Zeit hineinreicht. Sie können auf dieser Linie den maßgeblichsten Prozeß der Gattung Mensch anordnen; den der gesellschaftlichen Organisation, oder besser gesagt den des Organisierens von Gesellschaft. Also die allmähliche Umwandlung einer Masse beziehungslos und amorph dahinüberlebender Einzelmenschen - alle bis über die Ohren im Daseinskampf mit einer feindlichen und unzugänglichen Umwelt verstrickt und darum ohne Möglichkeit, durch Verzeitlichung des Daseins ebendieses zu ordnen und zu orientieren - in eine selbstbezügliche Gesellschaft, die den Überlebenskampf des einzelnen aus dem Daseinsniveau der Asozialität herauszieht und ihn auf die Ebene der kollektiven Institutionen, der Arbeitsteilung, der Herrschaft und der organisierten Handlungsrituale überträgt. Also kurz gesagt: Der Tod als allgegenwärtiger Begleiter des um sein Überleben kämpfenden Einzelwesens Mensch entschwindet aus dieser rein sozio-autistischen Sphäre, läßt den einzelnen also in Ruhe, und haftet sich an nächsthöhere Organisationssubjekte, etwa an den Stamm, an die Gruppe, die Gemeinschaft, die Gesellschaft und so fort. Natürlich war und ist dieser Prozeß der Vergesellschaftung von Tod kein gradliniger, kein ausschließlicher und auch kein erfolgreicher Prozeß, zumindest für eine Sichtweise, die eine Weltgesellschaft vor Augen hat; Dreiviertel der Weltbevölkerung ist es nicht möglich, jenseits rigiden Überlebens zu leben, weil sich u.a. ein Viertel der Weltbevölkerung beinahe die gesamte Resource `Leben` unter den Nagel gerissen hat, wenn ich das einmal so plakativ sagen darf.
Aber eines ist dieser Prozeß ganz eindeutig: An sein Ende gekommen. Das höchste Organisationssubjekt - von mir aus könnte man auch sagen: Das höchste Niveau der Dialektik - , an das sich der vergesellschaftete Tod dranheften könnte, ist erreicht. Und das ist der Globus, die Erde, der Planet. Da gibt es nichts mehr, wohin man noch ausweichen könnte, wenn der Tod seine Virulenz abstreift und sich aufmacht, noch in den letzten Verästelungen natürlicher und soziokultureller Raumzeitlichkeiten heimisch werden zu wollen. In BÜCHNERS `Dantons Tod` hält St. Just eine Rechtfertigungsrede für die Fortsetzung der jakobinischen Guillotinierungspolitik, in der er etwa folgendes sagt: "Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen; hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?"24. Ja, und gegen Ende fasst er es dann so zusammen: "Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias: sie zerstückt die Menschheit, um sie zu verjüngen"25.
Uns ist heute verwehrt, die letzten vier Worte zu denken oder auch zu glauben. Wir erleben eine Geschichte, deren Gang nicht nur rascher geworden ist, sondern die sich in unübersichtlich viele Beschleunigungszentren gesplittet hat, die nicht nur Menschheit zerstücken, sondern Zukunft und also die Geschichte selbst. Wir haben keinen Fluchtpunkt mehr, nicht einmal mehr im Handeln qua Nichtentscheidung. Die Dimension dessen, was heutzutage reflexiv in Anschlag zu bringen ist, und die Komplexität der Komplexitätsreduktion, die aufgrund der Organisationsgröße `Planet` erreicht werden muß, sind von solch einem Gewicht, daß jede unterlassene Ökologisierung von Gesellschaft evidentere Aus- und Einwirkungen innerhalb der Realität zeitigt als rationale Selektion im Universum aktiven Handelns. Ja mehr noch: Jede...
MODERATOR:...Wenn ich da mal kurz einhaken darf, Herr Perne. Es hört sich zwar schön an, wenn Sie die Geschichte von Gesellschaften abstrakt daran aufhängen, oder nein, besser gesagt, wenn Sie die Bildung von Gesellschaften hauptsächlich als eine Art Erwiderung deuten, eine Erwiderung auf den unhaltbaren Zustand, daß früher - wann genau sei einmal dahingestellt - jedes Einzelwesen namens Mensch völlig ungeschützt und nur für sich dem pysischen Tod Paroli zu bieten hatte...
PERNE: [der nicht zugehört hat und einen gefundenen Gedanken zum Ausdruck bringen möchte]...Es ist vielleicht vergleichbar mit einer Einstellung, die immer davon ausgeht, daß alles Handeln und Tun letztlich im Schatten des eigenen, sicher kommenden Todes belanglos, unwirklich und nicht zuletzt sinnlos sei. Stellen Sie sich vor, Sie wachten jeden Morgen mit dem Gedanken auf, daß alles, was Sie sind und machen, letztlich oder bestenfalls nur virtuelle Evidenz erreicht, weil Sie ja durch ihr Sterben alles wieder vernichten. Solch eine Lebensperspektive datiert dann natürlich den Tod schon bei der Geburt; alle Anstrengungen haben dann nur noch die Funktion, den Tod zu beschwatzen, kurz: Solch eine Perspektive bestreitet vehement die Möglichkeit von Zeit, von Gestalt, also von Zukunft und damit auch die Möglichkeit von Geschichte, und sei es nur die der eigenen Lebensbiographie.
MODERATOR: Ja, ähh, also, das erscheint mir jetzt doch recht unhistorisch, Herr Perne...
JOOST:...Wo ist denn jetzt die Religion geblieben, wo sind die Kriege, wo sind die Ideologien, die Phantasmagorien, die Ausbeutungen geblieben, und wo vorallem stecken Sie jetzt dieses ehemals geschichtsmächtige Projekt namens Sozialismus hin? Oder war dieses Projekt von Anfang an bloß ein no-name -Experiment, mit keinerlei Einfluß auf die Gattungsgeschichte des Menschen ausgestattet? Sie argumentieren tatsächlich erschreckend unhistorisch, wenn Sie ihren Blick nur darauf richten, wie sich die Menschen immer komplexer organisierten, sich komplexer reflektierten und komplexer differenzierten, nur um den Tod aus dem Leben hinauszuteiben, ihn an höhere Instanzen zu befestigen bzw. durch höhere Instanzen aufzuheben. Gut, daß wir heute, wo die Sozialdimension von Kollektivität wie noch nie zu zersplittern droht und von einer technizistischen Formation der Kollektivität ersetzt wird, die letzte Kollektivierungsstufe erreicht haben mit dem Planeten Erde und also die gesamte Existenz und die gesamte Zeit als zukünftige in Anschlag zu bringen haben, hebt unsere jetzige Zeit aus allen bisher verfügbar gemachten Zeitgeschichten heraus. Okay. Nur: Wenn Sie diesen totalen Fakt herzuleiten versuchen aus dem scheinbar sozioanthropologisch konstanten Bestreben der Menschen, die Kontingenz von Tod sozialtechnisch aus der `Lebenswelt` zu vertreiben, den Tod also zu verallgemeinern, ja [in Form von "verstanden?!"], und trotzdem die geschichtliche Entwicklung der Menschen nicht als eine Verwicklung der Geschichte mit Krieg zu sehen vermögen, dann stimmt etwas nicht mit ihrer Sichtweise. Das wäre etwa so, als wenn man mit FREUD davon ausgeht, daß Gesellschaften immer ein Maß zusätzlicher und notwendiger Triebunterdrückung ausbilden müssen, die in einer nicht zu hintergehenden anthropologischen Konstituierung des Realitätsprinzips wurzelt, und gleichzeitig mit MARCUSE annimmt, daß das Leistungsprinzip als leistungsstärkste Realisierung des Realitätsprinzips doch nur eine historisch bedingte und also hintergeh- und veränderbare Realisierung darstellt, um sich somit den Blick auf eine zukünftige Gesellschaft ohne zusätzliche Unterdrückung offen zu halten: Beides geht einfach nicht.
MODERATOR: Ich möchte Ihren Einwand noch etwas erweitern, Herr Joost. Herr Perne, auf den Punkt gebracht sagen Sie doch folgendes: Die Geschichte der Gattung Mensch besitzt eine...eine Art teleologische Maschine, die sukzessiv und über allerlei Umwege bewirkt, daß der Mensch als Gattungswesen aus dem zeitlosen Dasein hinaustritt, dem zeitlosen Dasein des Überlebens, um einzutreten in eine zeitfähige Existenz, also in das Leben als gestaltbare Zeit. Daß dieses Eintreten ins Leben in der Regel Einbruchcharakter hatte, und daß das Hinaustreten aus dem sozialdarwinistischen Stratum in der Regel Krieg bedeutete und auch weiterhin bedeutet, lassen Sie unbedacht. Und daß Sie diese - ja, lassen Sie mich bei diesem Begriff bleiben - daß Sie diese teleologische Maschine unterderhand mit Vernunft ausstatten und nicht mit deren wirkungsvoller Abwandlung, nämlich mit technischem Verstand, der in der Geschichte zum größten Teil Tod produzierte und organisierte, hält Sie ebenfalls nicht davon ab, einfach so zu tun, als hätte die Menschheit noch eine zweite Technik im Handgepäck, die sie jetzt, da wir scheinbar wieder in die zeitlose Zeit des Überlebens zurücktreten, einfach so herauskramt. Und das womöglich noch harmonisch abgestimmt mit dem permanent zu simulierenden und dadurch zu konstituierenden Subjekt namens Natur - das auf immer und ewig Objekt bleiben wird - in Form völlig neuartiger Verifikations- und Evaluationskriterien...
PERNE:...Also ich muß hier mal...
MODERATOR:...Also auf den Punkt gebracht: Da ist eine Art von Lebewesen, später Mensch genannt, ausgestattet mit einer kulturellen Nullage, mit zwei Armen und Händen, die frei sind, befreit vom Fortbewegungszwang. Dieses Lebewesen kennt keine Zeit, es kennt Hunger, Kälte, Kampf, Begattung und die Notwendigkeit, sich zu schützen. Die größte Sozialeinheit ist das, was wir Familie nennen. Zwischen der Familie und dem Überleben gibt es keine Puffer, keine Organisation von Kontinuität der Bedürfnisbefriedigung. Der Tod, das Sterben ist allgegenwärtig, anonym und privat. Die Anstrengungen, dem Tod zu begegnen, sind es ebenfalls. Die Menschen beginnen mit Handwerkzeugen und mit erstem Wissen über die Oberflächenprozesse der natürlichen Umwelt ihr Überleben besser zu organisieren. Es stellt sich schließlich heraus, daß das Organisieren als Handlung nicht nur im Verhältnis zwischen Einzelwesen und Natur das Überleben entschärft, sondern auch in Verhältnissen zwischen den Einzelwesen. Es stellt sich ebenfalls heraus, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der Entwicklung von Technik in Gestalt des Handwerkzeugs und des Naturwissens und der Entwicklung von Technik in Gestalt des Denkwerkzeugs - also Sprache und Reflexion - und des Sozialwissens. Von da an...
RÜHM:...Sie holen jetzt eindeutig zu weit aus. Man muß doch nicht immer bei Adam und Eva anfangen...
MODERATOR:...Geduld. Wer einen Großteil möglicher Zukunft in Anschlag bringen will, hat dies auch mit der Vergangenheit, also mit Geschichte zu tätigen. So. Über zehntausende von Jahren zeitigte der Zwei-Fronten -Krieg des Menschen - die Front der Organisation unkontrollierter Natur die eine, die Organisation protokollektiver Verhältnisse die andere - nichts Relevantes in dem Sinne, daß die jeweils individuelle rigide Überlebenssicherung hätte übersetzt werden können in stationäre kollektive Daseinsfürsorge. Es waren weiterhin `göttliche` Agenten unterwegs, die die Aufgabe hatten, die Kontingenz von Leid, Tod, Not und Unerklärlichem umzuwandeln in Leid, Tod und Not mit einem Subjekt als Absender, also mit einem Agens, dessen Emanation sie waren. Wenn schon nichts Elementares gegen die Allgegenwart des Todes zu machen war, dann sollte zumindest der Tod eine Adresse bekommen. Hat er eine, dann müssen die, die ihm ausgesetzt sind, ebenfalls eine haben. Der Tod war weniger schwer erträglich, wenn er einen Grund oder gar eine anthropomorphe Gestalt hinter sich wußte. Er weist damit die von ihm Getroffenen als Ausgewählte, ja letztlich als Auserwählte aus26. War erstmal das...
RÜHM:...Ich weiß jetzt nicht mehr, worauf Sie hinaus wollen. Es ging doch um die fahrlässige Betrachtungsweise von Herrn Perne, der auf der einen Seite konstatiert, die Geschichte der gesellschaftlichen Organisation von Gesellschaft sei an einem Punkt angelangt, an welchem sich die Geschichte selbst in gänze zur Disposition stellt, weil sie ihre orginäre Leistung der Entprivatisierung von Tod...
JOOST:...Sie können auch `Privatisierung von Leben` sagen...
RÜHM:...Weil sie ihre orginäre Leistung mit der Desorganisation der natürlichen Zivilisation bezahlt hat, und der trotz dessen auf der anderen Seite behauptet, daß die Gattung Mensch die planetare Vernichtung zu verhindern weiß, ohne dabei auf ein sozialdarwinistisches Gesellschaftsniveau regredieren zu müssen. Das war doch der Knackpunkt...
MODERATOR: [gibt scheinbar nach und wird kleinlaut] ...Das ist mir schon
klar, Herr Rühm. Ich wollte nur diese Geschichte der gesellschaftlichen
Entwicklung von Gesellschaftlichkeit27, von der immer die Rede ist, bloß
etwas bodenständiger, etwas konkreter machen, vorallem für unsere
Zuschauer...
[ 7. Konvergenz und Parasitismus ]
PERNE:...Ich glaube, wir verlieren so den Konfliktpunkt aus den Augen, um den es eigentlich zu tun ist. Wir waren bei der Technik. Sie [zum Moderator gerichtet] gebrauchten vorhin eine Formulierung, ich glaube `Wir könnten doch nicht so tun, als ob die Menschheit eine zweite Technik im Handgepäck habe, die sie einfach nur herauszukramen brauchte, wenn es nötig wird, so wie heute, wo nichts dringlicher erscheint als eben eine völlig andere Technik der Vermittlung von lebensfähigen Gesellschaften und vieldimensionalen ökologischen Zirkulationen`...
MODERATOR:...Das war als Vorwurf an Sie gerichtet, Herr Perne, und nicht...
PERNE:...Ich weiß, ich weiß. Ich möchte jetzt bloß ein konsensuelles Gerüst bauen, auf dem wir alle stehen können. Also, ich glaube davon ausgehen zu können, daß wir alle hier die gleiche Dimension meinen, wenn wir von einer anderen Technik reden. Eine Dimension, die nur Ignoranten oder Zyniker noch mit Katalysator oder FCKW-freien Spraydosen in Verbindung bringen können. Eine Dimension, die revolutionäre Ausmaße der Vernichtung oder der Veränderung anzunehmen hat.
Und ich glaube, Übereinstimmung besteht auch darin, daß sich diese andere Technik - gemeint ist letztlich ja eine andere Zivilisation - nicht einstellt, wenn sie sich im ökonomischen Markt als Wettbewerbsvorteil aufspielt oder auch verdingen würde. Ich sage damit nicht, daß die Logik der verschiedenen Kapitalien eine völlig andere Technik inhibiert, strukturell inhibiert - daß sanfte Technologien, verstanden als embryonale Vorstufen einer anderen Technik, oft bewußt unterdrückt wurden, ist vielfach nachgewiesen worden28. Mit gutem Willen könnte man sich sogar zur Aussage verleiten lassen, daß die Internationalität, also die Globalität der Verkehrstableaus von Produktions- und Finanzkapitalien sowie die Globalität medialer Kommunikation - beides konvergiert, wie wir wissen - im Grunde gute Vorausetzungen sind für die zukünftigen Aufgaben der Reorganisation, d.h. - etwas prosaischer - für die Sanierung des Planeten Erde. Wenn nämlich die verschiedenen ökologischen Kreislaufsysteme in ihrem Trend zur Insuffizienz und zur Dysfunktion zunehmend räumliche und zeitliche, aber auch politische, ethische, kulturelle Begrenzungen sprengen - Begrenzungen, die im Grunde nie vorhanden waren, solange die verschiedenen Systeme unmerklich Probleme akkumulierten, und die nun, angesichts enormen Handlungsbedarfs, allseits eingefordert werden - , also wenn die permanente Krise, die keine Krise mehr ist, den ökologischen Raum und die gesellschaftliche Zeit durch ihr Verschwindenlassen spürbar und zugleich bedeutungslos macht, dann sollten sich die entscheidenden gesellschaftlichen Kreislaufsysteme - also Weltwirtschaft, Weltpolitik und weltweite Kommunikation - ebenfalls von Zeit, Raum, Kultur usw. unabhängig machen können, zumindest als Bedingung der Möglichkeit, später...
RÜHM:...Es ist mir neu, daß die Weltwirtschaft ein Kreislaufsystem sein soll, oder auch die Weltpolitik, die, wenn überhaupt, erst jetzt anfängt, Weltpolitik zu sein. Nein, hier handelt es sich doch um Systeme, die eben nicht auf Austausch basieren, Austausch im Sinne ökologischer Kreisläufe, sondern um solche, deren Pfeile immer nur in eine Richtung weisen, wie es MICHEL SERRES einmal zu umschreiben versuchte. Das sind doch parasitäre Hierarchien, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren strukturieren, und nicht prinzipiell egalitäre Verhältnisse, die einzig die Reversibilität und die Transformation der Kreisläufe im Auge haben und sich dementsprechend gegenseitig bewerten - wenn sie es könnten; wir sprechen ja von natürlichen Objekten bzw. natürlichen Prozessen - . Es ist im Grunde wie mit dem Körper; der Körper macht sich in der industrialisierten Gesellschaft in der Regel nur durch Schmerz, durch Krankheit, durch Leistungsschwäche merkbar, spürbar; solange alles in Ordnung scheint, bleibt er unerfahren, äußerlich, eine Maschine meines Bewußtseins, sogar in den Beziehungen - etwa sexuellen - , in denen er als Akteur zuhause ist. Wir haben alle Drähte fürs Wahrnehmen des selbstseienden Körpers, des Körper-Ichs verloren, und versuchen nun, da uns der eigene Körper nur als zerschundener Körper körperlich wird, in Schnellkursen durch die neue Körperlichkeit zu hetzen. So wie wir jetzt, da uns `die Natur` nur noch als zerschundene entgegentritt, durch Schnellkurse hetzen, die uns beibringen sollen, positive Natur, Subjektnatur zu finden, wahrzunehmen oder gar zu erfinden. Wir...
MODERATOR:...Herr Perne, was meinen Sie mit dem Verschwinden von Raum, Zeit, Kultur usw., mit der Abstraktion all dessen durch ...
PERNE: [unterbricht prononciert]...Herr Rühm, ich bin voll Ihrer Meinung. Ich wollte nur kurz anzudeuten versuchen, daß auch eine wohlwollende Einschätzung der faktischen Organisation von Welt und Leben durch das diversifizierte Kapital letztlich am fundamentalen Punkt vorbeisieht, nämlich der scheinbar unlösbaren Frage, wie es denn praktisch zu bewerkstelligen ist, daß - ich bediene mich mal der Fabelbegriffe SERRES` - ein an zwei Tafeln gleichzeitig schmarotzender Parasit - die eine Tafel ist die Mehrheit der `unterentwickelten`, sprich der vom Weltmarkt de facto ausgeschlossenen Weltbevölkerung, die andere schlicht die Erde als Sammelbegriff aller natürlichen Grundlagen - von seinem parasitären Verhalten abläßt, die parasitäre Beziehung zwischen sich und dem Wirt umwandelt in eine partnerschaftliche, d.h. in eine reversible und regenerative Beziehung, der desweiteren seine hegemoniale Herrschaft über subalterne Parasiten zurechtstutzt auf einen bestenfalls partikularen Selbstbehauptungswillen, und der dabei trotz allem die wichtigste Eigenschaft des Parasitentums nicht preisgibt: Nämlich die Eigenschaft, nichts, aber auch gar nichts für die Lebensbedingungen des Wirts mitzuproduzieren. Denn gerade...
JOOST:...Tut mir leid, aber ich kann mit dieser Art von Terminologie nichts mehr anfangen, Herr Perne. Ihr Ansatz von vorhin war da doch interessanter, als Sie davon sprachen, es gäbe soetwas wie eine glückliche Koinzidenz - Koinzidenz jetzt durchaus in medizinischem Sinne als Auftreten mehrerer Krankheiten - der Globalität und Komplexität der Problemsyndrome und der Globalität und Komplexität vorhandener technologischer Infrastrukturen, die zur Bewältigung dieser Syndrome eventuell herangezogen werden könnten. Man kann, wenn man will, dahinter einen erneuten Aufguß der Denkfigur vermuten, die die Produktivkräfte von jeglicher Schuld freisprechen möchte und das Unglück nur in der organisierten Anwendung konzentriert...
PERNE:...Das habe ich nie behauptet...
JOOST:...Doch, indirekt unterstellen Sie der Technik Unschuld, weil Sie mit dem Feststellen von Koinzidenz nicht mehr in der Lage sind, die Komplexität der technischen Entwicklung und die der ökologischen Insuffizienzen dialektisch zusammenzudenken. Sie stellen die Technik einfach außen vor, lassen dann moderne Gesellschaften die Natur zerstören bis zu einem Grade, ab dem nur noch die Weltgesellschaft als Quasi-Subjekt auf die Dimensionen der Zerstörung zu reagieren und zu erwidern vermag, und sagen dann, `Ach wie gut, daß unsere technische Entwicklung soweit gediehen ist, daß wir sie, also die Technik, nahtlos anschliessen können an die Dimensionen der Probleme, vor denen wir stehen`, ganz gemäß dem Motto: "Der Verblendungszusammenhang des Fortschritts treibt über sich selbst hinaus"29.
PERNE: So habe ich das niemals zum Ausdruck gebracht. Was ich sagte, war als Gegenargument gedacht, dessen Haltlosigkeit ich dadurch aufzeigen wollte, indem...
JOOST:...Herr Perne, ich wollte nicht tiefer eingehen in diesen Bereich, ich sagte bloß, man könne an diesem Punkt die Technikdiskussion der 70er Jahre neu aufgießen. Mich interessiert etwas anderes, was Sie [zum Moderator gerichtet] vorhin konkretisiert wissen wollten, nämlich tatsächlich soetwas wie eine zumindest tendenzielle Aufhebung von Raum, Zeit und Sein. Und zwar durch die ökologische Krise oder Katastrophe wie auch durch die kommunikationstechnische Vernetzung von Kontinenten, Lebenswelten, Bewußtseinen, Kulturen und Gesellschaften. Wer...
MODERATOR:...Könnten Sie den Zuschauern kurz erläutern, was darunter zu versehen, pardon, zu verstehen ist?
JOOST: Wer von der Aufhebung des Raumes und der Zeit spricht, meint dies erstmal vordringlich in einem kommunikativen Sinne. Sehen Sie, man geht davon aus: Da sind zwei Pole, die jeweils Sender und Empfänger sein können, und da ist eine Distanz zwischen ihnen. Diese Distanz muß überwunden werden, damit beide Pole sich mitteilen und Mitgeteiltes empfangen können. Der Grund für Distanz lag immer in der Notwendigkeit des Mitteilenden, einen geographischen Raum überwinden zu müssen. Und das kostete nicht nur Zeit, das nagte in der Regel auch an der Unversehrtheit der Botschaft. Raum und Zeit galten also als kommunikationshindernd; und Kommunikation, die sich weitgehend von ihnen unabhängig macht, galt als selbstverständlich erwünscht. Es muß wirklich ein Grundbedürfnis dahinter stecken, wenn wir es heutzutage als natürlich ansehen, noch die entferntesten Geschehnisse irgendwo auf der uns fremden Erde gleichen Tages zuhause im Sessel zu goutieren. Dieses Gefühl, dabei zu sein ohne Beteiligung, zu sehen ohne gesehen zu werden, einzutauchen in eine Oberfläche... . Dieses Bedürfnis nach einer Beinaheunmittelbarkeit der Mitteilung qua Signalen, Symbolen, Bildern...
RÜHM:...Man darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, daß die Entwicklung raumzeittranszendierender Kommunikationsdienste maßgeblich den Kommunikationsbedürfnissen in Kriegszuständen geschuldet ist, daß es also vordringlich nur um die Kommunikation innerhalb eines Poles ging - ich bleibe mal bei ihrer Figur, Herr Perne - zum Zwecke der besseren Vernichtung des anderen Poles; daß also die heutige Nachrichten- und Satellitentechnik als kommunikationstechnischer Reflex verstanden werden muß, als Reflex auf zutiefst akommunikative Zustände und Situationen, in denen man sich längst von der Verständigung verabschiedet und zu Mitteln kriegerischer Gewalt gegriffen hatte30. Kommunikationstechnik also als Resultat von Verständigungslosigkeit, und nicht...
PERNE:...Nun ja, den Krieg wieder als Vater der Kommunikationstechnik heranzuziehen erscheint mir jetzt nicht sehr...
MODERATOR:...Ich bitte Sie, bleiben wir doch beim Thema. Herr Joost...!
JOOST: Also, was ich sagen wollte war folgendes: Die telematische Vernetzung der maßgebenden kapitalistischen Gesellschaften - und damit meine ich jetzt nicht nur multinationale Konzerne, sondern auch Subgesellschaften der Wissenschaft, der Politik, Journalistik, der Kultur usw. - hat die Möglichkeit geschaffen, neue Formen des Zusammenarbeitens, also neue Formen der Problemlösung zu entwickeln, und zwar Formen, die sich durchaus nutzen lassen für die gewaltige Aufgabe der Neozivilisierung des Planeten. Da heutige Telematik tatsächlich Raum und Zeit, mithin sogar auch die Wirklichkeit zu transzendieren in der Lage ist, könnte man versucht sein anzunehmen, daß ihre Netze und ihre Kommunikationsdienste dazu zu gebrauchen sind, die Ökologisierung von Gesellschaften voranzutreiben. Und zwar in Gestalt permanenter Simulation unzähliger Kreislaufsysteme, die sich auf, in und über der Erde abspielen; in Gestalt einer Substitution von heute noch material in die Welt eingreifenden Handlungssystemen; in Gestalt permanenter Kontrolle ökonomischer Systeme...
MODERATOR:...Das klingt mir jetzt aber doch sehr stark nach science fiction31...
JOOST:...Ich sagte, man könnte versucht sein, in den weltweiten Informations- und Kommunikationsnetzen soetwas wie ein nützliches Instrument zur Eindämmung der weltweiten Insuffizienz von Ökologie zu sehen; man könnte! Was ich sagen will: Auch wenn man so tut, als gäbe es tatsächlich ein elektronisches Dorf namens Welt, ein elektronisches Dorf, in dem jeder über jeden und jedes Bescheid wissen kann, sich dementsprechend, also dem sozialen, dem öffentlichen Druck gemäß verhält und handelt, ein Dorf, in dem das Wissen um ein Ereignis oder um eine Tat fast zeitgleich ist mit dem Passieren ebendieser, so ist damit längst noch nicht, nicht einmal in Spurenelementen die Hauptmaschine ökologischer und sozialer Vernichtung erreicht und beeinflußbar; die Rede ist von der wissenschaftlich-technischen kapitalistischen Organisation materieller Produktion. Hier wird man nur mit totalitären Mitteln die totalitäre Produktion von Wohlstand und Elend abstoppen können, nicht aber mittels medial bereitgestellter Antizipation und diskursiv nachbereiteter Simulation. Diesen simplen Punkt übersehen die meisten, die der Informationsgesellschaft das Wort reden und quasi unterderhand dem kommunikativen Austausch mehr zutrauen als dem produktiven.
Wenn aber der weltweiten Kommunikationsinfrastruktur etwas zuzutrauen ist, dann ihre Möglichmachung von Kommunikation, die zumindest tendenziell an das Niveau der Komplexität planetarer Ökologiesysteme heranreicht und die zumindest potentiell bestimmte Entscheidungsprozesse in Subsystemen wie Politik und Wirtschaft, die strukturell einen partikularen und bornierten Charakter haben, sehr schnell an das komplexe Niveau der ökologischen Abgleichung anschließt. Ob daraus allerdings...
MODERATOR:...Das klingt doch etwas zu abstrakt, Herr Joost, als daß es konkrete Nutzungsmöglichkeiten angesichts der Umweltkatastrophe aufzeigen könnte. Wenn...
RÜHM:...Es scheint mir nicht nur zu abstrakt, sondern auch ein wenig blauäugig zu sein. Sie erinnern mich fast an die Euphorik BRECHTS, die er in seinen ersten Reflexionen über das damals neue Medium Rundfunk zum Ausdruck brachte; ein wenig Verhältnismässigkeit wäre hier doch wohl angebrachter. Sie tun immer noch so, als sei technisch vermittelte Kommunikation - lassen Sie mich bei diesem Neutrum bleiben - soetwas wie eine öffentliche Nahverkehrseinrichtung, die jeder benutzen darf, die überblickbar ist, die keine Selektionskriterien der Teilnahme kennt und einzig die Funktion erfüllt, die Beweglichkeit der `user` gut und preiswert, wenngleich kollektiv organisiert, zu erleichtern. Diese Vorstellung ist sehr ehrenwert und nobel; der frühe PROKOP und der frühe ENZENSBERGER hatten solche Vorstellungen als Fluchtpunkte, also Massenkommunikation als Kommunikation der, nicht für Massen. Solcherart Vorstellung verkennt aber, daß die Arenen, in denen diese Kommunikation ihr Wesen treibt, längst zu sozialtherapeutischen Spielplätzen degradiert worden sind32...
MODERATOR: [bemüht ironischer Ton]...Sie beziehen das jetzt doch nicht auch auf diese Talkshow...
RÜHM: [mit trockener Ironie]...Um Gottes willen, nein, wir befinden uns hier längst nicht mehr auf einem Spielplatz; wir spielen schon Wartezimmer, Wartezimmer einer psychoanalytischen Praxis, und immer dann, wenn der erste endlich bereit ist, sich der Couch anzuvertrauen, ist die Sendezeit vorüber [verhaltenes Gelächter]. Nein, Ernst beiseite. Soweit ich folgen konnte, sprachen wir doch von weltweiter Kommunikation und Information, also von der Welt als elektronisches Dorf, und davon, daß die fortgeschrittene Infrastruktur von Kommunikation in Artefakten wie Satelliten, Sendern, Frequenzen, Endgeräten, Verbreitungsgeschwindigkeiten, Netzuniversen usw. uns in ihrer weltweiten Habhaftwerdung ein adäquates Instrument zur Verfügung stellt, die ebenfalls weltweit dimensionierten Probleme - ich nenne es jetzt mal Probleme - der planetaren Ökosysteme besser zu beobachten, zu kontrollieren, zu messen, und uns also Handlungsoptionen erlaubt, die direkt auf ein globales, komplexes Niveau gehievt werden können, unter Umgehung zeitlicher Verzögerung und räumlicher Zerstreuung. So. Und das nenne ich blauäugig...
PERNE:...Dann ist in ihren Augen soetwas wie "ein Gattungssubstrat der Reflexion" oder soetwas wie ein "selbstanalytischer Prozeß der Gattung", wie das KLAUS HEINRICH33 einmal genannt hat, auch blauäugig?
RÜHM: [der mit der Frage nichts anfangen kann] Tja, ähh, daß
äh weiß ich nicht. Aber ich gebe ihnen ein Beispiel. In der
Klimatologie sind seit etlichen Jahren Bemühungen im Gange, das planetare
Klima bis auf drei Stellen hinter dem Komma zu digitalisieren, um es salopp
zu sagen; also die unzähligen verschiedenen Ordnungen unzählicher
verschiedener Kreisläufe verschiedenster Klimaelemente, die mittlerweile
nur noch interdependent gedacht werden können, in Computerprogrammen
verfügbar, d.h simulierbar zu machen. Meines Wissens ist dieses Vorhaben
das zur Zeit komplexeste Projekt, eine komplexe Wirklichkeit informationell
abzubilden und zu simulieren. Klimatologen nutzen weltweit die Übertragungs-,
Verbindungs- und Vermittlungsnetze, tauschen Daten aus, bauen Sonden auf,
füttern Computer mit immer neuen Daten und geben doch ohne Umschweife
zu, längst noch nicht auch nur annährend der Wirklichkeitsdichte
des Klimas gerecht zu werden. So. Man kann jetzt die Festigkeit etwa der
Aussage, daß eine Klimakatastrophe innerhalb eines bestimmten Zeitraums
unter bestimmten Bedingungen bevorsteht, als Resultat dieser komplexen
weltweiten Kommunkation wissenschaftlicher Experten betrachten. Das Ozonloch
ist demgemäß keine Behauptung mehr, auch keine exakte Wahrscheinlichkeit,
sondern eine dingfest gemachte Wirklichkeit der Zukunft. Oder pathetisch
gesagt: Wir haben ein Signal erhalten aus der letztmöglichen Dimension
gesellschaftlicher Eingreif- und Änderungsmöglichkeit, der planetaren
Dimension. Wir wissen, daß es danach keine weitere Dimension geben
wird, in der sich Probleme akkumulieren können. Wir wissen also, daß
wir nicht auf Zeit spielen können und der Raum immer größer
wird, in dem revolutionäre Veränderungen anstehen34. Wir wissen,
daß eine theoretische Redialektisierung des Brüchigwerdens der
elementaren Existenzgrundlagen und des Werdens eines neuen, ökologisch
durchdrängten Bewußtseins uns nicht die Gewißheit zu geben
vermag, daß sich die heutige katastropale Zeit noch im Zeit- und
Denkhorizont der Moderne aufhält. Wir wissen auch, daß die Postmoderne
als pausierende, als verwirrte Denkzeit nicht automatisch in eine bald
folgende zweite Verständigung der Moderne über sich selbst einmündet.
Wir wissen schließlich, daß Demokratie als politische Verfasstheit
der maßgeblichen kapitalistischen Gesellschaften strukturell zu eng
und borniert ist, um prozedural zu gewährleisten, daß die technischen
Wissenschaften, die technischen Produktionen, Entscheidungen, Politiken
usw. wesentlich von wissenschaftlich - ethischen Diskursen heimgesucht
und auf Gesellschaftsunverträgliches hin überprüft werden.
So. Und was passiert? Nichts natürlich, vorausgesetzt, man kann der
grassierenden ökologischen Codierung der Symbolsysteme nichts Erhebendes
abgewinnen.
[ 8. Kommunikation und Konfrontation ]
Wer über die gesellschaftlichen, weltpolitischen und kapitalistischen Unterlassungen in diesem eben skizzierten Rahmen empört ist, zeigt nur, daß er sich irgendwann in der Ideologie der Kommunikation verfangen hat35. Ich gebe gerne zu, daß die Resituierung von direkter, von diskursiver Kommunikation in den kleinen Kreis hegemonialer Medien einer Gesellschaft durchaus ihren Reiz hat. Und man kann auch tatsächlich einiges aufzählen, wo sich das Durchsetzen von Kommunikation in anderen herrschenden Medien als gesellschaftlicher Fortschritt entpuppte. Ich denke etwa an den Wandel des Verständnisses einer Gesellschaft gegenüber der Atomenergie, den A.EVERS und H.NOWOTNY sehr genau herausgearbeitet haben36. Daß die energiepolitische Selbstverständlichkeit atomarer Energieproduktion heutzutage durchaus Fakt ist, das gesellschaftliche Bewußtsein aber von dieser Produktion eindeutig Abschied genommen hat und ihr bestenfalls nur noch intermediären Status zubilligt: Ja, das kann man kommunikativen Erfolg nennen; Erfolg einer Kommunikation in der Gesellschaft, die aus eigener Kraft akommunikatives Terrain erobert hat, aus eigener Kraft aus dem Nichts Öffentlichkeit installierte, und das mit solch einem Wirkungsgrad, daß die Gesellschaft nicht mehr auf diese neuen Öffentlichkeitsräume und -themen verzichten konnte.
Aber es so zu sehen, wie ich es grade tat, heißt doch, schon vom Resultat auszugehen, und heißt zum anderen, Wirksamkeit von Kommunikation zu idealisieren. Zu Beginn des Wandels des gesellschaftspolitischen Stellenwerts atomarer Energieproduktion stand nämlich nicht eine diskursive Kommunikation etwa zwischen verschiedenen Straten politischer, sozialer und ökonomischer Interessen. Am Anfang stand genau das Gegenteil, oder, wenn Sie so wollen, das selbstreferentielle Negativ von Kommunikation, nämlich die systematische Unterlegenheit des Mediums Kommunikation gegenüber den komplex verschränkten Medien Macht und Geld. Nicht Kommunikation, sondern Konfrontation stand zu Beginn der Reformulierung des gesellschaftlichen Bedeutens der Kernenergie. Nicht diskursive, argumentationslogische oder gar universalpragmatische Normbestände initiierten, daß die politische und ökonomische Interpretation atomarer Energieproduktion allmählich konkurrenziert wurde durch moralische, sozialökologische und auch alternative ökonomische Interpretationen; nein: Initiierend waren schlichtweg Menschen, die bewußt alles daran setzten, eine gesellschaftliche Kommunikation darüber anzuleiern, daß die bestehende gesellschaftliche Kommunikation über Atomenergie zu unterbrechen bzw. abzubrechen sei, und durch eine neue, erst noch zu schaffende ersetzt werden müsse. Wie erinnerlich ist diese Forderung nicht in irgendwelchen diskursiven Schutzreservaten aufgestellt worden, sondern in polizeilichen, rechtlichen, staatlichen und militanten Arenen, in denen eine andere Sprache herrscht als die Sprache. Erst viel später errang man die Legitimation und auch Reputation, innerhalb energie- und staatspolitischer Diskursrituale als Gesprächspartner mitzureden...
MODERATOR:...Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?
RÜHM: Das war ich gerade im Begriff zu verdeutlichen. Kommunikation braucht Geschichte, braucht soziale und politische Räume, in denen die Themata späterer Kommunikationen erst einmal Wirklichkeit werden, und zwar im Sinne der Wirklichwerdung von Möglichkeiten, welche, um mögliche Wirklichkeiten werden zu können, bestehende Wirklichkeiten negieren müssen, sich also nicht mit einem Platz neben der bestehenden Wirklichkeit zufrieden geben dürfen, sondern die bestehenden Formen konsensueller oder akzeptierter Verständigung über Wirklichkeit zu unterbrechen haben, und dies nicht mit Kommunikation, sondern mit sozialer und organisatorischer Präsens, nicht mit politischer Symbolik, sondern mit realen juristischen und politischen Brechungen, mit Brechungen medialer und publizistischer Repräsentationskonventionen, mit Brechungen schließlich, die ein unverändertes Weiterverwalten der Gesellschaftsbereiche, in denen sich diese neuen Räume auftun, verunmöglichen.
Gesellschaftliche Kommunikation generiert ihre jeweils eigene Geschichte nicht durch und mittels Kommunikation, sondern durch und mittels gesellschaftspolitischer Gestaltwerdung der Unterbrechung von Kommunikation. Nur durch Einbruch in oder Abbruch von bestehenden Kommunikationen kann Kommunikation in Auszugsgestalten als in gänze absente Kommunikation kommunikabel werden. Nur eine verständigungsorientierte Kommunikation, die souverän genug ist, ihren eigenen Abbruch mit im Programm zu halten, kann ausreichend `Nährboden` bereitstellen, um das Verwachsen neuer Kommunikation mit kommunikationsexternen Systemen und Straten der Gesellschaft so weit zu treiben, daß diese Kommunikation zwar nicht transzendierende, aber doch transsystemische Funktionen erfüllen kann. Nur...
MODERATOR:...Also die Begriffe werden jetzt immer undurchsichtiger. Ich schlage vor, wir...
PERNE:...Lassen Sie mich kurz einen anschaulichen Appendix dranhängen. Stellen Sie sich vor, es hätte keine soziale Bewegung in Gestalt der Antiatomkraftbewegung gegeben. Keine Demonstrationen, keine Blockaden, keine Militanten, keine Verunsicherung der öffentlichen Meinung, der Parlamente und der Leitartikel. Stellen Sie sich einfach vor, es hätte dieses anfangs winzige Segment der Gesellschaft, in dem das Klären verschleierter Dissense seinen Anfang nahm, nicht gegeben, dieses Segment, dieses Segregat verschiedenster Gruppen und Einzelpersonen, die später etwas mild als Alternativen betitelt wurden. Versuchen Sie sich vorzustellen, daß die Entwicklungsarbeit, die diese Bewegung in Sachen Etablierung elementaren gesellschaftlichen Dissenses geleistet hat, von den Massenmedien geleistet worden wäre. Stellen Sie sich die 60er, 70er und 80er Jahre so vor wie heute, als Zeit der Abwesenheit gesellschaftlicher Unterströmungen, die sich in Bewegungen sozialer und politischer Gestalt transformieren könnten...
JOOST:...Herr Perne, den Begriff `Soziale Bewegung` nur für solche Gruppen und Themata zu reservieren, die man im klassischen Sinne links ortet, oder die wegen mir auch nur ein sozialökologisches Paradigma ihr eigen nennen, macht Sie mir zwar symphatisch [ironisch], verkennt aber schlicht die Realität. Das `sozialdemokratische Zeitalter`, oder doch eher die sozialdemokratische Episode des Kapitalismus liegt weit hinter uns, in allem - auch wenn einige meinen, etwas aus dieser Zeit hinüberretten zu müssen ins Jetzt und das dann als erfolgreiche Pädagogisierung der gesellschaftlichen Beziehungen ausgeben.
Es sind zur Zeit `soziale` Bewegungen auszumachen, Herr Perne, nur: Sie sind nicht auf unserer Seite - Sie gestatten doch, daß ich ein Wir unterstelle?
MODERATOR: Können Sie einige nennen?
JOOST: [atmet tief ein] Der konsumfreudige Citoyen, der politisch Verwahrloste - vom kleinbürgerlichen Alternativen angefangen über das traditionelle Volksparteimitglied bis hin zum primitiven Neofaschisten - , der esoterische Intellektuelle, der autistische Individualist, der Trivialökologe, der Televisionist, der im traditionellen Sinne Drogenabhängige, aber auch der Obdachlose, der Technokrat als biologisches Datenendgerät, der Arbeitslose, der Apokalyptiker, der...
PERNE:...Jetzt verwechseln Sie aber etwas, Herr Joost. Das sind doch...
JOOST:...Das sind in ihren jeweiligen Massen soziale Bewegungen37, Herr Perne. Sie alle kennzeichnen Bewegungen innerhalb der sozialen Welt, einer sozialen Welt, die zunehmend Reaktionsweisen auf ihr äußerliche Druckbedingungen entwickeln muß, anstatt erwidernd neue Aktions- und Lebensweisen zu bilden. Sehen Sie, der Begriff Bewegung ist ja prinzipiell atheoretisch, wenn er in nichtphysikalischen Zonen Anwendung findet. Warum sich irgendwer bewegt oder irgendwelche bewegen, was bewegt wird, wohin, wozu, und vorallem: Mit welchem Eigenanteil des Energieaufwandes zur Bewegung; all das bleibt doch offen. Die Bewegungen, die ich nannte, sind solche, die nur noch sich bewegen, sonst nichts mehr. Die Friedensbewegung bewegte sich zum Beispiel, um ein anderes friedenspolitisches Konzept als das damals vorherrschende zur Geltung zu bringen. Die eigene Bewegung war Mittel, was Symbol, streckenweise sogar reele Präsentation. Sie war eingebunden in einem zivilen "um - zu". Die neuen sozialen Bewegungen38, von denen ich eben sprach, kennen kein "um - zu" mehr. Sie sind nur noch in dem Sinne sozial, daß sie als reflexionsgehemmte und richtungslose `Sozialitäten` sich selbst auflösen. Sie leiten den sozialen Kehraus ein; die Veranstaltung namens soziale Gesellschaft ist an ihr Ende gekommen. Hier und da sitzen noch einige Gäste und unterhalten sich teils nüchtern, teils zynisch über die Ursachen und Bedingungen des jähen Endes der `Party`, andere schauen sich verstört um, sind empört und wütend über die enorme Menge an Dreck, Müll und Zerstörtem, denken angestrengt darüber nach, wie man beim nächsten Fest all dies vermeiden kann, ohne die Gemütlichkeit zu gefährden; wiederum andere der Übriggebliebenen scheinen das Ende überhaupt nicht mitbekommen zu haben und starren immer noch auf die Unterhaltungsbühne, auf daß sie bald mit moderatem Conférencier, lustigen Kulturversatzstücken und unaufdringlicher Musik gefüllt wird, während sich an den Rändern des nur kurzzeitig Saalatmosphäre erreicht habenden Schlachtfeldes die ersten ungeladenen Gäste einfinden und in den Resten nach Eßbarem suchen.
RÜHM: Darf ich ihr Bild dahingehend interpretieren, daß auch für Sie die soziale Frage in der Tradition marxistischer Gesellschaftstheorie nicht mehr reflexiv und praktisch angegangen werden kann, also allenfalls noch von historischem, von archäologischem Interesse ist und zuvörderst mit einer Soziologie der Unterlassung, der `Ausbleibung` methodisch analysiert werden sollte - etwa so, wie die kritische Theorie angesichts des Ausbleibens von Sozialismus ebendiesem zumindest geistig noch die Tür offen halten wollte, indem sie den Absentismus zu erklären suchte?
JOOST: Ich weiß nicht recht, ob eine Soziologie der Unterlassung hilfreich sein kann, um zu rekonstruieren, warum die Gesellschaften mit den fortgeschrittensten Produktivkräften ihre einmalige Chance verpasst haben, sich in ihrer elementaren Schnittmenge - der sozialen Welt, also der sozialökonomischen, die heute scheinbar nicht mehr die elementare ist - `aufklärerisch` zu organisieren. Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob der heute erreichte Zustand der Biosphäre, der Gesellschaften und der Menschen haargenau dem entspricht, was die Aufklärung im Programm hatte, oder nicht vielmehr daher rührt, daß nur eine halbierte Aufklärung, also ein Zuwenig an Vernunft um- und übersetzt wurde, wie es z.B. HABERMAS annimmt.
Ich neige mittlerweile, wenn auch noch wider Willen, dazu, verfasste Sozialstaatlichkeit, bürokratische Sozialtechnologie und rechtstaatliche Ordnung, wie sie bei uns bis hin zur Alltagstauglichkeit institutionalisiert sind, als die prinzipiell weitestgehenden Antworten auf die soziale Frage anzusehen. Wenn ich dabei die Systeme kapitalistischer Produktion und Zirkulation völlig außer Acht lasse, so gebe ich theoretisch nicht mehr auf als die kritische Theorie eines HABERMAS, der diese Systeme theoretisch ebenfalls unbehelligt läßt.
MODERATOR: [etwas genervt] Lassen Sie uns das Problem, ob die soziale Frage obsolet geworden ist, oder ob sie mit der ökologischen Frage einen letzten Umweg zu sich selbst oder zu ihrer Antwort gefunden hat, später noch einmal angehen.
Wir waren eben bei der Kommunikation. Wir stellten fest, daß eine vorhandene komplexe Informatisierung der Öffentlichkeiten einer Gesellschaft erst dann zu wirksamer gesellschaftlicher Kommunikation werden kann, wenn diese jeweilige Kommunikation einen Akt der Durchsetzung hinter sich bringt, sich also gegen andere Systemmedien wie Macht und Geld oder auch gegen interne Hemmungen, etwa gegen konservative Blöcke der Öffentlichkeitsproduktion, durchzusetzen. Wir stellten auch fest, daß wirklich gesellschaftliche Kommunikation in ihrer Re- und Präsentation immer auch ihr Vorhandensein in, ihre Auseinandersetzung mit und ihre Desintegrativität gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit mitzuteilen hat. Sie muß also neben der Mitteilung auch mitteilen, daß sie nicht nur den Sprung zur Mediatisierung geschafft hat, sondern dies nur schaffte, weil sie bereits `sozialisiert` ist - ich sage das jetzt ein wenig grob und zugespitzt.
JOOST: Um hier kurz eine Frage einzuwerfen: Sie sagen also, wir können wirkliche Kommunikation nur...
MODERATOR:...Wirklich gesellschaftliche Kommnikation; das ist ein großer Unterschied...
JOOST:...Also wir können diese Kommunikation nur herstellen und wirksam verhandeln lassen, wenn sie sich vorher sozial die Füsse wundgelaufen hat, oder? Damit implizieren sie unter anderem, daß sich tatsächliche Kommunikation niemals erfolgreich medialer Werbung und der Werbediskurse bedienen kann, seien sie nun politischer oder kommerzieller Machart.
MODERATOR: Das kann ich...
PERNE:...Positiv gewendet hieße das aber auch, daß die notwendige Reproduktion des Sozialen via Kommunikation nicht technokratisch, nicht verwaltungsmässig, nicht artifiziell hergestellt und manipuliert werden kann, nicht wahr? Diese wirklich gesellschaftliche Kommunikation ist also in ihrer Produktionsstruktur systeminkommensurabel, kann also allenfalls systemisch gefördert oder ausgetrocknet werden; bleibt also letztlich kontingent, wenngleich...
MODERATOR:...Das kann ich jetzt nicht sagen. Ich weiß es nicht. Vermutlich sehe ich die Sozialität technischer Kommunikationssysteme noch zu eindimensional, als daß ich ihr zutraute, soziale Bewegung mit anderen Mitteln fortzuführen39.
Meine Frage ist aber eine andere. Unterstellt, die elektronischen Netze der Massenkommunikation, der Datenfernübertragung, der Fernsteuerung großer Infrastruktursysteme usw. mauserten sich innerhalb des technischen Universums einer hyperindustrialisierten Gesellschaft zu einer solchen Dominanz, die in etwa vergleichbar wäre mit der Hegemonie, die das politische System innerhalb des sozialen Universums jahrhundertelang inne hatte: Wäre damit dann ein gesellschaftliches Tableau errichtet, das als eingeschlossenes Drittes oder als ausgeschlossenes Drittes zwischen uns als Menschen und einer auf Ökologie reduzierten Natur vermitteln, wenn nicht gar verbinden könnte? Können also die neuen, Sprechen ermöglichenden Infrastrukturen wirksam als - sagen wir - holographische Transformationsräume zwischen Systemen, Umwelten und Gesellschaften genutzt werden, als eine Art Grundausstattung deliberativer Organisationen von Kommunikation? Oder bleiben auch sie - wie so viele Subsysteme - `genetisch` restringiert, bloße Infrastrukturen, die nur dann funktionabel werden, wenn sie ordnungspolitisch, staatspolitisch, polizeilich oder auch marktwirtschaftlich programmiert werden?
[kurze Pause]
Äh, blieb ich unverständlich?
[ 9. Öffentlichkeit ]
RÜHM: Ihr Aufwand an Fragestellung in allen Ehren, auch wenn die Fragen eher einer Nebelkanone gleichen. Ich weiß jetzt nicht genau, was Sie fragten, aber lassen Sie mich folgendes sagen: Ich glaube, es ist an der Zeit, sich von dem zu trennen, was man in herkömmlichen Vorstellungen Öffentlichkeit nennt. Diese herkömmlichen Vorstellungen waren meist illusionär aufgeladen, und das zum Glück. Die griechische Agora war doch im Grunde mehr Markt als Versammlung derer, die das Volk zu repräsentieren oder zu führen glaubten. Und doch wurde dieses Gebilde namens Öffentlichkeit immer und immer wieder besetzt mit Hoffnungen und Funktionen - natürlich auch mit Gewalt: Hoffnungen, in dieser Öffentlichkeit einen gesellschaftlichen Zeitraum und eine gesellschaftliche Sprache gefunden zu haben, die sich zu einer Synthese einfinden und damit Aussprache, Verständnis und Interessen über Zugangsregeln ermöglichen, die als `Flaschenhälse` nur die Eigenschaften des Zuhörens, des Argumentierens und des Überzeugens voraussetzen, nicht aber die der Macht, der Überredung, der Gewalt und des Besitzes; und Funktionen etwa der Art, daß sich die versammelte Gesellschaft über sich selbst aufklärt, also Elend, Mißstände, Gewalt usw. kenntlich macht, ohne auf die Arena des Veröffentlichens verzichten zu können, um Elend und Mißstände zu beseitigen.
Die einzigen `selbstreferentiellen` Bewährungsproben hatte solch eine res publica nur in Zeiten despotischer oder totalitärer Verfasstheit des Staates zu bestehen. Im gleichen Maße nämlich, wie die Hoffnungen auf und die Funktionen der Öffentlichkeit in den geheimen, in den versteckten Unterströmungen einer unterdrückten Gesellschaft wuchsen, nahmen die zivilen Parameter von Öffentlichkeit ab, um von solchen kriegerischer und totalitärer Provenienz abgelöst zu werden. Die Jakobiner können hier stellvertretend genannt werden für soviele Rekonstrukteure ehemals unterdrückter Öffentlichkeit, die allesamt versuchten, Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu protegieren, zu subventionieren und zu selektieren. Es hat sich einfach herausgestellt, daß gesellschaftliche Öffentlichkeit ein zutiefst einzelgängerisches Gebilde ist. Man muß es in Ruhe lassen, politisch wie ökonomisch40 - ein unmögliches Unterfangen, sicherlich - ; aber auch vor denen schützen, die es schützen wollen, verteidigen wollen, die es wieder anschliessen wollen an die benachteiligten Massen und Minoritäten, die es zur Stimme der entrechteten Kreaturen oder zur Stimme der verwesenden Natur machen wollen... Das schlimmste, was einer nichtintakten Öffentlichkeit passieren kann - `wahre` Öffentlichkeiten sind immer nicht-intakt - , ist, daß sich bestimmte gesellschaftliche Kräfte anschicken, sie zu retten.
Öffentlichkeit besitzt die selbe Kompliziertheit wie Moral - wenn Sie mir diesen schiefen Vergleich gestatten - . Eine institutionalisierte Moral kann immer nur totalitär sein, weil durch die institutionalisierte Vorgabe der durchaus faktische Wille einer Gesellschaft zur moralischen Codierung sozialer Beziehungen seinen eigentlichen Antriebsmotor, die Unmoral, das widerständige Unmoralische, verliert. Die Entität der Moral zeigt sich nur dann in wahrnehmbarer Gestalt, wenn sie als unmoralische daherkommt, also denunziert werden muß. Öffentlichkeit zeigt sich nur dann als gefährdete, wenn sie nicht alleine stehen kann, wenn sie gestützt werden muß, seien die Absichten der Stützung auch noch so hehre. Eine untergehende Öffentlichkeit ist niemals zu retten, wenn alle anderen gesellschaftlichen Systeme und Räume nicht auch zu retten sind, d.h., sie ist zu retten, wenn alles andere auch auf dem Spiel steht. Steht nur sie auf dem Spiel, dann hat sie alleine damit fertig zu werden. Öffentlichkeit in einer Demokratie wollenden Gesellschaft ist zuvörderst Selbstversorgerin. Verfassungsrechtliche Fürsorge und moralisches Ethos sind die einzigen fremden Standbeine, die ihr zur Verfügung gestellt werden dürfen [Perne schüttelt den Kopf] - Herr Perne, ich weiß, daß ich jetzt bloß idealtypisch daherrede, ich weiß es -. Sobald sich ihr Spielbeine politischer oder korporatistischer oder wirtschaftlicher Mannschaften andienen, verliert sie alles, was sie ausmacht: Nämlich den Vertrauensbonus in den Köpfen der Menschen, der diese glauben macht, daß die Öffentlichkeit allein allen, niemals aber einzelnen gehört. Hat sie dieses Vertrauen verloren, dann ist sie nicht mehr als eine weitere Filiale bestimmter gesellschaftlicher Zentren, die sich über Macht, Märkte und partikulare Interessen verständigen und auseinandersetzen, also über Medien und Beziehungen, denen öffentliche Legitimationszwänge noch nicht implantiert wurden oder vielleicht auch nie mehr implantiert werden.
MODERATOR: Also Öffentlichkeit als Freiwild, ungeschützt und allen Instrumentalisten prinzipiell verfügbar, die es schaffen sollten, sie sich zu inkorporieren. Und die Gesellschaft darf dann zuschauen, wie ihre Öffentlichkeiten langsam den Berg runtergehen, darf nicht eingreifen, wenn ihr letzter, vielleicht schon etwas antiquarischer Raum, in den sie noch Zukunft in die Gegenwart einschleusen konnte, einfach verwurstet wird zu einer Zulieferin des status quo der Gegenwart? Nach dem Nachtwächterstaat also nun die Nachtwächtergesellschaft?
RÜHM: Bitte, ich halte kein Plädoyer für die Enthauptung gesellschaftlicher Freiräume und Kategorien. Ich versuche nur zu sehen was ist, also was verschwindet, um mir klar zu werden, was man Neues zu tun hat, um das, was man zum Beispiel mit dieser gesellschaftlichen Kategorie `Öffentlichkeit` zu erreichen suchte, mit anderen Formen und Mitteln fortzuführen. Es ist gegen Ende des 20.Jahrhunderts einfach Fakt - zumindest in den Gesellschaften, die in eine Phase eingetreten sind, in der ihre fast 200 jährige Geschichte des Produzierens und Vernichtens plötzlich ohne Ende mißgestaltete, verkrüppelte und unlösbare Antworten gebiert, Antworten, die vollständige Fragen stellen und also radikale Infragestellungen..ja, ähh..- also es ist einfach Fakt, daß jede Form von Öffentlichkeit, jede, nur noch eine Öffentlichkeit für Details ist, mit denen wir gesellschaftliche Lücken stabilisieren, mit viel Glück sogar ausfüllen. PIERRE REVERDY hat das einmal so auf den Punkt gebracht: `Alles ist gesagt - alles, was sich groß und einfach sagen ließ - in den Jahrtausenden, seit Menschen dichten und trachten. Alles ist gesagt, was tief war, gemessen an der Höhe des Gedankens, und also zugleich umfassend und weit. Heute kann man nur noch wiederholen..., es bleiben nur noch winzige unerforschte Details... . Dem gegenwärtigen Menschen bleibt die undankbarste und unerfreulichste Aufgabe, nämlich mit einem Wust von Details die Lücken auszufüllen.`
JOOST: [prompt] Und EMILE MICHEL CIORAN sagt folgendes: `Das alles gesagt sein soll, das es nichts mehr zu sagen geben soll - man weiß es und spürt es. Was man hingegen weniger spürt, ist, daß diese Einsicht der Sprache einen seltsamen, ja beunruhigenden Stellenwert gibt, der das wiedergutmacht. Die Worte sind endlich errettet, weil sie aufgehört haben zu leben.`
PERNE: Das kommt mir jetzt alles ein wenig selbstverliebt daher, was sie hier anzudeuten versuchen. Ich glaube nicht, daß diese Verdikte, die sich doch wohl vornehmlich auf wissenschaftliche, literarische und philosophische Diskurse beziehen, einfach so auf das zeitgemäße Feld der massenkommunikativen und `lebensweltlichen` Öffentlichkeitsproduktion übertragen werden dürfen. Der entscheidende Unterschied zwischen den ersten drei eher exklusiven diskursen Texten über Wirklichkeit und den unzähligen öffentlichen Kontexten der Wirklichkeit ist doch der, daß letztere niemals zuende gehen, niemals sich selbst erreichen, also immer und immer wieder darauf gestoßen werden, daß das Wirkliche weiter reicht als die Texte, die es zur Sprache bringen wollen; daß das Wirkliche niemals fertig ist, wegen mir könnte man auch sagen, daß es immer nur fraktal bleibt - um der zeitgenössischen Begriffsmode einmal meine Reverenz zu erweisen - . Wenn also das Wirkliche, das unzählig Wirkliche...
MODERATOR:...Was soll das sein? Konkretisieren Sie es doch mal!
PERNE: Nun ja, CORNELIUS CASTORIADIS bemerkte einmal, daß die gesellschaftliche Organisation von Gesellschaft die wichtigste aller Techniken sei. Es sei aber erstaunlich, daß bei allem, was die naturwissenschaftliche Revolution innerhalb von 200 Jahren an technischen Artefakten, Systemen und Wirklichkeiten geschaffen hat, es die soziale und die politische Revolution nicht zustande gebracht hat, die Gesellschaft als ein sich selbst bedienendes Artefakt technisch zu organisieren, und zwar so zu organisieren, daß es jederzeit möglich sein könnte, die Einrichtung der Gesellschaft in ihrer jeweils gegenwärtigen Form abzuschaffen wie auch die innere Organisation des Wissens und der ihr entsprechenden Sozial- und Produktionstechniken zu erschüttern41. Das wäre der Fall, wenn...
MODERATOR: [leicht herrischer Tonfall] ...Nein, so kommen wir nicht weiter. Wir waren bei der Öffentlichkeit. Herr Rühm machte den Vorschlag, sich von dieser bürgerlich entstandenen Kategorie zu verabschieden; sie sei nicht mehr entwicklungsfähig, ihre welthistorische Verortung ist abgeschlossen, auch wenn bei manchen noch der Glaube wirkt, der Strukturwandel der Öffentlichkeit sei noch im Gange; jegliche Einmischung in sie ist gefährlich, sei sie nun okkupatorischer oder befreiender, ästhetischer oder informationstechnologischer Art; Öffentlichkeit ist gesellschaftlich taub, sie besitzt keine Differenz mehr zwischen dem, was sie tatsächlich ermöglicht, und dem, was unter Zuhilfenahme externer Systeme durch sie möglich wäre42, also kurz: Ihr Potential ist kein `Mehr` an Öffentlichkeit, auch kein `Anderes` von Öffentlichkeit, sondern nur ihr Gebrauch - Gebrauch im Sinne einer Verdichtung des sozialen Raumes, eines sinnlichen Betastens des sozialen Raumes, eines nur im wirklichen Leben möglichen Umsetzens der Bilder der Veränderung des Bestehenden in den Köpfen der `Monaden` in Protest, der mit dem Heraustreten aus der Privatheit verbunden sein muß. Jede Gesellschaft hat die Öffentlichkeit, die sie verdient. Und eine Gesellschaft, die an die Stelle, wo Gesellschaftlichkeit Platz hatte, nun Information inkorporiert, brauche sich nicht zu wundern, wenn ihr in den Netzwelten nur noch der Status eines Partikels unter vielen Partikeln informationstechnologisch zugewiesen wird; Herr Rühm, das wollten Sie doch sagen, oder?!
RÜHM: Ich...
MODERATOR:...Herr Perne nun bestreitet, daß die Öffentlichkeit als gesellschaftliche Kategorie obsolet ist, bestreitet auch, daß Öffentlichkeit nur noch dazu dient, periphere, dekorative Details hervorzubringen, mit denen bloß Oberflächen modelliert werden, nicht aber `Gebilde` mit sozialer Tiefe und Wirklichkeitsdichte. Zur Untermauerung führten Sie eine neue Variante des alten Sein-Bewußtsein -Paares ein. So. Können Sie da nochmal ansetzen?
PERNE: Lassen Sie mich erstmal in Parenthese sagen, daß ich ihre Bemühungen zur Bündelung des Gesagten mehr ver- als erklärend halte. Bitte unterschätzen Sie nicht das Publikum. Überschätzen Sie auch nicht die Unverständlichkeit unserer Aussagen!
MODERATOR: [leicht düpiert] Oh, ich glaube nicht, daß Sie jemals Briefe oder Anrufe unserer Zuschauer zu Gesicht und Gehör bekommen haben; Sie würden sich sonst ihrer Naivität schämen.
Ich hoffe trotzdem, Sie respektieren auch im weiteren Verlauf meine Aufgabe, Gesagtes in Verstehbares zu wandeln, ohne unsäglich zu werden.
PERNE: Nun gut. Also, Herr Rühm behauptet, daß der Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie ihn HABERMAS vor gut dreizig Jahren beschrieben hat43, längst zuende sei, spätestens seit dem Zeitpunkt, an dem die Massenmedien, "wie alle Produkte der Kultur, die einen gewissen Entwicklungsgrad erreicht haben, dazu angeregt sind, ihre instrumentelle Bedeutung zu verlieren und ein Selbstzweck zu werden. In anderen Worten, sie verlieren den Sinn ihres Seins als Funktion der Gesellschaft und werden selbst zur Gesellschaft."44. Öffentlichkeit erschöpfe sich also in den medialen Apparaten, mittels derer wir nicht mehr zu den unzähligen Wirklichkeiten vorzudringen in der Lage sind, sondern diese Apparate sind, werden selber die Wirklichkeitsgrenze, die nicht mehr zu entgrenzen ist. Kommunikation dränge demzufolge nur noch bis zur Grenze ihrer eigenen Medien vor, aber nicht mehr mittels dieser bis zu Wirklichkeiten. Vielleicht, Herr Joost, meinte CIORAN das ausgedrückt zu haben, daß sich die Sprache und das Denken mittlerweile ein Universum an Ausgesprochenem und Ausgedachtem angelegt haben, das sich nun anschickt, die Wirklichkeiten des Lebens und der gesellschaftlichen Handlungs- und Funktionsbeziehungen zu konkurrenzieren, quasi als fünfte Dimension des Realen, auf die die vier bestehenden allzulange warten mussten und sich nun erst in ihr wirklich, also losgelöst vom Ballast materialer Realität, zu Gestalt bringen. LYOTARD spricht von Realitäten, die mit den Codier- und Decodiersystemen der fortgeschrittenen Telematik einer Gesellschaft auf eine neue Art und Weise ungreifbar werden oder schon sind45. Vielleicht ist das der beunruhigende Stellenwert, der das Nichtmehrsagenkönnen als Reflex auf und Reportage von Wirklichkeit auszugleichen fähig ist. Ich halte übrigens solches Denken von Wirklichkeit, das zu generell mit dem Etikett `postmodern` ausgezeichnet wird, für gefährlich.
MODERATOR: Ah, jetzt wird es interessant.
[ 10. Modernes und Postmodernes ]
PERNE: Ich halte alle absichtlichen Simplifizierungen des von der französischen Philosophie vorgetragen Einwurfs, daß die Projektion der Moderne längst eine Phantasmagorie, längst oder besser gesagt schon immer nur ein Projektil gewesen sei, nicht deswegen für gefährlich, weil sie eine völlständige Falschheit verbreiteten; im Gegenteil. Ich verstehe postmodernes Denken als letzte großformatige Provokation des Denkens mit eigenen Mittel, um sich selbst zu widerlegen, um Nihilismus zu überwinden, ohne den Nihilismus der Überwindungen verewigen zu müssen46. Und wenn man richtig hinschaut, wird man tatsächlich das Gefühl nicht los, daß hinter jedem zynisch-kynischem Verdikt, hinter jedem Apokalypsebild postmoderner Regie, hinter jedem Verschwinden, jeder Implosion, Entropie, hinter jeder Dekonstruktion klammheimlich der Satz steckt: `Um Himmels willen, bitte widerlegt mich! Bitte sagt, daß es nicht so ist, wie ich es sage! Los, strengt euch an, wir sind euere letzte Bewährungsprobe`.
JOOST: Aber das war bei ADORNO doch auch schon so...
PERNE: ...Daß dieses `Wir` ein tatsächliches ist, sieht man an der relativen Homogenität postmoderner Heterogenität; man sieht es nicht an der Pluralität der Postmoderne.
Daß dieses `Euer` tatsächlich nicht ist, schlicht und einfach nicht vorhanden ist: Das ist die ungeheurlich gewordene Behauptung, der zu erwidern ist und die es zu widerlegen gilt. Daß sich aufklärerische Vernunft, daß sich Präsuppositionen der Aussagesätze von Erzählungen unserer Moderne vollständig zu rechtfertigen haben, sich anderen Zwängen als nur denen des zwanglosen Arguments zu beugen haben, ist nur für diejenigen die Umkehrung oder auch Regression legitimatorischer Hegemonie der kommunikativen Vernunft, die gewöhnt sind, bloß `Nichtvernünftiges` unter Verdacht zu stellen, nicht aber das System, das dieses Verdächtigen institutionalisierte, und schon gar nicht die Prozeduren des Verdächtigungs- und Verurteilungsaktes. Nur für die, die in der Vernunft die endliche Verschränkung von Bezeichnetes und Bezeichnendes, Legitimiertes und Legitimierendes, von Objekt und Subjekt, also von Sein und Sollen zu verorten glaubten, nur für die47 überrascht das gegenwärtige Drama der Vernunft, ein Drama, in dem sich alle Figuren desselben an die Wand gestellt sehen, die Exekution erwartend. Alle stehen sie da, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Nichtzirkularität, die Universalpragmatik, die universalistische Moral, die Dialektik, die Utopie, das Argument, die Kritik, der Universalismus der Rationalität, die Erkenntnis, das Denken, die Revolution, die ethisch-politischen Wissenschaften, die nichttotalitäre Pluralität..., und starren gebannt auf das Schlachtfeld, das sie auf der Bühne haben anrichten lassen - ganz im Sinne der Dialektik einer Rationalisierung der Lebenswelt als Voraussetzung dafür, daß `Systeme` ebendiese technisieren, mediatisieren und schließlich kolonialisieren -, schauen hinunter aufs Publikum, um Klassen, Schichten, Gruppen, Genossen, Linke, Intellektuelle, soziale Bewegungen, Minoritäten, Ausgeschlossene oder zumindest Nachdenker, Diskurspartner, Gebildete, Mitredner, Zuhörer oder zumindest doch noch Zuschauer an- bzw. auszumachen; aber sie sehen nur Publikum, das teils unruhig, teils apathisch darauf wartet, endlich der Liquidierung, dem showdown der gesellschaftlichen Geschichte teilhaftig zu werden, der nichts anderes nach sich zöge als die Implosion der geschichtlichen Gesellschaft...tja. Und nur wenige stehen im Publikum auf und bemerken in rhetorisch längst überholten Paraphrasen, daß es doch seit gut 200 Jahren überhaupt keine Bühne mehr gibt, sondern nur noch Projektionen, Darstellungen auf Flächen, Oberflächen, und daß Bühnen - so man den Namen erhalten wolle - allenfalls noch in den Köpfen des Publikums, in seinen `Sinnenmaschinen` aufgehoben sind.
Das Material der Projektionen sei erschöpft, so hört man allerorts. Nicht, weil nichts mehr da ist, das projektiert werden könnte, sondern weil keine Visionen mehr greifbar sind, die Projektionen aus ihrer traditionellen Verortung in zweidimensionalen Oberflächen herausreissen können. Diese beinahe totale Kappung der Korrespondenz von Projektion und Projekt im Erzählmodus vernünftiger Moderne führt mittlerweile auf seiten der Projektion zu grotesken Szenen: Bilder fallen übereinander her oder sich in die Arme, Körper fangen an zu stammeln; das Versatzstück mutiert zum Beweisstück letztmöglicher Orginalität; das Kunstwerk ist die technische Reproduktion, ist seine Aufnahme ins Reproduktionsgefüge kulturindustrieller Fabriken; Genres und Gattungen, Codes und Regeln menschlicher Kultur- und Kunstausdrucksformen haben aufgehört, sich infragezustellen, aufgehört, sich in Fragen zu verwickeln, aufgehört, in Fragen zu sein, "um die Regeln dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird"48. Sie haben aufgehört, das Nichtdarstellbare darzustellen, aufgehört zu entwirklichen, zu ent-, re- und zu dimensionieren, sie produzieren keine Differenz mehr, keine Möglichkeiten, keine Inhumanitäten; sie tauchen Worte in Metaphernlaugen, Bilder in Systemtheoriesäure; sie brechen zu Expeditionen auf, um im Urwald Sprache rezente Anthropologismen zu erkunden, mit deren Hilfe dann sprachkritisch rekonstruiert werden soll, wie man überhaupt einen Pfad durchs Sprachdickicht habe schlagen können... .
Man vertauscht Roman und Comic, Architektur und Lebensstil, Wissenschaft und Mythologie, Logik und Kausalität, man vertauscht, ohne Austausch zu wollen, adaptiert, ohne anpassen zu müssen, erfindet, ohne etwas gefunden zu haben...kurz: Man hat das, was nicht ausgesprochen werden kann, was nicht projiziert werden kann, aus den Augen verloren, und damit gerade das, was unser Sprechen und Vorstellen ermöglicht: Denn das Unsagbare ist und bleibt nur nichtsagbar, solange sprachliche Versuche unternommen werden, es sagbar zu machen. Hört man auf, dies zu versuchen, versiegt Unsagbares in einem Wüstenmeer des Sagbaren, und das Sagbare in einem Universum des schon Gesagten; Gesagtes aber ist nicht mehr sagbar, es ist nur noch, und zwar beliebig re- oder dekonstruierbar.
Das Denken verliert eine seiner wichtigsten Quellen, es wird untätig und läßt zum Zeitvertreib seinen Verstand spielen, spielen mit all den sprachlichen und audiovisuellen Kreaturen und Texten, die dieser immer radikaler konserviert: Denn auf lange Sicht tut sich nirgends eine neue Quelle auf. Und so schlagen wir uns mit konservierten Projektionen herum, in der Kultur, der Literatur, im Film, der Malerei, den Geisteswissenschaften, sogar im Alltag und erst recht in der Politik; mixen Traditionen, Geschichte und Bedeutungen, naturalisieren attraktive Artefakte sozialtechnischen Seins zu Bausteinen einer neuen posthumanen Anthropologie, bei der noch unentschieden ist, ob die Anthropomorphisierung auf `Dinge`ausgeweitet werden soll oder nicht.
Wir nehmen jahrzehntelang Abschied von Geschichten, die noch ohne archäologische Methode auskommen, um erzählt werden zu können; wir erzählen Geschichten der Unerreichbarkeit, stories, die das Nichtzustandekommen von story als funktionierende story erzählen, schreiben Bücher, die davon handeln, daß sie nicht geschrieben wurden; wir unterrichten uns über Art, Umfang und Struktur des Unterrichtens vergangener Generationen mit funktionierender Geschichte, um nicht jetzt schon flächendeckend beginnen zu müssen, für die Zukunft eine Geschichte zu schreiben, die gar nichts mehr aus der historischen Zeit49 beinhaltet, sondern nur noch ihren eigenen Bemühungen historische Aufmerksamkeit widmet, die darin bestehen, nicht mehr Zeit, Handlung, Gesellschaften, Subjekte, Zwecke und Kommunikation als notwendige Ingredienzien zur Rekonstruktion von Geschichte zu analysieren, sondern die Abwesenheit und Transformation ebendieser Ingredienzien als eigenständige Ingredienzien historisch zu bedeuten.
Wir unterrichten uns also deswegen über überlieferte, dokumentarische, über historische Unterrichtungen - über die Semantiken unserer symbolischen Reproduktion -, wir zwingen unser Denken deswegen durch den schmalen Erkenntnistunnel archäologischer Herangehensweise, um in Zukunft noch eine materiale Ahnung von `etwas`zu haben, das wir50 nur noch durch unsere begrifflichen Komplettierungsfetzen uns vergegenwärtigen können. Sobald sich die Beziehung zwischen Ausgegrabenem und Ausgrabenden nicht mehr fassen läßt als eine Beziehung zwischen "der Struktur des Verstehens und der Struktur des Verstandenen, der komplexen Entität"51, sobald sich also die Begrifflichkeiten, die die Entitätswahrnehmung überhaupt erst ermöglichen, ihrerseits ausnehmen wie Verschüttetes, Vergrabenes, erst dann besteht wieder die Möglichkeit, in der Kategorie der Geschichtlichkeit das Fehlen, die Abwesenheit historisierender Ingredienzien als historisches Metaingredienz zu benutzen. Bis dahin aber sind wir gezwungen mitzuerleben, wie gravierend Erinnerungsverlust der Menschen für die Stabilität von Herrschaft ist, vorallem für die Herrschaft, Begriffe, also Erinnerungen, zu besetzen [im Hintergrund jetzt leichtes Raunen ob der Ausführungen Pernes, etwa in der Art von `es reicht langsam`. Perne wird sich dessen gewahr]. Ich sehe, ich muß beispielen. Also. Stellen Sie sich vor, Sie betätigen sich archäologisch an der Sprache. Sie wissen, daß Sie die Sprache niemals ganz und gar, als sozusagen komplexe Entität vor Augen bekommen, also auch niemals hinter sie treten können, vorausgesetzt, Sie wollen in ihr bleiben und nicht mit fliegenden Fahnen zu mythischen Medien wechseln. Sie wissen auch, daß sich Sprache mit dem Denken vermengt, daß sie etliche Organisations- und Realitätsebenen auf sich anwenden läßt, und diese Ebenen mittels Emergenz, implizitem Wissen und dem anthropologisch konstanten Gut der Intersubjektivität in Kontakt treten läßt mit dem, was wir Wirklichkeit nennen: Wirklichkeit der sozialen Welt, der subjektiven, der kommunikativen, der chemisch-physikalischen, der telischen usw. Diese einstmals evidente Konvergenz von Sprache, Denken und Wirklichkeit erfuhr mit dem Gesellschaftlichwerden von Wirklichkeit, also mit der Aufklärung, die letzte Hilfestellung, um sich einer Wirklichkeitsorganisation zu öffnen - die, wäre sie einmal transparent, sich auch schon selbst negierte - , nämlich der Geschichte. Sie ist gewissermaßen die Luxusausführung des sprachlichen Denkens, weil sie dem Denken eine Reflexionskompetenz abverlangt, die mindestens vier Entitäten gleichzeitig zu berücksichtigen hat, nämlich...
MODERATOR:...Ich glaube, das führt jetzt zu weit, wenn Sie hier die Universalpragmatik, die Argumentationstheorie, den linguistic turn, die analytische Sprachphilosophie und Handlungstheorie, die Sprachkritik, angefangen bei FREGE und WITTGENSTEIN über MEAD, SEARLE, PEIRCE, AUSTIN, HABERMAS usw. zu filtern versuchen, das ganze dann durch ein paralogisches Minenfeld à la LYOTARDS oder auch durch RORTYS Postmoderne treiben, um dann das, was als output noch übrig bleibt, als letztmöglicher Rest von Geschichte, sei es auch nur eine der Legitimationen, zu verkaufen. Ich schlage vor, wir ...
JOOST:...Ich wäre auch erfreut, wenn wir diese philosophische Tiefe zeitgenössischer Begründungs- und Geltungsreflexionen hinter uns lassen...
RÜHM:...Genau. Wie sagte doch MATHIAS DEUTSCHMANN: Halten wir uns an die Titanic; gewinnen wir an Tiefe [lacht]...
JOOST:...Wir würden doch nur steckenbleiben im Versuch, uns Klarheit darüber zu verschaffen, was wir hier jetzt eigentlich machen. Ich glaube, daß das schon zu Beginn der Talkshow ausreichend beantwortet wurde.
MODERATOR: Was meinen Sie jetzt speziell?
JOOST: Ich meine, daß wir uns schon Klarheit darüber verschafft haben, hier eher nach den Diskurskonzepten sophistischer Herkunft sprechend zu handeln, also im Wissen darum, nicht nichtzirkulär Geltungen zu begründen, denn in der Überzeugung, noch Anhalt zu finden im universalistischen Universum zwangloser Zwänge von Argumenten und wahren Präsuppositionen von...
RÜHM:...Aber Sie würden nicht mit RORTY sagen, daß dieses Universum nur eins sei, das sich vorwiegend im Rhein-Main - Gebiet erblicken läßt?
JOOST: Oh nein, im Gegenteil. Um ehrlich zu sein: Mich versetzt das, was sich Naturalisierung der Sprache nennt, wirklich in Angst. Wenn RORTY seinen sprachtheoretischen Relativismus so weit aus dem Fenster hängt, daß er Konsistenz und Wahrhaftigkeit von Aussagen mittlerweile mit geographischen, mit topographischen und kulturellen Kategorien in einen Ordnungszusammenhang zu bringen vermag, dann läutet das für mich eine Sichtweise auf gesellschaftliche Verantwortung und gesellschaftliche Vernunft ein, die nichts mehr zuläßt, das über den erkenntnis-, argumentations- und kritiktheoretischen Status eines Kommentars hinauszugehen trachtet52. Ich...
PERNE:...Sehen Sie, genau das ist es, was ich als gefährlich erachte. Ich meine nicht die Sichtweisen, die solch postmodernes Denken ermöglicht. Ich meine die Sichtweisen derjenigen, die auf diese postmodernen Sichtweisen reagieren. Bleiben wir einmal bei RORTY. Zu denken, daß ihm nicht mehr beizukommen sei, weil er sich als Ironiker ausweist, der milde lächelnd jedem ihm nachgewiesenen `performativen Widerspruch` damit begegnet, daß er ihn - den Widerspruch - genüßlich als aussagekräftiges Dokument dafür benutzt zu zeigen, wie ein postmetaphysisches Vokabular ins Stottern gerät, wenn man dem Vokabular vorwirft, daß es sich selbst beschreibt, nicht aber die wirkliche Welt...ja, also, zu denken, man müsse die Legitimierung allgemeinheitsorientierter wahrer Normen und Geltungen deswegen begraben, weil uns dazu nichts zur Verfügung steht außer Sprache, deren Grad an Wirklichkeit sich nur dadurch auszeichnet, indem mit ihr ontologisch, ontogenetisch, universalpragmatisch, diskursiv-intersubjektiv zu begründen versucht wird, daß ebendiese Wirklichkeit auch außersprachlich vorhanden ist...also die, die so denkend auf die Postmoderne reagieren, liefern doch die nichtgebrauchte Bestätigung für den totalitären Pluralismus der Legitimation. Wenn das alles nur Erzählungen sein sollen: Implizite Wissensvorräte, Homologien evolutionärer, kognitiver und kommunikativer Strukturen, Rekonstruierbarkeit interaktiver Intersubjektivität, ethische Imperativität, Faktizität sozialen Lernens, Erkenntnisfähigkeit kognitiver Werkzeuge, Gesellschaftlichkeit menschlichen Seins u.v.a.m.; wenn das alles nur Erzählungen sind, dann ist die Rede von Inkommensurabilität, von Agonismus als einzig mögliche Form von Diskurs ebenfalls nur Erzählung.
Solange die Behauptung, konsensuelle Übereinkunft habe nicht mehr Geltung zu beanspruchen als die narrative oder auch die machtvolle Akzeptanz, weil sich die Differenz zwischen beiden Formen - argumentativ hergestellter Konsens versus Durchsetzung von Akzeptanz mit sprachexternen Mitteln - nur im Willen, nicht aber im Tun dingfest machen lasse,...also solange diese Behauptung diskursstrategisch die Funktion hat, Sprache und Sprechen wieder zu einer ganz normalen Realität zu machen innerhalb unserer Welten, zu einem Vokabularreservoir, das so benutzt wird wie Archive, Cassetten, Bücher, Filme usw., solange bleibt zumindest die Bedeutung dessen, was man sprachliche Auseinandersetzung nennt, unangetastet. Denn der Wegfall tatsächlicher Kontradiktionen, wie ihn RORTY gleichzeitig forciert und beklatscht, ist jederzeit durch Ausfüllung von Diskursen mit Kontradiktionen ausgleichbar. Daß nun aber zur Zeit der Eindruck vorherrscht, es falle mehr weg als wieder aufgefüllt wird, ist nicht dem Auslaufen des Modells verständigungsorientierten und -orientierenden Handelns zuzuschreiben, sondern vielmehr der eigentümlichen Kaninchenstarre derjenigen, die immer noch auf die Vernünftigkeit des Beziehungsgeflechts von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit setzen. Wenn man genau hinschaut, ist diese Kaninchenstarre - wenn wir sie mal metaphorisch als die Reaktionsgestalt schlechthin ansehen, zu der die Projektarbeiter der Moderne noch fähig sind - sogar folgerichtig, wenn nicht gar wahrhaftig. Denn sie zeigt quasi als Negativ, daß die Vertreter einer auf Konsensus ausgerichteten, sprachvermittelten Lebenswelt, daß die Proklamateure eines zwang- und kampflosen Procederes der Überzeugung, Verständigung und schließlich Einigung tatsächlich auf nichts anderes rückgreifen können als auf diese ewig brüchigen kommunikativen Strukturen der Lebenswelt. In diesem Sinne sind sie - also wohl wir - fast schon authentisch, vorausgesetzt, man verstünde diese Authentizität als ein Sichantizipieren als dasjenige, was postmoderne Sichtweisen von unserer Geschichte für die Zukunft zurückbehalten - und das auch nur, um dieses Zurückbehaltene, also die Begrifflichkeit vernünftiger Moderne, als schrecklichen, aber belanglosen Treppenwitz der Göttin `Kontingenz` zu denunzieren...
MODERATOR:...Herr Perne, ist es nicht...
RÜHM:...Also: Entweder bin ich hoffnungslos begriffsstutzig, oder wir reden hier vollkommen daneben...
PERNE:...Wovon daneben?
RÜHM:...Sie selbst haben es doch schon erwähnt, als Sie Literatur und Philosophie gegenüber den unzähligen Wirklichkeiten - ich glaube, so nannten Sie es - auszuspielen versuchten. Sie zogen aus der Tatsache, daß die maßgebliche Technik vernünftiger Gesellschaften noch nicht einmal annährend beherrscht wird - die Technik der gesellschaftlichen Organisation -, den Hauptzeugen dafür hervor, daß von irgendartlichen Postismen überhaupt nicht die Rede sein kann, um unserer Zeit eine adäquate Beschreibung zu geben. Es verwundert mich jetzt doch ein wenig, daß Sie hier davon absehen und nur noch das philosophische Brachland beackern. Ich bin übrigens völlig anderer Ansicht als Sie, was den momentanen Spielstand auf dem philosophischen Spielplatz angeht; aber dazu später.
Sehen Sie, was nicht in meinen Kopf hineingehen will, ist folgendes: Wieso reagiert ein Denken, das sich durch seinen grünen Tisch namens Abstraktion, durch seinen Generator namens Wissenschaft, seine Energieversorgung namens Dialektik und seine Abrißbirne namens Reflexion definiert, plötzlich mit suizidalen Bestrebungen, bloß weil es an einen Denkkomplex angekommen ist, dessen Aussagen nur zum Inhalt haben, daß sich das Denken als rationaler Prozeß nicht mehr im Denken abzuspielen hat, sondern vor der Aufgabe steht, sich genügend rationale Souveränität anzueignen, um sich selber nicht mehr durch sich selbst zu vergewissern, sondern nur noch durch vollkommen entbundene Entwicklungs-, Verkehrs- und Verständigungsformen des gesellschaftlichen Gegeneinanders ebendieser Selbstvergewisserung habhaft werden kann? Oder anders formuliert: Warum kommt die Rationalität der Vernunft ins Stottern, wenn sich genau das einzulösen anschickt, was die Vernunft schon immer in ihren Prämissen voraussetzte, nämlich immanente Legitimation? Warum sollen alle ausdifferenzierten Systeme, alle sich abgrenzenden Medien gesellschaftlicher Verständigung und Funktionalität sich immer noch an den Koloss Vernunft anschliessen müssen, wenn sie in ihren Konstitutionsbedingungen plötzlich zur Disposition stehen? Muß jegliche Beziehungsarchitektur moderner Gesellschaften immer verbunden sein mit der Transzendenz kommunikativer Vernunft, bloß weil die Transzendenz dieser Vernunft das letzte ist, was der Kontingenz entgegengesetzt werden kann? - Mißverstehen Sie mich jetzt nicht; ich halte hier kein Plädoyer für Steuerungsmedien als der Weisheit letzter Schluß -. Besteht nicht die Souveränität moderner Beziehungen und Institutionen gerade darin, daß sie sich endlich auch aus sich heraus berechtigen, rechtfertigen und schließlich verrechtlichen können, und nicht mehr ihre Mitgliedschaft in einem auf rationale Satzung basierenden Club nachzuweisen haben, eines Clubs, der es qua Satzung jedem Mitglied erlaubt, sich selbst zu erzeugen und zu gestalten? Und, ein Letztes: Liegt die Irreversibilität der Moderne nicht gerade darin begründet, daß sie - die Moderne - sich souverän der historischen Kontingenz aussetzen kann? Hat Vernünftigkeit der Vernunft nicht mittlerweile soviele empirische Tatbestände mit Bedingungen ihres Funktionierens und Verständlichseins beliefert, daß sie sich - sie, die Vernunft, die als einfache Idee antrat - selber als empirischer Tatbestand `naturalisierte`? Wäre es jetzt nicht an der Zeit, eine Theorie der Repräsentation von Vernunft im empirisch-geschichtlichen Wissen zu entwickeln, wie es z.B. STEPHAN OTTO einfordert53? Kann das überhaupt noch der Fall sein: Rückfall in eine prärationale Moderne, in eine vormoderne Rationalität? Ist es wirklich unsäglich zu behaupten, daß Selektion nicht nur irreversibel wirkt im biologischen, im natürlichen Terrain, sondern - in reflexiver Wendung - auch im kulturellen, im kognitivistischen? Stimmt es wirklich, daß das kulturgeschichtlich und gesellschaftlich Ausselektierte jederzeit wiederkommen könnte, bloß weil der Mensch sich Geschichte aneignen und konstruieren kann? - Wenngleich es stimmt, daß der Mensch Geschichte nicht wollen oder nicht wollen kann - .
JOOST: Sie geraten in Gefahr, unterderhand in eine quasi pantheistische Vernunftsapologetik abzutriften, wenn Sie...
RÜHM:...Ich verteidige hier nichts, Herr Joost, zumindest nichts
von dem, was Sie mir jetzt sicherlich unterstellten. Ich lege nur Dringlichkeit
auf die Tatasache, daß z.B. auch in einer Zeit, die durch organisierte
Verantwortungslosigkeit, durch das Abhandenkommen von auf Subjekte stoßenden
Ableitungen gekennzeichnet ist, das Prinzip Verantwortung weiterhin unbesehen
verantwortet werden muß, und daß das Procedere der Verantwortlichmachung
innerhalb der Koordinaten einer faktischen, einer modernen Vernunftsrationalität
abzulaufen hat. Und das heißt z.B., daß ein politisch zu generierendes
Procedere niemals Totalitarismus als ordnungpolitisches Gesellschaftskonzept
herzustellen vermag54. Dabei ist...
[ 11. Theorie und Dialektik ]
JOOST:...Nun ja, das klingt nicht sehr überzeugt, wenngleich ich nichts Überzeugenderes anzubieten habe, die alte Aufklärung im Kantschen Sinne vorm Siechtum zu bewahren. Ich glaube auch nicht mehr daran, daß sich nach KANT, HEGEL, MARX, WEBER, HABERMAS und LUHMANN - um mal eine zwar willkürliche, aber doch aussagekräftige Linie konzeptioneller Formulatoren der sich mehr oder weniger selbstreflexiv einholenden modernen Rationalität zu nennen - noch eine weitere großangelegte Selbstvergewisserung und -beschreibung anfertigen läßt, die maßgebliche Aporien, Widersprüche und Grenzen theoretischer Rekonstruktion in sich aufnähme und doch über diese hinausweisen könnte; der dialektische Zauberstab ist meiner Meinung nach nur noch dokumentarisches Requisit theoretischer Inszenierungen, die längst nur noch museale Aufführungsstätten bekommen dürften, und nicht wissenschaftliche, schon gar nicht theoretische Öffentlichkeit...
MODERATOR:...Sie halten also den Begriff Dialektik als Instrument der Erklärung und Beschreibung von Entwicklungen für nicht mehr brauchbar? Oder meinen Sie, daß sich Entwicklungen nicht mehr dialektisch vollziehen?
JOOST: Sehen Sie, mit dieser Aufteilung der Frage fängt es doch schon an: Sie setzen, ohne daß Sie das wollen, einen Sachverhalt gleichzeitig auf zwei Gleise, lassen also den Sachverhalt als Frage verpackt durch zwei Welten transportieren - die Begriffs- und Wissenschaftswelt die eine, die materiale, reele Wirklichkeitswelt die andere. Und warten nun, in welcher Welt der Zielbahnhof liegt, in den der Sachverhalt einfährt und sich als ein dieser Welt zugehöriger Bestandteil ausweisen kann; entweder aufgefüllt mit unterschiedlichsten Reiseeindrücken der durchquerten Landschaften, redselig und befragbar; oder aber immer noch verpackt in der Frage, stumm und eindruckslos, ohne Antwort...
MODERATOR:...Ich verstehe nicht ganz, was mit meiner Frage wieder angefangen hat...
JOOST:...Also anders. Wenn ich mein persönliches Resümee aus der umfangreichen Begriffsgeschichte ziehe - der ich jetzt nicht meine Reverenz erweisen will - , dann bedeutet Dialektik nicht mehr als sich immer wieder einen Ausweg aus einmal als festgefahren festgestellten Faktizitäten zu suchen, und zwar durch den einfachen Umstand, daß neue Fakten herangezogen werden - ob den bereits festgestellten Fakten zugehörig oder einem völlig neuem Faktenpool entstammend, spielt keine Rolle - , und diese dann mit den bisherigen in eine rein semantische Beziehung gesetzt werden, bis diese Inbeziehungssetzung gar nicht mehr anders verstanden werden kann als eine solche, die die verschiedenen Faktenpoole nicht zu tragen vermag; bis sich also die Verbindung und Bezüglichkeit dieser Poole, die jetzt zu Polen werden, als noch nicht zuendegedacht, als noch entwicklungsfähig oder auch abbruchwürdig erweisen. Man ist dann an einem Punkt angelangt, zwei unterschiedliche, zumeist widersprüchliche Pole zusammendenken zu müssen, und dies einzig darum, weil ihre Interferenz nur dann eine widersprüchliche sein kann, wenn beide Pole `Mitglieder` einer unterliegenden, selbstidentitären Matrix sind55. Damit nun nicht im Umkehrschluß alles Nichtwidersprüchliche als nichtzusammengehörig gedacht wird, sondern als schon abgeschlossen und nicht mehr selbstständig entwicklungsfähig, muß die Widersprüchlichkeit einer Beziehung zwischen Polen als agens, als Ausweg aus Sackgassen festgefahrenen Denkens situiert werden. Dann nämlich gibt es keine Nichtwidersprüche mehr, sondern nur noch noch nicht widersprüchlich in Beziehung gesetzte Faktizitäten oder Tatsachen. Daß nun nicht alles Nochnichtwidersprüchliche in widersprüchliche Beziehungen hineingezerrt wird, ist nicht vordringlich der Logik geschuldet - mit all ihren Unterabteilungen wie Kausalität, logischer Sinn, Richtigkeit usw. - , sondern vielmehr dem Interesse, das hinter der Entscheidung für ein Ja oder Nein einer Beziehungskonstruktion steht56. Mit diesem Interesse, `etwas` als schon normativ faktisch zu sehen oder als noch faktisch emergent, wenn nicht gar faktisch emanzipativ, steht und fällt der Anspruch an eine Beziehung zwischen Aussagesätzen in der Sprachwelt und Sachverhalten in einer außersprachlichen Welt.
Die Konstrukteure dialektischer Beziehungen hatten - soweit ich sehe - immer ein Interesse daran, Nichtzusammengedachtes, Nichtzusammengehörendes, letztlich Antagonistisches in ein nichtantagonistisches, also dialektisches Verhältnis zu überführen, um - trotz Anerkennung des Faktischseins von Emanzipation und Emergenz blockierenden Selbstverständlichkeiten - überhaupt noch in und mit den Kategorien wie Fortgang, Fortschritt, Entwicklung, Zukunft und Geschichte zu denken, ohne sich dafür als Traumtänzer oder Ignoranten beschimpfen zu lassen, oder auch als verkappte Theologen - . Damit nun aber etwas als in Nichtbeziehung zu einem anderen Sachverhalt gedacht werden kann, um es mittels widersprüchlicher Inbeziehungssetzung zu einem tatsächlichen und nichtwidersprüchlichen Part einer selbstverständlichen Beziehung zu machen, muß es sich verändern. Etwas Selbstverständliches kann nach erfolgter Verwidersprüchlichung nur dann noch selbstverständlich sein, wenn es all das verliert, was die Beziehung zu einem neuen Pol nicht in Widersprüche verwickelt hat; es muß sich als widerspruchswürdig erweisen, wenn es sich nach dialektischer Entwicklung, d.h. also nach dem Umschlag von Quantitäten, Bestandteilen, Kontinuitäten und Dimensionsbedeutungen in "bessere", "höhere" Beziehungskompositionen, noch in ebendiesen wiederfinden will. Wiedergefunden werden nur die Bestandteile und dialektisch aufgemöbelten Elemente von Selbstverständlichkeiten, die maßgeblich das Beziehungsgerüst zum Einsturz brachten, auf dem sie als Mitglieder eines Pols mit Mitgliedern des anderen Pols sich und also die Beziehung zwischen ihnen widersprüchlich bilden konnten.
RÜHM: Tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht mehr. Warum können Sie...
JOOST:...Also, kurz und knapp: Dialektik als `wissenschaftliche` Methode der Konstruktion widersprüchlicher Beziehungen von durch Dezision zusammengebrachten Sachverhalten und Aussagesätzen...
PERNE: [im Hintergrund]...Wieso denn jetzt Dezisionismus?...
JOOST:...Galt als einziger Garant für den Fortgang qualitativer Entwicklung von sozialen Wirklichkeiten, wenngleich diese Wirklichkeiten bei historistischer, empiristischer oder auch kontextualitischer Sichtweise überhaupt nichts herzugeben vermochten, was nach nichtregressiver, nichtkontingenter Veränderung aussah, also nach Weiterentwicklung im Sinne von Höherentwicklung.
MODERATOR: Herr Joost, lassen Sie uns zum...
JOOST:...Lassen Sie mich doch zum Punkt kommen!
Die Annahme, daß die den sozialen Phänomenen und Wirklichkeiten `innewohnenden` Widersprüchlichkeiten nicht wiedersprüchlich wirken, solange man sie nicht in ein spannungsgeladenes Verhältnis zueinander setzt, diese Annahme also fußte noch maßgeblich in einem Denkmuster, das allen `Phänomenen`, allen durch Begriffe voneinander abgrenzbaren Faktizitäten sozialer Wirklichkeit eine gmeinsame `Totalität` unterstellte. Erst dieser Universalbackground - maßgeblich philosophischer Machart und von HEGEL, wenn ich es richtig sehe, am brillantesten ausstaffiert - gab der Operation namens Verwidersprüchlichung den entscheidenden pragmatischen und transzendentalen Sinn, nämlich zum einen den dialektischen Konstruktionen evolutionäre Produktivität zu unterstellen, zum anderen aber auch dialektischen Konstruktionen quasi intermediären Status zu verleihen, eine Art Schleusenfunktion oder Mittlerfunktion anheimzustellen, da der Zweck des dialektischen Unternehmens doch wieder in einem Konsensus sich zu kristallisieren hatte, der nun nicht mehr nur als Matrix, als Totalität, als Universalhintergrund oder als `invisible hand` fungieren sollte, sondern als sozial produzierter, widersprüchlich und konfliktuell erstellter, also kurz: Als sozial machbarer Konsensus. Diese Handlungsperspektive, diese handlungstheoretische Zielrichtung dialektischer Kompositionen wurde, wenn ich es auch hier richtig sehe, von MARX ans Tageslicht gesellschaftlicher Selbstbeschreibung gebracht. Er mußte diese `Zweckvorgabe` menschlichen Lebens ins Terrain des Mach- , also nicht nur in das des Denkbaren zerren, wollte er nicht mit seiner Komposition weiterhin im übermächtigen Schatten HEGELS verweilen und letztlich zwar Richtiges, aber dennoch Epigonales produzieren. Diese Motivation des Schriftstellers MARX, über HEGEL hinauszugehen, ihn also wesentlich aufzuheben, konnte er nur einlösen, indem er seine Vorstellung von dialektischer Methode in eine dialektische Beziehung zu der HEGELS brachte. Er mußte die Form der Inbeziehungssetzung gleichzeitig als Sachverhalt, als Inhalt der Inbeziehungssetzung denken, um sich dadurch von HEGEL abheben zu können57. Bekanntermaßen konstruierte er eine - ich glaube für dialektische Beziehungen typische - polarisierte Verhältnismässigkeit zwischen den Bedeutungen, die HEGEL der Dialektik gab, und seinen Bedeutungen, denen er bereits einen hauptsächlichen Anhalt im Materiellen verpaßte. War für HEGEL der Denkprozeß der Demiurg des Wirklichen, so bei MARX das ideele Denken bloß noch umgesetztes, übersetztes Materielles58.
PERNE: Aber das ist doch bekannt, Herr Joost. Was wollen Sie denn damit sagen?
JOOST: Dieses: MARX konnte nur über HEGELS Vokabular hinauskommen, weil er den Stellenwert des geschichtsphilosophischen Denkens als Denken der Geschichte herabsetzte auf den geschichtlichen Denkens, dabei gleichzeitg den Stellenwert des vom Denken Bedachten, das Materielle, also die Praxis, anhob, wiederum nur mit Mitteln und Werkzeugen ideelen Denkens, dabei aber, und das ist der Punkt, nicht in einen performativen Widerspruch zum Gesagten geriet, weil er seine Beschreibung, sein Vokabular durch Situierung bestimmter Handlungsträger im Reich des Materiellen und der Notwendigkeiten von der Beweislast enthob zu erklären, wie und warum denn die Gesetze sozialer Entwicklungsprozesse sich von denen biologischer, ahistorischer und kontingenter Ordnungen unterscheiden. Indem er also mit dem Hineinnehmen historischer Akteure in seine dialektische Inszenierung gesellschaftlichen Fortschritts seine Beschreibung selbst historisierte, gelang es ihm, widersprüchliche Beziehungen als auflösbare, als aufhebbare zu beschreiben, und zwar aufhebbar in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und nicht in der ideelen Realität der Sprache, die wohl noch bei HEGEL - trotz seiner Historisierungsanstrengungen - die Heimstätte des `absoluten Geistes` abzugeben hatte. Der entscheidende Punkt...
MODERATOR:...Auf einen Nenner gebracht: Die dialektische Methode der Beschreibung von Gesellschaft ist nur solange zulässig, wie sie eine handlungstheoretische Korrespondenz zum Beschriebenen, zum Materiellen der Wirklichkeiten in Anspruch nehmen kann; Widersprüche sind nur solange Gegenteile eines transzendenten Gefüges, wie die Negationen von Negationen noch tatsächliche gesellschaftliche Entsprechungen vorfinden !?
JOOST: [drucksend] Nun ja, äh,..ja und nein. Ich muß jetzt aber gestehen, daß mir der Verlauf der Diskussion ein wenig Unbehagen bereitet. So philosophisch und abstrakt, wie wir jetzt über die Moderne, die Vernunft, die Dialektik reden, sind diese schon lange nicht mehr begrifflich darzustellen. Ich stimme Herrn Rühm gerne zu, wenn er vielleicht etwas mißverständlich sagt, die Vernünftigkeit der Moderne habe sich schon längst empirisch naturalisieren können, womit Sie wohl - wenn ich das richtig verstehe - meinen, sie sei einfach unabdingbares Bestandteil sozialer Tatsachen im Sinne DURKHEIMS, unabdingbares Bestandteil des Usualismus im Sinne MARQUARDS, oder sie sei schlicht selbstreferentiell im Sinne LUHMANNS; sie könne sich also selbst verteidigen, selbst bemerkbar machen, sich selbst einklagen, generalisieren, kritisieren...
RÜHM: [bemüht ironischer Ton]...und sich selbst aufheben, Herr Joost, sich selbst aufheben und liquidieren, wie es etwa LYOTARD annimmt, und zwar dadurch, daß der zweckrationale Anteil vernünftiger Moderne nicht rechtzeitig zerstört worden ist59, oder nicht rechtzeitig oder ausreichend verwidersprüchlicht wurde, wie es der Untergang von Sozialismus wollenden Gesellschaften anzunehmen nahelegt60.
JOOST: Oh, das ist jetzt sehr interessant, was Sie sagen, was Sie da unterstellen. Sie tun fast so, als hätte es tatsächlich gesellschaftliche Kräfte - ich nenne das mal so - gegeben, die auf der einen Seite nicht von dem geformt worden sind, was MAX WEBER die gesellschaftliche Rationalisierung nannte, und die auf der anderen Seite nicht in eine Haltung geraten sind, die vielleicht als arational romantische oder auch als neometaphysische hätte etikettiert werden können. Solch eine gesellschaftlich wirksam gewordene Gruppe, Bewegung, Schicht oder Klasse - oder wie immer Sie es titulieren wollen - haben Sie eben mit ihrer Äußerung irgendwo historisch unterstellt; denn anders können Sie nicht selbstverständlich formulieren, die zweckrationalen Ausflüsse der Moderne, die Verdinglichungsformen der Moderne hätten doch noch rechtzeitig gestoppt werden können...
RÜHM:...Nicht gesellschaftlich wirksam, Herr Joost, sondern politisch; nur eine politische Kraft hätte es zustande bringen können, in nichtromantischer und nichttraditionaler, aber auch in nichtkonservativer Weise der (Sozial-)Desintegration des Rationalisierungsprozesses Hürden zu stellen; als gesellschaftliche Kraft wäre solch eine nichtrationalistische, aber gleichsam modernistische Kraft nie über die Lebenswelt im Sinne eines HUSSERL hinausgekommen...
JOOST: Ja, aber das scheint doch das genuine Problem zu sein: Die Konstruktion und Destruktion der Moderne im Modus der Rationalisierung brachte für die Gesellschaft die Zweckrationalität des kapitalistischen Unternehmers einerseits und den sozialtechnologischen Bürokratismus andrerseits. Die kulturelle Moderne hingegen - glaubt man den Ausführungen MEADS, DURKHEIMS oder auch HABERMAS` - hat sich nicht nur unter zweckrationaler Hegemonie differenziert und vergesellschaftet, sondern auch und vorallem in selbstständigen Strukturen kommunikativer Rationalisierung. Diese kommunikative Rationalität - man könnte sie auch etwas prosaischer als Einsicht bezeichen, daß auf lange Sicht eine Einigung divergierender, antagonistischer Interessen in diskursiven Arenen vernünftiger Polyloge menschlicher ist als bloßes Beharren darauf, daß konfliktuelles Kultivieren von Interessenkollisionen das Maximum sei, was zu erreichen ist - also, diese kommunikative Rationalität sieht doch, denkt man an die ungeheuerliche Expansion sozialinstrumenteller Artefakte und an deren starke Affinität zu technischen Artefakten, recht schwachbrüstig aus, wenn nicht gar bloß deklarativ61. Auch wenn es richtig ist, daß alle Algorithmen, Beziehungen und Systeme zweckrationaler Tätigkeiten, alle Steuerungen und Reproduktionen gesellschaftlicher Kontinuitäten eingebettet sein müssen in nur noch archäologisch zu eruierenden Matrixen kommunikativer Gattungen62 - die ja den Ressourcenhintergrund der Ressource Lebenswelt ausmachen - , so ist damit rein garnichts ausgesagt über die Innovations- oder gar Interventionskraft von rational kooperierenden und intersubjektiv Konsens erzielen wollenden Handelnden bezüglich instrumenteller, apparativer oder auch einfach antisolidarischer Beziehungsgrößen innerhalb der Gesellschaft.
MODERATOR: Gut; daß der Begriff des kommunikativen Handelns nicht mehr mit einer Totalität wuchern kann, wie sie etwa MARX in die dialektischen Modi der gesellschaftlichen Praxis des ökonomischen Tauschs hineinprojizierte, versteht sich von selbst. Und daß - will man weiterhin am Begriff Identität festhalten - die Gesamtgesellschaft sich allenfalls nur noch in äußerst prekär herzustellenden fragmentierten Öffentlichkeiten reflexiv in Anschlag bringen kann, aber nicht mehr in diesen sich zur Disposition zu stellen vermag, ist ebenfalls plausibel. Es ist ersichtlich, daß die Medien einer sprachlich sich repräsentierenden Kritik oder Negation bestimmten Medien wie Macht, Geld oder Unterhaltung immer unterlegen bleiben, solange sie ihre Wirk-, Geltungs- und Bedeutungsstätte, nämlich das herrschaftsfreie Diskursklimakterium, nicht auch in ein System transformieren, welches dann nur noch System-Umwelt -Beziehungen, also nur noch regionale Widerspruchs- oder Konsensusbeziehungen zu produzieren in der Lage wäre. Daß die Lebenswelt im Sinne HABERMAS` aber nicht in ein System übersetzt werden...
PERNE:...zersetzt...
MODERATOR:...übersetzt werden kann, hat HABERMAS - so jedenfalls für mein Verständnis - eindringlich in seiner Theorie dargelegt.
Herr Rühm, ich möchte nochmal auf Ihre Andeutung von vorhin zurückkommen. Sie sagten indirekt, daß das Destruktionspotential der modernen Rationalisierung erst durch die kapitalistisch organisierte Industrialisierung derartiges Durchdringungsvolumen erreichte, wie es sich heute für uns dartut. Und diese genuin Kooperation und Koproduktion ausschließende Rationalität, die sich nun anschickt, alleine die Gesellschaften und schließlich auch das Leben ihren Organisationsstrukturen gemäß zu formieren; also dieser Totalerfolg einer `instrumentell vereinseitigten` Moderne hätte nicht sein müssen, wenn.. ja wenn sozialistische Rationalitätsentwürfe mehr gesellschaftsverträglich und weniger technikunkritisch gewesen wären, als sie es waren, oder.. ja oder was? Hätten sich sozialistisch durchrationalisierte Gesellschaften und Industrien tatsächlich in beinahe allen Winkeln gesellschaftlicher Beziehungen und individuellen Lebens von denen kapitalistisch systematisierter Gesellschaften unterschieden? Oder doch nur in den Straten der materiellen Produktion, Zirkulation und Destruktion? Also: Wie hätte eine quasi institutionale Beziehung zwischen den gesellschaftsorganisatorisch geschiedenen Bestandteilen moderner Rationalität es geschafft, die Widerspruchs-, Ungerechtigkeits- und Asymmetrieproduktion der einen Seite extern mit der Konsenskultivierung und -vergesellschaftung der anderen Seite zu `verschmelzen`, um es mal mit einem gängigen Ausdruck zu bezeichnen?
RÜHM: Also erstens, in Parenthese gesprochen: Ich bin davon überzeugt, daß das, was in den zumeist philosophisch durchdrängten Sprachgemeinschaften westlicher Humanwissenschaften als Moderne und, darin enthalten, als Aufklärung benannt wird, durchaus nicht zuende, also am Anfang bewußtlosen Funktionierens ist. Ich teile zwar viel - um es zu relativieren - der abstrakten Analysen, wie sie etwa LUHMANN in seiner Version des Systemfunktionalismus darbietet. Nicht teilen kann ich allerdings die strukturell notwendige Absenz von Transzendenz in seiner Theorie sozialer Systeme; ebensowenig die noch etwas verdeckte Substitution der sozialen Tatsache `Widerspruch` durch den ohne Mühe biologistisch auslegbaren Terminus `Selektion`63. Andrerseits gehe ich nicht davon aus, daß HABERMAS` Kommunikationstheorie als letztmöglicher und kaum wiederzuerkennender Ausfluß linkshegelianischen Gesellschaftsveränderungswillens auch nur annährend imstande sein wird, die systemischen Kristallisationen einer postindustriellen, einer erneut zu modernisierenden modernen Gesellschaft emanzipatorisch oder gar emanzipativ zu verflüssigen. Beeindruckend ist zwar, wie HABERMAS die Alltagskommunikation und die vorreflexiv zu Sprachhandlungen mitlaufenden Lebenswelthintergründe als Totalität sowie Immanenz und Transzendenz kommunikativ (re-) konstruierbarer Geltungsansprüche mit Fortune ins recht leergefegte Stratum abstrakter Gesellschaftstheorie zu situieren vermag; und ebenso beeindruckt seine Hoffnung machende Einsicht, daß, egal wie hegemonial und subsumptionsproduktiv systemische Medien wie Geld und Macht oder auch Information auch sein mögen und sich intersubjektiv vermittelte und vermittelnde Sozialitäten der Gesellschaft aneignen und entkommunizieren, daß also trotz dessen die sprachlich aktualisierte und gleichsam innersprachlich immer virtuelle Intersubjektivität niemals individuell sein kann - im Wortsinne ebenso wie im philosophischen64...
MODERATOR: [brescht]...Aber...
RÜHM: [innehaltend]...Tja,..aber..aber...; daß der Markt für Gesellschaftstheorien zur Zeit oder vielleicht schon immer seit NIETZSCHE eher von den Modellen verstopft wird, die die Vernünftigkeit und Verständigung der Menschen und der gesellschaftlichen Aggregate exkommunizieren, also von Konzepten, die Menschen nicht mehr als Mitglieder von Gesellschaften, sondern als Mitglieder der Umwelt von Systemen degradieren, und weniger solche Modelle im Angebot hat, die immer noch davon ausgehen, daß Dialektik, `invisible revolution`, Lernfähigkeit sozialer Konfliktakteure, verständigungsorientierte und nicht systemisch okkupierbare Sprache usw. begriffliche Annahmen mit eindeutiger widersprüchlicher Korrespondenz zur materialen Wirklichkeit sind, Modelle also, die ein Mehr an geregelter, einheitlicher Freiheit, Autonomie, Legitimation, Öffentlichkeit und Gerechtigkeit einklagen und gleichsam auf die Kosten einer Lebensweltrationalisierung aufmerksam machen, ähh..also, daß der Markt der Diskurse nur wenig zur Verfügung stellt, das - sagen wir - in der Tradition des westlichen Marxismus steht, heißt für mich noch lange nicht, sich auf das wenig Vorhandene loyal einzulassen, bloß weil man schon froh sein kann, überhaupt etwas in den Händen zu halten, das dem Niveau gesellschaftstheoretischer Beschreibung etwa LUHMANNS entspricht und gleichsam Paroli bietet.
MODERATOR: [belustigt erscheinen wollend] Schreibend dürften Sie
sich solch eine lange Klammer nicht erlauben, Herr ...
[ 12. Das missing link der Geschichtsphilosophie ]
RÜHM:...Gut. Zweitens: Sie fragten vorhin nach der Struktur einer intergesellschaftlichen Beziehung, die es hätte ermöglichen können, daß sich die gesellschaftsorganisatorisch geschiedenen Bestandteile moderner Rationalität verwidersprüchlichten. Sehen Sie, genau diesen Abstraktionsgrad materialer Gestaltung oder Entfaltung meinte ich, als ich von der fehlenden Korrektur oder der fehlenden Verwidersprüchlichung oder der fehlenden Zerstörung der zweckrationalen Moderne durch sozialismuswollende Gesellschaften sprach. Wäre es denn nicht der Zenit des okzidentalen Rationalismus gewesen, wenn sich die Aufklärung mit dem Kapitalismus und dem Sozialismus zwei Wirlichkeitskonstruktionen zugelegt hätte, die in ihrer jeweiligen Materialität nicht mehr nur eine Gruppe, eine Region, eine Schicht, ein System, sondern die Gesamtgesellschaft mit der Konstruktion und Organisation von Wirklichkeit versorgten? Zwei Wirklichkeitskonstruktionen, die man im Vergleich miteinander nicht wieder darauf hätte reduzieren können, doch nur in unterschiedlichem Grade verfallene Ruinen der Moderne zu sein? Zwei Wirklichkeitskonstruktionen, die in der ökonomischen Sphäre mit der kapitalistischen Konkurrenz und mit dem etatistischen Planen zwei auf völlig verschiedenen Rationalitäten basierende Instrumente der materiellen Re- und Produktion ausgebildet hätten? Hätte es ein Prinzip, eine Idee, ein Paradigma, ein Vermittlungsmedium, ein Wissen je weiter bringen können, als sich historisch und gesellschaftlich bis hin zu Gesellschaften als ganze vorzuarbeiten, und dann noch diese `Objektivationen` in ein widersprüchliches, antithetisches Verhältnis zu versetzen, alternativ und zugleich alternierend? Wäre es nicht das gewesen: Widersprüche nicht innerhalb einer gemeinsam getragenen Matrix, Sprache oder eines gemeinsam getragenen Systems, sondern Widersprüche mit der gemeinsamen `Kommunikations- oder Rationalitätsbasis`; Widerspruch außerhalb einer nicht mehr nur kommunikativ eingefassten Konsensustheorie65, und nicht auf dieser fußend; Widerspruch schließlich, der nicht bloß sprachlich re- und konstruiert worden wäre, sondern der sich in Gestalt tatsächlicher sozialer Beziehungen von tatsächlichen Gesamtgesellschaften diametral verschiedener Vernunftsbasis hätte in Beziehung setzen müssen? Ist es wirklich so abwegig, den Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung moderner Rationalität darin sehen zu wollen, daß sich zwei Typen gesellschaftlicher Beziehungsgefüge auf komparativem Niveau der Komplexität, der Industrialisierung, der Ausdifferenzierung, des Achievement und der Ascription, der Gewaltenteilung und der gesellschaftlichen Dezentralität in der gleichen historischen Zeit hätten gegenüberstehen können, wobei dieses Gegenüberstehen, dieses konkurrenzierende Verhältnis nicht anders als mit kommunikativen, also mit gewaltlosen Mitteln verwidersprüchlicht worden wäre? Kapitalistische und sozialistische Gesellschaften als die komplexesten Entwicklungsstufen einer Rationalisierung menschlichen Seins, als die nicht mehr überbietbaren Antipoden von Verwidersprüchlichung, quasi als die letzten Schauspieler in dem Bühnenstück namens `dialektische Geschichtsphilosophie`, die es noch hätten schaffen können, das Ende der Vorstellung des Projektes Menschheit - wenn schon nicht unblutig zu bestehen - doch zumindest hinauszuzögern. Diese Vorstellung des Projektes Menschheit trug verschiedene Namen, etwa den der Natur, der Geschichte, der Sprache.., der letzte scheint wohl der der Ökologie zu sein..; diese Vorstellung wird immer weniger auf der Bühne ausgetragen, nicht mal hinter dieser: Sie wird sich nur noch imaginär vorgestellt, einfach darum, weil die Handlungssubjekte fehlen, auf die sich das Reflexivpronomen noch beziehen könnte. Trotzdem wird weiter aufgeführt: Widersprüche, Ungleichgewichte, `Dialektiken`, Selektionen, Negentropie usw. als Ornamente monolithischer, verhärteter Gesellschaftlichkeiten66.
MODERATOR: Herr Rühm, wie sieht diese widersprüchliche Beziehung aus, in der der Sozialismus den Siegeszug einer `halbierten Moderne`(J.HABERMAS) hätte stoppen oder vernichten können? Bitte!
PERNE: Wenn ich vielleicht etwas zufügen...
MODERATOR:...Nein! Herr Rühm, bitte!
RÜHM: [atmet tief ein] Mein Ausgangspunkt war LYOTARDS Annahme, daß das Projekt der Moderne - das von seiner Anlage her nie abzuschliessen ist - auch dadurch oder gerade dadurch zerstört sei, weil die kapitalistische Technowissenschaft sich als nunmehr alleinige Gestalterin moderner Rationalität systemintegrativen Niveaus anschickt, sie, die Moderne, zu verwirklichen, zu verdinglichen bzw. - verzeihen Sie den ungelenken Term - zu verumweltlichen; destroying by doing oder: Es funktioniert nicht, weil es funktioniert, wie MICHEL SERRES sagen würde. Die Moderne, abstrahiert und bereinigt von MAX WEBERS Verschränkung der Rationalisierung mit dem Okzident67; die Moderne also als quasi absolutes Beziehungsgefüge soziohistorischer Entwicklung, die ihr relativierendes raumzeitliches Bezugsgefüge abstreift; die Moderne also hat gerade in dem historischen Augenblick, in dem ihre Fortbewegungsmittel, nämlich Wissenschaft, gesellschaftliche Konfrontation und Dialektik, zur längsten, größten und schwierigsten Reise68 hätten aufbrechen können - die Reise in, zwischen und durch voneinander geschiedenen Gesellschaften - , ihre Alternativität, ihr bis dato unerreichtes Niveau der Verwidersprüchlichung verloren, verloren mit der Einsicht in die Unbrauchbarkeit sozialistischer Moderne. Tja, der linke Glaube, Politik - verstanden als die Arena der Kontrolle und Gestaltung von Gesellschaft - in den Dienst der fortschrittlichen Ideologie zu stellen und nicht in den der Ökonomie, war der letzte katastrophale Versuch, Gesellschaft jenseits existentieller Rigidität und rigider Freiheit zu probieren. Nun ja. Trotzdem kann man nicht oft genug wiederholen: Der industrielle Kapitalismus ist nicht - wie MARX annahm - die letzte Gesellschaftsformation einer introduktionistischen, uneigentlichen Geschichte von Gesellschaften, in der die letzten barbarischen, unmenschlichen und irrationalen Kämpfe, Konflikte und Widersprüche ausgetragen werden würden, um danach endlich ins eigentliche Reich wahrer Geschichtlichkeit, wahrer Gesellschaftlichkeit zu treten. Die Geschichtslogik der modernen Rationalisierung fand nicht im Kapitalismus den letzten, gleichsam aber interimen Austragungsort, in dem nun endlich das Ensemble der Bedingungen, Objektivationen, Antagonismen und Grenzen dessen, was der Mensch ist, vollzählig aufwartet und zugleich darauf wartet, in einem letzten Akt der Menschheitsgeschichte, im Akt der Revolution, die entscheidenste aller bisherigen Transformationen zu evozieren.
Sehen Sie: Kapitalakkumulation, Vergesellschaftung und Teilung der Arbeit, Vergesellschaftung der Zeit, Proletarisierung der Massen, Polarisierung von Klassen, Politisierung des Privaten, Ver(natur)wissenschaftlichung sozialer Beziehungen und natürlicher Materie, Artefaktisierung und Synthetisierung der Alltagswelt, Institutionalisierung von Pflichten, Repressionen, Rechten, Konflikten, Machtgruppen und Gewalt, Formalisierung von Bildung, Kritik und Öffentlichkeit, Organisation von Existenzrisiken und politischer Partizipation, Produktion von unendlicher Arbeitsproduktivität und unendlicher Kompensationskompetenz und vieles andere mehr: All diese `Emanationen`, die die allmähliche kapitalistische Vergesellschaftung traditionaler Gesellschaften mit sich brachte, sollten doch - nach MARX - erst dann wirkliche `Objektivationen` vernünftiger Strukturen sein können, wenn sie ihr gesamtgesellschaftliches Gefüge, ihre ökonomische Basis in eine nur noch zu revolutionierende Widerspruchsdichte versetzten und aufhöben. Auch für MARX - trotz etlicher Relativierungen, die er anbrachte - gab die Bühne der gesellschaftlichen Geschichte Raum für nur einen Akteur, für nur ein großformatiges Programm, nicht für zwei oder mehrere. Die Moderne durfte nur eine gesellschaftsorganisatorische Entsprechung haben; die manigfaltigen und niveauverschiedenen Beziehungen innerhalb des modernen Kapitalismus waren zwar ambivalente, dialektische, multicodierte und alternierende Beziehungen: Nicht aber die Beziehung zwischen Kapitalismus und Geschichte, zukünftiger, eigentlicher Geschichte. Hier war sie eindeutig, eindimensional, teleologisch, hatte nur eine Richtung, nur einen Pfeil im Sinne SERRES`. Die Pfeilspitze hieß, war eben Sozialismus; so wie für WEBER die Pfeilspitze ein totalitär wuchernder Bürokratismus, eine totalitär verwaltete...
PERNE:...Und für LYOTARD die irreversible Unterlegenheit des Subjekts gegenüber dem Objekt?
RÜHM: Das weiß ich nicht. Vielleicht eher für den FOUCAULT der 70er Jahre. Aber wie dem auch sei: Für mein Verständnis moderner Entwicklung von Modernität ist die zentrale Auseinandersetzung innerhalb der Moderne ausgeblieben: Die zwischen kapitalistisch und sozialistisch vergesellschafteten und verdinglichten Gesellschaften im Modus dialektischer Verwidersprüchlichung! So.
MODERATOR: Wieso meinen Sie, diese `Auseinandersetzung` sei ausgeblieben? Ist die sogenannte Weltpolitik nicht bis in die 90er Jahre hinein durch eben diese Auseinandersetzung bestimmt worden69, Herr Rühm? Man muß sich keine positivistische Sichtweise aneignen, um festzustellen, daß die geschichtliche Moderne durchaus so verschwenderisch war, zwei diametral gegenüberstehende Gesellschaften als Antipoden komplexester Bezüglichkeit zu `realisieren`. Nur war leider das, was Sie dialektische Verwidersprüchlichung nennen, nichts anderes als die Kultivierung des Variationsreichtums von Krieg; Krieg auf allen Ebenen, mit allen Mitteln, gegen alles und jeden, was irgendwie kapitalistisch oder sozialistisch codiert werden konnte. Mißverstehen Sie mich jetzt nicht: Ich führe die Kriege des imperialistischen 19-ten und die des inter- und nationalistischen 20-sten Jahrhunderts nicht ursächlich und nicht genuin auf diesen einen Code `Kapitalismus - Sozialismus` zurück. Sicherlich fußten die meisten `Gründe` dieser Kriege in Zusammenhängen, die besser mit nationalen, staatlichen, ethnologisch-religiösen oder politpsychologischen Kategorien aufschlüsselbar sind...
PERNE:...Das ist jetzt aber zu fahrlässig, wie Sie hier die Entwicklungszwänge kapitalistischer Entfaltung und des Imperialismus von allerlei Verantwortung für Krieg, auch für Ausschwitz, freisprechen...
JOOST:...Und den Sozialismus stalinistischer Bauart ebenfalls.
MODERATOR:...Nein nein, Sie mißverstehen mich. Ich spreche der politökonomischen Perspektive keineswegs ihren Erklärungsanspruch für die Kriege der letzten zwei Jahrhunderte ab; also bitte! Man braucht nur an den Krieg zwischen - de facto - den USA und dem IRAK erinnern, der Anfang 1991 begann, um sich diese Perspektive noch einmal zu vergegenwärtigen70. Nein, ich möchte nur darauf insistieren, daß auch nicht eindeutig ökonomistisch determinierte Irrationalitäten durchaus eigenständige Ressourcen bildeten, aus denen sich die manigfaltigen Kriegsentscheidungen mit Gründen und Legitimationen - wie illegitim sie auch immer waren - versorgten. Sie können AUSCHWITZ nicht eindeutig auf das Beziehungssyndrom `Kapitalismus - Sozialismus` bzw. auf die spezifischere Variation `Nationalsozialismus - Bolschewismus` rückführen. Und auch nicht den stalinistischen Tötungsterror, ohne jetzt..äh..beide..tja..äh..wie sage ich..ohne jetzt beide Formen der gesellschaftlichen Produktion von Menschenvernichtung gleichzusetzen...
JOOST:...Aber das ist doch...
MODERATOR:...Lassen Sie mich doch die Klippen umfahren, wenn ich sie schon nenne! Also: Die paradigmatische, die hegemoniale Durchsetzung der Ost-West -Beziehung als die Metabeziehung schlechthin war evident; vielleicht sogar evidenter, als wir es bis dato, da sie allmählich wegzuschmelzen beginnt, durchdachten und annahmen. Vielleicht erlaubt uns erst eine historische Distanz von der Nachkriegszeit die wirkliche, totale Macht dieser weltpolitischen Polarisierung auf faktisch alles, was in den letzten knapp 50 Jahren politisch, technisch, ökonomisch, psychisch, kulturell und mental erzeugt, unterlassen und destruiert wurde, annährend komplex in Anschlag bringen zu können.
Nein, meine Frage greift nochmal ihr Diktum auf, Herr Rühm. Sie sagten, daß die eigentliche Arena geschichtlicher Objektivation der modernen Rationalität nicht erreicht wurde, nämlich die Arena, in der sich die Dialektik des höchsten Niveaus historischer Subjekte, nämlich Gesamtgesellschaften, hätte bemächtigten können. Erst diese Dialektisierung der Gleichzeitigkeit und historischen Gesellschaftlichkeit von Kapitalismus und Sozialismus hätte - wenn ich Sie richtig verstehe - es ermöglicht, innerhalb modern fundierter Gesellschaften die richtige, die lebensweltaffirmative Komposition und Dossierung der dann nicht mehr antagonistisch auf sich selber wirkenden Bestandteile gesellschaftlicher Rationalisierung zu finden; also eine Art von Konvergenz widersprüchlicher Baupläne von Gesellschaft, die es ermöglicht hätte, daß Kritik nicht bloß rhetorisch integriert, sondern real vergesellschaftet worden wäre71. Das wäre es gewesen: Kritik, Aufhebungs-, Transzendenz-, Oppositions- und Negationsarbeit nicht mehr als Geschäft, das mühsam und meist recht erfolglos von außen über etwas hereinbrechen müßte, sondern im Gegenteil als Bestandteil der Kostituierung von Welt, Dingen, Beziehungen usw. wirkte, so wirkte, als wenn das Konstituierte gleichsam seine eigene Nichtkonstituierbarkeit mitausbildete. Eine solche `zweihafte` Einheit oder besser `einheitliche` Zweiheit entgrenzte wohl die Korrespondenzen zwischen Darstellung und Dargestelltem, um endlich auf der kognitiven Darstellungsseite an die Unschärfe und Prozessualität dessen angeschlossen zu sein, was wir Welt - deine, meine, unsere, die geschichtliche, die soziale, die andere, die sprachliche - nennen. Denn "die Zweikämpfe sind stets nur Theater: Schein, Darstellung, Dekor, Moral, Vergnügungen. Sobald wir zu zweit sind, sind wir auch schon zu dritt oder zu viert. Wir wissen es schon seit langem. Soll der Dialog gelingen, bedarf es eines ausgeschlossenen Dritten; auch unsere Logik verlangt ihn. Vielleicht erfordern beide auch einen ausgeschlossenen Vierten. Diese Lektion geht nie zuende (...) . Gott oder Teufel? Ausschluß, Einschluß? These oder Antithese? Die Antwort ist ein Spektrum, ein Band, ein Kontinuum. Wir werden niemals mehr mit Ja und Nein auf Fragen der Zugehörigkeit antworten. Drinnen oder draußen? Zwischen Ja und Nein, zwischen Null und Eins erscheinen unendlich viele Werte und damit unendlich viele Antworten. Die Mathematiker nennen diese neue Strenge unscharf: Unscharfe Untermengen, unscharfe Topologie. Den Mathematikern sei dank: Wir hatten dieses unscharf schon seit Jahrtausenden nötig"72. Tja. Erst der Widerspruch Kapitalismus - Sozialismus eröffnete im Austragungsmodus nichtkriegerischer Auseinandersetzung das Tor zum faktischen Universum der Rationalitäten, die sich historisch nicht mehr genötigt gesehen hätten, sich gegenseitig vernichtend überwinden zu müssen, sondern die gesellschaftliches und subjektives Terrain hätten besetzen können, um sich konfliktuell zu vermitteln, um sich nichtparasitär zu verbinden73. So.
Jetzt sprechen dieser Sichtweise zwei Grundsätzlichkeiten wider; die eine mehr philosophischen, die andere mehr `reelen` Designs. Erstens: Beiden gesellschaftlich verflüssigten Konstruktionen von moderner Rationalisierung ist gemein, daß sie Ausschließlichkeit predigen, weil die jeweilige Umsetzung in gesellschaftliche Materialität das ganze zur Verfügung stehende Material von Welt für sich beanspruchen. Beim Kapitalismus ist es der Zwang zur Universalität der Vermarktung, der Zwang der oder zur totalen Realsubsumption allen noch nicht monetarisierten und abstrahierten Materials und aller Sozialbeziehungen. Beim Sozialismus ist es der Zwang zur Komintern und zur Hegemoniewahrung politischer Gesellschaftskontrolle..äh..gewesen, gewesen muß man sagen. Beide Zwänge - an diametral verschiedenen Medien gesellschaftlicher Steuerung und Organisation gekoppelt - schlossen bzw. schliessen von ihren bestimmenden Konstruktionsbedingungen her genuin das aus, was Sie, Herr Rühm, dialektische Verwidersprüchlichung bezeichneten. MARX schloß zwar die Möglichkeit des Scheiterns von Sozialismus ein; nicht aber eine Gleichzeitigkeit des historisch überholten Kapitalismus und des überholenden, zukünftigen Sozialismus als real historischer Prozeß; `so oder so, die Erde wird rot` - dazwischen gab es nichts.
Nicht anders der Kapitalismus. Er schließt zwar bestimmte Bereiche und Sphären gesellschaftlichen Seins von Verdinglichungs- und Kapitalisierungsprozessen aus, er fußt sogar teilweise auf solchen und sieht sich genötigt, solche Bereiche - wie Kritik, Kultur, Kommunikation, konkrete Arbeit usw. - mitzuproduzieren74. Sein Verbrauch und seine Unbrauchbarmachung von funktionierenden Märkten ist jedoch so groß, daß er auf lange Sicht entweder ohne die `Marktmachung` des nordöstlichen Globus` seinen Substitutmarkt, nämlich die Militärmaschinerie, verliert75, oder durch grenzenlose Virtualisierung und Desinformationierung des Informationsmediums Geld den weltweiten Zirklulationsfluß der Kapitalmärkte zur Implosion bringt. So. Und der zweite Punkt, der gegen die These spricht, daß sich instrumentelle und kommunikative Rationalität zu organisationspolitisch geschiedenen Gesellschaftsformationen hätten vorarbeiten müssen, also sich selbsttransformativ zu diesen Formationen hätten steigern müssen, ist der, daß genau dies passiert ist. Ich sage es nochmal: Man muß kein blinder Positivist sein, um zu behaupten, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung der sozialistischen Seite von Rationalisierung, wie sie sich uns faktisch dargeboten hat, schon alles war, was man habe erwarten können. Es gab sie wirklich; sozialistische Gesellschaften, auch wenn der genuine Anteil sozialistischer Materialität tatsächlich nur in einem mehr repressiv funktionierenden `Wollen` gefangen blieb denn in realen Straten des Handelns und der sozialen Beziehungen Verkörperung fand. Alle Einwände übrigens, die auf Zeit spielen oder die Unschärfe der Ausgangsbedingungen dieses sozialistischen Experiments ins Spiel bringen, um die Vertröstung auf zukünftige Gestaltwerdung zu legitimieren, greifen nur noch ins Leere. Wer die Umstände in eine argumentative Sozialismusapologetik einbringt, daß etwa knapp 70 Jahre zu wenig sind, um geschichtliche Objektivation zu strukturieren; daß der Faschismus die Vernichtung von ideelen und materiellen Ressourcen sozialistischer Entwicklungsenergie einleitete; das die forciert betriebene Expansion kapitalistischen Welthandels von `Natur` aus einer ideologischen Internationalisierung überlegen sein mußte76...
RÜHM:...Vergessen Sie nicht den klassischen Einwand, daß im zaristischen Rußland nicht einmal annährend die Produktivkraftentfaltung, die Proletarisierung, geschweigedenn die Klassenbildung, also kurz: die kapitalistische Industrialisierung ein Entwicklungsniveau erreichte, das nach marxistischer Entfaltungslogik unabdingbare Voraussetzung sozialistischer Revolution war. ENGELS meinte sogar, die Bourgeoisie `funktional` auf gleicher Stufe mit dem Proletariat ansiedeln zu können, quasi als dessen Partner, der auch seine arbeitsteiligen Aufgaben der eigenen Abschaffung zu erfüllen habe, damit die Revolution nur siegreich sei.
MODERATOR: Ja..also, wer solche Einwürfe zur Revitalisierung sozialistischer Gesellschaftsentwürfe..äh..machen zu müssen glaubt, der begeht Leichenfledderei, der triftet, so meine Befürchtung, ab in eine Mischung aus Nekrophilie, Mystifikation und Dogmatismus...
RÜHM:...Ich müßte mich arg getäuscht haben, wenn Sie jetzt mich gemeint...
MODERATOR:...Oh nein, Herr Rühm! Ihre Feststellung...
PERNE:...Würde sehr gut in eine sozialphilosophische Theorie der Unterlassung passen, wenn es sie denn gäbe. Und ich glaube ernsthaft an einen Bedarf nach solcherart Theorie77, jetzt, wo sich im Beginn einer weltpolitischen Implosion internationaler Verhältnisse und im Beginn des Fassungverlierens der Weltinterpretationen eine neue `Unbekannte` formiert, die alle bisherigen Formeln konventioneller Beziehungsarchitekturen über den Haufen wirft...
MODERATOR:...Was oder wer ist jetzt eine Unbekannte?
PERNE: Der sowjetische Kommunismus78 als Mitträger der weltweiten Bipolarität. Sein Wegfall, seine Auflösung in wild umherirrende Bewegungen politischer, vorallem religiös - ethnischer Kräfte hat für die überkomplexen Formen von Beziehungen weltpolitischen Niveaus etwa die gleichen reorganisatorischen, materiellen und interpretatorischen Konsequenzen, wie der Verlust - na, sagen wir - des Arbeitsplatzes für die Lebensbiographie eines Individuums...
JOOST:...Oh, das schleift aber erschreckend...
PERNE: [sucht sichtbar ein anderes Beispiel]...Oder stellen Sie sich zum Vergleich einen Menschen vor, der erfährt, daß er bald sterben muß79: Natürlich kann es sein, daß er ohne bemerkenswerte Zäsur sein Leben so weiterführt wie bisher, trotz des Verlustes der lebensnotwendigen Fähigkeit, den Tod verdrängen oder ihm mangels Aktualität indifferent gegenüberstehen zu können. Aber angenommen, dieser Mensch veralltäglicht seinen permanenten Blick auf den Horizont der eigenen Lebensbiographie, er verdoppelt sich quasi als Nochlebender und Schontoter: Wird dieser Mensch nicht alles, was er tat, erst einmal durch einen Unterlassungsfilter pressen, wird er nicht alles Erreichte, Getane, Erlebte daran messen, was er nicht erreicht, nicht getan, nicht erlebt hat? [kleine Pause] Verliert man den Zeitraum - Zukunft genannt - , der zur Verfügung steht, um sich an eine amorphe Zeit anzukoppeln; verliert man den allerlei psychische und kognitive Komplexität reduzierenden Zwang, mit sich zu sein und sich also verantworten, gestalten, abgrenzen und erhalten zu müssen...
RÜHM:...Vor allen Dingen aushalten zu müssen...
PERNE:...Also: Verliert man die Möglichkeit, Erwünschtes und Nochnichtrealisiertes, Gewolltes und Nochnichtgemachtes, Vorgestelltes und Nochnichteingebildetes, Gesolltes und Seiendes entkoppelt zu belassen und lebend auszuhalten, weil einfach keine eigene Zeit zur Verfügung steht, beide `Pole` widersprüchlich zu verbinden80; bleiben also alle unerledigten Akte der eigenen Lebensbiographie in der Ablage `Zukunft` für immer unerledigt: Dann, glaube ich, löst sich im psychischen System eine Rückhaltsicherung und entläßt all die zurückgehaltenen, bis dato interim unterlassenen Bestandteile biographischen Seins als endgültige Bausteine, mit denen eine völlig neue Selbstbeschreibung rekonstruiert werden muß. Man...
MODERATOR: [leicht verzweifelt]...Herr Perne, Sie waren bis vor einer Minute noch bei der Weltpolitik, bei einer sozialphilosophischen Theorie der...
PERNE:...Jetzt legen Sie mal Ihre kleinliche Rolle eines Fürsprechers der Zuschauer beiseite und hören einfach zu...
MODERATOR: [bemüht sachlich]...Nicht in dieser, aber in der Rolle eines moderierenden Mitdiskutanten höre ich zu. Und es ist, gelinde gesagt, beinahe unerträglich, wie Sie unser aller Verständigungsbereitschaft für Ihr privatistisches Assoziieren ausnutzen...
PERNE: [ruhig]...Ich bitte Sie, haben Sie einfach mehr Geduld oder Mut, sich einzulassen...
JOOST: [zum Moderator]...Lassen Sie ihn doch! Schließlich ist er Philosoph und damit anderen Herren der Logik, Semantik und Wissenschaftlichkeit von Kommunikation verpflichtet, als Sie es etwa gegenüber Ihren televisionären Herren sind...
MODERATOR: [vorbreschend]...Aber wir sind im Fernsehen! Wir sind es schlicht und einfach. Man muß sich schon entscheiden, auch Sie, Herr Perne...
PERNE:...Darf ich fortführen?! - Im übrigen sind wir nicht im Fernsehen, sondern das Fernsehen ist zur Diskussion gekommen. Ich weiß auch nicht, was gegen Assoziation als Modus der Rede spricht, wenn doch gerade dieser Modus vom Fernsehen überall hin verbreitet wird. Wer das protokognitive Denken in Bildern und durch Bilder derart kultiviert, wie es das Fernsehen tut, sollte, so müsste man doch annehmen, das allmähliche Obsoletwerden anderer Sprachmodi und Sinnbedeutungsorganisationen doch eher beklatschen, anstatt, wie Sie es eben taten, weiterhin auf die Differenz und Konsistenz jeweiliger Genreregeln, Artikulationsweisen und Ausdrucksmodi zu insistieren. Aber es ist ja schon lange evident, daß Television letztlich nie über einen parasitären Status hinausgelangt; früher wurden Literatur und Politik, heute Musik, Sport und Unterhaltung, und nun die Rede, das Gespräch parasitär besetzt. Und ausgebeutet...
MODERATOR:...Jetzt konstruieren Sie bitte keine abgenutzte Opfer-Täter
-Asymmetrie. Das Fernsehen beutet überhaupt nichts aus, im Gegenteil:
es ist darauf angewiesen, daß sich andere Ausdrucksgattungen möglichst
unversehrt durch den Wirbelsturm kapitalistischer Modernisierung wühlen.
Alles andere hieße doch, das Fernsehen als eine Art Museum oder gar
als eine Art institutionalisierte Leichenfledderei anzusehen, in der...
[ 13. Unterlassung und Systemtheorie ]
PERNE: [Abwinktonfall]...Aber das sag` ich doch..nun ja, also lassen Sie mich fortfahren. Die durch den Wegfall des Sozialismus und des Kommunismus eingeleitete Veränderungslawine innerhalb der Weltpolitiksphäre, in der bis dato ultrastabile Hierarchien der Thematisierung, der Macht, der Interpretationen, der Handlungen und der Unterlassungen herrschten, kann nicht mehr allein mit einer das aktive Handeln präferierenden Handlungs- oder Entscheidungstheorie erfasst, orientiert und historisch fundiert werden. Was man zusätzlich braucht, eben weil die Reorganisation von `Weltpolitik` gleichzeitig unerreicht überkomplex und unwahrscheinlich inflexibel ist, ist eine sozialphilosophisch geleitete Theorie der Unterlassungshandlungen. Solcherart Theorie oder besser Perspektivenfilter hätte im Grunde immer aktiviert werden müssen, wenn sich die Historizität von Ereignissen großformatiger Systeme bis hinunter ins Alltagsleben vorgearbeitet hatte, bis in den anonymen Dunstkreis historisch irrelevanter Geschichten einzelner Massenmitglieder. Stellen Sie sich vor, in den historiographischen Archiven der Menschheit wären Beschreibungen etwa über die Umbruchszeiten `Feudalismus - Industrialismus`, `Theologismus - Kognitivismus`, `Despotismus - Demokratismus` und vorallem über `Kriegszeit - Nachkriegszeit` enthalten, die sich einzig mit den in diesen historischen Zeiten konstituierten Unterlassungshandlungen beschäftigt hätten81; Beschreibungen, die den sehr unwahrscheinlichen Anschluß einer paradigmatischen Praxis an ihre eigene Historizität, also an ihre orginäre Transformationszeit dafür genutzt hätten, das unendliche Universum all der Handlungen, Entwicklungen, Verwerfungen und Interpretationen zu sichten, das unter dem Druck des Entscheidenmüssens in realhistorisch disponiblen Zeiten schlichtweg ausgesondert wurde, also niemals ins Universum aktiven Handelns eingehen konnte. Tja. Natürlich ist es eine Frage des gesellschaftlich erreichten Reflexivitätsgrades, ob und wieweit die Fähigkeit zur Differenzierung besteht, zwischen logischen, kausalen Unterlassungen und unlogischen, nichtkausalen zu unterscheiden, ebenso zwischen normativ eingespannten Unterlassungen und schlichtem Nichthandeln, also zwischen realen Möglichkeiten, bewußt unrealisierten und irrealen Möglichkeiten. Es ist wohl eher so, daß erst die "reflexive Modernisierung" (U.BECK) von Gesellschaften Subjekte, Systeme und sogar Individuen mit der Eigenschaft ausstattet, Unterlassungshandlungen in die Umwelt und auch selbstbezüglich zu emittieren, da erst in diesem Zustand die sogenannte Interpenetration und die Austauschdichte so hoch sind, daß in restringierten Codes und mit elaborierten Medien das uncodiert Normative und die unvermittelt normatrive Matrix der Erwartungen und Erwartungserwartungen mitkommunikabel werden82.
MODERATOR: [etwas verächtlich] Und jetzt der Refrain: Was heißt das konkret?
PERNE: [tief Luft holend] Also, mir geht es darum, Kritik, wo immer sie aufzutreten versucht, worauf auch immer sie sich beziehen vermag, wie weit auch immer sie ihren `Gegenstand` zu durchleuchten weiß, nicht mehr nur als Nebenprodukt des zu kritisierenden Sachverhalts zu orten, also nicht mehr als die dem Kritisierten stringent `immanente` Artikulation zu verstehen, in der und mit der das Kritisierte Distanz zu sich gewinnt, notwendige Distanz, um fehlende Informationen und Entscheidungen einzuholen, sondern ich möchte der Kritik - neben dem `normalen` Stratum widerspruchsproduzierender sozialer Systeme - eine zweite `Heimstatt` eröffnen; eben das irdische Universum der Unterlassungen. Sehen Sie, wenn Sie so wollen, müssen wir die Idealität von Möglichkeiten wieder auf die Füsse stellen. Man kann durchaus das Unterfangen der funktionalistischen Systemtheorie, das Kausalitätsparadigma zu kippen und es als eine Variable innerhalb funktionaler Ordungen zu äquivalenzieren, in dieser Richtung angesiedelt wissen83. Funktionale Äquivalente zu eruieren erweitert tatsächlich den Blickfang für `andere` Möglichkeiten, ohne allerdings Ursächlichkeiten und logische Gründe anführen zu können, die ja durch die abstrakte Methode der Funktionsvarianz nie gesichtet werden können, da sie in den `konkreten` Vorgängen empirisch verankert sind.
Nein, was eine soziologische Theorie, eine sozialphilosophische Theorie der Unterlassung für den Wirklichkeitsbereich Weltpolitik - um den Bereich geht es ja noch - erfordert, geht weiter als der Funktionalismus. Der Funktionalismus warf der ontologisch konzipierten Theorie vor, sie "abstrahiere die konkrete Welt auf konstante Züge hin - und nicht auf Variationsregeln", sie nehme "in die Idee nur Konstanten, nicht auch Variablen auf"84. Damit weise sich solch eine konstantenorientierte Theorie als untauglich dafür aus, Prozessualität, Interdependenz, Komplexität und Kontingenz sozialer und systemischer Beziehungen angemessen zu beschreiben. Die Systemtheorie versteht sich demgegenüber als eine Analyseart, die irgendartliche Konstanten nur noch als Variationsbedingungen fungieren läßt. Sie kann so - innerhalb spezifizierter Analysefelder - das `Gegebene` um ein Erhebliches potenzieren, indem es an das Kontingent variabler Funktionen angeschlossen wird, und zwar in einer nichtbeliebigen Weise. Das Kontingent des `Gegebenen` wird nun eigentümlich armselig, wird zu einer kontingenten Repräsentation all der funktionalen Äquivalenzen, die als `gemeinte`, als `mögliche` mit dem `Gegebenen` direkt vergleichbar werden. Also kurz gesagt: Die funktionalistische Methode betrachtet einen Vorgang, eine Beziehung, ein Medium usw. innerhalb einer Wirklichkeit, ortet die notwendig zu berücksichtigenden Invarianten und die Grenzen der Reduktion ebendieser, abstrahiert das ganze zu einem kompakten Kontingent von in- und outputs, von Codes, Funktionen und Variablen, selegiert quasi von hinten bestimmte zeitliche Elemente als Differenzen des Unterscheidens von System und Umwelt, um schließlich die systemische Selbstreferenz anzuwerfen, um mittels dieser bestimmte Reproduktionen, Emissionen und Modifikationen aufs System, auf andere Teil- oder Subsysteme und auch auf die Umwelt anzuwenden. Sie läßt damit prinzipiell zu, daß auch Unterlassungen eine `Referenzrelevanz` bekommen können, wie sie noch mehrheitlich dem Aktivhandeln, dem Aktivereignis, dem Eingriff, also dem materiellen `put` zugesprochen wird. Was sie aber ausschließt ist, daß quasi noch in der systemirrelevanten Umwelt `eingepackte` Informationen, deren `Existenz` nur bei Kurzschluß von System und Umwelt ins Anschluß- und Differenzvokabular hervortritt, dadurch schon Systemhandeln evozieren, daß sie schlichtweg fehlen, oder aber daß ihr Fehlen vom System noch nicht als deren Existenzweise definiert wurde. Der vermehrte Übergang von `Attributen` geschehener85 Handlungen - also Bewirkungen, Auswirkungen, Verwirklichungen, Zerstörungen - auf ungeschehene Handlungen86 birgt Risiken und Entscheidungslagen, die von keiner auch noch so differenzierten und differenzierenden Selbstreferenz der Systeme unter Kontrolle und in Ordnung gebracht werden können. Systeme87, die der Autopoiesis mächtig sind, können zwar einen bestimmten Grad an Unabhängigkeit erreichen gegenüber dem Zwang zu immer höherer Komplexität der Eigenkomplexität88, sie können auch durch Autokatalyse die doppelte Kontingenz in Zufall systematisieren, der sich dann durchaus als Unterlassungsametapher begreifen läßt und im System gnadenlos Kausalprozesse auslösen kann89. Wozu Systeme aber nicht befähigt sind, im Grunde gerade alles daran setzen, es zu verhindern, das ist Autolyse, ist Implosion, entropische Auflösung90...
RÜHM:...Warum referieren Sie denn jetzt eigentlich LUHMANNS Variation der Systemtheorie und nicht die sozialphilosophische Theorie der Unterlassung, in der Sie mich doch so gut eingebettet gesehen haben?...
PERNE: [ignoriert einfach]...Ist also das systemisch generierte Auflösen von System-Umwelt -Beziehungen. Systeme produzieren auch deswegen, weil sie einfach da, vorhanden sind. Sie produzieren nicht nur, weil es die spezielle Beziehung zu einer speziellen Umwelt nötig macht, daß gehandelt wird, kommuniziert wird, reduziert, relationiert...
RÜHM:...Herr Perne, jetzt weichen Sie aus...
MODERATOR:...Ich schlage auch vor, von dieser doch schwer vermittelbaren Materie `Systemtheorie` Abschied zu nehmen...
PERNE:...Aber nein, warten Sie! Ich denke schon, daß wir uns auf sie einzulassen haben, auch und gerade im Dunstkreis chaotischer Veränderungen der politischen, der gesellschaftlichen Welten, im Dunstkreis von Unterlassungen, die vielleicht einen letzten Zeitgewinn vor der Ereigniswerdung des ganz normalen Wahnsinns herausschlagen können... Wir sind uns doch einig darüber, daß unsere gegenwärtige Zeit nicht mehr mit Begrifflichkeiten aus Werkzeugkisten des 19. Jahrhunderts aufgeschlossen werden kann, zumindest nicht mehr ausschließlich. Ich sage jetzt nicht, daß es `rechts`, `links`, `oben`, `unten`, `progressiv`, `konservativ`, `Kampf` oder `Krieg` nicht mehr gibt; im Gegenteil! Nur: Eine Codierung, die mit diesen Begrifflichkeiten eindeutig bleiben will, wirkt heutzutage eigentümlich armselig, da sie nur sehr beschränkt über Referenzen verfügt, die Aussagen über dieses Gestrüpp namens Gesellschaft erlauben. Nehmen Sie etwa die Referenz91 `Materielle Reproduktion der Gesellschaft`, also die Geldzirkulation warenproduzierender Arbeitsgesellschaftsformationen, und aus dieser Referenz die `Leitdifferenz`92 `Kapital und Arbeit`: Wer traut sich denn heute noch, die - lassen Sie mich pathetisch werden - Schlechtigkeit und Bösartigkeit der Welten wesentlich in dieser Widerspruchswurzel in Anschlag zu bringen, von ROBERT KURZ einmal abgesehen93? Viele verschlucken doch schon diese Kategorien, um ja noch im selben Atemzug die neueren Paare `Lebenswelt und System` bzw. `Intersubjektivität und geschlossenes System`94 aussprechen zu können94a.
MODERATOR: [mit aggressiver Freundlichkeit] Würden Sie jetzt noch so nett sein und begründen, warum Systemtheorie und Unterlassungstheorie zusammengehören, oder warum sie dies nicht sind oder.., bitte!
PERNE: [mißversteht diese Art als ernstgemeinte Freundlichkeit] Ja sehen Sie, mir geht es darum: Wie ist es heute möglich, Möglichkeiten jenseits ihrer audiovisuellen Imaginierung und ihrer kulturindustriellen Aushöhlung in die Realität des Tatsächlichen, in die des `Es ist so wie es ist` einzuschleusen, sie dort über den Umweg der Kritik, Negation oder einfach Umdeutung der Tatsachen die Realität angreifen zu lassen, ohne dafür von Programmen einer humanistisch-universalistischen Ethik, einer systemtheoretischen Insistierung auf Subjektlosigkeit, einer terroristischen Utopie, einer historischen Teleologie oder gar einer sprachphilosophischen Verständigungstheorie beliefert werden zu müssen? Wie schafft es ein noch auf `positive` Emanzipation abonniertes Denken, das nicht nur Brosamen der negativen Emanzipation kapitalistischer Vergesellschaftung herauspickt, sich von dem Zirkel unbeeindruckt zu denken, der darin besteht, die Gründe, die man z.B. für ein besseres, ein gutes Leben anführt, letztlich doch wieder nur in einer zirkulär strukturierten Realität verankern zu müssen, die man doch gerade durch dieses Denken von der Zirkularität befreit sehen möchte95? [kurze Pause] Es gibt jetzt einige Arenen, die sich ihre Institutionalisierung hart erkämpfen mussten und gerade wegen dieser eigenen Durchsetzungsgeschichte scheinbar in der Lage sind, diese ebengenannte Unbeeindrucktheit immer wieder zu disponieren; idealtypisch wären das also die (massen)mediale Öffentlichkeit, die Machtdezentralisierung und die parlamentarisierte politische Opposition. In einem kurzen Anflug von Naivität glaubte man auch die Kunst dazuschlagen zu können; was sich aber wirklich als Naivität herausstellte96.
JOOST: Sie sagen das jetzt schon im Horizont postsozialistischen Wissens, nicht wahr? Andernfalls...
PERNE:...Nein, viel weitergehend: Ich gehe schon von einer postsozialen `Ära` aus, allerdings nicht affirmativ, sondern...
JOOST:...Andernfalls könnten Sie diese genannten Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaftsentwicklung nicht mit einem unterschwelligen Optimismus für eine wie auch immer geartete sozialistische Perspektive in Anschlag bringen97.
PERNE: Oh, ich bitte Sie, derart radikal war ich meines Wissens noch nie, daß ich überall Nebel- und Repressionsmaschinen des Kapitals und vorallem des Staates98 eingeschaltet sah, sobald es etwa um Fernsehnöffentlichkeit, um Sozialpolitik, um Machtplurizentrierung oder auch nur um die Pluralisierung von Lebenswelten ging. Nein, für mich stellt sich die Dichotomie `Kapitalismus - Sozialismus` schon längst als museal dar, bezogen auf die dominierenden Weltwirtschaftsgesellschaften, natürlich nicht für die noch `historische Welt` im konservativ-ideologischen Sinne FRANCIS FUKUYAMAS99.
MODERATOR: Der extreme Gegenpart zu ihrer Aussage ist wohl JÜRGEN KUCZYNSKI. Warten Sie, ich glaube, er sagte ungefähr folgendes: "Ich vertrete...immer die Auffassung, daß es nur zwei Kapitel der Weltgeschichte gibt. Das erste sind Hunderttausende, ja wohl Millionen von Jahren dessen, was wir die Urgemeinschaft nennen. Ihr folgt ein winziges Zwischenkapitel von vielleicht zehntausend Jahren, in denen die Menschheit mit ihrer größten Leistung, nämlich mit der Herstellung des Mehrprodukts, nicht fertig wurde. [...] Und dann kommt das zweite Kapitel, nämlich die Geschichte der Menschheit unter dem Sozialismus und Kommunismus, in dem sie die unerhört große Leistung der Verteilung des ständig wachsenden Mehrprodukts...meistert"100.
PERNE: Nun ja, das ist Religion. Aber zurück zu den von mir genannten
Arenen. Herr Rühm, ich nannte diese Arenen nur, um anzudeuten, daß
diese mit der Produktion gesellschaftlicher Änderungsvolumen und -dringlichkeiten,
etwa im sogenannten Umweltschutz, im Datenschutz, in der Außenpolitik,
in der Technikpolitik usw., längst nicht mehr nachkommen. Und ich
meine damit nicht nur etwa die Grenzen parlamentarischer Kritik- und Konsenstechniken,
wie sie bei der Atomenergietechnik offenkundig wurden101. Oder die Grenzen
politischer Macht102 bei Investitionsentscheidungen wirtschaftlicher Systeme.
Ich meine vielmehr - und darum auch der Einschub der Systemtheorie - die
Grenzen, die einer hochdifferenzierten und pluralsystemischen Gesellschaft
gegeben sind, um eine spezialisierte Supervision für Umweltinterdependenzen
zu bilden und diese mit - wenn man so will - vertikaler Macht auszustatten.
Das muß jetzt nicht mal ein archimedischer Punkt sein, kein System,
das die Gesellschaft nochmal in der Gesellschaft abzubilden oder zu duplizieren
bzw. zu simulieren hätte; das geht nun wirklich nicht mehr in einer
Azentrismus und Beweglichkeit forcierenden Gesellschaft mit kapitalistischer
Dynamik. Ich denke, es stimmt, daß man keiner Superreferenz oder
Metareferenz mehr habhaft werden kann, die einem erlaubt, die Perspektive,
die
Richtung, die Identität einer Gesellschaft als Einheit einzuholen.
Nein, man muß die Grenze schon früher, d.h. weniger abstrakt
ansetzen, leider, und bleibt dennoch, so ist zu erwarten, in einer "traditionellen
Rationalitätssemantik"103 gefangen, die - wenn auch nur noch in Spurenelementen
- immer noch auf Transzendenz oder zumindest auf Transparenz durch Kritik
setzt. Sehen Sie, und hier setzt jetzt das ein, was ich einmal als aufgeklärtes
Unterlassungshandeln bezeichnet habe...
[ 14. Aussichten auf Zukunft ]
JOOST: [ein wenig entflammter Tonfall]...Sehen Sie denn überhaupt nichts gutes mehr, sagen wir etwa an ULRICH BECKS Versuchen, trotz subpolitischer Revolutionen und neuer Unantastbarkeiten, trotz Entwertung von Wissen und trotz Instrumentalisierung von Öffentlichkeit - oder vielleicht auch wegen all dieser Entwicklungen - neue Chancen der Institutionalisierung differentieller Politik auszumachen104? Gibt es für Sie keine...
PERNE:...Herr Joost, das Problem bei BECK ist, daß seine Analyse sehr feinsinnig, stimmig und gedankenvoll ist - ich habe schon lange nicht mehr mit solch genüßlichem Lesestoff zutun gehabt - , aber dies nur bleibt, wenn man seine Grundentscheidung teilt: Nämlich statt von Verschwinden einfach von Entgrenzung zu reden. Seine Hoffnung sind - im weitesten Sinne - die Interaktionssysteme, die sich nun anschicken sollen, das reflexiv fortzuführen, was ihre unter der Last der Selbstdialektisierung zusammengebrochenen Großsysteme als Modernisierung erster Stufe zustande brachten105. Daß dabei sein Begriff von Individualisierung schwammig, will sagen undifferenziert wird, ist nur folgerichtig106. Wer versucht,...
MODERATOR:...Also Sie kritisieren an BECK, daß er den für viele irreparablen Riß zwischen handlungs- und systemtheoretischer Referenz einfach leugnet bzw. in der Reflexivität einer zweiten Modernisierung gar aufgehoben sieht107?
PERNE: Letzteres trifft es wohl. Sehen Sie: LUHMANN schaut sich das soziale System in der Gestalt moderner Gesellschaft an, sieht immense, immer dringlicher werdende Probleme der Rationalität dieser Gesellschaft, bricht dann ab und sagt, fürs Überleben der Gesellschaft reicht Evolution; und außerdem sei ja noch die Selbstreferentialität der Systeme da, auf die man sich im großen und ganzen verlassen könne. RORTY hackt die Frage nach Rationalität im Kantschen Sinne gleich ab und wirft sie auf den Supermarkt der Vokabulare; das letzte, was bleibt und zu machen sei, ist, moderne Institutionen, die die aufgeklärte Rationalität den Gesellschaften vermachte, zu verteidigen und zu unterstützen. Er nennt das dann die Verminderung von Schmerz. So. Während bei diesen beiden Modernität und Rationalität gar nicht oder allenfalls affinitiv zusammen gedacht werden, versucht BECK - und, als philosophischer Ausstatter im Hintergrund, auch HABERMAS - , beide Säulen noch ein gemeinsames Gewicht tragen zu lassen, versucht er also noch eine integrale argumentative Architektur zu realisieren. Und das kann er nur mit der Grundannahme, daß bis jetzt nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an (dialektisierbarer) Rationalität vergesellschaftet wurde; daß also mit dem Ende der modernen Industriegesellschaft nicht auch das Ende der Gesellschaftsgeschichte eingeläutet wird108, sondern im Gegenteil jetzt erst die eigentliche rationale Modernisierung "im Selbstbezug"109 beginne, für die man neue, geeignete Begrifflichkeiten ausfindig machen müsse, da die alten, nur in der Kategorie des Politökonomischen oder in der des Anthropologisch-Sozialen beheimateten Begriffe gleichsam Produkte sind, die uno acto mitmodernisiert werden müssen; auch ihre Zeit ist vergangen. Also kurz: Für BECK ist die Industriegesellschaft bloß der Arbeitstitel, das `Pro forma -Gefüge` für das Projekt der Moderne; jetzt ist das Manuskript fertig, man beginnt mit der Edition, es muß sich bald bewähren in der Öffentlichkeit und in der Rezeption,...
RÜHM: [kopfschüttelnd]...Also den Vergleich verstehe ich nicht...
PERNE:...Und es stellt sich heraus, daß es nicht verstanden bzw. falsch ausgelegt wird. Sehen Sie, BECK läßt die Moderne nicht in den Vergegenständlichungen, nicht in den Institutionen und nicht in den typischen Beziehungen der Industriegesellschaft aufgehen, wie es etwa RICHARD MÜNCH mit seiner Konzeption der Industriegesellschaft als Kommunikationsgesellschaft macht110, sondern er konstruiert einen Hiatus zwischen dem - wie er sagt - universellen oder auch generellen Gehalt der Moderne und den ganz realen Verkrustungen, Halbierungen, Funktionen und Institutionen der industriellen Gesellschaft. Er tut so, als wisse die rationale Moderne, daß die industrielle Gesellschaft nicht das letzte Wort ist, nicht die letzte Realisierungsgestalt ist, in der sie sich als niemals mit der Realität abfindende Idee des guten Lebens für alle zum Ausdruck bringt. Also: Die Moderne ist und bleibt immer noch unschuldig, harrt immer noch ihrer Realisierung, und ihr `Sprachrohr`, die durch sie selber konstituierte Gegenmoderne in Gestalt sozialer Bewegungen, Resozialdarwinisierungs- und Reethnologisierungstendenzen sozialer Kategorien, in Gestalt...
JOOST:...Eigenartigerweise zählt BECK sogenannte pathologische Antimodernismen wie Apolitizismus111 und Nationalismus112 nicht zu der Gruppe von Indikatoren, die eine Weiterentwicklung der Industriegesellschaft anmahnen...
PERNE:...Also die Gegenmoderne als ihr Sprachrohr ist dann quasi Vorbote einer sich anschickenden anderen, besseren Moderne, zwar das einmal erreichte Niveau der Risikoproduktion nicht mehr abschütteln könnend, aber gleichsam mit mehr Chancen, die gegen die industriegesellschaftliche Halbierung eingeklagten Prinzipien der Moderne doch noch via Dialektik umzusetzen113. Während also - sagen wir für RORTY - die (Industrie-)Gesellschaft aus dem Rennen ist, sich selbst rational zu gestalten, und nur noch von ihren modernen Institutionen und ihrem modernen Denken zehrt, das keine anderen Träger mehr besitzt außer den sich selber entgrenzen und neubeschreiben wollenden Individuen, setzt BECK Gesellschaft immer noch so an, als sei sie noch unter dialektischen Strom, als sei sie noch angeschlossen an diese komische gedankliche Maschine Dialektik, die dadurch, daß sie läuft, sich selbst zum Stehen bringt, die dadurch, daß sie etwas aufbaut, die Voraussetzungen zum Abbau produziert, die dadurch, daß sie funktioniert, ihre eigenen Mittel zur Funktionsstörung oder gar Aufhebung mitliefert114.
MODERATOR: Und dieses Argumentationsgefüge BECKS heften Sie jetzt auch unter `traditionelle Rationalitätssemantik` ab oder nicht?
PERNE: Ja, auch BECK `gehört` zu dieser Semantik, wenngleich es unerheblich ist, wie er argumentiert; es geht um die Bewertung dessen, was er als Prospekt einer anderen Moderne anzubieten hat...
RÜHM: [witzig sein wollender Tonfall]...Also, Herr Perne, ich muß feststellen, daß Sie es unterlassen, Ihre Unterlassungstheorie hier ein wenig auszubreiten...
JOOST: [ergreift die scheinbar Entspannung versprechende Situation]...Vielleicht gehört das ja schon zur Theorie, daß sie unterlassen wird.[versucht zu lachen]...
RÜHM: [ernst werdend]...Aber nochmals zurück zu Ihrer Sicht Beckscher Argumentation. Ich hab den leisen Verdacht, daß Ihre Differenz zu BECK, Ihre Ablehnung nicht ganz astrein, will sagen: ideologisch diffus ist. Warum? Sie sagten vorhin, man hätte die Idealität, die gesellschaftliche Funktion von Möglichkeiten vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Und wenn ich recht sehe, dann sind für Sie Möglichkeiten nur Möglichkeiten, die sich - wie auch immer - emanzipatorisch aufladen lassen. Zu diesem Zweck führten Sie das Stichwort Unterlassungshandeln ein, mit dessen Hilfe nicht nur die handlungstheoretische Perspektive, sondern auch die Kritik an Gesellschaft strukturelle Erweiterung erfahren soll. Gleichzeitig sehen Sie aber in der reflexiven und interventionistischen Modernisierung von Gesellschaft eine notwendige Bedingung zur Etablierung kritikprovozierender Unterlassungen, wenn nicht gar zur Identifizierung existenter Unterlassungen. Ihr Eingeständnis, daß Unterlassungen also nur parasitäre Argumentationen zulassen...
PERNE:...Das stimmt nicht! Unterlassungen fangen doch überall an, ihr reaktives Moment zu verlieren...
RÜHM:...Daß Unterlassungen gerade davon leben, daß das zu Kritisierende weiterhin die Handlungen emittiert, die es zu unterlassen gilt, hindert Sie nicht, Unterlassungen von aktivem Handeln abzukoppeln, um sie irgendwie reflexiv zu institutionalisieren. Was dabei herauskommen soll ist soetwas wie eine Metainstanz zur Prüfung gesellschaftsrelevanter Emissionen, also vergleichbar mit subsystemischen Instanzen wie technology assessment, `tüv`, parlamentarische Enquete- Kommissionen und dergleichen115.
PERNE: Aber das ist doch Unsinn, was...
RÜHM:...Na, Moment mal...
PERNE:...Sie da sagen, was Sie mir unterstellen...
RÜHM:...Moment mal, es geht doch weiter. Während Sie also wieder auf eine institutionelle Variante von Kritik angewiesen sind, da Sie wissen, wie temporär und parasitär Unterlassungen gebildet werden, denunzieren Sie gleichzeitig die bereits etablierten Kritikinstitutionen als von den realen Problemdimensionen längst abgehängte Spielplätze, auf denen sich die jeweiligen Vertreter darum reißen, endlich mal wieder mit den realen Dimensionen von Problemen auf Tuchfühlung gehen zu können, endlich mal wieder was zu sagen zu haben; ob es sich um Journalisten dreht, die ihren investigativen Journalismus als Wahrheitswerkzeug verstehen; um parlamentarische Oppositionen, die die eigentliche Zukunft der Gesellschaft bei sich am besten aufgehoben wähnen; um Verfassungsrechtler, die sich als Gralshüter der wahren Demokratie mißdeuten; um moralische Empörungsunternehmen, die sich als wahre Sprecher der nur noch stammelnden und verstümmelten Natur inthronisieren; um Intellektuelle, die den Überblick und die Energie der Utopie bei sich gepachtet wissen: Es ist immer die nämliche Fluchbewegung nach vorne.
So. BECK sieht das in etwa auch so. Nur geht er weiter und sagt, daß sich die Kontakt- und also auch die Konfliktstellen in der Risikogesellschaft erheblich erweitert haben, ohne direkt als explizit oder auch offiziös politische Sphären und Arenen betrachtet zu werden. So wie die postmodernen Theoretiker, z.B. MICHEL MAFFESSOLI, noch die letzten Verästlungen des Alltags einer Ästhetisierung bzw. einer Ästhetisierbarkeit zuführen116, so erblickt BECK in fast allen bis dato nicht öffentlich, nicht politisch und nicht legitimistisch codierten Systemen der Gesellschaft eine generelle Politisier- und Kritisierbarkeit sowie die Bildbarkeit von Kontakt-Solidarität. Das sind dann z.B. quer verlaufende politische Allianzen, das sind locker verbundene Kontaktgruppen, die sich auf ein spezielles issue konzentrieren, das sind kritische Wissenschaftler, die eine Art Schatten-community bilden, das sind Initiativen, das sind auch Kameras, die in Betrieben, Labors und Verwaltungen Staub aufwirbeln, das sind Verbraucherverbände, die irgenwann den Produktionsstreik der Gewerkschaften um den Konsumtionsstreik erweitern werden, das sind auch die Gewerkschaften, immer noch, muß man sagen, trotz der vielen `Abers`: Sie alle sind Träger einer entgrenzten Politik, sind aus der Sicht einer verhärteten und irrationalen Vernunft des Marktes, des Staates und der Bürokratie gegenaufklärerische Bewegungen; sie alle helfen, folgt man BECK, der anderen Hälfte der Moderne in der modernen Gesellschaft Gehör, Gewicht und Einfluß, letztlich also Macht zu verschaffen, eine Art von Macht freilich, die das Kunststück fertig zu bringen hat, sich in ihrer Ausübung selbst überflüssig zu machen117. Also kurzum: BECK läßt das Riesenformat `Transformation des Kapitalismus` - egal, ob durch Revolution bewirkt, durch politische Plannung, durch Demokratie oder durch die Selbstaufhebungsproduktion des Kapitalismus - fallen und richtet den Blick auf das nicht minder große Format `Transformation im Kapitalismus`. Er tauscht also eine extern ansetzende und hochabstrakte Sichtweise der Veränderung kapitalistischer Gesellschaft gegen eine intern, an den selbstreferentiellen Erfordernissen der Systeme orientierte Beschreibung von Veränderung. Und damit ist er in der Lage, Pluralität und Pluralisierung in kapitalistischen Gesellschaften nicht nur als Wert an sich zu begreifen, sondern in der Pluralität den Garanten dafür zu sehen, daß die Modernisierung - wie riskant auch immer sie sein mag - weiterläuft, und zwar zur anderen Moderne hin.
Sie hingegen sind zwar d`accord mit BECKS Analyse, teilen aber nicht seine Bewertungen, weil für Sie - und das meinte ich eben mit `ideologisch motiviert` - Pluralität immer noch als Desintegration und Manipulation kapitalistischer Totalität zu entlarven ist. Es ist nicht schwer, hinter diesem `Je pluraler die Gesellschaft, desto totaler der Kapitalismus` ADORNO hervorschimmern zu sehen. Und unter diesem Einfluß scheint Ihr Denken wohl noch zu stehen, wenn ich es richtig sehe.
MODERATOR: Nun gut, lassen wir dieses Thema und kommen...
PERNE:...Gestatten Sie mir doch noch eine kleine Replik auf...
MODERATOR:...Gut, aber ich nehme Sie beim Wort!
[ 15. Das Aroma der kritischen Theorie ]
PERNE: In der Tat hat ADORNOS Denken118 einen recht fundamentalen Eindruck hinterlassen, trotz meiner Einsicht in die spezifische historische Eingebundenheit dieses Denkens119; und trotz meines Unbehagens, seine Flucht in die Ästhetik und in die Musik als Modell einer Reaktion, dem leeren Denken zu entkommen, anzuerkennen. Und, um mal ein wenig persönlich zu werden: Ich habe als Mensch, der mit Denken und Schreiben seine Brötchen verdient, immer aufdringlicher werdende Probleme, mich als Philosoph oder als Intellektueller oder als Soziologe in dieser Gesellschaft auf- und wiederzufinden - das `Sich selbst erfinden` und das `Sich selbst überschreiten` im Sinne NIETZSCHES ist nicht meine Sache -. Ich meine damit mehr als die üblichen Krisen, die man im Laufe seiner Lebens- und Jobbiographie auszuhalten oder auch zu unterhalten hat. Ich kenne nicht wenige sogenannte professionelle Denker, die sich an ihre Krisen klammern wie an Krankheiten, um noch eine Ahnung von Halt, von Selbstgefühl zu verspüren. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch...
MODERATOR:...Oh, Sie nehmen mir meine Frage vorweg...
JOOST:...Was meinen Sie jetzt genau mit diesen immer aufdringlicher werdenden Problemen?
PERNE: Ich meine ein...
MODERATOR:...Lassen Sie mich, bevor Sie antworten, kurz unseren Zuschauern erklären, warum es geht...
RÜHM:...Nicht nur den Zuschauern...
MODERATOR:...Also, es geht um die Frage..tja..darf ich sagen: Wozu noch über Gesellschaft nachdenken? Wozu noch Aufklärung, wenn sie durch ihr `Folgenloswerden scheinbar endlos zu verenden` scheint (P.FURTH)? Wozu noch mit mühsamer Reflexion Gesellschaftlichkeit hinter Verdinglichungen und Verdinglichungen in ideologisch und kapitalistisch konstruierten Vergesellschaftungen erspähen wollen, wenn das kritische Bewußtsein allenthalben in einem aufgeklärten falschen Bewußtsein zu sich zu kommen scheint? Wozu noch die Einheit dessen erfassen, was sich als Gespaltenes darstellt, Gespaltenes und Antagonistisches erfassen, das sich als funktionierende Einheit darstellt? Was nützt, um es mal zu konkretisieren, die Soziologie? Benötigt eine Gesellschaft wie die unsrige noch eine zumeist universitär institutionalisierte Wissenschaft sozialer Beziehungen, Handlungen und Funktionen, eine, die sich, um mit BECK zu sprechen, auf den Zusammenhang zu spezialisieren hat120? Oder trifft ADORNOS fatale Aussage zu - einmal angenommen, daß (sozial)wissenschaftliche Erkenntnis mittlerweile zu einem Segment der Kulturindustrie geworden ist - , also die Aussage: "Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sie sind es durch und durch"121? Herr Perne!
PERNE: [mit versuchter Heiterkeit] Ich dank` Ihnen für Ihr understatement, die Frage nach dem Nutzen nicht der Philosophie zu stellen...
RÜHM:...Wohl eher aus Pietät denn aus understatement, Herr Perne...
PERNE:...Zu der ich nicht mehr sagen könnte als HABERMAS122.
Die Frage nach dem Nutzen von Soziologie oder überhaupt nach dem Nutzen, über die Gesellschaft, die ja nie nur die Gesellschaft ist, im Gegensatz etwa zur Singularität `Zukunft`, zu denken, hat sich heutzutage von ihrer rhetorischen Kostümierung befreit und wird eine erstmals ernstgemeinte Frage. Wurde die Frage früher gestellt, war beinahe jede Antwort durchsetzt mit Spurenelementen MANNHEIMSCHER123 oder GRAMSCISCHER124 Ortung des Intellektuellen und galt damit als schon beantwortet - ich meine das jetzt völlig unabhängig davon, für welchen Wirkungszusammenhang sich der Intellektuelle entscheidet, um ebendiesen zu einem Sinnzusammenhang zu kreieren, also egal jetzt, wie die real politische oder kognitiv hegemoniale `Kraft` aussieht, für die sich der freischwebende oder organische Intellektuelle einsetzt, um sie zu romantisieren, zu politisieren, zu ideologisieren usw. Wer mit den Figuren, die MANNHEIM und GRAMSCI - um nur diese zwei zu nennen - für den Intellektuellen anfertigten, d`accord geht, wird immer sagen können, die Praxis der Gesellschaft braucht eine Theorie oder zumindest eine Beschreibung von gesellschaftlicher Praxis, braucht einfach eine umfassende `Strukturschau` auf das Ganze, die von den direkt Handelnden - und seien es auch die höchsten Repräsentanten dieses Ganzen125 - nicht erbracht werden könne.
MODERATOR: Halt. Wieso macht es Ihnen was aus - ich glaube das herausgehört zu haben - , sich nirgends mehr `dranhängen` zu können, als Intellektueller meine ich, weil kein Subjekt oder auch kein Träger mehr vorhanden zu sein scheint, dem Sie Ihre theoretische Arbeit nützlich andienen können sollten? Wenn Ihnen die `Kritische Theorie` immer noch nahe steht, dann dürfte für Sie doch die Unvereinbarkeit, das Unversöhnliche zwischen Interesse und Idee, zwischen Wissenschaft und realisierter Rationalität, zwischen Begriff und Gegenstand, also letztlich zwischen Theorie und Praxis kein Kopfzerbrechen bereiten. Ist die `Unbrauchbarkeit`, die `Nutzlosigkeit` intellektueller oder theoretischer Arbeit nicht gerade notwendig in einer Zeit, die eine zeitunempfindliche Irrationalität noch in den letzten Winkeln der Gesellschaft aufspreißen läßt126? Ich meine, wenn Sie weiterhin die `Totalität` von Gesellschaft im Auge behalten wollen, dann haben Sie auch Ihr Päckchen mit dem kritischen Geschichtspessimismus zu tragen, über den HORKHEIMER noch 1955 schrieb, er - also dieser philosophische Geschichtspessimismus - vertrage sich nicht besser mit der rationalen Argumentation für den status quo als mit der Propaganda für den Umsturz127. Wenn Sie schon BECKS theoretischen Optimismus nicht teilen wollen; wieso dann nicht dieses Gemisch aus theoretischem Pessimismus und praktischem Optimismus128, das der Kritischen Theorie diente?
PERNE: Tja, eine gute Frage, weil sie wiederum Fragen aufwirft, statt beantwortet werden zu können. Also, um erst einmal zu unterscheiden: Man kann heutzutage der kritischen Theorie nicht mehr eingedenk sein ohne das, was der französische Postmodernismus sagt und ohne das, was Ästhetik, was Kunst heute ausmacht. Die Einsicht der...
MODERATOR:...Können Sie das ein wenig ausführen?!
PERNE: [tief einatmend] Nun ja, also: Liest man, wie Adorno die Welten - und ihre Wirklichkeiten - liest, und meint gar, dieses quasi etramundane Vokabular zu verstehen, dann drängen sich Entscheidungen der Rezeption und der Interpretation auf, deren Charakter als Entscheidungen doch längst obsolet zu sein scheint. Etwa die Entscheidung, dieses Vokabular der Literatur oder der Wissenschaft zuzuschlagen; etwa die, diese Texte als Werke oder als Fragmente zu bedeuten - das Werk verstanden als Totenmaske der Konzeption (W. BENJAMIN), das Fragment verstanden als etwas, das, im Gegensatz zu Werken, die sterben, nie gelebt hat und also auch nicht sterben kann (E.M.CIORAN); oder die Entscheidung, diese Fragmente im Reich der Theorie oder im Reich der Ästhetik zu orten129; und die Entscheidung, diese Texte noch als aktuelle, weil kritische, oder schon als obsolete, weil affirmativ gewordene Ansichten über Welt und Gesellschaft zu interpretieren u.s.w. Es reicht für den Zeitgeist, der mittlerweile mit der Aufklärung besser zu lügen versteht als mit der Lüge, diese Entscheidungen bloß zu nennen; ausführen muß man sie nicht mehr.
Wenn zur Unterscheidung Moderne - Postmoderne das Bild trefflich ist, daß angesichts gewaltig hereinbrechender Fluten Modernisten zum Bau von Dämmen aufforderten, Postmodernisten hingegen dazu, schwimmen zu lernen: Unter welchen Rufern wäre Adorno?
"Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten (...) Perspektiven müssen hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an"130.
Eine Lesart dieser Empfehlung, die keine ist, wäre zu versuchen, das, was gezeigt werden kann, was sich also zeigen läßt, zu sagen131, wäre also der Versuch, im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anzuspielen, jedoch nicht, um sich an dieser Darstellung zu ergötzen, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt132. Die Betonung LYOTARDS auf das Inkommensurable, auf das Unversöhnliche postmoderner Ästhetik und Kunst im allgemeinen findet sich ganz selbstverständlich bei ADORNO wieder: "Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie"133.
Kunst also als `Institution` des Standhaltens, die durch Negation und durch `Entronnensein` dem Verblendungszusammenhang des gesellschaftlichen Bannes - das falsche Leben - Widerständiges entgegenzusetzen hat; Kunst also nicht als eine Konzeption im Horizont von Versöhnung, welche die Konzeption unfruchtbar, unbrauchbar macht134. Die Kunst des Erhabenen - ein Begriff, den Adorno zu modifizieren suchte - verwandele sich "in das, was sie an sich ist, den geschichtlichen Sprecher unterdrückter Natur, kritisch am Ende gegen das Ich-Prinzip, den inwendigen Agenten von Unterdrückung"135. "Solche Kunst bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen"136. Es fällt auf, daß zwischen ADORNOS Sicht auf Kunst und Ästhetik und der LYOTARDS137 bei allen grundlegenden Differenzen Übereinstimmung herrscht. Verwunderlich wäre dies nur für diejenigen, die die Postmoderne nicht aus der `Philosophie` der modernen Kunst entstanden wähnen, sondern als medial und finanziell erfolgreicher gag einiger Schwadroneure ansehen. War die moderne Kunst die experimentelle Erwiderung der Erfahrung einer zerplatzenden Wirklichkeit, die die Sicht frei legte für die Erkenntnis, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist138 - auch die Wirklichkeit der politischen Emanzipation138a -, so baut die postmoderne Kunst in einer fast schon lakonischen Art darauf auf, ohne diese Erfahrung nochmals zu `verkünstlichen`. U.a. ist auch dies ein Grund für den zumeist ironischen, kynischen Zug postmoderner Texte im Gegensatz zu den Texten modernen Denknetzes, die noch klar zwischen Wahrheit, Mythos und tieferer Bedeutungslosigkeit meinen unterscheiden zu können (wie es auch ADORNO noch praktizierte). Während postmoderne Kunst Wirklichkeit als Referenz rundum ablehnt - freilich ohne Gesten der Ablehnung, eher mit solchen eines indifferenten Nihilismus - , scheint diese für Adorno wohl noch konstitutiv gewesen zu sein, wenn auch nur um zu zeigen, wie wenig Referenz sie herzugeben vermag.
Man kann die Unterschiede zwischen Adorno und Lyotard bloß in der Vorgehensweise begrifflicher Arbeit und im Voraussetzen von foci imaginarii artikuliert sehen, nicht aber in den jeweiligen Resultaten orten. Wenn der eine feststellt, daß sich das Werkzeug der Aufklärung, die Abstraktion, zu ihren Objekten verhält wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt, nämlich als Liquidation139, und der andere annimmt, daß das Projekt der Moderne als Verwirklichung von Universalität nicht nur aufgegeben, sondern "liquidiert" worden sei, und zwar durch Verwirklichung des Projektes in Gestalt kapitalistischer Techno-Wissenschaft140, dann meinen beide dasselbe. Der eine meint mittels Dialektik, Kritik und Immanenz dorthin zu gelangen, der andere stellt es einfach fest, geht also davon aus, während Adorno erst dorthin gelangt.
Beide Berufsdenker würden wohl dem Satz des Berufsdenkers HABERMAS: "Je abstrakter das Einverständnis, umso vielfältiger die Dissense, mit denen wir gewaltlos leben können", nicht zustimmen141, wenngleich ADORNO durchaus das Eine, die Identität, und das Andere, die Differenz, in einem dialektischen Zusammenhang denkt, LYOTARD hingegen wohl nicht mehr.
"Der Wunsch, Unrecht zu haben, gehört in gewisser Weise zum innersten Antrieb kritischer Theorie"142.
Faschismus und Stalinismus aus dem Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft begreiflich zu machen; skeptische Revision des Zusammenhangs zwischen von Marx entdeckten ökonomischen Gesetzen und dem Aufkommen von Sozialismus; Bereitstellung einer illusionslosen Sicht darauf, daß der Sozialismus nicht eintritt, und sich dabei gleichwohl nicht zu beruhigen, zu begreifen, was sein Eintreten verhinderte, um ihm wenigstens geistig die Tür offenzuhalten - nur begriffliche Hindernisse sind überwindliche Hindernisse - : Das war das Verdienst der kritischen Theorie143, oder, aus marxistischer Sicht in Reinform, ihr Verderben144.
Darf man der kritischen Theorie Ambivalenz unterstellen, die darin bestand, einerseits das Bewußtsein der Umwälzungsbedürftigkeit der Verhältnisse zu schüren, im gleichen Atemzug aber auch ein Bewußtsein von der Übermacht, die der Umwälzung entgegensteht, so vielleicht nicht mehr Adorno, der mit seiner Verabsolutierung der Negativität jeglichen (organisierten) Widerstand ausredete, letztlich auch jegliche Theorie mit Korrespondenz zur Praxis. Daß er und die kritische Theorie trotzdem Ende der 60er Jahre politische Aktivität beförderten und ihre Texte nicht vielmehr als apo - kalyptische Aperitifs herhielten, mutet heute paradox an. Sind die letzten Fäden zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erkenntnis und Erkenntnisinteresse, zwischen Begriff und Gegenstand zerschnitten, und begibt man sich nicht auf die Weiterentwicklungsschiene eines HABERMAS, um kritische Theorie gesellschaftsfähig zu machen145; hält man also indirekt am Paradigma der Bewußtseinsphilosophie und an einem romantisch - lebensphilosophischen Begriff von Subjektivität fest, dann ist es nur noch ein Schritt zur Verneinung des Satzes von Adorno: "Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität"146, und nur noch ein Schritt zum Hintersichlassen der immer noch von Vernunft - wenn auch nur noch als abwesende oder zerstörte - geprägten Folie des Denkens: Man überwindet ohne Überwindung die traurige Wissenschaft und denkt ein Denken, das sich ausgedacht hat.
"Einen Ausgang aus dem Nihilismus findet darum nur, wer die chronische Zeit verläßt, um im Augenblick zu sein. Mit einer Überwindung des Nihilismus hat dies nichts zu tun, weil auf diese Weise sich nur der Nihilismus der Überwindungen verewigen müßte. Während alte und neue Nihilismen die Zeit eternistisch und dynamistisch überwinden, entdeckt das Leben des Augenblicks die Alternative zur Überwindung"147.
Eine solche genuin postmoderne Antwort erscheint auf Adornos Ausweglosigkeit erstblicklich passender denn irgendartliches `(west)marxistisches Abwarten` à la MERLEAU-PONTY. Es ist der Übergang der Wissenschaft als melancholia zur Wissenschaft als novatio, der Übergang von Zynismus in Kynismus, den postmoderne Schriftsteller - sich meist nur implizit auf Adorno beziehend - zu vollziehen trachten. Die Einkehr des Nirwana ins dialektische Denken, das einmal via ADORNO selbstbewußt ausrief (gegen POPPER), es lasse sich nicht von `partikularen Lösungen` das Maul stopfen, ist heute der Ausgang, ist heute das Tableau, von dem aus nachmodern, wenngleich nicht gegenmodern zu denken versucht wird. Für dieses Denken, das z.B. auf A.TOURAINES theoretischer Vernichtung der Sozialphilosophie aufbaut148, gilt z.B. nicht mehr das Fragment als Chiffre für eine wenn auch noch so unerreichbare einholbare Einheit der Differenzen, sondern eher die Erzählung oder der Essay als Signal für die Irreversibilität des Abhandenkommens, der Unvereinbarkeit und des Auseinanderfallens eines `Ganzen` - und damit auch als Signal für das Abhandenkommen von Teilen, von pars pro toto.
Während kritische Theorie orientiert bleibt an der Idee einer objektiven Zweckgebundenheit menschlichen Lebens, angesichts ihrer definitiven Uneinlösbarkeit aber in den Pessimismus getrieben wird, kann sich postmodernes Denken von einem derartigen Negativismus dadurch befreien, daß es den menschlichen Lebensvollzug von jeglicher Bindung an eine übergreifende Zweckvorgabe abkoppelt und in der bloßen Steigerung seiner Möglichkeiten dessen eigentlichen Sinn ausmacht149.
Postmodernes Denken trauert nicht um das Verschwinden des Sozialen, fragt nicht mehr nach der sozialen Frage150, es kritisiert auch nicht mehr. Affirmation ist für es die nichtanschließbare Fortsetzung von Kritik an den Verhältnissen, welche durch Kritik erst den entscheidenden turn zur stabilen Rationalisierung bekommen. Affirmation als Strategie baut nicht mehr auf die Hegelsche Anerkennung als Bedingung für Selbstverwirklichung und Identitätsbildung. Affirmation heißt auch, jeglichen normativen, kontextuellen, sozialen und vorallem politökonomischen Hintergrund, der letztlich nicht zu hintergehen ist, als oppositionell zur Selbstschaffung zu akzeptieren, also als nicht überwindungsbedürftig. Sie ist die Hoffnung, daß solcher Hintergrund, der zumeist in Systemen auftritt, durch Implosion, durch Übersättigung, durch Affirmation sich auflöst in eine vieldimensionale Unbezüglichkeit, Unvereinbarkeit und Differenziertheit, die nicht nur Entropie, sondern Negentropie erschaffen. Leerlaufende Biographien in einer sozialen Wüstenlandschaft als Figuren eines Hintergrundes, der durch technokratische, systemische, kapitalistische Texte, Mächte und Strukturen aufgebaut ist: Das ist der Rahmen eines Denkens, das, wie es J.PH.REEMTSMA für das sozialistische Denken konstatiert, seinen geschichtlichen und seinen subjektiven Bezugsrahmen verloren hat.
"Nicht wir selbst haben theoretisch den Gebrauchswert aufgegeben, das System hat ihn vielmehr durch Überproduktion zur Strecke gebracht. (...) In der übertriebenen Überspannung einer ununterbrochenen Zirkulation und einer unaufhörlichen Aktualität verlieren die Gesellschaften den Faden ihrer Entwicklung... . Die Zähler der Geschichte sind im Osten beim Kommunismus, im Westen bei einer in ihrem eigenen Auswuchs gefangenen `libertären` Gesellschaft stehengeblieben. Unter solchen Umständen gibt es für orginelle politische Strategien überhaupt keinen Einsatz mehr. (..) Wie in einer verallgemeinerten entropischen Bewegung des Jahrhunderts zerfällt die anfängliche Energie langsam in immer feinsinnigere Verzweigungen strukturaler, pikturaler, ideologischer, linguistischer, psychoanalytischer Umwälzungen - die letztendliche Konfiguration, die der `Postmoderne`, bezeichnet ohne Zweifel die heruntergekommenste, die künstlichste, die eklektischste Phase - ; ein häppchenweiser Fetischismus aller partialen Signifikanten, der deutlicheren Idole und Zeichen, die diesem Fetischismus vorhergingen"151.
Ginge Adorno dem konform? Denken Sie...
MODERATOR:...Äh, Herr..
PERNE:...Denken Sie an die Einsicht der kritischen Theorie, daß der Vernunft nichts besseres passieren könne, als durch eigene Mittel vollkommen denunziert zu werden, oder auch an HORKHEIMERS Satz von dem notwendigen Sinn des Denkens, sich überflüssig zu machen; alles Sätze, die nur ertragbar sind, solange die Kritik der Vernunft noch eingebettet wird in die lästig gewordene Hülle der historischen Dimension (G.RAULET), oder nicht?
Auch wenn sich moralische und ästhetische Vernunft längst durch Verdinglichung, längst durch Etablierung einer total verwalteten Welt haben vernichten lassen; auch wenn sich Vernunft in der Geschichte längst zu einem Monstrum des Verstandes wandelte: Die kritische Theorie war - so meine Lesart - trotz dem nicht in der Lage, auch nur auf die reine Möglichkeit von Vernunft zu verzichten. Das System Vernunft blieb, wie brüchig auch immer, intakt, wenngleich die in historischer Zeit realisierten Gestalten der Vernunft von der kritischen Theorie vollends als remythisierte Gestalten erkannt wurden. Kritische Theorie war radikale Systemkritk, Kritik des Systems Vernunft, okzidentaler Vernunft. Sie ging aber nicht so weit, die Referenzwürdigkeit oder die Referenznotwendigkeit der Vernunft als System total zu disqualifizieren152, wie es `die` Postmoderne macht. Die Möglichkeit eines anderen Systems von Vernunft blieb, wie vage und spekulativ auch immer, erhalten, wenn auch nur im Eingedenksein des unterlassenen `Ganz-Anderen`, dessen auch nur epigrammatische Bezeichnung die negative Philosophie der Theorie strikt verbot.
Freilich sind so noch die letzten Brücken zwischen Theorie und Praxis gesprengt worden, die letzten Fragmente, die an ein Weltbildgefüge erinnerten, das sich gesellschaftlich attributierte, das sich gar zu Beginn einer interdiziplinären Rekonstruktion des Historischen Materialimus verpflichtet fühlte - vorallem bei HORKHEIMER. Das philosophische Denken regrediert - "im Schatten einer Philosophie, die sich überlebt hat" - "zur Gebärde"153. Die traurige Wissenschaft, vom Pessimismus, vom Schuldgefühl, von der Verzweiflung und vom Leiden, auch von Borniertheit getragen, war keine Wissenschaft mehr, keine Diskursorganisation, in der sich Erkenntnis, objetivierendes Denken oder gar noch Wahrheit einzustellen vermochten; übrig blieb, zumindest bei ADORNO, ein äußerst zwiespältiges Gebilde namens `Ästhetische Theorie`, das sowohl dem Irrationalismus des Wertepolytheismus als auch dem Irrationalismus der monotheistischen Bewußtseinsphilosophie154 Tribut zollte. Übrig blieb ein Denken, das sich ausdachte, ausgedacht zu sein, das das Ausdenken als das Denken des `Aus` dachte, weil es nicht mehr bereit war, das `Selbst` und die `Vernunft` auf der Folie einer anderen Totalität von Rationalität zu analysieren, einer anderen Totalität, wie sie HABERMAS mit dem Paradigma einer in der Lebenswelt fundierten Rationalität verständigungsorientierten Handelns zu operationalisieren sucht155.
MODERATOR: Auch wenn wir jetzt noch weiter von unserer Ausgangsfrage abkommen - ich glaube, wir fragten uns: Wozu noch Soziologie? - ; es interessiert mich jetzt doch, warum Sie mit der Konzeption von HABERMAS nichts anfangen können oder nichts anfangen wollen, ist doch seine Theorie der Moderne - wenn ich recht sehe - in nicht geringem Maße gleichsam skeptisch, wenn nicht gar negativistisch angelegt156, ungeachtet der optimistischen Konklusionen in der Binnenstruktur seiner Theorie. Warum ist...
PERNE:...Also ich frag` mich schon, wie Sie HABERMASENS Entwurf in einen skeptischen Horizont integrieren wollen. Meines Wissens geht sein Tribut an die Systemtheorie nicht auf Kosten normativer Begrifflichkeit und des Insistierens auf Subjektivität. Es ist doch eher umgedreht: In der Binnenstruktur läßt er realistische, also skeptische Einsichten zu; die Anlage der gesamten Theorie bleibt hingegen fest verankert im zum Reservat geschrumpften Terrain, das man durchaus noch als Sektor westmarxistischen Optimismus` etikettieren darf...
RÜHM:...Und einmal einen ganzen Denkkontinent ausfüllte...
PERNE:...Ja, auch das noch mit abdeckte, was MERLEAU-PONTY einmal `marxistisches Abwarten` nannte. Aber wie dem auch sei: Realistisch ist HABERMAS, wenn er schreibt, daß eine permanent zur Subsumption drängende erblindete Selbsterhaltung die kommunikative Vernunft arg in Bedrängnis bringt157; und daß durchaus die Möglichkeit besteht, daß ebendiese Vernunft auch ausgelöscht wird. Er sagt nicht, daß die kommunikative Vernunft letztlich unantastbar ist, wie es etwa in einer trivialen Übersetzung der Art `Das weiche Wasser bricht den Stein` zum Ausdruck kommt. Er behauptet nur, daß sie sich nicht widerstandslos ergeben würde. Über das Ende und den Ausgang dieses `Kampfes` ist damit noch nichts gesagt.
Optimistisch158 wird HABERMAS - das ist jetzt wohlwollend gesagt - , wenn er sich immer noch als Anhänger eines focus imaginarius ausweist159, also an etwas in der Welt `da draußen` denkt - und sei diese Welt auch nur noch die der Sprache - , das auch dann noch emanzipatorisches Licht auswirft, wenn alles Gesellschaftliche durch die Schatten funktionalistisch-kapitalistischer Apparaturen und Verdinglichungen der Dunkelheit überantwortet worden wäre.
Aber lassen Sie mich doch noch etwas zur kritischen Theorie und zu der
theoretischen Postmoderne160 sagen, auch wenn es paradox klingen mag, Theorie
und Postmoderne in einem Atemzug zu nennen. Aber trotzdem.
[ 16. Erwartung, Projektion, Enttäuschung ]
Sehen Sie, es gibt zwei Begriffe, die es in sich haben: Erwartung und Projektion. Beide haben ein enges Verhältnis zu einem dritten Begriff, nämlich Enttäuschung. Diese Enttäuschung läßt offen, ob man sich mit der Erwartung getäuscht, oder ob man etwas erwartet hat, das vertauscht wurde. Erwarten und Projizieren koordinieren und orientieren einen erheblichen Teil der Interaktionen zwischen Menschen, sie dynamisieren und differenzieren Beziehungen und Fremd- sowie Selbstbeschreibungen. Erwartungen und Projektionen bleiben in der Regel konservativ angelegt, auch wenn sie sich auf Zukunft beziehen bzw. in einer solchen Zukunft eingebettet sind, deren Anfänge schon in die Gegenwart hineinragen; sie gehen von Handlungen aus - also auch kommunikativen - , die sich der Selbstreferenz und der doppelten Kontingenz anzupassen suchen, also von Handlungen, auf die Erwartungen angewendet und in die Projektionen hineingelegt werden können. Die konservative Verfasstheit von Erwartungen und Projektionen sicherte einerseits eine unterkomplexe Codierbarkeit von Solidarität, Wissen und Macht, andrerseits aber beförderte sie auch immer schnelleres Akkumulieren von Enttäuschungen bis hin zu Revolutionen, kurz: Beide Begriffe besaßen genügend Ambivalenz, um sich fortwährend zu konstituieren und zu destruieren. So.
Mit dem Sterben der Götter, also mit dem scheinbaren Ende von Metaphysik, welche die Erwartungen und Projektionen in einem recht idyllischen Reservat gefangen hielt und stabilisierte..; also mit Beginn dessen, was mit KANT Aufklärung bezeichnet wurde, drängte sich ein Wissen von der Notwendigkeit auf, Erwartungen und Erwartbarkeit zwischen den Menschen gleichzeitig mündiger und sicherer zu machen, und zwar selbst zu machen, ohne Rückgriff auf risikoeliminierende und freiheitsberaubende Übermächte. KANT bot als Steuerungsmittel eine moralisch-praktisch-vernünftige Pflicht an, die den Menschen in die Lage versetzen sollte, den Menschen und die Gesetze, die Vernunft und die Moral abstrakt zu achten. Dieses Mittel ist mittlerweile arg unwirksam geworden, nicht zuletzt deswegen, weil es uns immer schwerer fällt, die unendlich vielen Schichten der Bezüglichkeit reflexiv wegzudenken, um den anderen oder die anderen als Menschen, also auch als `Wir` oder `Uns` zu sehen; Eigenschaften religiöser, ethnischer, wirtschaftlicher, kultureller, gesellschaftlicher Art sind einfach nicht mehr zu hintergehen, auch wenn es unsere vordringliche Aufgabe bleiben muß, diese Attributionen zu entgrenzen161. Nun gut. Mit der Aufklärung, mit der Neuzeit entpuppte sich gleichsam die Geschichte, also die zukünftige Zeit als neuer Adressat für Erwartungen, die dann in Projektionen umgesetzt wurden. HEGELS Weltgeist war so eine umgesetzte Erwartung, die Beziehungen zwischen Menschen in und durch Handlungen und ihren Voraussetzungen zu ordnen. NIETZSCHE übernahm dafür die Seite der Enttäuschung und entließ alle Vorstellungen, die auf Zukunft setzten und der Ermöglichung eines `freundlichen Zusammenlebens` (BRECHT) verpflichtet waren, als unbrauchbare aus den hohen Hallen der Vernunft und überantwortete sie dem Schlachtfeld der Zerstörung oder dem Willen zur Macht; die höchstmögliche Ordnung, die zwischen und für Menschen real werden könne, sei die des Gewühls. Die Wucht, mit der NIETZSCHE auf das Scheitern der Religion als Steuerzentrale der unendlich vielen Beziehungen und Bezüglichkeiten von Menschen in der und mit der Gesellschaft reagierte, vorallem aber auf das Scheitern der Inthronisierung von Vernunft als `vereinigende Macht` für all die Zersplitterungen des `vormals` erwartbaren Handelns, Denkens und Entwickelns, also diese Wucht gibt für mich zu erkennen, wie stark NIETZSCHE sich wohl dem, was vernünftige Moderne hieß, genährt hatte, wie tief seine Erwartungen gewesen sein mußten...
JOOST:...Die "Neue Frankfurter Schule" hat für soetwas den Satz: `Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche`; aber das nur nebenbei...
PERNE: [unbeeindruckt]...Denn anders ist sein Unterfangen, ein System ästhetischer, willkürlicher, nihilistischer Mythologie mit fast HEGELSCHER Totalität zu entwerfen162, nicht zu verstehen, ein System, das sich über weite Strecken der vernichtenden Kritik des HEGELSCHEN Systems widmet, aber gleichsam die Voraussetzungen der Referenz mitzerstört, die erst Kritik mit dem Zu-Kritisierenden herstellen, und zwar als gemeinsame Kommunikationsbasis162a. Nun gut.
Dann kam MARX mit seiner Dialektik des Historischen Materialismus, der die Einlösung einer in die Zukunft projizierten Ordnung der Menschen und der Gesellschaft mit einem gegenwärtigen Adressaten - die Arbeiterklasse - und mit einer gegenwärtigen Gesellschaftsformation - der Kapitalismus - so verband, daß es nur noch eine Frage des Wann, aber keine mehr des Ob oder des Wie mehr gab, um die Erwartungen zu Gewissheiten werden zu lassen - denken Sie etwa an G.Lukács schon berühmten Satz in `Geschichte und Klassenbewußtsein`, daß die Selbsterkenntnis des Proletariats zugleich die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft sei [1988; p267] -. Vorallem die Rezeption MARXSCHER Geschichtsteleologie bewirkte, daß die Erwartungen beinahe vollständig von Enttäuschungen abgekoppelt wurden; es galt ja geradezu als Blasphemie, in marxistischer Diktion Enttäuschungen anklingen zu lassen, auch wenn derartige Artikulationen noch loyal gemeint waren. Und es galt, wenn Enttäuschungen wirklich nicht mehr versteckbar waren, als ein Muß, ebendiese mit zum Teil absurden Argumentationen wieder ins Reich marxistischen Optimismus` oder ins Reservat marxistischen Zuwartens einzugliedern; SARTRE fällt mir hier als gutes Beispiel ein163. Derartiges Denken, das Erwartungen und Enttäuschungen nicht mehr in ein und denselben Code in Beziehung setzte, sondern die Invarianz dieser Beziehung verzeitlichte mit Blick auf eine zukünftige Zeit, die alle Voraussetzungen zu erfüllen hatte, um alle Verhältnisse umzuwerfen - so hieß es doch - , also so ein Denken hatte sich dann natürlich umwerfend immunisieren können gegen Enttäuschungen: Diskontinuitäten, Krisen, Verelendung, Gewalt, Willkür, letztlich die Diktatur (des Proletariats) konnten mit Blick auf die erlösende und erlöste Zeit dem Erwartungskonto gutgeschrieben werden. Wer die Buchungsvorgänge `Dialektik`, `permanente Revolution`164, `Selbstaufhebung`, `bestimmte Negation`, `demokratischer Zentralismus` usw. öffentlich kritisieren wollte, wurde eliminiert - geistig, geschichtlich, physisch. Die Liste ist sehr lang165. Zukunft als Kandidat einer Einlösung von Erwartungen auf ein besseres Leben für möglichst alle, und gleichsam noch verbunden mit Verhältnissen und Kräften der Produktion in der Gegenwart, die diese Einlösung als Telos in sich bargen: So gesehen wird es nachvollziehbar, wieso die marxistische Architektur - vorallem die begriffliche - einer paradigmatischen Ordnung von Gesellschaft derartig stabil und belastbar sein konnte...
JOOST:...Aber Sie idealisieren doch! Wie kommen Sie eigentlich dazu, einen nicht nur ideologischen Totalitarismus etwa der Sowjetunion der 70er Jahre mit Stabilität zu verwechseln? Es bedarf hier doch wirklich keiner Debatte mehr, was als Stabilität und was als morsche Stützbalken einer politischen Ordnung anzusehen ist. Wenn ein System wirklich alles daransetzen mußte, um...
PERNE:...Sicher, Herr Joost, Sie haben Recht, die sowjetische Bauart marxistischer Projektionen war nicht stabil, weil sie ihre Ordnung nur über die Krücken staatlicher Repression und Zentralisierung mühsam zusammenhalten konnte; sicher. Aber davon rede ich nicht, wenngleich es äußerst instruktiv wäre, historisch zu untersuchen, wie Entscheidungsprozesse innerhalb der poltischen Elite abgelaufen sind, die als politische outputs dann Repression emittierten. Nein, ich rede von der Stabilität in den Köpfen, von dieser geradezu magischen Anziehung, die die marxistische Projektion ausübte - übrigens gleichermaßen stark auf Marxisten wie auf `Antikommunisten`, die durch ihre Polemiken gegen den Marxismus den Marxismus noch erhalten würden, wenn er akademisch schon längst ausgerottet worden wäre166 -. Wer wirklich überzeugt war, daß die Geschichte sich ihre Interpretation dadurch gibt, daß sie sich..nein, indem sie sich mit dem Proletariat verschmelzt und damit ihr Selbstbewußtsein hervorbringt167, der war in Besitz eines Geltungsanspruchs, der beinahe alles zu rechtfertigen wußte und zu rechtfertigen hatte, und das hieß vorallem, Terror, Unterdrückung, also mörderische Enttäuschungen als notwendige `Umwege` zur Einlösung der Erwartungen zu idelogisieren. So.
MODERATOR: [leicht aggressiv] Herr Perne, was ist denn jetzt mit Ihrer Abgrenzung der kritischen Theorie vom Postmodernismus? Warum denn immer diese Umwege, bis Sie...
PERNE:...Hinführungen, bitte, es sind Hinführungen. Es ist schon grobschlächtig genug, wie ich hier rede, nicht wahr? Also, die kritische Theorie - jetzt mal verstanden als eine Gruppe von Intellektuellen, die sich inopportunistisch, aber nicht oppositionell, die sich loyal, wenngleich nicht ergeben der marxistischen Projektion verpflichtet fühlte - , also diese kritische Theorie war nicht in der Lage, die Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Mittel und Zweck, zwischen Erwartung und Enttäuschung einfach durch ein Telos auszutauschen. Daß sie `am Ende` den Mythos zwischen Vernunft und Geschichte inthronisierte, zeigt ja gerade das Festhalten eines hohen Anspruchs an den Historischen Materialismus an, zeigt ja gerade, daß für sie die Einlösung eines `guten Lebens` zwischen Menschen und Gesellschaften nicht schon bei der Revolution ein Reich der Freiheit realisiert, sondern erst den Anfang einer kaum jemals endenden Abarbeitung an den sich aufspreizenden Formationen von Herrschaft und Verdinglichung markiert168. ADORNO und HORKHEIMER - und die meine ich vordringlich, wenn ich von kritischer Theorie spreche169 - waren schon sehr früh davon überzeugt, daß auch eine `gelungene Gesellschaft` niemals Seelenruhe, niemals trauerloses Glück, niemals enttäuschungsresistente Erwartungen, niemals Wahrheit würde einholen können. Ihr Blick auf die Zerstörungskraft und -anfälligkeit einer aufgeklärten Rationalität ließ sie schon in den 30er Jahren Abschied nehmen von GEORG LUKACS' Subjekt-Objekt170 und seinem Inbeziehungsetzen von Marxismus und Aufklärung. Der pessimistisch klagende Grundton etwa HORKHEIMERS - er spricht ja von einem metaphysischen Pessimismus, der jedem materialistischen Denken unterlegt sein müsse - etwa HORKHEIMERS also ist doch gar nicht zu verstehen, wenn nicht davon ausgegangen wird, daß bei ihm tatsächlich eine feste Vorstellung davon inkraft war, welche Möglichkeiten eine marxistische Transformation für die Annährung an eine vernünftig gestaltete Gesellschaft eröffnet. Wenn HORKHEIMERS Satz, daß das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft nur noch in der Phantasie aufgehoben werden könne171, als Abgesang verstanden wird, kann das nur heißen, daß das Ziel doch einmal in der gesellschaftlichen Praxis verortet wurde. Wer...
RÜHM:...Also, was Sie sagen wollen ist: Nur wer zuviel erwartet, kann herb enttäuscht werden und sich dann in der Enttäuschung einrichten - entweder mit Befreiungsschlägen und Selbsterschaffung, also novatio und fröhlicher Wissenschaft, oder mit Implosion und Selbstaufgabe, also melancholia und trauriger Wissenschaft. NIETZSCHE sehen Sie bei der ersten, ADORNO bei der zweiten Art am Werk. Und die Theoretiker der Postmoderne neuster Art sehen Sie von solcherart Beschreibung nicht mehr richtig erfasst, weil sie schlicht und einfach bescheiden und erwartungsarm geworden sind, sich also nicht an Enttäuschungen abarbeiten müssen, wie es die Gedankenentwicklung etwa ADORNOS exemplarisch zeigte. Und Ihnen geht es jetzt darum, weiterhin Enttäuschungen zu ermöglichen, denn diese schließen ein Wissen ein, das nicht vollständig in der sogenannten Realität aufgeht. Sie wollen die Spannung zwischen Sein und Sollen, die ja in den letzten Jahren essayistisch aus den Köpfen gescheucht wurde, aufrechterhalten, Sie wollen ein Wissen retten, daß sich der Kritik verpflichtet fühlt und das im Gegebenen - wie kristallin auch immer - das Unabgegoltene, das anders Gemeinte, das anders Gewollte oder gar das möglich Andere bewahren will, und sei es nur als Erinnerung oder als Eingedenken von Unterlassungen; deswegen auch Ihre Paraphrase einer Unterlassungstheorie vorhin. Trifft diese Beschreibung in etwa zu, Herr Perne?
PERNE: Ja, das darf man so sagen, wenngleich es...
RÜHM:...Dann versteh' ich nicht, warum Sie sich mit HABERMAS' paradigmatischer Fassung einer letztlich dann doch wieder emanzipativ wirksamen Rationalität und Rationalisierung so schwer tun. Ihr Rückzug aus dem schwierigen Gelände der praktischen Umsetzung all der hohen Werte wie Vernunft, Egalität, Freiheit, verständigungsorientiertes Handeln usw. ist doch, wenn Sie mal ehrlich sind, im höchsten Grade indifferent für eine politisch motivierte Codierung, oder besser gesagt: Recht anfällig für einen gleitenden Übergang von Kulturkritik in Kulturpessimismus172. [kleine Pause] Also, um mal Tacheles zu reden: Diese ganze linksheideggerianische, diese an ADORNO geschulte Kultivierung von Resignation und Sehnsucht nach dem eigentlichen Wahren und Vernünftigen ist keine notwendige Folge einer fortschreitenden Verwüstung der Gesellschaftswissenschaften, sondern einfach nur Folge eines nicht vollzogenen Austritts derartiger Kultivierer aus dem Subsystem Wissenschaft. Und natürlich Folge einer Trägheit der individuellen und institutionalisierten Rezeption, die immer noch derartige Texte unter `Sachbuch` abhakt, während sie doch längst unter Belletristik173 auffindbar sein müssten. Es ist nicht zuletzt durch die Philosophie zu diesem unerquicklichen Zustand gekommen, besser gesagt durch die Philosophie des westlichen Marxismus...
PERNE:...Sie sind einfach nicht auf dem laufenden, Herr Rühm; und den Boten zum Täter zu machen ist auch ein etwas angestaubtes Mittel, um die zu denunzieren, die die Misere der..ja, der Zivilisation - warum kleinlich sein - aufzeigen, damit die, die sie fabrizierten, geschützt werden. Also erstens: Es sind gerade die - ich sage bewußt - immanenten Resultate einer sich instrumentell verstehenden Wissenschaft, die uns heute entweder zur Verzweiflung oder zur Resignation treiben. Es war doch gerade das Positivistische einer sich historisch scheinbar indifferent gebenden Naturwissenschaft, das die Wissenschaft in den Stand versetzte, nicht nur ihre Affinität zur Entwicklung kapitalistischer Produktions- und Vergesellschaftungsweisen schlicht zu ignorieren174, nicht nur ihre Wandlung zur wichtigsten Produktivkraft schlicht der Reflexion zu entziehen175, sondern auch dazu beitrug, daß sich die Geisteswissenschaften genötigt fühlten, sich dem Positivismus anschließen zu müssen. Und ab da gab es nur noch technische Probleme oder gar keine. Was technisch nicht lösbar war, mußte anderen Systemen der Gesellschaft überantwortet werden. Dieser Positivismus hat sich als äußerst anfällig für Verantwortungslosigkeit erwiesen; die Resultate kennen wir.
Zweitens ist es...
RÜHM:...Glauben Sie wirklich, eine normativ geleitete Wissenschaft der technischen Entwicklung hätte uns vor Auschwitz, vor Hiroshima, vor Bophal, vor dem Ozonloch bewahrt, hätte uns davor bewahrt, Atomwaffen, Atomkraftwerke und was Sie sonst noch als Misere der Zivilisation zu bezeichen pflegen, zu entwickeln? Glauben Sie tatsächlich, daß eine Wissenschaft, die sich nicht vollständig aus der Rationalität der Sinnzusammenhänge gelöst hätte, nicht von einer militärisch-politischen Logik vereinnahmt worden wäre, sich nicht in Hyperspezialisierungen aufgespreißt hätte, sich nicht zu einer experimentellen, analytisch-synthetischen, nicht-eidetischen Logik, letztlich also positivistischen Logik verstiegen hätte?
PERNE: Herr Rühm, die Frage, ob sich die Naturwissenschaften -
und im Gefolge auch die Geisteswissenschaften - anders hätten entwickeln
können, als sie es taten, hatten wir schon. Lesen Sie MARCUSE oder
BLOCH176, die die Möglichkeit einer anderen Technik bejahen, lesen
Sie HABERMAS177, der die Möglichkeit verneint. Es geht hier aber um
etwas anderes. Es geht darum, wie weit sich eine positivistische Wissenschaft
in Zweifel ziehen kann, ohne dazu von Apokalypsen angetrieben zu werden.
Es geht darum, ob die institutionalisierte Wissenschaft in der Lage ist,
sich selbst bis in die Grundannahmen hinein in Anschlag zu bringen, ohne
dafür ihr typisches Procedere der analytischen Zerstückelung
und der verdinglichenden Objektivierung auf sich selber anwenden zu müssen.
Die Wissenschaften haben mit Beginn des Auslaufens eines industriegesellschaftlichen
Paradigmas die Aufgabe, sich mit der gleichen Vehemenz als Quelle der Problemverursachung
zu identifizieren, wie sie sich bis dato als Quelle der Problemlösung
identifiziert haben178. Und daß sie diese Aufgabe nicht bewältigt
haben und wohl auch in Zukunft aus eigener Selbstreflektion heraus nicht
bewältigen werden, scheint mir evident. Gerade für das Subsystem
Wissenschaft, vorallem für das Subsubsystem der naturwissenschaftlichen
Wissenschaft, erweist sich LUHMANNS systemtheoretisches Konzept der Selbstregulation,
der Selbstreferenz, der Komplexitätsreduktion und der Autopoiesis
als Flopp. Ein System wie das der Naturwissenschaft, das Fragen nach dem
Wozu und nach dem Warum systematisch unterlief; das sich beinahe ausschließlich
um die "Bereitstellung offener Potenzen für beliebige Zwecke"179 bemühte
und damit nicht nur glänzend einer Logik des Kapitals entsprach, sondern
wohl auch exemplarisch für das steht, was als Halbierung der rationalen
Moderne oder der modernen Rationalität bezeichnet wird; ein solches
System also bedurfte und bedarf einer völlig neuen Dimensionierung
in gesellschaftlicher, machtpolitischer, legitimatorischer und natürlich
technischer Hinsicht. Und daß wir heute diese Reichweite an Veränderungen
und überhaupt die zumeist schreckliche Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen
Systems in der nötigen Dringlichkeit wahrnehmen, haben wir in nicht
geringem Umfang denen zu verdanken, die Sie eben als Kultivierer von Resignation
bezeichneten und eigentlich aus dem Wissenschaftssystem entfernt sehen
möchten180.
[ 17. Gesellschaftstheorie auf der Oberfäche ]
MODERATOR: Ich glaube, wir können hier die Kurve kratzen, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren. Herr Perne, Sie haben gerade eine wichtige Aufgabe genannt, die von den Gesellschaftswissenschaften zu erfüllen sei, speziell von der Soziologie zu erfüllen sei, nämlich das Marxsche `Hinter ihren Rükken` zu einem `Vor ihren Augen` zu wandeln, um es mal plakativ zu formulieren. ADORNO konnte für dieses kritische Wandeln keine Vernunft mehr ausmachen, die nicht schon erblindet war, wenngleich er sich einer imaginären Vernunft bedienen mußte, um ebendies beschreiben zu können181. Die Postmodernisten - auf die wir noch einzugehen haben - behaupten, daß, egal wie man sich dreht, das zu Erkennende, das Wahre immer hinter dem Rücken bleibt, es also völlig egal ist, welcher Art von Rationalität man sich bedient, um das darzustellen, was ihrer Ansicht nach schlicht das Nichtdarstellbare ist: und bleibt - das höchste Niveau einer Gesellschaftskritik ist das einer Literaturkritik, das höchste Niveau von Gesellschaftlichkeit ist das der kollektiv-technokratischen Selbsterhaltung und -behauptung. So.
1974 veröffentlichte ALAIN TOURAINE eine Essaysammlung unter dem Titel `Pour la sociologie`, die zwei Jahre später bei uns herauskam, jetzt allerdings unter dem Titel `Was nützt die Soziologie?`. Lassen Sie mich daraus einige Stellen zitieren182. TOURAINE geht davon aus, daß der Gegenstand der Soziologie nicht die gesellschaftliche Realität, sondern das Reich der sozialen Beziehungen ist. Diese sind jedoch "schon kontrolliert, interpretiert, verwaltet"; Macht und Ideologien durchziehen noch die letzten Ritzen dieser Beziehungen und hindern die Soziologie nicht nur, aus den vorgefundenen sozialen Tatsachen erst noch soziologische Tatsachen herauszulösen, sondern verführen sie gleichsam dazu, "die gesellschaftliche Ordnung so zu lesen, wie sie sich darbietet" [beide p21]. Dieses Lesen ist kein neutrales Lesen, es ist parteiisch, vorausgesetzt, der Soziologe erliegt nicht der Ordnung, sondern gerät in ein "fortwährendes Gefecht mit der falschen Positivität der Ordnung und deren Diskurs. Seinen gesamten Einfluß stellt er dem zur Verfügung, was im Schatten steht und verboten ist, stellt er auf die Seite der Ausgebeuteten und Kolonisierten" [p14]. Dennoch habe er sich nicht auf deren Seite zu schlagen; der Soziologe hat als Akteur verhindert zu bleiben, mehr noch: "Kritisch kann die Soziologie nur werden, wenn sie ihr Erkenntnisobjekt losgelöst von den Akteuren konstituiert. (...) Identifiziert er - der Soziologe - sich qua Verstehen mit dem Geist einer Kultur oder mit der Absicht eines Handelnden oder mit den Bedürfnissen eines Gemeinwesens, dann ist er zu jener Abstandnahme gegenüber den sozialen Tatsachen außerstande, die erst den Gegenstand der Soziologie zum Vorschein kommen läßt". Ziel seiner Arbeit hat zu sein, "die Individuen oder Gruppen aus der Abgeschiedenheit oder dem Schweigen, in denen sie die Macht, die sie erleiden, verleugnen oder der sie zu entfliehen suchen, herauszuziehen, sie außerhalb der Sphäre der Macht zu stellen, sie in die Situation einer sozialen Beziehung zu versetzen" [beide p237]; und dort, wo keine soziale Beziehung auffindbar ist, diese nicht nur sichtbar zu machen, sondern zu rekonstruieren. So. Und nachdem TOURAINE darlegt, daß eine wichtige Eigenheit der postindustriellen Gesellschaft die ist, sich "mehr durch ihre Aktion denn ihre Funktionen, mehr durch ihre Transformationen denn ihre Ursprünge" zu bestimmen [p237], kommt er zur folgenden Umschreibung des Augenblicks der Soziologie - bitte vergessen Sie nicht: TOURAINE schrieb das zu einer Zeit, als Soziolgie noch als Leitwissenschaft gehandelt wurde - ; also er schrieb: "In einer Welt ohne Innerlichkeit, ohne Seele und ohne Werte, Fuß fassend, kann die Soziologie endlich ihre bis dahin von Märchen übertönte Stimme vernehmen lassen. Da steht sie nun, bereit, der Ideologie und den sozialen Kontrollinstrumenten entgegenzutreten. Aber sie schickt sich nicht an, auf das Podest zu treten, um einer aufmerksam zuhörenden Menge das Panorama der gegenwärtigen Gesellschaft zu enthüllen oder das der zukünftigen zu prophezeien" [p238].
Herr Perne, bewahrt ein solches Konzept - das ich jetzt nur in Stichworten angetippt habe - die theoretische Spannung zwischen Skeptizismus und Kritizismus, die Sie für erforderlich halten, um überhaupt noch von Gesellschaft reden zu können? Trägt solch eine Auffassung von Soziologie, solch eine Auffassung des Soziologen, der sich aus dem Tempel der Beobachtung begibt, in die `Wirklichkeit` eintaucht, nach Akteuren sucht, sich an ihrer Arbeit der Selbstenthüllung maßgeblich beteiligt und sich dann wieder von diesen Akteuren löst183; trägt also solch eine Auffassung - wie gesagt aus dem Jahre 1974 - den Entwicklungen der letzten knapp 20 Jahren schon Rechnung, oder ist sie durch die Entwicklungen heute völlig unbrauchbar geworden?
PERNE: [leicht nervös] Ein bißchen viel jetzt, darauf in der richtigen Dimension zu antworten. Außerdem war ich mit meiner Entgegnung der Polemik Herrn Rühms noch nicht zuende184. Nun gut.
TOURAINES Sicht war schon 1974 eine postindustrielle. Für ihn war es selbstverständlich, daß die Gräben der industriellen Modernisierung des 19.Jahrhunderts gegen Ende des 20.Jahrhunderts nicht mehr im Focus gesellschaftstheoretischer Reflexion stehen können. Wenn erst einmal klar wird, daß es unzutreffend ist, die Arbeit, die die Natur transformiert, transformiere auch zwangsläufig die Gesellschaft185; wenn erst mal klar wird, daß es keine Soziologie der Akteure geben kann186, da eine solche notwendigerweise die beschränkte Selbstortung, Selbstreflexion und die machtpolitische, ideologische und funktionale Bestimmung ebendieser Akteure einfach nur theoretisch duplizieren würde187: Dann erscheint es natürlich folgerichtig, wie TOURAINE - abstrakt gesagt - "die Rekonstruktionen der Geschichte des Gesellschaftsdenkens aus dem Gedächnis verbannt"188 sehen zu wollen. Denn diese Rekonstruktionen würden ja nur Sichtweisen, Unterteilungen und Matrixen reanimieren, die mit dem Abstreifen des Industrialismus vom Korpus `Gesellschaft` gleichsam hinfällig geworden sind; etwa die Sichtweise, daß die ökonomischen Tatsachen mehr oder weniger fundamental seien für alle übrigen189; oder die, Gesellschaft in ökonomische, politische, soziale oder kulturelle Dimensionen einzuteilen190: Für TOURAINE bloße Relikte einer präsoziologischen Denkform, die immer noch innerhalb der Tatsachenebene ihr Dasein fristet, anstatt sich den sozialen Beziehungen zu widmen, ohne sich ihnen hinzugeben.
Sehen Sie, wenn Sie wollen, können Sie es auf folgenden Punkt bringen: Während der industriellen Phase der Gesellschaft schuf ebendiese erst die Voraussetzungen ihrer eigenen Historizität. Diese Historizität zeigt an, wie weit sich eine Gesellschaft als Produkt ihres eigenen Handelns zu begreifen vermag. Das Handeln bezog sich innerhalb des Systems der Arbeit auf die gesellschaftliche Dimensionierung von Produktion, Organisation, Distribution und Konsumtion sowie auf das Verhältnis zwischen nichtkonsumierbaren Ressourcen und notwendiger Reproduktion. Ein solches historisches Handlungssystem, endlich losgelöst von geschichtsphilosophischen und metasozialen Figuren der Teleologisierung und Legitimierung, setzt nun, mit Beginn der Postindustriegesellschaft und ausgestattet mit Ideologien und Macht, die notwendigen gesellschaftlichen (Verteilungs-)Kämpfe um die Kontrolle der eigenen Historizität einem Begründungsvacuum aus, das als Vakuum allenfalls nur einen einzigen Sinn des ganzen Unternehmens namens Gesellschaft nicht ad absurdum führt, nämlich den Sinn, durch Transformationen sicherzustellen, daß die Gesellschaft weiterhin neue Formen der Selbsteinwirkung entwickeln können muß, um das Selbstbild der Gesellschaft nicht endgültig im Funktionalismus technischer Systeme aufgehen zu lassen191. Dabei spielt es keine ...
JOOST:...Also ich muß hier mal unterbrechen, Herr Perne. Das ist schlicht unzumutbar, wie Sie sich ausdrücken. Sind Sie nicht in der Lage, auf eine einfache Frage eine einfacher Antwort zu geben?
PERNE: Eine einfache Frage; Sie sind gut! Hinter der Frage nach TOURAINES Soziologieverständnis steht doch ein ganzer Schrank voller Fragen...
JOOST:...Man macht es sich einfach zu einfach, einfach zu sagen, die Lage sei zu kompliziert, um etwas über sie sagen zu können, das einfach und verständlich ist. Sagen Sie doch einfach, daß TOURAINE die Gesellschaft nur noch auf einer Oberfläche ansiedelt, auf der sich die manigfaltigen Erscheinungsformen - wie etwa die Produktion, die Herrschaft, die Kommunikation oder die sozialen Konfliktbewegungen - nur qua sozialer Bezüglichkeit austauschen und nur in dieser Tauschwährung überhaupt noch greifbar sind, bevor sich die Gestaltbarkeit sozialer Beziehungen wieder verwandelt in die referenzlose Akzeptanz, von Institutionen, Organisationen, Gesetzen und Kompromissen eingeholt zu werden192. Sagen Sie einfach, daß TOURAINES Blick auf die damalige französische Gesellschaft erfüllt war von dem Schrecken, hier ersticke eine Gesellschaft in ihrer sozialen Dimension durch die unentwegte Ausbreitung `der` Macht - sei sie ideologischer, technischer oder normativer Machart - , werde zu einem bloßen Vehikel derjenigen, die qua Klassenherrschaft die Bannbreite der gesellschaftlichen Selbstveränderung irreversibel limitieren, so daß es nun gelte, den noch in alten, veralteten Kampfritualen verharrenden Akteuren der Gesellschaft einsichtig zu machen, daß mit Beginn der postindustriellen Ära die Kämpfe dort zu führen sind, wo bis dato Selbstverständlichkeit, Vertrauen und Uneinsichtigkeit jegliche Auseinandersetzung vermeiden konnten. "Je mehr eine Gesellschaft auf sich einwirkt, um so mehr dringt sie zu den Rückständen der alten Kulturen und Klassenverhältnisse vor"193 - und der, der als Akteur einwirkt, hat sich nach TOURAINE längst von einer Selbstortung befreit, die sich an Funktionen oder Status orientierte; er bildet seine Identität über Spannungen, Konflikte, kulturelle Einbrüche usw., in die er involviert ist194. So.
Und in dieser Situation, in der die Gesellschaft ansetzt, durch Aktion, durch Aktivierung ihrer sozialen Ordnung sich ihrer bestimmten, selbstproduzierten Veränderlichkeit gewahr zu werden, kommt der Augenblick der Soziologie zum tragen, speziell der Augenblick ihrer Fähigkeit, getrennt Verbundenes, zusammengehörend Auseinandergerissenes wieder als zerbrechliche Einheit zu deuten. Dieses Deuten der Soziologie - ADORNO zufolge die herausragende Art und Weise, an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr zu werden195 - , also dieses soziologische Deuten gesellschaftlicher Totalität zu einem Zeitpunkt, in dem ihr Verdeckt- und Offenbahrwerden gleichermaßen die grundlegenden Identitätsangebote, Klassen- und Herrschaftslagen sowie die Handlungssysteme einer Gesellschaft einer produktiven Re- und Neukomposition überantwortet; dieses Deuten also hat sich nun als praktisches Deuten zu bilden, als eine reflektierende Tätigkeit, die sich nicht mit den zu reflektierenden Fakten in Übereinstimmung bringen darf, sondern sich an der `Leitdifferenz` System-Konflikt um das zu kümmern hat, was sich der Verdinglichung dadurch entzieht, daß es diese durch ihre maßlose Expansion immanent sich negieren läßt [die letzten Sätze fast nur noch unter Schmerzen sagen könnend, da selbstverwirrt]...
PERNE: [läßt kleine Pause, um Joosts black out etwas wirken zu lassen]...Oh, das klingt aber ganz nach LUKACS optimistischer Verdinglichungstheorie196, was Sie da andeuten. Das hat mit TOURAINE jetzt aber nichts mehr zu tun...
MODERATOR: [resigniert]...Das führt wieder in eine Sackgasse, wie ich sehe. Lassen Sie mich das Ausgangsproblem anders angehen. Anläßlich des 25. Soziologentages am 9.Oktober 1990 in Frankfurt verfassten BERND GIESEN und CLAUS LEGGEWIE einen Artikel197, worin sie über die Thematisierung der Vereinigungsprozesse von West- und Ostdeutschland zu einer kurzen Abrechnung mit dem noch vorherrschenden und aus ihrer Sicht obsoleten Paradigma der westdeutschen Sozialwissenschaften gelangen, um daran anschließend ein anderes Verständnis ebendieser Wissenschaften und einen neuen theoretischen Focus anzudeuten, damit sich die Sozialwissenschaften, "die sich auf diese Weise der Postmoderne stellen..., nicht die Chance einer zweiten Aufklärung" vergeben. Ihre Erwähnungen sind nicht orginell, scheinen sogar manchmal von TOURAINE abgekupfert zu sein. Etwa: "Die Utopien sind flügellahm geworden, mehr noch: In postmodernen Gesellschaften sind alle Utopien schon Wirklichkeit und die bestehenden Verhältnisse wahrscheinlich unüberbietbar geworden". Oder, an anderer Stelle: "Im Abschied vom Gegensatz zwischen System und Wandel wird eine radikale Prozeßorientierung sichtbar, die jede geschichtsphilosophische Vorgabe abgeschüttelt hat. Auch der Begriff der Krise geht in den Strudel dieser radikalen Prozeßorientierung unter". Das deckt sich in etwa mit TOURAINES theoretischer Vernichtung der Sozialphilosophie198. Kurz und knapp: Mit dem Abräumen all der liebgewordenen Gegensätze wie Individuum und Gesellschaft, System und Wandel, Fortschritt und Krise, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Arbeit und Kapital, Ascription und Achievement usw. verliert die westdeutsche Sozialwissenschaft, die in den 70er Jahren eine dogmatisch bis undogmatisch eingegangene Liaison mit dem sozialistischen Gesellschaftsprojekt unterhielt, ihren unterm Pflaster liegenden Strand, der für sehr vieles herzuhalten hatte, nicht zuletzt für Apologetik. Und sie verliert ihn total; nicht einmal die Trostformel `Unter dem Pflaster liegt zwar Sand, aber es ist noch ein weiter Weg bis zum Strand` kann heute geäußert werden, ohne daß man der Naivität oder des Zynismus bezichtigt wird199. Nirwana, wo man auch hinschaut. Demgemäß sehen GIESEN und LEGGEWIE nur noch eine sei es intellektuelle, sei es sozialwissenschaftliche Kritik für gerechtfertigt an, die sich eines apriorischen Engagements für ein bestimmtes Geschichtssubjekt entschlägt, gleichsam aber Distanz zum Gegebenen wahrt und die ihre in den 70er Jahren aufgeladenen Vorstellungen von Möglichkeiten der Demokratie und gesellschaftlicher Emanzipation zu stutzen habe auf das Niveau etwa eines POPPER oder eines BERLIN200. Der Intellektuelle habe sich nur noch um eins zu kümmern: Seine intellektuelle Autonomie. Und er hat...
PERNE: [etwas ironisch]...Genau, werden wir alle Mitglieder in PIERRE BOURDIEUS Internationale der Intellektuellen201...
MODERATOR:... Nur noch von einem Dogma auszugehen, nämlich dem, daß Pluralität als Prinzip der Gesellschaft nichts großformatig-einheitlich zu Denkendes mehr zuläßt, sondern nur noch temporäre, fragmentarische, provisorische Blicke auf Beziehungen, Abhängigkeiten und Prozesse; weg von den großen Entwürfen, hin zu den sei es empirischen, sei es essayistischen Skizzen. Oder anders gesagt: Weg von der hintergründigen Langzeitdokumentation, hin zur aktuellen und sehr beweglichen, zur `realzeitigen` Live-Reportage202. Es geht schließlich um die Inthronisierung letztlich nur provisorischer Theorien mittlerer Reichweite als das Höchste, was man erwarten dürfe.
Braucht man dazu noch Soziologie, noch Sozialwissenschaften, die doch einmal als Institution galten, der das Erbe der Aufklärung überantwortet wurde, wie ADORNO einmal bemerkte?
RÜHM: Also ich schlage erst einmal eine Vereinfachung vor. Sie können die Soziologie doch recht plausibel unterteilen in zwei Selbstverständnisse. In dem einen ist Soziologie eine Fachwissenschaft, die mit ihren analytisch-empirischen Methoden Daten zu erzeugen hat, die für andere Systeme der Gesellschaft - Wirtschaft, Werbung, Verwaltung, Polizei, Politik usw. - zu wichtigen Informationen werden können, je nach Ausrichtung der Erfolgsorientierung - also mehr Umsatz, mehr Kontrolle, mehr Anpassung, mehr Integration usw.: Soziologie als Zulieferin, auch von Problemen, um das nicht zu vergessen. In dem anderen Selbstverständnis versteht sich Soziologie als Nachlaßverwalterin einer in postmetaphysischen Zeiten überflüssig gewordenen Philosophie, also als einzig übriggebliebene Diziplin innerhalb der Sozialwissenschaften, die "den Bezug zu Problemen der Gesamtgesellschaft behalten" hat203, die sich vordringlich um das kümmert, was "den anderen, funktional genauer spezifizierten und in gewisser Weise stärker ausdifferenzierten Teilsystemen zugrunde" liegt204. Spezialisierung auf den Zusammenhang, wie es BECK formulierte, in eins gehend mit einer weiterhin beizubehaltenden Oppositionshaltung gegenüber funktionalistischen, ideologischen oder machtpolitischen Vereinnahmungen, die in der Regel die Regel sind205...
JOOST:...Waren, sie waren die Regel. Jetzt sind Gesellschaftstheoretiker
doch schon froh, wenn ihr Wissen für eine mitternächtliche Talkshow
nachgefragt wird...
[ 18. Die Undeutlichkeit der Politik und des Ideologischen ]
RÜHM:...Oh nein, ganz so ist es noch nicht. Die Ideologien und mit ihnen die zumeist absurden Konflikte über Grundsatzentscheidungen oder auch Richtungen, die sich dann, wenn sie in der Praxis in politischen Operationen sichtbar werden sollen, zumeist in Luft auflösen, sind durchaus noch vorherrschend. Denken Sie nur an das Phänomen der politischen Inversion206. Inversionen - verstanden als markante Abweichungen von der zuvor proklamierten politischen Linie - festigen indirekt die Bezugnahme auf politische Grundüberzeugungen, da Abweichungen von diesen im praktischen Geschäft der Politik meist negativ beurteilt werden. Die Grundüberzeugungen nehmen an Wert - Stellenwert - zu, je weiter sich z.B. eine Partei von ihnen entfernt. Es ist dann zumeist eine fast theologische Arbeit, Grundüberzeugungen, also Weltbilder so umzuinterpretieren, daß sie auch Kontradiktorisches aufzunehmen in der Lage sind, ohne mit der dafür notwendigen Taktik in eins zu fallen - auch wenn im politischen Betrieb genau für diese Spannung genügend Verhaltensweisen institutionalisiert sind, die sich in Worten wie Loyalität, Parteidiziplin, Opportunität usw. ausdrücken...
MODERATOR:...Überschätzen Sie jetzt nicht das politische System und unterschätzen Sie nicht die sogenannten Wähler!? Politische Inversionen gibt es nur da, wo sich unterschiedliche Parteien zu unterscheiden wissen, und zwar in ihren fundamentalen bzw. ideologischen Straten. Und wenn man von den kleinen bzw. extremen Parteien absieht und sich auf die zwei Parteien konzentriert - das politische System im Kapitalismus ist, ausgesprochen oder unausgesprochen, ein Zweiparteiensystem - , dann sichtet man nur noch in Details frappante Differenzen, sagen wir in subpolitischen Teilbereichen wie Verkehrspolitik, Steuerpolitik, Energiepolitik usw., aber nicht mehr in solchen Straten, die ideologische oder gar gesellschaftstheoretische Konturen zum Vorschein bringen. Bei der kommunalen Politik ist das Absterben politischer Anreicherung von Entscheidungen längst evident; hier geht der Trend dahin, daß sich die regierende Partei oder Koalition nicht nur als politisches Management begreift, sondern auch ihre Arbeit danach ausrichtet, ein in ökonomischen Terms zu beurteilendes Dienstleistungsunternehmen zu sein...
JOOST:...Das stimmt so aber nicht. ERWIN K. und UTE SCHEUCH haben doch erst kürzlich das Gegenteil empirisch nachgewiesen und von einer überraschend ausgeprägten ideologischen Codierung der Kommunalpolitik gesprochen207, sogar von einer Fortentwicklung politischer Seilschaften zu Feudalsystemen, und das nicht nur beschränkt auf Kommunen, sondern auch innerhalb der Bundesebene von Politik...
MODERATOR:...Was doch nur zeigt, daß mafiahafte Strukturen innerhalb der Politik Reaktionen darauf sind, daß die systemeigenen Medien längst von anderen okkupiert sind...aber ich war bei politische Inversion. Nehmen Sie die Außenpolitik als einen Bereich, in dem die Verschiedenheit politischer Ideologien doch entschieden zutage treten müsste; aber auch hier werden - abgesehen von Details - politische Entscheidungen danach getroffen, wie sie an die vorhergehenden der vorherigen Regierung relativ bruchlos angeschlossen werden können208. Und zuguterletzt, Herr Rühm: Glauben Sie nicht auch, daß die Wähler - sind sie nun Parteimitglieder oder nicht - in der Mehrzahl durchaus wissen, daß sie - um es negativistisch zu formulieren - eigentlich nur noch die Wahl haben zwischen `freiheitlich demokratischer Grundordnung` und Dagegenseienden um jeden Preis, aber nicht mehr die zwischen Parteien, die auf dieser FDGO fussen? Ist nicht auch diese Art Entpolitisierung der politischen Grundsatzdifferenzen mitverantwortlich für die Primitivisierung der Politik in Gestalt neofaschistischer Parteien, die nun das gesellschaftlich artikulieren, was bis dato zwar massenhaft gedacht, aber nur gesellschaftsirrelevanten Stellenwert hatte?
RÜHM: [sichtlich erregt] Ja was wollen Sie denn? Wollen Sie eine Gesellschaft, die sich durch politische Polarisierung zusätzlich labilisiert? Die die Abgrenzungsschaumschlägerei während Wahlkampfzeiten auf das ganze Jahr ausdehnt? Ich versteh' ehrlich gesagt nicht ganz Ihre unterliegende Perspektive bei dem, was Sie sagen. Sind Sie unzufrieden darüber, daß es im Jahre 1992 keine politische Grundsatzdebatte mehr gibt über so fundamentale Fragen wie `Kapitalismus oder Sozialismus?`, wie `Repräsentative Demokratie oder..ja, was nehmen wir da...oder Basisdemokratie?`, wie `Natomitgliedschaft oder nicht?`, `Vergesellschaftung der Produktion oder Privateigentum?` usw.? Ist es für Sie eine einzige Mélange aus Manipulation, indirekter Repression und Verdummung, wenn Fragen dieser ideologischen Gewichtsklasse nicht mehr politisch verhandelt oder sagen wir besser umkämpft werden? Können Sie wirklich keinen Fortschritt - Fortschritt jetzt im emphatischen Sinne - darin sehen, daß das politische System schon Mücken zu Elephanten machen muß, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, hier - also in der Gesellschaft - bestehen gesellschaftliche Interessenkonflikte, deren Lösung unbedingt der politischen Auseinandersetzung, des politischen Disputs, der politischen Bearbeitung bedarf? Muß die gesellschaftliche Relevanz politischer Kontroversen und Konflikte wirklich so existentiell, so vereinnahmend sein wie etwa in Jugoslawien, in der ehemaligen UdSSR, in Südkorea usw., damit man - oder doch wohl nur Sie - sagen können, hier widerspiegele das politische System authentisch die Wucht der existierenden Gegensätze in der Gesellschaft - womöglich noch die der eingeschlafenen Klassen?
MODERATOR: [Tonfall unernst] Wenn das nicht eine Sternstunde der Rhetorik war, dann weiß ich es nicht, aber Ernst beiseite. Ich glaube, wir wiederholen uns jetzt.
In einem anderen Zusammenhang wurde vorhin ein Zitat von PIERRE REVERDY erwähnt, etwa des Sinngehalts, daß es heutzutage für den gegenwärtigen Menschen nur noch die undankbare Aufgabe gäbe, mit Details Lücken zu füllen, da die essentials, seien es nun politische, theoretische, soziale, technologische usw., schon ausgehandelt worden sind, also nur noch der Frage nach dem Wie, nicht mehr der nach dem Ob zugänglich gemacht werden können. Dieser Behauptung kann man - so meine ich - nur zwiespältig gegenüberstehen, soweit man daran interessiert ist, jenseits von Superstrukturen noch Undeterminiertes zu erwarten. Also: Zum einen kann ein politisches Detail aufgrund fehlender Vernetzung in großflächigen politischen Koordinatensystemen eine relativ eigenständige und für den politischen Verbraucher doch recht gut konsumierbare politische Aufgeladenheit erlangen. Denken Sie etwa an die Stadtteilpolitik oder auch an die Frage der Streichung und Verschärfung des Paragraphen 218, ein issue mit mittlerweile über hundertjähriger Tradition. Solche Details sind komplex genug, um mindestens zwei divergierende Interessen auszubilden, und unterkomplex genug, über die jeweiligen Interessengrenzen hinaus Interesse und Verstehbarkeit an sich zu binden. Nicht zuletzt sind sie geeignet für die massenmediale Aufbereitung und für komplexitätsreduzierende Personalisierung. Sie erlauben den institutionalisierten politischen Parteien Auftritte, um sich gegenseitig abzugrenzen, sie erlauben dem politischen Verbraucher, mitzureden, und sie erlauben politischen Außenseitern, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, kurz: Sie erzeugen das Bild eines funktionierenden politischen Systems, das durch offensichtliche Interessenunvereinbarkeit seine Notwendigkeit als `Arena` für Auseinandersetzungen zu legitimieren versteht; die Gesellschaft kommuniziert und hält sich an Spielregeln; das Einhalten der Spielregeln zeigt allen, daß die gesellschaftliche Kommunikation noch in Ordnung ist. So.
Zum anderen aber können sich solche Details auch verwandeln in Schneebälle oder in Staubsauger, können sich entpuppen als Transportmittel, die immer mehr politische Fragen aufladen und immer grundsätzlicher werdende politische Straten durchqueren, können also eine gesellschaftspolitische Relevanz erlangen, die weit über das hinausgeht, was das Detail anfangs politisch zu affizieren vermochte. In solchen politischen Sachverhalten, in denen nicht mehr die Frage, etwas anders zu machen, sondern die, etwas anderes zu machen, zur Disposition steht, zeigt sich doch sehr deutlich die Unfähigkeit der politischen Parteien, grundsätzliche Differenzen auch operational durchzuhalten209. Ich will damit nicht sagen, daß nur dann das Gebot politischer Pluralität gewahrt bleibt, wenn zu jedem Thema mindestens zwei Entscheidungsrichtungen bis in die Fundamente hinein durchgehalten und vertreten werden, wie es sich etwa in den 50er Jahren zwischen CDU und SPD bei der Frage der Wiederbewaffnung dargeboten hat. Ich meine nur, daß eine allzu voreilige Konvergenz politisch verschiedener Interessen bei Fragen, die grundsätzlich sind, die den gemeinsamen `demokratischen`, ordnungspolitischen Kontext einer politischen Operationalisierung zuführen bzw. entscheidungswürdig werden lassen, daß also dann eine voreilige Aufgabe politischer Differenz mit dazu führt, bestimmte Dimensionen von Sachverhalten zu tabuieren, indem diese als vollständig jeglicher politischen Verhandlung entzogene Sachverhalte bedeutet und dann ignoriert werden. Solch comment sense politischer Angestellten innerhalb des Systems, nämlich ab einer gewissen Tiefenschärfe der gesellschaftlichen Relevanz eines politisierten Sachverhalts die Rolle des Interessenpolitikers abzulegen und sich schnell die des staatstragenden, demokratieverteidigenden, bestimmte institutionelle Infrastrukturen der Gesellschaft vorbehaltlos akzeptierenden Staatsbürgers oder Staatspolitikers anzueignen, trägt mit dazu bei, bei großflächig angelegten Problementscheidungen einfach nicht mehr die richtige Verhältnismässigkeit des politischen Durchsetzenwollens zu finden, also kurz: Man verlernt, auf Grundprobleme anders denn mit Aktivierung der Detailpolitisierung zu reagieren210. Nichts anderes sagt doch auch BECK, wenn er feststellt, daß die Revolutionen in der technologischen und in der kulturindustriellen Sphäre passieren, und die offizielle Politik nicht mehr zu machen bereit ist, als über diese öffentlichkeitswirksam zu debattieren bzw. nachträglich meist unerhebliche gesetzgeberische Floskeln zu emittieren211.
Sehen Sie, das Problem, das ich hier umschreiben möchte, ist doch folgendes: In den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften regrediert die Fremd- und Selbsteinschätzung sowie die `Handlungsmächtigkeit` des politischen Systems in dem Maße auf das Format der Realpolitik, also auf eine Programmatik politischen Handelns, die sich nur noch in Residualkategorien und dann zumeist nur rhetorisch in einem großformatigen Zeit- und Zukunftshorizont ihrer selbst vergewissert, wie die Dringlichkeit einer zeitlich großformatigen Neubeschreibung zunimmt. Es ist quasi eine Schere, die sich da auftut: Der Umbau der Industriegesellschaft212, die Neukomposition der Sozialstaatlichkeit, die Neugestaltung wirtschaftspolitischer Beziehungen auf der Ebene des Welthandels, die Notwendigkeit finanz- und produktionspolitischer Veränderung der internationalen Arbeitsteilung213, also zusammengefasst: Die Notwendigkeit der Neufindung eines Sozial- wie auch Naturvertrages Rousseauschen Ausmaßes, modifiziert durch die `Weltgesellschaft` als Referenz, auf der einen Seite, und auf der anderen die immer schneller voranschreitende Miniaturisierung der gesellschaftspolitischen Relevanz politischer Systeme als der Ort, wo noch am wenigsten schlecht soetwas wie allgemeinheitsorientierte Entscheidungen behandelt werden können, wenn nur genügend Wille da wäre...
PERNE:...Oh nein, kommen Sie mir nicht mit Wille...
JOOST:...Also ich versuche mir das jetzt mal vorzustellen, worauf Sie da hinauswollen, und Sie haben doch wohl noch die Soziologie oder die Gesellschaftstheorie vor Augen. Also, wie sähe das aus, plakativ gefasst? Die Soziologie als Ort großer Erzählungen bzw. Theorien tritt als eine Art public relation - Agentur ins politische Geschäft und natürlich auch in die televisionäre Produktion von `Gesellschaftsbildern` ein214, also in die Bereiche, in denen ihre praktische Ablegerin, die allerlei Institutionen dienende empirische Sozialforschung, schon längst Fuß gefasst und sich mittlerweile unentbehrlich gemacht hat, um dort massiv - wenngleich sublim - für die großen anstehenden Gesellschaftsveränderungen Werbung zu machen, schlicht und einfach Werbung, etwa so, wie es die Banken in Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung schon zaghaft praktizieren215. Ich stelle mir das jetzt wirklich mal praktisch vor, also jenseits von irgendwelchen parlamentarischen Enquète-Kommissionen, von grundsätzlichen Parteiprogrammen, von BOURDIEUS Kommunikationsnetzen der Intellektuellen216 und auch jenseits von politischen Talkshows, also jenseits der Felder, in denen noch aromatische Erinnerungen an gesellschaftstheoretischen Elaboraten zum Vorschein kommen können; oder besser gesagt: Ich versuche mir vorzustellen, wo Gesellschaftstheorie und das Debattieren über sie ausdauernd Einlaß fände außerhalb ihrer wissenschaftssystemischen Heimstatt und außererhalb einiger schon höchst privatistisch anmutenden Publikationen...
RÜHM:...Aber Herr Joost, das ist doch - verzeihen Sie bitte - einfach zu vulgär gedacht, wenn Sie das hochspezifizierte Wissen gesellschaftstheoretischer Reflexionen nun auch noch durch das Gebot der größten Zahl bestimmt sehen möchten. Ich sehe es, um es zu wiederholen, geradezu als Erfolg an - als Bestätigung, daß die bestehende politökonomische Komposition der Gesellschaft die richtige, weil unhintergehbare ist - , daß es keiner weite Kreise der Öffentlichkeit vereinnehmenden Grundsatzkonflikte über elementare gesellschaftliche Orientierungen mehr bedarf, wie sie im 19.Jahrhundert noch wüteten; ich sehe es als Erfolg an, daß es soetwas wie eine `FDGO-Clique` gibt...
PERNE:...HABERMAS versucht ja auch schon mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus einen Fluchttunnel für ehemalige Linke zu graben, der genau da ans Tageslicht stoßen soll, wo schon etliche mit ihren Füssen herumstehen, nämlich auf dem Boden des Grundgesetzes...
RÜHM:...Daß es eine solche Clique gibt, ein Begriff übrigens, der von den zumeist extremen Gegnern parlamentarischer Demokratie - links wie rechts - mit Verachtung belegt wird, ist doch, bei aller Kritik, gerade angesichts der deutschen Geschichte beachtlich. Für mich ist es ein Ausdruck real gewordener Utopie, wenn heutzutage ein beinahe feuilletonistisches Verhältnis zu in gesellschaftstheoretischer Absicht erstellten `Mängellisten` der Gesellschaft machbar ist; wenn fast jeder Skandal, jede öffentliche Diskreditierung, jede Entlarvung217 von - meinetwegen auch - die Grundansprüche der Demokratie erschütternden `Verfehlungen` sich schon allein deswegen wieder entschärfen, weil er, der Skandal, und sie, die Entlarvung, überhaupt möglich sind218. Man könnte jetzt noch vieles aufzählen, das doch nur eine Grundüberzeugung zu transportieren hätte, nämlich: Gesellschaftstheorie kann heute getrost dem Journalismus überantwortet werden219. Und außerdem, bedenken Sie: Der letzte große Wurf - meines Wissens von NIKLAS LUHMANN - aus der Ecke der Soziologie mit universalistischen Anspruch will ebendiesen Anspruch gerade noch für das `Subsystem` Soziologie innerhalb des Subsystems Humanwissenschaft innerhalb des Systems Wissenschaft in Anschlag bringen, aber mehr auch nicht. Sehen wir doch endlich ein, daß das Bedürfnis der Gesellschaft, reflexiv an ihre Grenzen des Sinns, der Selbstorganisation, der Enttäuschbarkeit, der Orientierung und der Gestaltbarkeit zu stoßen bzw. gestoßen zu werden, ausläuft und nur noch von Experten verwaltet wird. Warum konzedieren wir nicht einfach, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, daß die Größendimensionen, die Gesellschaftstheorien in Anschlag bringen, nicht mehr konstruktiv, nicht mehr theoretisch, abstrakt und programmatisch zugänglich sind, sondern sich uns allenfalls in Destruktionen, Implosionen oder gar Explosionen erkenntlich und begreiflich machen?; daß sich das `Ganze` nur noch von seiner negativ dialektischen Seite, und dann nur den wahrnehmenden, nicht den traditionell erkennenden Organen öffnet? - die Postmoderne geriert sich zum Teil nicht umsonst als Lakai eines alles verschlingenden Ästhetizismus - ; also in nuce: Warum begeben wir uns nicht endlich - wir, die vermeintlichen Supervisors sozialer Beziehungstotalität - in die tausendfach vorhandenen Zeit-, Bewältigungs-, Plannungs- und Zukunftshorizonte der tausendfach verschiedenen Schnittstellen des Alltags?; warum kümmern wir uns nicht endlich um die kleinen Friktionen und Konflikte zwischen Menschen, Strukturen, Organisationen, Mächten, Gesetzen und Vorstellungen und belassen die Zukunftsplannung für die Gesellschaften nicht einfach dort, wo sie - ungerechtfertigterweise, aber wohl unverrückbar - am nachhaltigsten Fuß gefasst hat: Bei den Großbanken, den Schlüsselindustrien, den Schlüsselwissenschaften, bei der kleinen Clique von Spitzenpolitikern, bei der kleinen Clique von Spitzenjournalisten? Warum lassen wir nicht...
JOOST:...Also Ihre geistige Flora harrt wohl seit langem der erneuten Bewässerung, um mal meine Verwunderung über Ihr Gesagtes geschwollen kundzutun. Erstens scheinen Sie mich kraß mißverstanden zu haben. Meine Vision einer gesellschaftstheoretischen PR-Agentur innerhalb der politischen und telematischen Sphäre sollte gerade die Absurdität des Gedankens einer neuzuerweckenden Gesellschaftstheorie in praktischer Absicht glossieren, wie Sie ihn [zum Moderator gerichtet] vorhin äußerten...
MODERATOR:...Das habe ich niemals behauptet! Ich sprach von einer Unfähigkeit der politischen...
JOOST:...Sie sprachen davon, daß das politische System vor lauter Detailbäumen nicht mehr in der Lage ist, den Urwald der Zukunftsprobleme politisch einholen zu können, weil dabei unausweichlich gerade die Äste abgesägt werden würden, auf denen sich die einrichteten, denen die Anarchie des Urwalds mehr als förderlich ist220...
RÜHM:...Um Gottes willen! Könnten Metaphern Lärm machen: Wir säßen jetzt mit zerplatzten Trommelfellen hier...
JOOST:...Was Ihre Genauigkeit des Zuhörens wohl kaum beeinträchtigte...
RÜHM: [sich offen verstellend]...Können Sie das wiederholen? Ich versteh' Sie so schlecht..hahhaha...
JOOST: [wieder sachlich]...Also erstens: Der gesellschaftspolitische Stellenwert abstrakter, universalistischer Gesellschaftstheorien verliert in dem Maße seine in ideologischen Zeiten erreichte Höhe, wie sich Deregulations- oder auch Derangementüberzeugungen noch in den kleinsten Kapillaren eines über Gesellschaft reflektierenden Denkens einnisten. Natürlich kann man sagen, der Liberalismus in seinen verschiedenen Ausformungen scheint sich hier totzusiegen; Fakt bleibt aber, daß das Wort Steuerung - auch mit dem etwas paradoxierenden Adjektiv `indirekt` - heutzutage als Insigne eines dem 19.Jahrhundert verhafteten Denkens gilt und allenfalls im sich neutral gebenden Begriff der Kontrolle Spuren hinterläßt - ich beziehe das jetzt auf die praktische, nicht auf die systemtheoretische Dimension.
Natürlich hat die Verunmöglichung `großer` Gesellschaftssteuerung vielfältige Ursachen, nicht zuletzt eine, die sich in der Selbstinhibierung demokratischer Prozeduren niederschlägt. Man überlege sich nur einmal das Szenario, daß die Einführung `des` Computers in die Gesellschaft und die damit einhergegangenen, streckenweise totalen Veränderungen - arbeitsmarktpolitisch, produktionstechnisch, ausbildungspolitisch, marktwirtschaftlich, militärpolitisch, kultur- und verfassungspolitisch usw. - nicht einfach vom Markt ausgegangen wären, sondern als politische Ziele an erster Stelle in einem Parteiprogramm gethront hätten. Können Sie sich vorstellen, wie weit wir heute computerisiert wären, wenn die Durchsetzung der Computerisierung die Labyrinthe der Kompromißfindung, der Technikfolgenabschätzungsgutachten, der parlamentarischen Debatten- und Ausschußkultur, der Projektierung und der Begleitforschung, der medialen und bürgerinitiativistischen Verwurstung erst noch zu durchstreifen gehabt hätte? Ich meine das jetzt durchaus im Sinne eines Plädoyers für das demokratische Procedere und für Prozesse der kommunikativen Entscheidungsfindung, also für die Interpenetrationszone von Diskurs und Politik, wie RICHARD MÜNCH vielleicht sagen würde221.
Nun ist es aber - um beim Beispiel zu bleiben - kein Zufall, daß die Implementierung der Computertechnologie in die verschiedensten Sphären der gesellschaftlichen Systeme und in die Lebenswelt doch eigentlich nur unerheblich organisierten Widerstand und bloß unerhebliche Kritik innerhalb der Bevölkerung oder gar der Parteien auf den Plan treten ließ. Der Adressat solcherart Kritk, das wirtschaftliche System im Weltmaßstab, ist und war einfach zu amorph, zu unpersönlich, zu abstrakt...
PERNE:...Gehalten worden! Da steckt doch noch enorme Arbeit dahinter, um entscheidende Vergesellschaftungsweisen hinter den Schutzschild der Weltkonkurrenz und des Sachzwangs zu verstecken...
JOOST:...Als daß er einer geregelten öffentlichen Prozedur des Streitens und des Konfligierens hätte ausgesetzt werden können222, einer Prozedur, die nicht zum Ziel gehabt hätte, die Marktumwelten erst einmal diskursiv an den Markt anzupassen, sondern die den Markt als Umwelt bedeutet hätte, die Informationen emittiert, und die dann diese Informationen daraufhin hätte abklopfen müssen, inwieweit sie sich mit den Kommunikationsweisen etwa des Alltags, der Kultur, aber auch der bisherigen Ökonomie vertragen; all das ist nicht der Fall gewesen. Ganz anders nun die bis heute noch erfolglose Implementierung der Kernenergie223 - gemessen an den ursprünglichen Vorstellungen der Energieproduktionsindustrie - . Das genuin militärpolitische `Design` dieser Energieform, die blank geputzte Autorenschaft der Politik für ebendiese, der erhöhte Legitimierungsdruck, den das politische System nun mal auszuhalten hat; all dies hat die zutiefst tragweite Entscheidung, Atomenergie zu forcieren, öffentlich angreifbar und disponibel gemacht. Der Gegner war erkennbar, seine Abhängigkeit vom Wählerverhalten konnte streittaktisch einkalkuliert werden, ebenso seine Grenzen machtpolitischer Sanktionierung, gezogen von Rechtsstaatlichkeit, investigativer Presse, internationalem Reputationsentzug und moralisch aufgeladener Fernsehöffentlichkeit. So.
Wirklich tragweite, fundamentale gesellschaftliche Entscheidungen oder Orientierungen, wie Sie sie [zum Moderator gerichtet] angesichts des zukünftigen Handlungsbedarfs fordern, sind also zuerst einer Politisierung zuzuführen, sind also als verhandlungsfähige auszuweisen - und zwar zwischen professionalisiertem politischen Geschehen und unmittelbarem Lebenszusammenhang, nicht bloß in den Bildern, die zwischen beiden Wirklichkeiten eine Art imaginäre Brücke schaffen -, und haben - für mich ein tatsächlicher Lernerfolg der Demokratie - mehr als nur Akzeptanz auf ihre Seite zu bringen; einfache Mehrheiten - so man der Auffassung ist, daß Demokratie eine nach oben offene Verbreiterungsskala besitzt - sind dann nicht mehr möglich. D.h., das politische System hätte sich der Gewaltigkeit und Überkomplexität der anstehenden Probleme - fundamentale Rekomposition beinahe aller differenzierten Systembeziehungen in der Gesellschaft plus Vergesellschaftung der Referenten `Ökologie` und `One world` - demokratietechnologisch oder besser formaldemokratisch anzupassen; es müsste also noch diejenigen Kategorien - wiederum demokratisch - erzeugen, mit deren Hilfe die Umsetzung der Probleme in operative Entscheidungen weiterhin auf einem hohen, fortschrittlichen Demokratisierungslevel gewährleistet wäre. Nur: Dieses Level - Stichworte wären etwa Bürgerbeteiligung, Entgrenzung der Planungsverantwortlichkeit, lange Thematisierungs- und Projektierungslaufzeiten - der Demokratisierung, wäre es denn durch die nicht mehr schweigende, sondern engagierte Mehrheit `mündiger Bürger` operational haltbar, dies Level blockierte sich selbst, bliebe - so meine Befürchtung - doch nur bei der kommunikativen Verflüssigung stehen, ertränke in der Konsensfindung und in der Herstellung diskursiv einwandfreier Bedingungen der Möglichkeit rechtfertigungswürdiger Entscheidungen. Aber auch nur davon abgesehen: Ich wüsste nicht einmal, wie eine schweigende Mehrheit in eine engagierte oder zumindest interessierte zu transformieren wäre, ohne dabei an einen fanatischen Mob, an ein law-and-order- bestimmtes politisches Klima, ohne an autoritäre, antiintellektualistische, minderheitenfeindliche Strukturen denken zu müssen - ich gebe zu, damit in der Tradition eines vielleicht typisch deutschen Geschichtsverständnisses zu verharren, eines Verständnisses, das, statt Staatsmißtrauen zu bilden, sich eher einem Mißtrauen in die Zuverlässigkeit der Bevölkerung, "die ihre Rechte gegen den Staat wahrnimmt und sich unterhalb der Staatsebene organisiert", hingibt224 -. Der Drang, alles und jedes politisieren zu müssen, wie es etwa bei uns ab 1968 nötig wurde, zeitigte heutzutage - und das ist meine feste Überzeugung - Zustände undemokratischsten Ausmaßes, auch wenn ANTJE VOLLMER und Co. Gegenteiliges behaupten224a. In diesem Sinne bin ich übrigens postmodern, denn ich bin für "das Ende des Volkes als König der Geschichten"225.
Soviel zum ersten Punkt, warum ich nicht via einer alltagsfähig zu machenden Gesellschaftstheorie auf das politische Pferd setzte, und das nur, um beim letzten großen Verteilungswettkampf der Gesellschaften möglichst in der letzten leben zu können, die das Licht auf Erden ausknipsen darf226.
PERNE: Auf was setzen Sie denn?
JOOST: Auf Rouge, wenn ich Spieler wäre, der ich aber nicht bin. Nein, ich halte mich an die audiovisuelle oder demnächst wohl audioimaginative oder telepräsente oder was-weis-ich- Kommunikation, aber dazu vielleicht nachher noch etwas227. Ich möchte noch kurz auf Herrn Rühm eingehen; da war doch sehr vieles dabei, was so einfach nicht stimmt.
Natürlich gibt es Grenzen der Bewußtmachung, der theoretischen Versinnung und der Dauerreflexion in Gesellschaften. Natürlich gibt es ein sogenanntes Nichtwissen konstitutiven Ranges für die moderne Gesellschaft, ohne das es der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit nicht gelänge, außerhalb faktischer Anomie zu bleiben. HONDRICH meinte gar in einem Vortrag über Skandalmärkte, daß "die Gesellschaft am Bewußtsein der Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Regelungsmechanismen verzweifeln" würde228, wenn das inoffizielle, das schattenhafte Reich gesellschaftlicher Normierung und Regelung sich auf den Weg machte, die Offizialität und Transparenz der schon offenen, durchgearbeiteten, bewußten Normierung zu erlangen. Es scheint also innerhalb des moralisch-normativen Codes einer modernen Gesellschaft durchaus soetwas zu geben wie Grenzen der Reflexion und der öffentlich zelebrierten kommunikativen Verflüssigung229, die, werden sie nicht eingehalten, sogar verherrende bis kontraproduktive Folgen zeitigen können. Diese Grenzen aber...
MODERATOR:...Welche zum Beispiel?
JOOST: [überlegt] Nun, nehmen Sie etwa - jetzt verstanden als kleines Beispiel - den Skandal der Parteienfinanzierung in der BRD in den 80er Jahren. Alle Welt konnte sich damals, als die Fakten auf dem Tisch lagen, bestätigt wissen, daß sich die Parteien genau so verhielten, wie man es von ihnen erwartete - bezogen auf ihre Finanzierung, auf ihre chronische Geldknappheit - . Nun, das war allerdings nicht der eigentliche Skandal, abgesehen von den anfänglichen rituellen oder habituellen Empörungsbekundungen der Medien, der Öffentlichkeit und des politischen Systems. Nein, das war nicht der Skandal, weil mit dieser Enthüllung nämlich sichtbar wurde, wieviel Energie und Phantasie die entsprechenden Parteien aufbrachten, um ihre kriminelle Finanzierung mittels Spendenwaschanlagen zu verhüllen. Alle Welt konnte sehen, daß diese Art der Finanzierung mit dem Bewußtsein, etwas Verbotenes zu tun, vor sich ging. Und daß damit die Norm, Parteien nur auf rechtlich einwandfreie Weise zu finanzieren, indirekt bestätigt, ja anerkannt wurde. Und schon konnte sich im öffentlich gemachten Kollektivgewissen das Gefühl breit machen, daß der moralisch normative oder gar demokratische Zustand dieses Gemeinwesens noch in Ordnung sei, wenn selbst die Parteien alles daran setzen, diesen Zustand nach außen hin als Schein aufrechterhalten. Der eigentliche Skandal war doch dann der, daß im Parlament eine allgemeine Amnestie gefordert bzw. zur Diskussion gebracht wurde, die als politische Forderung nichts anderes bedeutete, als nun endlich mit diesem moralischen Versteckspiel aufzuhören und die Illegalität der Finanzierung zu erlauben. Die inoffizielle, illegale `Unterwelt` begehrte Einlaß ins Reich der Offizialität, versuchte sich abzukoppeln von der indirekten Steuerung ihres Handelns. Erst hier also, als es nicht mehr um Parteienfinanzierung ging, sondern darum, die hochkomplizierte Balance zwischen Ober- und Unterwelt - wie es HONDRICH formuliert -, zwischen reflexionszugänglichen und die Reflexion scheuenden normativen Regelungen in der Gesellschaft grundsätzlich anders auszutarieren, begann der Skandal der Parteienfinanzierung skandalös zu werden, weil das "Spannungsverhältnis zwischen `erster` und `zweiter Gesellschaft`, zwischen Oberwelt und Unterwelt der Sozialität" nicht mehr stabilisiert wurde229. - Aber das sind nicht Reflexionsgrenzen einer Gesellschaft, wie sie sich im Dunstkreis abstrakter Gesellschaftstheorie auftun, sondern...
MODERATOR:...Sie erwähnen die Parteienfinanzierung als kleines Beispiel dafür, wann und wo Gesellschaft an ihre - sagen wir mal - Bewußtmachungsgrenzen stößt. Was wäre jetzt ein großes Beispiel?
JOOST: [tief einatmend] Nun ja, man hat erstmal festzuhalten, daß es keine großen Skandale geben kann, zumindest nicht in Gesellschaften mit funktionierender Presse, funktionierendem Skandalmarkt, funktionierender Geschichtsverdrängung und mit politischen Institutionen, die sich einigermaßen an Legitimierungszwängen orientieren. Jede Enthüllung minimiert die fatale Tragweite des zum Skandal Gebrachten, indem sie uno aktu mitenthüllt, daß die Gesellschaft in ihren fundamentalen Sphären noch in Ordnung ist, weil sie enthüllt. Natürlich gibt es eine Grenze der Belastbarkeit des Journalismus und der rezipierenden `mündigen Bürger`; die Arbeitsteilung öffentlicher Skandalisierung darf nicht voll zu Lasten des Journalismus gehen, d.h. es muß bei einem Stichprobenniveau bleiben.
Ein großes Beispiel wäre nun ein solches, das sich nicht mehr mit den Produktionsbedingungen, den Zeitläufen, den Reaktionsweisen, den Opfer-Täter- Verteilungsregeln und den Konsequenzen eines `normalen` Skandals einfangen läßt; etwa die gesellschaftliche Abstellung von Reflexionen auf den deutschen Faschismus bzw. das Reflektieren ohne Opfer, das in neuster Zeit zunimmt; etwa der gesellschaftliche Umgang mit der Massenarbeitslosigkeit,...
RÜHM: [undeutlich im Hintergrund]...Oh nein, nicht schon wieder...
JOOST: [nimmt die Ablehnung auf]...Bei dem der Skandal ambivalent zutage tritt: Einmal besteht er darin, daß von seiten des Staates und auch der führenden Massenmedien immer noch so getan wird, als sei sie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht inhärent, als sei sie von außen hereingetragenes Resultat verschiedenster Umstände, die allesamt nicht ursächlich kapitalistischer Natur sind. Damit einher geht eine Renaissance der Individualisierung von Arbeitslosigkeit, wie sie im 19.Jahrhundert vorherrschte und die langer Kämpfe bedurfte, um in eine sozial und wirtschaftlich generierte Arbeitslosigkeit uminterpretiert zu werden230.
Die andere Seite des Skandals ist, daß immer noch mit arbeitszentrierten Maßnahmen, mit einem genuin industriegeschichtlichen Denken auf Massenarbeitslosigkeit reagiert wird, während gleichzeitig das industrielle Paradigma und die arbeitszentrierte Ordnungspolitik nicht mehr in der Lage sind, die Probleme eines sich endgültig restrukturiert habenden Kapitalismus auf informationstechnologischer und auf dienstleistungszentrierter Ebene auch nur annährend zu lösen231. Während also klar ist, daß aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik niemals eine systemische Interventionskraft aufbringen wird, um die systemische bzw. prinzipielle Arbeitslosigkeit zu beheben, wird dessen ungeachtet weiterhin z.B. via Arbeitsförderungsgesetz auf das sozial- und systemintegrative Pferd der Erwerbsarbeit gesetzt, so daß ihr Wettkurs steigt bzw. ihr Stellenwert innerhalb von Problemlösungsmodellen hypostasiert wird und damit integrative Modelle jenseits von ihr nur noch als utopische erscheinen können. Während klar ersichtlich ist, daß der Begriff Arbeit gesellschaftstheoretisch völlig neu zu reflektieren ist232, weil seine Bedeutung in fast allen gesellschaftlichen Ebenen neue Konturen erhält, pendeln wissenschaftliche Erörterungen immer noch zwischen den beiden Ausprägungen `Berufsarbeit` und `Lohnarbeit` hin und her, überfrachten ihn entweder mit Identitätsstiftungspotential oder mit dem der Entfremdung. Und: Während jobless growth die Evidenz der ökonomischen Entwicklungen in den kommenden Jahrzehnten sein wird, verharren Politik und Gesellschaft immer noch in der symptomkurierenden Anstrengung, das zutiefst industriepolitische Gebilde namens Sozialversicherungssystem noch stärker an die Lohnarbeit anzukoppeln, noch krampfhafter Sicherheit mit Beschäftigung zu fusionieren; Begriffe wie `Zweiter Arbeitsmarkt`, Bürgerrente, Maschinensteuer sind nicht umsonst nur embryonal diskutiert233 oder allenfalls im Parteiprogramm der `Grünen` zu finden.
MODERATOR: Worin sehen Sie denn nun den Skandal der Massenarbeitslosigkeit?
JOOST: Also, paradoxierend gesagt darin, daß Massenarbeitslosigkeit durch ihre Penetranz längst tiefergehende, prinzipiellere Herangehensweisen der Interpretation, der Behebungssuche und der Ablehnung erzeugt haben müsste, diese aber durch die vorallem televisionären Be- und Verarbeitungsweisen, durch flankierende, im medizinischen Sinne konservative Politiken sowohl blockiert als auch bewußt ignoriert werden...
MODERATOR:...Werden Sie bitte deutlicher...
JOOST: [etwas offensiver]...Wenn der Zeitgeist es verbietet, Arbeitslosigkeit in antikapitalistischer Stoßrichtung zu analysieren und zu erfassen; wenn das Fernsehen wie auch die Sozialwissenschaften sich mehrheitlich nur um die vielfältigen Auswirkungen, nicht aber um das komplexe Bündel der Ursachen von Arbeitslosigkeit kümmern; wenn die sogenannten politisch Verantwortlichen ihre politische Macht beinahe ausschließlich ins Arbeitsrecht, in Ausbildungs-, Umschulungs-, Förderungs- und Industrieansiedlungsprogramme verlegen,...
RÜHM:...Und natürlich in die Finanzierung der Arbeitslosen...
JOOST:...Anstatt nun großkalibrige Auseinandersetzungen in die Gänge zu bringen, deren Ergebnisse sicherlich in einer gesellschaftlichen Neuverteilung der Ziel- und Strukturvorgaben für die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihren praktischen Ausdruck fänden, in einer Repolitisierung der Investitionsentscheidungen...also, solange das nicht passiert, solange bleibt die notwendige Rekonstruktion der sozialökonomischen Reproduktion einer Gesellschaft, einer G-7- Gesellschaft wohlgemerkt, verschleiert durch periphere Politkosmetik, durch leerlaufenden Aktionismus und durch unterderhand wachsende Regression der Ansprüche an ein lebenswertes Leben...
PERNE: [mehr für sich]...Also Arbeitslosigkeit doch noch nicht als eine Art künstlicher Satellit234...
RÜHM:...Viel Rauch um nichts!
JOOST: Aber diese Beispiele, die anzeigen sollten, wo Grenzen der Bewußtmachung sich auftun, wenn sich die Gesellschaft selber in den Blick nimmt, geben nur die halbe Wahrheit preis. Sie, Herr Rühm, begnügen sich mit einer realpolitischen Brille und plädieren für eine Reflexion auf die kleinen, übersichtlichen Sorgen des Alltags und die vielfältigen Lebenswelten, -formen und -stile. Sie sagen einfach: Hinein in die Sphäre der alltäglichen Überlebens-, Bewältigungs- und Kultivierungsstrategien der Menschen am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit, der Freizeit, der Privatheit, der Sexualität usw.; einfach zuschauen und analysieren, wie die Menschen da unten auf die wuchtigen oder schleichenden Emissionen der großen Systeme da oben - Technik, Wirtschaft, Politik - reagieren, vielleicht sogar zur Erwiderung fähig sind, zu der Sie sie befähigt sehen möchten: Mehr ist nicht abzuleiten aus dem, was Sie eben anzudeuten versuchten. Und übrigens: Die Sozialwissenschaften haben sich schon längst dorthin begeben, sind geflüchtet in die unzähligen Bindestrich-Ismen, miniaturisieren ihre wissenschaftlichen Feldeinheiten auf mittlerweile erreichte Kleinstgrößen, fokussieren ihre Blicke auf derart weitentfernte Bereiche gesellschaftlicher Vorkommnisse und Ausdrucksgestalten, daß ein baldiges Ende und der Kontakt mit dem sogenannten Grundeis kaum mehr hinausgeschoben werden können235.
Nein, die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß in unserer Gesellschaft ein struktureller Mangel an Reflexion auf den Zusammenhang herrscht, also ein Nichtwissen, das jetzt nicht nur im Sinne POPITZ' oder LUHMANNS präventive Funktionen übernimmt und moderne Gesellschaften mitkonstituiert, sondern - au contraire - seine Potenz für Destruktion in dem Maße erhöht, wie - und das scheint jetzt wieder paradox - Wissen über die Gesellschaft zunimmt. Auf der anderen Seite ist dieser strukturelle Reflexionsmangel, wird er erkannt, ein Indikator für die Anspruchsniveaus, für die - meinetwegen - Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, für ihre Fähigkeit, Unsicherheit bzw. Verunsicherung zuzulassen, für ihre Fähigkeit, Unwissen nur bemerkbar zu machen, aber nicht zu beseitigen, was auf Dauerreflexion oder auf Totalitarismus hinausliefe. Die Erkenntnis, daß für ein bestimmtes politisches issue Wissen fehlt, sagen wir etwa bei der Implementierung privatwirtschaftlichen Rundfunks, wie sie sich in den 80er Jahren bei uns anschickte, ist Folge eines langwierigen Procederes, dessen Kern darin besteht, überhaupt erst die Geltung, die Notwendigkeit eines Wissens über die Folgen und Auswirkungen dieser Implementierung zu erzeugen. Daß die noch unabsehbaren Folgen für die umliegenden Systeme in den Blick kommen und nicht vielmehr das Wissen sich alleine darauf beschränkt, nun hemdsärmelig ein großflächiges Projekt zu verwirklichen - um unbeabsichtigte Nebenfolgen haben sich andere zu kümmern - ; genau das indiziert ein relativ hohes Anspruchsniveau einer Gesellschaft an sich selbst, wie ernst sie es nimmt mit ihrer Gestaltbarkeit, mit ihrer Einwirkungsmächtigkeit auf sich selbst.
Nun hat sich in der BRD im Zuge der Kultivierung rhetorischer Diskurse mit dem Hauptthema Ökologie eine Situation eingestellt, in der noch die kleinsten Verrichtungen, die geringsten Selbstverständlichkeiten mit einem ökologisch neuen Wissen ausgestattet werden, daß einem manchmal angst und bange werden kann, wie man es denn wohl schaffen könne, weiterhin Nahrung zu sich zu nehmen, zu kaufen, mit Arbeitsmaterialien zu hantieren, zu atmen, zu wohnen, zu reisen, ja zu leben, ohne sich vorher abzumühen, einen Berg an Informationen über die jeweiligen Tätigkeiten und Sachverhalte lesend abzutragen. Kurz: Der Mangel an ökologischem Wissen für sehr vieles ist sehr vielen evident, ist erkannt; das Wissen, daß allerorts ökologisches Wissen und solcherart Handeln fehlt, ist legitimiert, ja fast schon selbstverständlich geworden...
MODERATOR:...Das erinnert jetzt doch stark an ULRICH BECK236!...
JOOST:...BECK beschreibt die Paradoxierung dieses Wissens im Dunstkreis von Riskiowahrnehmung und Wissenschaftsabhängigkeit. Er sagt, daß dieses Nichtwissen, generiert und auch erkennbar durch Wissenschaft, den einzelnen nicht mehr dazu bringt, von seinen Eigenerfahrungen aus zu Allgemeinwissen vorzusteigen, sondern umgedreht: "Erfahrungsloses Allgemeinwissen wird zum bestimmenden Zentrum der Eigenerfahrung"237. Er spricht auch von Nichterfahrungen aus zweiter Hand, also von einer weit verbreiteten Einsicht, daß sehr vieles uneinsehbar und nur über theoretische und sozial konstruierte Definitionen und Identifikationen von Welt überhaupt erst greifbar ist. Das ganze läuft natürlich darauf hinaus, daß immer mehr Selbstverständlichkeiten aufhören, selbstverständlich, d.h. unbedenklich zu sein; sei es das Essen, Wohnen, Reisen...- nach der Brüchigwerdung sozialer, kultureller und psychischer Straten ist nun, quasi als letztes, das geographisch-umweltliche Stratum aufgenommen worden in die Sogbewegungen aufgeklärter Paradoxien, die im steten Destruktionsprozeß die Reversibilitätschancen erhöhen...
PERNE: [im Hintergrund]...Was uns bei der Ökologie aber nicht weiterhilft...
MODERATOR: [zu Joost] ...Sie sind also nicht der Ansicht, daß diese Zunahme an Unwissen, Unsicherheit und Spekulation schlicht und einfach nur der Zunahme an genaueren Meßmethoden und fundierteren Wissens geschuldet ist; also tatsächlich Resultat vermehrter Risiken, Gefährdungen, Beeinträchtigungen?
JOOST: Das Nichtwissen speist sich natürlich aus beiden Zunahmearten, auch wenn hartgesottene Bagatellisierer immer noch die Meinung vertreten, es habe sich nichts grundsätzlich verschlechtert, die Risiken seien die gleichen wie vor etlichen Jahrzehnten, nur unsere Sonden geben ihnen jetzt Namen, während sie früher halt namenlos statthatten...nun gut, solche Ansichten sind out of discussion. Das Entscheidende ist doch, daß neue Wissenserkenntnisse erst einmal - verzeihen Sie den Ausdruck - problematisierbar werden238, damit das Wissen darüber, wieviel noch nicht gewußt wird, reflexiv wird. Natürlich können Sie sagen, hier werde hypostasiert, werde billige Politik betrieben mit den Ängsten der Menschen, die nicht wissen, wie gefährlich es ist, bestimmte Eigenschaften, Fakten, Werte nicht zu kennen und doch täglich mit ihnen konfrontiert zu sein..., aber gerade dieses öffentliche Bloßlegen von Unsicherheiten, von Risiken gibt Aufschluß über die Weite einer Gesellschaft, Beunruhigung zuzulassen, Aufschluß über die Abhängigkeit einer Gesellschaft von selbsterzeugter Verunsicherung, und damit Aufschluß über die Weite einer Gesellschaft, zu lernen. Und genau hier beginnt Nichtwissen destruktiv oder zumindest inhibitorisch zu wirken, weil das Ausmaß erkannten Unwissens, das Ausmaß notwendiger Transformation des Unwissens in gewußtes Wissen, das Ausmaß des Anspruchs einer Gesellschaft an ihre Verunsicherungszumutbarkeit und das Ausmaß an real existierender demokratisch-kapitalistischer Gestaltbarkeit nicht nur nicht zusammenkommen, sondern sich - im Zuge der Realisierung - zueinander immer antagonistischer verhalten...
PERNE:...Ich wußte gar nicht, daß Sie noch dialektisch zu argumentieren verstehen...
JOOST:...Ich gebe Ihnen ein Beispiel...
RÜHM:...Das hab'ich befürchtet...
JOOST:...Mit der Erfindung des Automobils vor nunmehr über 100 Jahren verband sich in der Folgezeit eine Erzeugung von Wirklichkeiten, von Veränderungen in geographischen, technischen, sozialen, psychischen, politischen, wirtschaftlichen, ökologischen Sphären menschlichen Daseins, die erst jetzt, also seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts, Forderungen auf den Plan treten lassen, deren Inhalt es ist, diese geschaffenen Wirklichkeiten zu überwinden. Die wohl hauptsächlich anarchische Entwicklung der Vergesellschaftung individueller Fortbewegung stößt gegenwärtig nicht nur an ihre Grenzen, sondern nur noch Probleme aus, deren Tragweite und Relevanz für Gesellschaft und Umwelt nicht mehr unterschätzt werden dürfen. Nun scheint die Aufgabe, diesen Daseinsbereich industrieller Gesellschaften zu dekonstruieren, unendlich weiträumiger, tiefergehender, auch möglichkeitsbeschnittener zu sein, als es der Aufbau war, da wir es heute nicht mehr nur mit diesem isolierten Block `individuellen Automobilismus'` zu tun haben, sondern mit den unendlich verwobenen Sachverhalten in beinahe allen Subsystemen der Gesellschaft, die in irgendeiner Weise mit dem Automobil in Verbindung stehen; und weil wir von der sei es materiellen, sei es immateriellen Faktizität des Automobilismus auszugehen haben - Straßen, Infrastrukturen, Branchen, Sozialbeziehungen, Kultur usw. - , während der Aufbau des Automobilismus - technische, soziale, finanzielle Widerständigkeiten jetzt mal untergewichtet - doch auf einer tabula rasa der Berücksichtigung, der Restriktionen und der Folgenabschätzung, also beinahe ausschließlich ökonomisch codiert starten konnte. Natürlich lassen sich für diese Entwicklung nirgends Adressaten ausmachen, denen vorzuwerfen wäre, nicht schon damals all die Folgebewirkungen des Automobils prospektiv in Anschlag gebracht zu haben. Nun, heute wissen wir um die Mächtigkeit der Ursächlichkeit bzw. Mitursächlichkeit des Automobils für die unendlich vielen Probleme in den unterschiedlichsten Funktions- und Daseinsbereichen der Gesellschaft. Wir wüßten, wieviel Nichtwissen wir inkaufnehmen würden, durchforsteten wir nicht bis in die letzten Kapillaren hinein Folgewirkungen einer Implementierung großdimensionaler Technik in die Gesellschaft. Wir wissen heute, daß nichtbeachtete Folgewirkungen einer technischen, aber auch politischen, rechtlichen und einer sozialen Entscheidung das jeweils projektierte Konstrukt wenn nicht destruieren, so doch kontraproduktiv inhibieren kann bzw. wird. Wir wissen auch, daß solcherart Nichtbeachtung nicht auf Naivität oder Unfähigkeit rückzuführen ist, sondern im Gegenteil eines der letzten gesellschaftlichen Reservate darstellt, in dem Herrschaft und Ideologie quasi unsichtbar schalten und walten. Aber gleichzeitig ist der Wille, aus nichtbeachteten Nebenfolgen Wissen zu `machen`, Produkt einer hohen Anspruchskultur, eines hohen Niveaus zumutbarer Selbsteinwirkung, die sich eine Gesellschaft unterstellt; und die sich in einer formaldemokratischen Funktionsgesellschaft durchaus der verfahrenstechnischen Prozeduren und Institutionen bedienen könnte, denn die sind tatsächlich vorhanden. Versuchen Sie sich nur mal vorzustellen, die Dekonstruktion des Individualverkehrs würde mit diesem Wissen und mit diesem Anspruch und mit den vorhandenen formaldemokratischen Infrastrukturen in Anschlag gebracht, und dies mit einer Zeitparametrisierung, die weit ins nächste Jahrhundert hineinreichte...
MODERATOR:...Mit diesem Zeitparameter unterstellen Sie jetzt aber, daß das Nichtinanspruchnehmen eines solchen Parameters einem nichtverantwortbaren Inkaufnehmen risikobeladenen und Nebenfolgen emittierenden Nichtwissens entspräche, und das nicht nur aus Sicht spezialisierter Subsysteme wie das der Wissenschaft, sondern schon aus einer Allgemeingut gewordenen Sichtweise, die sich in der Fernsehn-Öffentlichkeit zuhause weiß...
JOOST:...Aber diese Sichtweise ist doch schon längst Allgemeingut! Wenn heute schon der Bundeskanzler von der Verantwortung für unsere Enkel reden darf; wenn beinahe jede Umweltreportage endet mit einem Blick auf das Globale und den Zeitfaktor, sich also öffnet für die immense Zeitdimension, die heute schon in Entscheidungen einzugehen habe; wenn gar Stammtische eine beschränkte, vulgäre Fassung von der Ausdehnung der Risiken in Raum und Zeit reproduzieren können; wenn noch das letzte Provinzkabarett die Dramatik der kommenden Verteil- und Verdrängungskämpfe in und zwischen Gesellschaften thematisieren.. . Nur, und das ist der Punkt, nur bekommt diese Einsicht in die globale und zeitliche Universalität von Risiken und Nebenfolgen und Verwerfungen nicht das, was man vielleicht als kollektiven turn bezeichnen könnte, also nicht nur eine Sozialisierung oder Kollektivierung der Kosten, Gefährdungen und Erträge der kapitalistischen Warenproduktion, sondern eine Sozialisierung der Verhinderung, der Veränderung dieser Kosten. Hier hat sich verherrender Weise ein Bewußtsein gebildet, das entweder nur im einzelnen Individuum den Träger der Veränderung ortet239, oder das überzeugt ist, die Marktwirtschaft stünde auf der Seite der Ökologie, würde also von sich aus - vielleicht mit einwenig Unterstützung der Politik - die Kraft und den Willen aufbringen, sich als eine sozial- und umweltverträgliche Wirtschaft zu restrukturieren240; was natürlich vollkommener Blödsinn ist, weil das Kapital nirgends einen Vertrag unterzeichnet hat, der es dazu anhält, sozial oder auch nur gesamtgesellschaftlich sich auszurichten, wie es BAUDRILLARD einmal anmerkte, und weil die westlichen Konkurrenzökonomien keinem Modell entsprungen sind, das nun jederzeit modelliert werden kann, sondern auch nur einem blinden Prozeß des Weltmarktes angehören, der nicht einmal den Gesellschaften von sieben Nationen einen Lebensstandard ermöglicht, wie man es sich gemeinhin vorstellt, sondern in den überwiegenden marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften mehrheitlich Verlierer produzieren muß. Ich gehe hier mit ROBERT KURZ konform, der behauptet, daß der Unterschied zwischen den systemischen Imperativen etatistischer und monetaristischer Herkunft ein bloß relativer sei, und also mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Etatismus eine Gesamtkrise des warenproduzierenden Globalsystems kenntlich werde, dessen schwächstes Glied eben der Sozialismus war241.
Sehen Sie, nehmen Sie die Grünen. Warum sind die gescheitert? Weil sie rhetorisch zu radikal waren mit ihrem Druck auf die Wirtschaft? Weil sie nötigenfalls mit politischer Oberbefehlshaberschaft die neue Leitdifferenz `ökologisch/ökologiefeindlich` ins kapitalistische Wirtschaften hätten inkorporieren wollen? Oder nicht doch eher deswegen, weil seitens der Wähler eine wenn auch nicht ganz artikulierte Ahnung dergestalt vorherrschte, das kapitalistische System sei von innen nicht transformierbar, jeder Versuch in diese Richtung mache sich lächerlich und stabilisiere das System; wozu also die Grünen? Mittlerweile miniaturisieren auch sie den Stellenwert der Politik auf den einer dienenden Funktion, enthalten sich jeglicher Grundsatzprogrammatik und werden wohl in Zukunft die Rolle einer politischen Heilsarmee für die Verlierer dieser Gesellschaft annehmen müssen, wenn es mit dem konsumorientierten Citoyen und der Streitkulturzivilgesellschaft nicht so recht klappen wird..., nun ja.
Kritik, und gerade eine gesellschaftstheoretisch fundierte Kritik, stellt sich doch unversehens ins Abseits, wenn sie nicht bereit ist anzuerkennen, daß alle Parteien und Kontrahenten der Gesellschaft - also die Politik, die Wirtschaft, die Moral und die Kultur, die Konsumenten, die Wähler, die Gesetzgebung, die Verfassung - bei der Lösung der gewaltigen Zukunftsprobleme an einen Strick zu ziehen haben, also nur in gemeinsamer gegenseitiger Ausrichtung. Wenn Sie so wollen ist das die letzte große Ideologie, die, jetzt allerdings auf einem Metaniveau, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen unterderhand leitet. Solange dieser Schleier, über alles reden zu können, und vorallem der Schleier, jeder könne über alles mitreden, solch hegemoniale Kraft besitzen, wie es sich bei uns dartut, solange werden die extremen machtpolitischen Asymmetrien, die extremen Ungleichverteilungen gesellschaftsrelevanter Entscheidungspotenz, gesellschaftlichen Reichtums und der Selbstbestimmung durch die egalitätsimaginierende Konsenskultur via Fernsehen und Parlamentarismus einer scharfen Thematisierung entzogen, kommen also nicht als Themen in das hinein, was RICHARD MÜNCH das System der Interpenetration zu nennen pflegt. Aber mehr noch: Ist es nicht schon so, daß im Zuge des allüblichen Geredes über Pluralität, über die Notwendigkeit sich differenzierender Systeme und über die der Etablierung transsystemischer Vermittlungsorgane das Denken über Gesellschaft strikt davon ausgeht, die vorhandenen Systemgrenzen auch ja in Frieden lassen zu müssen - das wird dann positiviert mit dem Schlagwort `Dezentralisierung` oder mit dem Wort `Deregulierung` - , also: Was im wirtschaftlichen System vor sich geht oder zu verändern ist, darf nur im systemeigenen Medium an es herangetragen werden, nicht aber in politischer Währung; was dem Kunden an Veränderung seines Konsumhandelns ins Haus steht, darf nur über das Angebot an ihn herangetragen werden, nicht aber über politische Einwirkung; was die Politik an sich zu verändern hat, darf nur politisch generiert werden, nicht aber von anderen Systemen - am schlimmsten wäre natürlich das wirtschaftliche mit dem Medium Geld - an sie herangebracht und in ihr bewerkstelligt werden usw...?
Und je mehr diese Ausdifferenzierung von Wirklichkeiten mit je eigener, systemeigener Handlungs-, Funktions-, Erzeugungs- und Reproduktionsrationalität out of discussion steht, je mehr sich kritisches Denken anschickt, an diesen Systemgrenzen auf keinen Fall mehr grundsätzlich zu rütteln bzw. den Emanationscharakter der systemeigenen Rationalität und den dahinter wirkendenden abstrakten Irrationalismus schlicht zu ignorieren, umso größer wird die Gelassenheit der jeweiligen Repräsentanten dieser Systeme, auf die immer aufdringlicher werdenden Interpenetrationen meist negativer und zerstörerischer Art kommunikativ einzugehen: Der Wirtschaftsrepräsentant begrüßt ehrlichen Herzens den Vertreter der kritischen Öffentlichkeit, spornt ihn an, doch nur weiterzumachen mit seinem Geschäft der kritischen Analyse des Kapitalismus; der Vertreter des politischen Systems honoriert die Weigerung der Wirtschaftsunternehmen, politische Rahmenbedingungen umzusetzen, als Ausdruck orginären Unternehmertums und indirekt als Beweis dafür, wie wichtig die Politik noch ist; der Kritiker versteht diese Politik und weiß ob der Trägheit politischer Vertreter, etwa umweltpolitische Gesetze zu emittieren, weil er sie doch einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt sieht, Wähler auf der einen, Wirtschaftslobbys auf der anderen; der Intellektuelle..tja..aäh, tja über den Intellektuellen ist jetzt eigentlich nichts zu sagen, weil er zur Zeit nur zu stottern vermag..na ja, und so weiter.
Natürlich hat diese mittlerweile weitverbreitete systemtheoretisch zentrierte Interpretationsweise von Gesellschaft...
MODERATOR: [als sei ihm gerade etwas eingefallen]...Ist für Sie denn nicht das Konzept der Reputation als generalisiertes Kommunikationsmedium ein Versuch, sagen wir mal Vernetzung quer zu den Systemgrenzen zu garantieren?
JOOST: Nein. Reputation kann zwar mehr als andere Medien über den Systemen fliegen und scheint wie geschaffen zu sein für das Konzept der Kontaktgesellschaft, ist aber wie andere Medien gleichsam anfällig für Simulation. So wie Geld in entfesselter Dynamik floatet, während wirtschaftliches Handeln stagniert; so wie Macht rhetorisch überallhin verschüttet wird, während gleichzeitig das politische System nur noch damit beschäftigt ist, den finanziellen Sachzwängen Millimeter an Handlungsspielräumen abzutrotzen; so wie Kultur in beinahe allen Systemen hineinströmt, während gleichzeitig die Ästhetik vor die Hunde geht, so verschleiert Reputation durch die Konzentration von Vertrauen auf Personen die Vertrauensunwürdigkeit, ja sogar die Fäulnis von Strukturen derjenigen Systeme, die der Reputation bedürfen, um auf dem Diskursmarkt zu reüssieren. Aber zurück zu dieser systemtheoretisch zentrierten Sicht- und Interpretationsweise von Gesellschaft, die ich eben zu kolportieren suchte. Diese Sichtweise erhielt ja indirekt Legitimationszuschuß vom geschichtsmächtigen Unternehmen namens Kommunismus. In dem Umfange, wie der großangelegte Versuch einer Systemgrenzenaufhebung zwischen Politik und Ökonomie oder zumindest einer Aufhebung der Krisendynamik abstrakter Warenproduktion, also der Versuch einer Politisierung bzw. Bürokratisierung wirtschaftlicher (Investitions-) Entscheidungen keine Aussicht auf zukunftsträchtige Fortentwicklung mehr bot, stieg seitens kapitalistischer Gesellschaften die Akzeptanz gegenüber der Asozialität von Marktkonkurrenzökonomien und später dann auch das `Dafüreinstehen` gegenüber einer politökonomischen Verfassheit von Gesellschaft, die sich nicht mehr auf der Höhe demokratischer, legitimatorischer, soziokommunikativer und letztlich moralischer Standards zu bewegen habe. Man war bereit einzusehen, daß die bestehende Ökonomie, daß die soziale und kulturelle Komposition der Gesellschaftlichkeit von Funktionen es nicht mehr zuläßt, den ökonomisch-technischen Bestandteil ebendieser Komposition mit den anderen gleichzustellen.
Natürlich führte das real existierende Desaster des kommunistischen Experiments - um darauf nochmal zurückzukommen - auf kapitalistischer Seite sehr schnell zu dem einfachen Gedankengang, mit einer kapitalistischen Ordnung wäre etwa dies riesige Reich der U.d.S.S.R., das es ja heute so nicht mehr gibt, durchaus in den Griff zu bekommen, in Absehung der vorgefundenen technischen Infrastruktur nach dem Krieg, der geographischen Größe, der Bodenkultivierung, der Bevölkerungsdichte, des Ausbildungsstandes, der Stellung innerhalb internationaler Arbeitsteilung und innerhalb des Welthandels usw., in Absehung der Tatsache, daß der kriegswirtschaftliche Staatssozialismus nur ein objektiv hervorgetriebenes Moment innerhalb der Durchsetzung eines blinden historischen Prozesses war, den man Modernisierung nennt242. Auch heute, vielleicht gerade heute schwirrt in der westlichen und auch östlichen Bevölkerung ein Glaube umher, `soziale Marktwirtschaft` sei die solution generale; und selbstverständlich haben sie dabei nicht Argentinien, nicht Portugal, nicht einmal England oder gar die USA im Kopf, sondern meist nur die BRD bzw. noch Frankreich oder die skandinavischen Länder.. .
Also kurz und gut: Kritik, die es schaffte, sich in konkrete, handlungsmächtige Entscheidungen für eine Gesellschaft umsetzen zu lassen, würde spätestens da ihre Spitzen, ihre Radikalität, ihre `Transformationspotenz` verlieren, wo ihre Forderungen die durch Konsens diktierte Kommunikationskultur, die durch Konsens befriedete Auseinandersetzungstradition selbst in eine Umwandlung miteinbezöge. Sie verliert sie dadurch, daß die Kritisierten sich ab einer bestimmten Hitze des Streits von ihren von ihnen zu vertretenen Systemen, von ihren Rollen lösen und die des global Denkenden, des verantwortungsvoll für die Zukunft und Umwelt Handelnden hervorkehren, die in ihren Systemen alles Nötige tun, um der Ökologie gerecht zu werden. Der letzte Wind wird dem Kritiker dadurch genommen, daß ihm vorgeworfen wird, sein Geschäft tue letztlich nichts zur Sache - natürlich sei sie, die Kritik, wichtig, notwendig, in einer Demokratie unverzichtbar usw. - , ja würde sich sogar in Luft auflösen, wenn der Kritisierende selber zu handeln hätte. Sobald also eine Diskussion aus den Niederungen konkreter Streitpunkte sich aufmacht in die Höhen abstrakter Entwicklungslinien und abstrakter Ziele - Gerechtigkeit, Umweltschutz, Demokratie, Freiheit, Frieden usw. - , wechseln alle vorher strikt auf Systemgrenzen bestehenden Vertreter zum ökologischen Code über und lassen Kritik damit ins Leere laufen, denn die hätte jetzt ein jeweils systemspezifisches Wissen hervorzubringen, um weiterhin Machbarkeiten und Unterlassungen in den Systemen fundiert kritisieren bzw. einklagen zu können. Heutzutage, wo es Politik und Wirtschaft leidlich verstanden haben, ihren Gestaltungsanspruch auf die ökologische Rekonstruktion unserer Industriegesellschaft von der Bevölkerung legitimiert zu wissen, wird der Kritiker, der dies infrage stellt, doch zum Trottel, zum Hofnarr degradiert: Die gesellschaftliche Implementierung ökologischer Gesellschaftsinterpretation haben wir schon hinter uns, der Zug befindet sich schon auf der Schiene, nur scheint er - um dieses abgegriffene Bild zu benutzen - nicht vorwärts zu kommen: Der sogenannte Umweltgipfel in Rio gab dafür reichliches Anschauungsmaterial. Und wenn die Kritik, die jetzt im letzten Waggon untergebracht ist, bloß noch vorzubringen vermag, es gehe zu langsam, zu halbherzig, zu umständlich voran; wenn sie bloß noch auf den Zeitfaktor abzuheben bereit ist: Dann darf jeder Unternehmer sich glücklich schätzen, als Sieger aus der Hochzeit der Kritik, die Mitte der 60er Jahre begann und Mitte der 80er Jahre endete, herausgetreten zu sein.
MODERATOR: Aber wie kommen Sie darauf, daß durch die Etablierung eines totalintegrativen ökologischen Paradigmas die Ideologie243 verschwunden sei aus den Verhandlungen über Sinn, Zweck, Funktion und Ordnung der Gesellschaft, wie Sie es vorhin andeuteteten? Ich meine jetzt nicht Ideologie, die auf den Plan tritt, wenn sich etwa Parteien bei kleinen bis mittleren issues voneinander abzugrenzen suchen, sondern eine solche, die sich zur Selbstvergewisserung an große Hintergrundkontexte anzuhängen hätte, Kontexte, die als `europäische Kultur`, als `okzidentale Rationalität` oder als `demokratische Tradition` begrifflich daherkommen. Sind Sie denn tatsächlich davon überzeugt, mit dem Ende der doch letztlich experimentellen Zeit sich konkurrenzierender Gesellschaftsformationen stürbe nicht nur ein politischer approach - wenn auch der umfassenste - unter vielen anderen, sondern gar die Ideologie als ganze, die sich bis dato solcher approachs bediente? Mißverstehen Sie mich nicht, Herr Joost. Ich bin keiner, der zur Beruhigung seines Weltbildes alles als Ideologieemanation umzuinterpretieren hat, sondern der...
PERNE:...Wenn ich dazu kurz was anmerken darf. Wenn wir hier von Ideologie reden, dann sicherlich nicht mit klaren Vorstellungen darüber, was heute dieser Begriff zu bedeuten hat - so wie es z.B. bei BACON, HOBBES, ADORNO und HABERMAS wohl noch der Fall war und ist -; wir schwimmen vielmehr zwischen marxistischen, repsychologisierenden und postmodernen Erklärungsangeboten hin und her, wie mir scheint...
MODERATOR: [hereinbrechend]...Also wenn Sie zu reden beginnen - verzeihen Sie bitte diesen Einwurf, Herr Perne - , dann kommt mir ein Bonmot von CARL EINSTEIN244 in den Sinn, ich glaube: "Man beobachtet immer wieder den gleichen Kunstgriff der Intellektuellen: Sie schalten konkrete Tatbestände aus und setzen an deren Stelle eine begriffliche Konstruktion, die zunächst überzeugt..."...
PERNE:...Ich darf - ich glaube - Herrn Joost zitieren: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher...
RÜHM:...Oh, Sie sind aber harmlos geworden. Ich rechnete jetzt eigentlich mit einer philosophisch inspirierten Haßtirade...
PERNE: [der bemerkt, das man sich, wenn auch im Rahmen, über ihn lustig macht]...Ich werde Sie nicht vergessen, Herr Rühm, wenn es Ihnen Satisfaktion bereitet...nun gut.
Wir sind jetzt beim Begriff Ideologie, ausgegangen war unser jetziges Thema von der Frage nach der Gesellschaftstheorie; Sie erinnern sich.
Was wir heute, nach der Reaktivierung des Ideologiebegriffs in den 60er und 70er Jahren, gewillt sein müssen mitzuerleben, ist, daß sich die Funktion von Ideologie von der Form `Ideologie` zu emanzipieren scheint; Emanzipation sage ich deswegen, weil diese Entwicklung nicht unbedingt in eine Fatalität münden muß, wie es etwa ADORNO beschrieben hat. Und mit Emanzipation meine ich den Umstand, daß das gesellschaftliche Material, das bis dato durch geschlossene Denkkonstruktionen erst noch ideologisiert werden mußte, heutzutage sich selber ideologisiert durch den Begriff Realität...
MODERATOR:...Herr Perne, bitte...
PERNE:...Ich spreche jetzt nicht von Sachzwängen, nicht von der Norm des Faktischen, auch nicht von irgendwelchen Superstrukturen im Sinne SCHELSKYS oder von irgendartlichen neuen Realitäten, wie sie LYOTARD im Sinn hat245, nicht von der Denkwelt nach dem Verschlungensein der Aufklärung durch den Mythos, sondern davon, daß just im Moment, da das Gegebene allein durch seine Präsens, durch seine Anwesenheit die Konturen eines anders Möglichen endgültig in die Unkenntlichkeit zu entlassen scheint, eben jenes Gegebene mit einer Wucht all die Widersprüche, Diskrepanzen, Negativismen und Phantasmagorien offenbahrt, deren Bewußtmachung bis zuletzt nur durch Konterkarierung, sprich Ideologiekritik geleistet wurde, überhaupt nur durch das Festhalten am anders Möglichen möglich wurde. Daß also das, was für O.NEGT und A.KLUGE ein an der Selbstaufklärung der Aufklärung sich orientierender Fortschrittsbegriff wäre, nämlich der "Inbegriff aller ernsthaften Versuche, die auf der Strecke gebliebenen, abgeschobenen, verheimlichten Fragen der Vergangenheit an die Gegenwart und an die Zukunft zu begreifen", kurz: Daß also die "Aufmerksamkeit für das Unerledigte und Unerfüllte"245a längst nicht mehr dem nahe kommt, was sich als "Eigenlogik der vergessenen, historisch abgesunkenen Prozesse des vorangegangenen Tuns", was sich als "Eigenlogik des Apparats im Verhältnis zu dem, was durch einen politischen Eingriff steuerbar ist und was in Motiven, Absichten oder Verantwortungen verankert sein könnte", aufspreißt und mittlerweile schon zu einem "gesellschaftlichen Unbewußten" anzuwachsen scheint245b.
MODERATOR:...Herr Perne, ich bitte Sie, ich bitte Sie inbrünstig, sich...
PERNE: [unbeirrt fortfahrend]...Nehmen Sie etwa den marxistischen Ideologiebegriff und sein Topos vom `notwendig falschen Bewußtsein`; dieses Bewußtsein nicht Resultat manipulierender Herrschenden, nicht Eigenschaft einer unveränderlichen Anthropologie des Menschen - denken Sie an BACONS Stammesidol - , sondern "allein Ergebnis der aus einer antagonistischen Klassenstruktur sich ergebenden und fortwährend reproduzierenden Widersprüche"246. Ideologien also als notwendige Elemente gesellschaftlicher Kommunikation, die, auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe, wahr darin ist, falsches Bewußtsein zu erzeugen. Das war alles kein Problem, solange die marxistische Gesellschaftstheorie noch den Blick frei hatte auf die rauchenden Schornsteine dialektischer Fabrikation von Widersprüchen, die sich notwendigerweise zu einer Gesamttransformation der Ordnung entwickeln lassen mussten. Produktivität von Widersprüchen als Produkt eines in der Zukunft stationierten Denkens über Gesellschaft, der mit damals guten Gründen unterstellt werden konnte, sie befinde sich nicht nur noch auf dem Weg zu ihrer eigentlichen Komposition, sondern erzeuge selber die Voraussetzungen und Bedingungen ebendieser, und zwar bar historischer Kontingenz und bar der Reversibilität von Entwicklungen des nun zu sich kommenden Menschengeschlechts...
RÜHM:...Dafür aber mit einem Prokrustesbett, in dem die ganze Gesellschaft zum Erliegen kam; mit einem Prohibitivsystem, das sich nur mit schrecklichster Ideologie als Vorstufe der Freiheit interpretieren ließ; mit einer...
PERNE:...Herr Rühm, Sie laufen wieder aus, ohne den Weg zu kennen. Ich halte hier keine Apologie, sondern versuche zu zeigen, warum z.B. der Marxismus noch viel mit dem Begriff Ideologie anzufangen wußte, und warum wir es heute nicht mehr wissen. Wir können heute z.B. nicht mehr sagen, "die Totalität des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der totalen Identifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert"247, weil wir nicht nur nicht mehr wissen, was Wahrheit sein könnte, sondern nicht einmal mehr wissen, was sich als Unwahrheit dartut. Wir sind nicht mehr in der Lage, "die `Unwahrheit` des Ganzen [...] durch die realen gesellschaftlichen Widersprüche ausgedrückt" zu sehen, "gegen die Dialektik Widerspruch erheben muß"248, weil uns nicht einmal mehr ein Nicht-System à la ADORNO zur Verfügung steht, um unserer Gesellschafts- und Ideologiekritik Selbstortung zu verschaffen, wie fiktiv und unmöglich auch immer diese sein mag249.
MODERATOR: Also, ich bin wahrlich kein Althusserianer, Herr Perne, aber daß mittels Ideologie auch heute noch gesellschaftliche Wirklichkeit überdetiminiert wird; daß Ideologie auch weiterhin das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Verhältnissen, zu ihren realen Existenzbedingungen repräsentiert250; daß Ideologie im Spiel ist, damit sich "Personifikationen ökonomischer Kategorien"251 als Individuen im Spiegel wiedererkennen; daß Ideologie im Spiel ist, wenn die Räume politischer Diskurse, die fast zwei Jahrzehnte hegemonial waren, ohne Zeitverzug durch die Hegemonie der Unterhaltung gefüllt werden: Das ist doch wohl auch heute noch sagbar, wenn nicht gar blendend evident. Oder nehmen Sie den FOUCAULT der 70er Jahre mit seinem Verdikt, daß die Wahrheit an sie produzierende Machtsysteme gebunden sei, zirkulär gebunden, und an Machtwirkungen, die von ihr ausgehen und sie reproduzieren252; eine Einschätzung, die gerade jetzt, da wir den embryonalen Zustand der Informationsgesellschaft halbwegs hinter uns gelassen und den einer Nacharbeitsgesellschaft mit all ihren Konsequenzen vor uns zu haben scheinen, wohl kaum passender als Motto ebendieser herhalten könnte.
Sind das alles keine Projektionen mehr für Sie, mit denen Sie Kritik illuminieren könnten?
PERNE: Ihre Gegenfragen zwingen mich einfach, weiter auszuholen - unterbrechen Sie mich, wenn ich nur noch mit Zitaten um mich werfe!
MODERATOR: Also bitte!
PERNE: Nun, mein Problem mit dem Begriff Ideologie rührt daher, daß ich von einer heutigen Gesellschaftskritik meine ausgehen zu müssen, die praktisch wie theoretisch keinerlei Orientierung mehr aufweisen kann. Gesellschaftskritik als auch Gesellschaftsaffirmation sind leer. Am Ende. Es nützt mir auch nichts zu sagen, daß diese Feststellung Teil einer mir nicht bewußten Ideologie sein könnte; denn damit liefe ich über kurz oder lang einem theorielosen Relativismus bzw. Kontextualismus ins offene Messer. Es nützt mir auch nichts, den Kritikansatz in einer Abstraktionshöhe anzusetzen, auf der Kritik nur noch notwendig falsches Bewußtsein erspähte, sich aber dem entzogen wähnen müsste - nehmen Sie ROBERT KURZ' Kritik an dem Abstraktum der produktiv abstrakte Arbeit vernutzenden Gesellschaftsformationen der Moderne, Formationen, die mit ihrer kapitalistischen Vergesellschaftung notwendig Waren-Subjektivität erzeugen, welche nur zur zirkulären Kritik fähig ist, zu einer Kritik, die sich "zuletzt auch noch den Notstandsapparaten als Legitimationslieferant andient und damit statt der Fetischökonomie sich selbst als Gesellschaftskritik aufhebt"253. Solcherart Kritik fordert dann eine radikale Erneuerung ihrer selbst, nachdem sie diejenigen theoretisch liquidiert hat, die sich solch einer Aufgabe annehmen könnten; solcherart Kritik wird dann mit der Zeit entweder affirmativ, zynisch oder nicht mehr vermittelbar; denken Sie etwa an BAUDRILLARDS Schriften, die sich allerdings nicht mehr als Kritik im herkömmlichen Sinne verstehen. Nun, das alles sagt natürlich nichts darüber aus, ob und wie weiterhin Ideologie betrieben wird. Die erste Frage schien ja von vielen als schon abgehakt, obschon das ökologische Paradigma mit seiner Thematisierung der ökologischen Grenzen kapitalistischer Reproduktion dem Staat, generell der Politik wieder zu Legitimationsblüten verhelfen wird, wie sie einst dem Absolutismus zur Verfügung standen; jetzt allerdings mit Ausrichtung in die Zukunft, um die `zweite Barbarei`, die durch den Zusammenbruch der `Geldlogik`im Weltmaßstab um sich greifen wird, etatistisch oder auch staatsautoritär zu zügeln. Die Frage nach dem Wie von Ideologie wird demgegenüber nun tatsächlich immer undurchsichtiger. Sie erregen als Kritiker keine Aufmerksamkeit mehr mit Festellungen, die die Fratze der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft zum Vorschein bringen, die die audiovisuelle Unterhaltung als effektivste Form ideologischer Zurichtung entlarven, die die Figur des diskursiv erzeugten Konsens' als Luxusausführung struktureller Gewalt offenlegen; mit Darstellungen von Schmerz, Elend, Unterdrückung einer ganz normal funktionierenden Gesellschaft, die die Taubheit der meisten anästhetisierten Menschen für kurze Zeit aufzusprengen vermögen... . Es gibt wirklich soetwas wie ein aufgeklärtes falsches Bewußtsein, und zwar massenhaft. Sie brauchen auf nichts mehr hinzuweisen; die Leute sehen überall die Unerträglichkeit einer nichtaufhebbaren Welt, überall. Nicht umsonst entstand Mitte der 70er Jahre eine Kultur oder besser gesagt ein Markt des Augenschliessens, des Wegsehens, des Andersseins im Wo... . Die Gesellschaft ist in den Köpfen, die Fehler, die Unterlassungen, die Ungerechtigkeiten, die Mächte, die Demütigungen sind in den Köpfen, sie sind schon drin...
MODERATOR:...Nun gut, das ist jetzt...
PERNE:...Sehen Sie, wenn wir im Alltag von Ideologie reden, und in der Regel meinen wir damit Ideologie mit dem Referenten Politik, dann heißt das soviel wie: Ein Sachverhalt, ein Thema, eine Forderung oder eine Legitimation werden von allen Kontradiktionen, Ambivalenzen, Ungerechtfertigtkeiten oder von falschen Voraussetzungen, Gründen, Motiven oder Folgewirkungen gereinigt, indem die all dies erzeugenden Sichtweisen des zu ideologisierenden Gegenstandes als falsche, ungerechtfertigte oder schlicht als ideologische denunziert werden. Übrig bleiben soll nur der eine Ansatz, nur das eine Denk- und Interpretationsnetz, das sich als einzig wahrer Deutungs- und Problemlösungsmodus zu erweisen hat. Solcherart Vorhaben streift sich sehr schnell das Attribut `dogmatisch` über und gibt damit zu erkennen, daß es, ab einer gewissen Stufe der ideologischen Auseinandersetzung, sich nicht mehr an der unzulänglichen Welt der Wirklichkeit, sondern an der Wirklichkeit des Weltbildes orientiert. Wir sehen also in Ideologien interessengeleitete Deutungsangebote, die eine vieldeutige Ortung und Bedeutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugunsten einer eindeutigen Weltbildorientierung sein lassen, um die Wirklichkeit ein Stück näher an das Weltbild von ihr zu rücken...
RÜHM: [leise vor sich hin]...Das ist doch kalter Kaffee...
PERNE:...Der Vorteil dieser ideologischen Vorgehensweise ist nun u.a. der, daß jede politische Emission, jede Entscheidung, jede Ansicht und Äußerung, wie gering und nebensächlich auch immer, abbildbar wird im ideologischen Denknetz. Noch in den kleinsten politischen Entscheidungen ist nun das gesamte politische Programm abruf- und entfaltbar; kann das gesamte Weltbild mit Wucht diesen politischen Partikel in den entscheidenden Code hineintreiben; kann letztlich eine forcierte Ideologisierung dazu beitragen, daß immer weniger Kommunikation passiert, die auf Austausch basiert. Die Exzesse dieser ideologischen Codierung haben wir ja im versuchten Sozialismus noch richtig greifbar verfolgen können, wo die Paranoia letztlich so weit ging, daß gar noch Husten und Lachen ideologisch abgeklopft wurden...
MODERATOR:...Wie? Stimmt das wirklich?...
PERNE:...Aber nein, ich wollte nur das Exzessive andeuten, den Zwang der Ideologien, sich zu totalisieren...also, Ideologie reduziert nicht nur Komplexität, priorisiert nicht nur eine bestimmte Art der Problemwahrnehmung und -lösung, politisiert nicht nur ansonsten belanglos bleibende Handlungen und Gedanken, bündelt nicht nur gesellschaftliche Machtinteressen und forciert nicht nur die Nichtidentität, die Kontrafaktizität oder gar den Antagonismus verschiedener Wirklichkeits-, Gesellschafts- und Geschichtsbilder. Ihre eigentliche, will sagen nichtintentionale Funktion ist, oder besser war die, jene Inhalte eines Bewußtseins vor Fragwürdigkeit zu schützen, daß es auch weiterhin der Mensch ist, der seine Umwelt, seine Wirklichkeiten, seine Gesellschaften erzeugt, daß der Mensch es auch weiterhin ist, der die Mächtigkeit besitzt, die mittlerweile naturhaft sich gebende `zweite` Natur so zu verändern, wie er es möchte; daß der Mensch auch weiterhin Regie führt in der Wüste versteinerter gesellschaftlicher Fakten, Beziehungen und Nöte254.
MODERATOR: Herr Perne, wollen Sie wirklich behaupten, Ideologie sei genuin eine Sache der Linken, der Geknechteten, derer, die auf Zukunft setzen mussten, weil ihnen die Gegenwart nur die Rolle des Sklaven, des Geknechteten, des Beherrschten und des Arbeitskraftverkäufers aufdrängte?
PERNE: Ja und Nein. PETER FURTH schrieb in seiner `Phänomenologie der Enttäuschungen`, daß die Konservativen als Wissenschaftler überleben konnten, die Progressiven hingegen zu Ideologen wurden [p31]. Die Ideologie der Linken hatte, um es mal grobschlächtig zu sagen, in der Regel immer an zwei Fronten gegen zwei Gegner zu kämpfen, die der Rechten aber immer nur gegen die der Linken. Linke Ideologie musste nicht nur gegen die herrschende Klasse, gegen die Mächtigen, die Eigentümer und gegen den die notwendigsten Reproduktionsapparate der Gesellschaft besitzenden Staat ankämpfen, sondern auch gegen die Interessen und Vorstellungen, die sich in der Tradition, in der Kultur, in den Institutionen, in der Architektur, in der Erinnerung, in den Bildern, in der Sozialisation, im Alltag, in den Gewohnheiten verflüssigt oder kristallisiert hatten. Linke Ideologie, etwa die marxistische, hatte immer das Ganze in Anschlag zu bringen, durfte nie sektoral oder gar mit Blick auf Integration konzipiert werden255; nicht umsonst gab es so komplizierte Konstruktionsimporte wie die Dialektik, wie das Gesetz der Negation der Negationen, wie der Historische Materialismus; nicht umsonst auch der Anspruch, den Menschen neu zu schaffen, und nicht etwa nur bestimmte gesellschaftliche Rechte, Funktionen, Eigenschaften und Ansprüche, die dieser hat. Das Sein des Menschen stand als imaginierte Planbarkeit zur Disposition, nicht bloß das Dasein in seiner tierähnlichen Zurichtung als ertragbare Dimension menschlicher Reproduktion.
Natürlich kann man heute sagen, dieser marxistische Anspruch, diese Erwartung sei die letzte und weittragenste Version einer Verwechslung mit Gottesmacht gewesen, aber das wäre jetzt zu psychologisch dahergeredet und mißachtete das Faktum historischer Kontingenz. Auch verwischt man mit dem Fokussieren von Ideologie auf linke Weltbilder und Gesellschaftsordnungen - die ja jetzt nicht mehr sind - die Tatsache, daß die Ideologien des Individualismus, des Liberalismus, des Privatismus, des Privateigentums und der Sozialpartnerschaft sich viel effektiver und weittragender ihren Platz in der Praxis der und im Denken über Gesellschaft eingerichtet haben; daß sie erstblicklich nicht mit Strafe, nicht mit direkter Kontrolle und Gewalt auf den Plan treten, sondern diese vielmehr durch die Allgegenwärtigkeit der Funktionen und Zwänge der bürgerlichen Freiheit und des bürgerlichen Subjekts als explizite Ideologie vermeiden können, macht sie so gut getarnt, so sender- und adressenlos, ein Aspekt übrigens, der mit zur Repsychologisierung des Ideologiebegriffs führte.
MODERATOR: Vorhin sprachen Sie doch noch von einer Emanzipation ideologischer Funktion von der Form `Ideologie`; jetzt von der Allgegenwärtigkeit der...
PERNE:...Sehen Sie: Ideologie braucht heute keine Zentrale mehr, die die Peripherie mit materiellen oder immateriellen Versatzstücken von Ideologie beliefert. Die gesellschaftlichen Welten, die vormals unter ideologischer Kuratel standen, da in ihnen noch Nichtsubsumiertes, Absage- oder Oppositionsverdächtiges zu finden war, sind nun mit Wirklichkeiten ausgestattet, die keiner ideologischen Reproduktionsapparate mehr bedürfen, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Und die Welten, die noch in Spurenelementen ein Aroma verbreiten, hier in ihnen fänden sich Bruchstücke des ruinierten `richtigen Lebens`, werden entweder mit den neusten Techniken ideologischer Wirklichkeitskonstruktion bedacht, oder dienen - ganz nach dem Motto: Ein Königreich für einen Staatsfeind - der herrschenden Ordnung als Legitimation ihres Soseins. Oder sie werden - ganz postmodern - in Museen ausgestellt, als archäologische Fundstücke höchster Seltenheitsstufe verexotikt, werden vom Fernsehen aufgesaugt...
MODERATOR: [gezwungen freundlicher Ton]...Ich kann Ihnen nicht mehr ganz folgen, Herr Perne. Von welchen Welten reden Sie jetzt? Wer stellt was aus? Was ist eine ideologische Wirklichkeitskonstruktion?...
PERNE: [etwas resigniert]...Ich rede von Welten...oder man sollte wohl besser von Zellen reden...also von Zellen, die sich hartnäckig sträuben, mitzumachen...
RÜHM:...Oh, das letzte Aufgebot gegen die Agonie des Realen256 bringt sich in Stellung und winkt HERBERT MARCUSE zu257...
PERNE:...Ach, Herr Rühm...Widerstand ist das Prinzip, aus dem die Geburt der Existenzen zu erklären ist258, nicht Opportunismus; alles andere ist bestenfalls zirkulär oder affirmativ. Solange die Menschen als Gesellschaft Ordnung haben und diese aufzuheben suchen; solange die Zerstörung des Subjekts durch die Ordnungen und vorallem durch das Wissen der Ordnungen voranschreitet, solange gibt es auch ein Wissen für die Zerstörung der Ordnungen, ein Wissen darüber, wie auszuwählen ist, ohne auszuscheiden. "Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward"259. Sie selbst haben doch vorhin, wenn ich mich recht erinnere, die Fundierung Ihrer Analyse darin gesehen, wo und wie eine verschwundene Öffentlichkeit - im emphatischen Sinne - zu entdecken sei, anders und mit anderen Mitteln, aber doch noch mit den Funktionen, die wir alle nicht mehr missen wollen...
RÜHM:...Aber ich sprach von Öffentlichkeiten, nicht von der Öffentlichkeit, um anzuzeigen, daß...
MODERATOR:...Bitte bleiben wir beim Thema. Herr Joost sprach davon, daß die Ideologien abhanden gekommen sind, weil ihnen der einzige Nährboden, auf dem sie gedeihen können, genommen wurde, nämlich der der totalen politischen Anmaßung, die Kluft zwischen Sein und Sollen gestalterisch annullieren zu können, und daß nun Ideologien, die auf dem Markt sind, nicht über Systeme, sondern bloß noch in Systemen richten, orientieren oder entscheiden. Darf ich das so zusammenfassen, ja?!
JOOST: Aber nein, ich...
MODERATOR:...Und Sie, Herr Perne, wollten uns über den Begriff der Ideologie auf der Höhe der Zeit aufklären. Bitte!
PERNE: [etwas gedrängt, bedrängt] Tja, meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen, möchte ich fast sagen, aber das darf nur der Hamlet HEINER MÜLLERS herausschreien [die anderen schauen sich verstört an], um dann nach hause zu gehen, die Zeit totschlagen...[kleine Pause]...oh Herr, brich mir das Genick beim Sturz von einer Bierbank...[kleine Pause]...also gut. Ideologie alterniert in ihrer Erklärungsdimension heutzutage zwischen unendlich vielen Ansätzen und Referenzen, die man, wie ich es eben schon tat, auf drei Sichtweisen konzentrieren kann: Die marxistische, die repsychologisierende und die postmoderne. Diese drei Ebenen der Sichtweise decken fast alle Systeme und Referenzen der `normalen` Wirklichkeit ab, um in dieser Ideologie ortbar zu machen. Die erste Fassung begrenzt Ideologieausstoß auf einen immer noch identifizierbaren Emittentenkreis, während Immissionen als allgegenwärtige gedeutet werden, ganz dem Maß entsprechend, nach dem Vergesellschaftung, Individuation und Sozialisation über Monetarisierung, Kapitalisierung, Systembildung und abstrakte Kommunikation, also über den `Warencharakter` gebildet und verdinglicht werden. Die repsychologisierende Fassung sieht - einwenig polemisch gesagt - die Arbeit der Ideologieverkäufer als erfolgreichen Versuch, die Gesellschaft bis hinein in die monadische Einzelpsyche mit Ideologie zu kontaminieren. Ideologiehaftigkeit hat sich demnach durch Sedimentation in der Psyche unabhängig gemacht von Bedingungen sozialer `Gebundenheit`; das Denken ist jetzt überall verzerrt, vereinseitigt, beschränkt, auch bei denen, die bisher Ideologiekritik in progressiver Absicht verkauften. Einen Ausweg weisen kann hier nur der sozial Ungebundende, der `Freischwebende`, der, der sich einen im Extramundanen beheimateten Blick auf die Gesellschaft bewahrt oder errungen hat - ich bin versucht, jetzt ADORNO zu nennen als einen, der beide Auffassungen von Ideologie wohl am brillantesten, und damit wohl auch am falschesten zu synthetisieren verstand...nun gut - ; die dritte Fassung schließlich, die postmoderne, behandelt Ideologie in gewohnt postmoderner Manier der vollkomenen Paradoxierung. Für sie ist Ideologie nicht mehr da, sie ist verschwunden, gleichzeitig ist sie aber überall; einmal ist sie Prokrustesbett der Wirklichkeit, ein andermal ist es die Wirklichkeit, die die Ideologien ideologisiert; dann wieder ist das Gegenüber von Ideologie, sagen wir mal die Wahrheit sprachlicher Übereinkunft innerhalb Habermasscher Procederes, das eigentlich Ideologische, während das Ideologische das eigentlich Wahre ist; dann wieder gilt das Festhalten an komplementären Begriffspaaren antithetischer Konstruktion, also etwa am Paar Ideologie-Wahrheit, als zutiefst obsolet, während gleichzeitig das ideologische Codieren dafür einzustehen hat, daß Schein und Sein noch nicht präzise in Deckung fallen, also: Zwischen der Ideologisierung von Wirklichkeit und der Wirklichkeit von Ideologie - in Analogie zum Schein der Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Scheins - wird postmodern nicht mehr so genau unterschieden, also kurz: "Ein globaler Hypertext sei unser Erfahrungshorizont, die Simulation das Wesen unserer Existenz"260. Und Ideologie bzw. Ideologiekritik nichts weiter als ein weiterer unbrauchbarer Versuch, hinter das Dunkel dessen zu kommen, was Welt und Wirklichkeit heißt.
RÜHM: Nach der Ausführlichkeit zu urteilen tragen Sie die dritte Fassung in Ihrer Brust...
PERNE:...Oh nein, für mich haben alle drei Fassungen plausibel Sinn da, wo sie gebraucht werden können. Sie schliessen sich ja nicht aus261. Was sich ausschließt ist, sie für eine bestimmt Zeit, einen bestimmten Raum und für bestimmte Vorgänge gleichzeitig in Anschlag bringen zu wollen. Sie können also nicht die Gesellschaft in analytisch brauchbare Feldeinheiten zerlegen und dann für jede Einheit alle drei Fassungen durchprogrammieren; das geht nicht.
MODERATOR: Was heißt das? Gibt es jetzt noch einen einheitlichen Ideologiebegriff, der sich nur in den Strategien unterscheidet, oder gibt es bloß unterschiedliche Ideologien, die sich alle einer einheitlichen Strategie bedienen? Oder anders gefragt: Bestimmt noch der Inhalt über die Annahme oder die Ablehung, oder doch nur die Form?
PERNE: Tja, ich glaube, diese Frage hat keine auch noch so versteckte Wirklichkeit mehr, auf die sie sich beziehen könnte - gehen wir in Beispiele rein -. Nehmen Sie etwa das Fernsehen, den Samstagabend, die Live-Show, die Unterhaltung. Wenn sich samstagabends - eine Zeit, die als das Tivoli der Wochenzeit gilt, in der der Abstand zum in Fleisch und Blut übergegangenen Leistungsprinzip doch eigentlich distanzierte Reflexion fördern könnte, anstatt nur Infantilisierung...aber lassen wir das - , also wenn sich zu dieser Zeit 15 bis 20 Millionen Mitglieder dieser so komplizierten Gesellschaft daran erbauen können, ob das Vorhaben, mit einem vollbesetzten Jeep auf Schnapsgläsern einen Meter fahren zu können, klappt oder nicht262: Ist es da noch sinnvoll, von Ideologie, also von Absicht und Mitteln, von Grund und Folge, von Sinn und Zweck zu reden? Braucht man da noch Ideologie - ich meine jetzt nicht nur die des Fernsehens - , wenn solcherart Zeitverbrauchsangebot derart große Nachfrage hat?
Nun, ja sagen die, die das Fernsehen in - sagen wir - Brechtscher Manier interpretieren, einen kulturellen Auftrag unterstellen, klare Vorstellungen darüber haben, was das Fernsehen zu thematisieren hat und was nicht, die es als große Problematisierungs-, Bewußtmachungs-, Bildungs- und Verunsicherungsmaschine deuten, die nur nebenbei auch Unterhaltung auszustoßen hat usw.
Ja sagen auch die, die in dieser kulturellen Reproduktionsmaschine Fernsehen eh nur eine Überbaufiliale der herrschenden Verhältnisse orten können263.
Nein sagen die, denen der Stellenwert, den die Industrie den Inhalten der elektronischen Medien zukommen läßt, als einzig aussagekräftiger Wert erscheint; die à la ENZENSBERGER Fernsehen als Nullmedium deuten, ohne Programm, ohne Inhalt, Fernsehen als "wohldefinierte Methode der genußreichen Gehirnwäsche", als Selbstmedikation; schließlich als "die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie"264; die also davon überzeugt sind, daß die Zuschauer wissen, daß Fernsehen ein Mittel zur Verweigerung von Kommunikation ist265, und damit das Fernsehen aus dem Rahmen einer Kritik herausfallen lassen, zumal aus dem der Ideologiekritik.
So. Sie sehen, daß Fernsehen nicht mehr eindeutig einer ideologischen Funktion überführt wird, daß also Ideologiekritik an Grenzen stößt - das könnte man auch an den Begriffen wie Demokratie, Mitbestimmung, Meinungsfreiheit usw. aufdröseln - ; die genannten Arten der Ortung schließen sich aus. Jede wirft der anderen vor, entweder selber Ideologie zu produzieren, oder selbst verblendet, also Produkt einer großen Manipu- oder Simulation zu sein...
MODERATOR:...Ja ist es denn kein Erfolg von Ideologie, wenn sie sich durch ihre vollkommene explizite Abwesenheit umso effektiver durchzusetzen vermag? Kann man hier nicht eine fortgeschrittene Ideologieproduktion besichtigen, die es geschafft hat, sich in Sachverhalte einzuschleichen, die erstblicklich ideologiefreier Natur sind? Darf man das massenhafte Wahrnehmen ohne Interpretation, das Sichbeschäftigen ohne Meinung, das Ansehen ohne Sinn, das Sein ohne Denken, wie es der Fernsehenkonsum mit sich bringt, nicht auch als Ideologieprodukte deuten? Ist es nicht...
PERNE:...Nein, warten Sie. Wenn ich von der Emanzipation der Ideologie von ideologischer Form spreche, dann meine ich nicht das, was Sie jetzt anzudeuten versuchen. Es ist vielmehr so, daß der - sagen wir - zu ideologisierenden Sache nicht mehr anzusehen ist, welche Ideologie Hand an sie legt. Denn Ideologie ist heute nicht mehr als eine Art Trittbrettfahrerin der scheinbar noch ideologisch besetzbaren Systeme. Bleiben wir mal beim Fernsehen: Politische Ideologie hat hier nur noch die Möglichkeit, sich an markanten Stellen und Oberflächen, etwa in der Personalpolitik oder in der Themenunterlassung, direkt kenntlich zu zeigen, aber nicht mehr in der Bestimmung der Funktion des Systems Fernsehen für die politische oder gesellschaftliche Öffentlichkeit...
JOOST:...Aber Herr Perne, das ist ja schon peinlich, was Sie da sagen. Rundfunkräte als subpolitische Verlängerungen der Länderparamente; Parteienproporz; Zugriffsrecht des Staates bei gesellschaftlichen Notsituationen und -zuständen - ich sage nur: `Heißer Herbst` -; staatstragende Staatsbürger als Chefredakteure usw.: Das nennen Sie oberflächlich? Das ist für Sie nicht mehr ideologisch zu fassen? Wenn das...
PERNE:...Sie schauen noch immer auf den Inhalt, anstatt sich um die Wirkungen zu kümmern, die von der Form ausgehen. Und Sie schauen noch zu stark auf die Gewichtung politischer Funktionäre, die meinen, das Fernsehen unter Kontrolle halten zu müssen. Die Einflußnahme der Politik im Reservat Rundfunk, die nur noch selten ans Tageslicht gelangt, und der Glaube, Politik müsse zumindest mit einem Fuß im Rundfunk stehen, sind doch Resultate eines Denkens, das sich längst von der Realität verabschiedet hat. Sehen Sie, "nicht als Vehikel eines Inhalts, sondern durch die Form und Operation selbst induzieren die Medien ein gesellschaftliches Verhältnis.(..) Die Medien sind nicht Koeffizienten, sondern Effektoren von Ideologie"266. "Sie verlieren den Sinn ihres Seins als Funktion der Gesellschaft und werden selbst zur Gesellschaft"267. Das Fernsehen, so wie es sich heute dartut, ist doch schon Resultat gesellschaftlicher Zustände, die eine politische Ideologie erst noch zum Ziel erhöbe. BAUDRILLARDS Verdikte, mit dem Fernsehen sei die soziale Kontrolle zu sich gekommen; das Fernsehen sei die Gewißheit, daß die Leute nicht mehr miteinander reden268; daß die Fernseher gar nicht mehr anders als von Inhalten abstrahierend wahrnehmen, was gezeigt wird usf.: All das läßt eine von außen kommende Ideologisierung des Fernsehns - egal ob rechts oder links - an der spezifischen Produktions- und Perzeptionsform des Fernsehns abprallen. Man findet allenfalls noch in Einzelbeiträgen, etwa politischen Magazinen, Ideologie vor, aber das ist dann nicht mehr als ein Partikel unter tausenden, die das Fernsehen täglich emittiert, und zudem noch einer, der nostalgisch macht, weil er den Eindruck vermittelt, hier passiere Ansprache. Natürlich unterscheiden sich Werbespot und politischer Kommentar ohne viel Dazutun, wenn man sich den Blick freihält für das, was unterhalb des Abstraktums `audiovisuelle Kommunikation` findbar ist. Ist einem dies soziologisch nicht mehr relevant genug, dann hat man allerdings festzustellen, daß sich Werbespot und politischer Kommentar nur noch von ihrer Vermittlung her begreifen lassen, nicht mehr von ihrem Inhalt; die Nivellierung findet dann alleine dadurch statt, daß beide `im Fernsehn sind`...
RÜHM:...Das ist doch Blödsinn...
PERNE:...Nein, sehen Sie, BAUDRILLARD gibt hierfür ein für mich plausibles Beispiel, das...
MODERATOR:...Herr Perne, Sie beginnen mit dem Zitateumsichwerfen; ich darf Sie also Ihrem Wunsch gemäß unterbrechen...
RÜHM: [zu Perne hin]...Haben Sie keine eigenen Erfahrungen, um Beispiele zu bringen? Müssen Sie...
PERNE:...Aber ja doch, gleich! Also: BAUDRILLARD betrachtete die Rolle der Massenmedien in Frankreich - aber auch in anderen Ländern - während der `Mai-Revolte` 1968. Er betrachtete vorallem die Interpretationen dieser Rolle der Massenmedien, wie sie von der Öffentlichkeit und von bestimmten Systemen betrieben wurden, und stellte fest, daß viele Interpretationen davon ausgingen, die Massenmedien spielten das Spiel der Revoltierenden mit, die Medien hätten sich also vereinnahmen lassen von dieser Bewegung, unterstützten diese, ja stellten eine Variable des `Klassenkampfs` dar. [Kopfschütteln der anderen] Dagegen behauptet nun BAUDRILLARD, daß zur Zeit der Mai-Unruhen "die Medien ihre Rolle nie besser gespielt haben und daß sie in ihrer gewöhnlichen gesellschaftlichen Kontrollfunktion voll auf der Höhe der Ereignisse waren. Denn sie haben (trotz der Umwälzung der Inhalte) ihre Form bewahrt, und es ist diese Form, die sie, in welchem Kontext auch immer, unausweichlich mit dem Machtsystem solidarisiert. Indem sie das Ereignis in die abstrakte Allgemeinheit der öffentlichen Meinung ausstrahlten, haben sie ihm eine jähe und übermäßige Entwicklung aufgezwungen und durch diese forcierte und antizipierte Ausweitung die ursprüngliche Bewegung ihres eigenen Rhythmus' und Sinns beraubt - mit einem Wort: Sie haben sie kurzgeschlossen"269. Wenn ich mich recht entsinne, meinten Sie doch [zum Moderator] vorhin nichts anderes, als Sie zum Ausdruck brachten, sich nicht vorstellen zu können, daß soziale oder oppositionelle Bewegungen mittels technischer Kommunikationssysteme weitertransportiert werden können in Bereiche hinein, wo ihre antikapitalistische Aufhebungsdynamik nicht wieder vom System kapitalistischer Vergesellschaftung innovativ zur Krisenbewältigung transformiert wird, etwa so, wie es den Grünen geschah. Und genau hier ist der Punkt, an dem es sich einfach nicht mehr lohnt, über Ideologie, über politische Macht, über gesellschaftliche Durchsetzung von Interessen, über noch veränderbare Felder der Gesellschaft, über Streit, Streik, Konfklikt und Krise zu reden - das Kind ist nicht nur schon mit dem Bade ausgeschüttet, es ist gar nicht mehr vorhanden, um als ausgeschüttetes vielleicht noch gerettet zu werden! -. Genau diesen Zustand widerspiegelt der heutzutage gängige Gebrauch des Ideologiebegriffs: Man wähnt hinter ideologischer Vergesellschaftung Subjekte, um sich dieses Stratum für Vergesellschaftung noch handlungs- und bedienungsfähig zu halten, wenngleich doch auch dieser letzte Faden zu einer dem Subjekt gehorchenden Welt, nämlich qua unbedeutender Individuen an die Auswechselbarkeit bestimmter kultureller Hegemonien zu glauben, längst gerissen ist. Das Festhalten an einem Ideologiebegriff, der sich nur durch oberflächliche Modifikationen an die veränderte Situation gegen Ende des 20.Jahrhunderts meint anpassen zu müssen, um weiterhin im Gebrauch zu bleiben, ist nichts anderes als Ausdruck von Blindheit, von Unfähigkeit zu verstehen, daß es sich heute nicht nur um Veränderungen dreht, die wie gewohnt durch die großen Ideologieapparate namens audiovisuelle Medien und Kulturindustrie geschleust werden, sondern darum, die grundlegende Wandlung der Grundlagen von Wandel überhaupt ideologisch operationalisieren zu können. Die Ironie der Geschichte ist es, daß mit dem Akutwerden dieses abstrakten und reflexiven Großunternehmens die Gesellschaftswissenschaften - entgegen MÜNCH - , oder besser gesagt die Gesellschaftstheorie in eine neue Phase gesellschaftlicher Irrelevanz eintritt, also endgültig vom Reich praktischer Politik abgekoppelt zu werden scheint, sodaß mit einer Wiedergeburt des Erkenntnisbegriffs zu rechnen ist, der der Größenordnung engegenkommt, die von der grundlegenden Wandlung der Wandlungsgrundlagen evoziert wird...
JOOST:...Also so geht das nicht, Herr Perne! Sie widersprechen sich ja am laufenden Band. Einmal reden Sie davon, man müsse der postmodernen Herausforderung, alle bis dato gängigen Koordinaten als hinfällig zu betrachten und zwischen Wahrheit, Falschheit, Realität, Fiktion, Form, Inhalt usw. keine maßgeblichen Unterscheidungen mehr zuzulassen, widerstehen; dann reden Sie wieder davon, daß man eigentlich nur noch der gesellschaftlichen Komatisierung genüßlich oder verdrieslich beiwohnen könne und zerren dafür ADORNO aus dem Souffleurkasten, grenzen sich dann aber wieder von ihm ab und behaupten, eine emanzipierte Ideologie müsse nicht in Fatalität und `zweite Barbarei` enden; dann wieder halten Sie ein Plädoyer fürs Fatale und werfen sich BAUDRILLARD an den Hals...
PERNE: [ungewohnt souverän]...Ja, und?!
JOOST: [ist überrascht ob der Verpuffung seines Angriffs] Was sollte denn das Zitat von BAUDRILLARD? Es sollte doch nur zeigen, daß Sie immer noch an einer Ideologie hängen, die alle Verhältnisse umwerfen will, und wehe, ein bestimmtes Verhältnis wird davon nicht berührt, wie vorhin das massenkommunikative im Beispiel von den `Umwälzungen`; wehe, es bleibt auch nur ein Stein auf dem anderen; wehe, die Hülle der alten Gesellschaftsformation wird nicht in toto abgestreift: Dann ist für Sie alles Prozesshafte, aller Wandel nur hyperreal, nur geschickte Ablenkung von der vermeintlichen Tatsache, daß sich die Verhältnisse noch stabiler, noch uneinholbarer gesellschaftlicher Gestaltung entzogen haben und weiterhin entziehen werden. Ich weiß wirklich nicht, von welcher theoretischen oder gar intellektuellen Plattform aus Sie derartiges Denken noch kultivieren können.
PERNE: Es ist mir schon klar, daß Sie das Fernsehen durch BAUDRILLARDS Verdikt angegriffen sehen. Es müßte für Sie aber ein Leichtes sein, eine solche Beurteilung recht schnell als belanglose zu entkleiden, etwa wenn Sie sagten, daß nach der Logik dieser Sichtweise auch das Buch als Medium nichts anderes als eine perfekte Institution der Filterung, Einebnung und Zensur sei, und nicht etwa eins, das in didaktisch wertvoller Weise der Verbreitung von Aufklärung diene - ein Gedanke, der dann übrigens hoffnungslos mit Unmittelbarkeit, mit Hypostasierung von Unmittelbarkeit und Spontaneität überladen scheint -. Es ließe sich auch nicht mehr ausmachen, welche Formen des im weitesten Sinne kulturellen Ausdrucks für BAUDRILLARD nicht in eine `tödliche Öffentlichkeit`, nicht in den Dienst der Reproduzierbarkeit seiner selbst, nicht in die Alleinherrschaft eines alles subsumierenden Codes270 einmünden würden, einzumünden hätten - der FOUCAULT der 70er Jahre würde allein die Annahme, etwas würde nicht wieder Macht und Repression ausstrahlen, nachdem es sich von seiner Unterdrückung befreite, als töricht bezeichnen -. Es ließe sich auch nicht mehr ausmachen, wie gesellschaftliche Kommunikationsmedien jenseits ihrer Selbstdestruktion noch den Anspruch auf Reziprozität, auf Ambivalenz, auf orginalen Austausch einzulösen vermögen, ohne ins System der abstrakten Tauschwerte abzugleiten, ohne wiederum nach kurzer Zeit ein System der Nichtantwort zu institutionalisieren... .
So. Und ist man erst wieder soweit nach vorne durchgedrungen, quasi zu einem extramundanen Beobachtungsposten, dann lehnt man sich leicht zurück, garniert die ganze Ausweglosigkeit mit Sätzen wie "Das Ganze ist das Unwahre", oder wie "Das Reich der Verdinglichung und Normierung (...) wird bis in seinen äußersten Widerspruch hinein, das vorgeblich Abnorme und Chaotische, ausgedeht"271, und nimmt sich vor, nicht mehr mitzureden, weil man nichts mehr zu sagen hat.
Ist es nicht so, Herr Joost? JOHN CAGE beginnt seinen Vortrag über nichts mit den Sätzen: "Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen. Wenn unter Ihnen die sind, die irgendwo hingelangen möchten, sollen sie gehen, jederzeit. Was wir brauchen ist Stille; aber was die Stille will ist, daß ich weiterrede"272.
JOOST: [etwas konsterniert; die anderen ebenfalls leicht ratlos] Fehlt Ihnen etwas, Herr Perne? Sie brechen ja immer öfter durch...
PERNE: [mit dem tatsächlich etwas geschieht, noch unklar] ...Nun ja, es wird einfach immer schwieriger, ohne Taschenspielertricks aus double-binds zu flüchten, ohne Schmerz zu denken...HANDKES Weg ist mir leider verbaut...nein, ich...ich ertappe mich immer öfter dabei, mein Hirn, das Verfaulte, wie einen Buckel zu tragen272a; dabei, GOTTFRIED BENN immer besser zu verstehen; dabei, nur noch von den Augen aus zu sehen, denn die entscheiden sich für Reales, wenn Sie verstehen, was ich jetzt meine... . Und doch läßt das Gegenhalten, das Sichnichtergebenwollen entweder nur dümmliche Selbstbemitleidung zu oder gar schlechtes Plagiieren Adornoscher Resignation, verstehen Sie?...
RÜHM:...Ich muß jetzt mal...
MODERATOR:...Mir fällt da jetzt ein Statement KARL LIEBKNECHTS von 1918 ein, das er anläßlich eines Dramas von FRITZ von UNRUH - ich glaube, es hieß `Geschlecht` - machte. Er beschrieb den Autor als einen Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft, "der seine Faust gegen die Sterne ballt, das Weltall anklagt und sich selbst zerfleischt, der keinen Ausweg sieht - fliehen möchte und nicht kann - , in tatenloser Verzweiflung zusammenstürzt, statt kämpfend zu handeln, um eine neue Welt zu schaffen" ähh..warten Sie,..ja, "sekundäre Probleme verdecken ihm das Primäre, über die Folgen erkennt er nicht die Ursachen, erkennt nicht die sozialen Wurzeln des Furchtbaren, das ihn umklammert, nicht die Kraft, die sie ausrotten kann"273.
RÜHM: Also ich muß jetzt mal...
PERNE:...Nun ja, LIEBKNECHT, eine neue Welt schaffen, kämpfend handeln..tja, PETER WEISS schrieb folgendes über die Frühphase seiner schwedischen Emigrationszeit, während der er politisch kaltgestellt war, rückblikkend auf seine früheren politischen Sinn- und Bewußtseinszustande: "Früher hatte die politische Anspannung, die Einordnung unsrer Handlungen in große Zusammenhänge uns vor einem Hinabgleiten in die Benommenheit bewahrt. Selbst wenn wir uns im Untergrund der Entmachteten befanden, war doch alles, was zu unsrer Arbeit gehörte, mit einem parteilichen Planen verbunden gewesen"274. Und wenn Sie seine Ästhetik richtig lesen, erkennen Sie, daß genau dieses Eingebundensein in den großen Zusammenhang den Hauptteil dessen ausgemacht hat, was man mit Sinn, Kraft, Mut, Hoffnung, Ziel umschreiben kann. Diese Beziehung zwischen Allgemein- und Besonderheit, zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten, die nicht bloß dem Umstand geschuldet ist, daß das Allgemeine alles Besondere subsumiert, sondern dem Umstand, daß das Konkrete `in sich` aufgehoben, also aufgelöst wird, ist heute unmöglich geworden.
Das Individuum heute "kommt aus seiner Vereinzelung nicht heraus; sein Zusammenhang mit den anderen besteht in deren `Abwesenheit`"275; und dies umso mehr, je faktischer die Menschen " durch die selbstgeschaffenen Produktivkräfte hinter ihren Rücken auf der inhaltlich-stofflichen und `technischen` Ebene kommunistisch vergesellschaftet" werden276. Andrerseits nimmt das autistische Milieu, in dem die Individuen verharren, seinerseits kommunistische Vergesellschaftungsdimensionen an; es wird unendlich übertragbar, besitzt als zweite Existenz eine permanente Virulenz, ist anfällig für alles, was es verstärkt - nehmen Sie die Massenmedien, um zum Anfang zurückzukehren: Hier werden...
RÜHM: [aggressiv]...Also: So geht es nicht, Herr Perne! Wirklich! Mit Ihren Patchwork-Sätzen - da einwenig marxistische Methode, dort einwenig Poststrukturalistisches, hier einwenig Systemtheoretisches - machen Sie sich endgültig unverständlich! Wir kommen so auch nicht weiter.
Vorhin war die Frage, was Soziologie sei und welche Funktionen und Zwecke ihr noch zukommen. Wir kamen darauf, daß theoretische Modelle von Gesellschaft, die heutzutage auszulaufen scheinen, sehr schnell einer Ideologisierung ausgesetzt sind, und waren also beim Ideologiebegriff angelangt, den Herr Joost nicht im konventionellen Sinne akzeptieren konnte. Wir sprachen generell über den Einfluß der Politik auf die Gesellschaft bzw. über den Verlust der Macht; über die Notwendigkeit einer Renaissance der Politik bzw. keynesianischer Wirtschaftspolitik angesichts des erhöhten Regulierungsbedarf eines präkatastrophalen Spätkapitalismus; über die intellektuelle Notwendigkeit, partikuarisiert erscheinende Destruktionsmomente der Moderne wieder in einen Zusammenhang zu binden, ohne sich eines terroristischen Universalismus zu bedienen; über die Grenzen einer Demokratie wollenden Gesellschaft, demokratische Procedere als ultima ratio zu ideologisieren; und wir sprachen letztlich davon, wie es noch zu bewerkstelligen sei, daß sich die Gesellschaft in gänze in Anschlag bringen kann, ohne dabei das Mittel `Macht` wieder zum Zweck zu erheben, also davon, wie Gesellschaftstheorie dazu beitragen könnte, daß Politik nicht wieder einem Roulette gliche, "bei dem die Einsätze immer schon gemacht sind und nur stets die Karten neu verteilt werden"277.
So. Wenn wir jetzt weiterreden, dann bitte auf einem Niveau der Verständlichkeit; ohne apokalyptische, ohne unerreichbare postmoderne Einsichten; ohne den ganzen Globus zu behandeln; ohne Zeitperspektive, die Zukunft schon als Vergangenheit sieht; ohne zum x-ten Mal Ausweglosigkeit als einzigen Ausweg aus der Resignation aufzuzeigen. Und bitte mit mehr Sachlichkeit, mit mehr Fakten, Beweisen, mit Details; weniger philosophische Tableaus, mehr faktentragende Tablettes!
MODERATOR: [etwas beschämt, da ein anderer seine Funktion übernommen
hat, die Diskussion zu sammeln] Tja, danke, Herr Rühm, für diese
angebrachte Moderation.
[ 19. Der heiße Brei läuft aus, das Herumreden bleibt ]
Lassen Sie uns zum Abschluß dieser Runde ein Thema aufgreifen, das schon desöfteren kurz angetippt wurde und bei dem die Sprachverwirrung sehr deutlich zeigt, welch` Aufarbeitungsbedarf noch besteht, diesen Sachverhalt etwas mehr zu erhellen: Die Rede ist von audiovisueller Massenkommunikation, von der Informatisierung der Gesellschaft, der Telematik, von der medienvermittelten oder der mediengesteuerten Kommunikation, von den elektronischen Medien oder wie auch immer der passende Begriff heißen mag, diesen Wirklichkeitsbereich, der dazu ansetzt, die Wirklichkeit zu einem, zu seinem Bereich zu kehren, richtig zu benennen. Ein kompliziertes Thema, für sehr viele Sichtweisen und Interessen gleichermaßen hochinteressant und wichtig; für Ökonomen, für Philosophen, für Politik und Gesellschaftskritik, nicht zuletzt auch für die Journalistik. Ein Thema, das in beinahe allen Winkeln der gesellschaftlichen Realität hineinragt, diese verändert, neue Interpretationen schafft - manche sagen auch neue Realitäten - ; das die einen optimistisch werden läßt, die anderen pessimistisch; das die einen als Thema schlechthin für die Zukunft bedeuten, die anderen als geschickt aufgeblasene Banalität, als simulierendes Simulacrum zu entlarven glauben; das die einen theoriestrategisch auf die Seite der Lebenswelt schlagen und dort, neben der Privatsphäre, generell unter dem Stichwort Öffentlichkeit behandeln als einer Institution, die soziale Integration zu vermitteln vermag, die anderen hingegen schon unter dem Blickwinkel eines mediengesteuerten Subsystems analysieren, das nur noch eine formal organisierte Systemintegration bewirkt; ein Thema also, das der Spekulation ein weites Betätigungsfeld bietet und nur sehr schlecht einer rein empirisch-faktisch orientierten Herangehensweise überantwortet werden kann.
Herr Joost, könnten Sie uns einen kurzen Abriß der geschichtlichen Entwicklung dessen geben, was wir audiovisuelle Kommunikation - vielleicht der ideologisch fortgeschrittenste, weil am neutralsten erscheinende Begriff - nennen?
JOOST: [lächelt gequält] Oh, eine dankbare Aufgabe. Aber auch auf die Gefahr hin, von Ihnen als Ausweicher gescholten zu werden, muß ich leider noch etwas zu der Seminarleiterrolle Rühms anmerken.
Ich bin sicherlich kein Freund der Paraphrase oder sonstiger sprachlicher Architekturen, die sich bei der kleinsten Frage nach Inhaltlichkeit in verlassene Ruinen verwandeln; ich ziehe im Zweifelsfall dem schiefen Irgendwie das gerade Soistes vor. Aber Ihr Insistieren auf faktentragende Tablettes, die die philosophischen Tableaus abzulösen hätten, kann ich nicht unterschreiben...
RÜHM:...Nicht ablösen, ich sprach von einer anderen Dosierung; letztere weniger, erstere mehr zu verwenden...
JOOST:...Nun gut, auch die Frage nach der Dosierung von empirischer und theoretischer Betrachtung scheint mir gerade beim jetzigen Thema der Kommunikationsverhältnisse einer überkomplexen Gesellschaft eher überflüssig beschränkend denn notwendigerweise bedingend...
RÜHM:...Es fängt schon wieder an...
JOOST:...Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen...
MODERATOR:...Könnten Sie das kurz zur Sprache bringen?
JOOST: Also, um es auf einen Nenner zu bringen: Die Gemeinsamkeit, in der sich die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Betrachtungsweisen dessen, was als massenmediale Kommunikation bezeichnet wird, doch einigermaßen wiederfanden, nämlich den gesellschaftlichen `Penetrationsgrad` der Massenmedien bezüglich personaler, sozialisatorischer, ökonomischer, kultureller, legitimatorischer und nicht zuletzt politischer Realitäten paradigmatisch auf einem `soziologischen` Niveau anzusiedeln, das dem des Begriffs Arbeit als Explikationsfundament gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen doch sehr nahe kam, diese Gemeinsamkeit ist nach gut 30 Jahren wohl zuende278.
MODERATOR: Aber das ist doch Unsinn, was Sie da sagen. Erstens gab es nie eine `inhaltliche` Gemeinsamkeit der wissenschaftlichen Massenkommunikations- oder Medienforschung; entweder man bezog sich auf das Verhältnis zwischen der Erfahrungswelt der Wirklichkeit und dem Sehen oder gar Erleben der Fernsehnwirklichkeit, oder man bezog sich auf die Bilder der Fernsehnwelten als wirkliche `kulturelle` Ausdrücke herrschender gesellschaftlicher Tendenzen inklusive der Möglichkeit, in diesen Bildern, in diesen Ausdrükken den Wunsch oder die Einbildungskraft eines unversehrten Lebens aufgehoben zu finden, oder man bezog sich bzw. bezieht sich heute auf Massenkommunikation eher so, wie man sich auf Dinge bezieht...
RÜHM:...Erläutern Sie das!
MODERATOR: Sehen Sie, ich will auf drei Momente hinaus, in die man die theoretische Betrachtung von Massenkommunikation schlicht und einfach zu differenzieren hat. Das erste Moment ist geprägt von einer Sicht, die dem Fernsehn als Medium unterstellt, der Welt, Wirklichkeit und Gesellschaft eine neue Wirklichkeitsmatrix zur Verfügung zu stellen, die eine völlig neue Ordnung gesellschaftlichen Seins, gesellschaftlicher Zeit, gesellschaftlicher Dynamik und Organisiertheit erlaubt; die komplexe, implosive, plurizentrische, audiovisuell mediatisiert sich in Anschlag bringen könnende Gesellschaft sei geboren - ich übertreibe hier nur geringfügig: MCLUHANS Gedanken bewegten sich in solchen Höhen. Also das erste Moment: Das Fernsehn als Höhepunkt einer Entwicklung, die mit der Erfindung der Schrift begann, über die Technisierung von Welt, Leben und Natur das Netz der `zweiten Natur`, also der neugeschaffenen Realitäten, immer dichter webte und nun mit dem Fernsehn eine nicht mehr übersteigbare kongeniale Austausch- und Verfügungsorganisation erhält.
Das zweite Moment fokussiert Fernsehn als Medium, das nicht neue Wirklichkeiten schafft oder auf bisher unmögliche Weise alte neu kompiliert, sondern als Medium, das vorhandene Wirklichkeiten - gleich ob materielle oder immaterielle - aufsaugt und `entwirklicht`. Wirklichkeit wird mit ihrer Abbildung vermischt; Fakten werden zu referenzlosen Informationspartikeln; nicht mehr eine `lebensweltliche`, interaktive, materiale Welt ist Bezugsrahmen fiktiver Fernsehnrealität, sondern umgekehrt: Eine residuale materiale Wirklichkeit wird an einer massenmedial antizipierten fiktiven Realisation derselben gemessen; die arbiträre Codierung von Bezeichnetem und Bezeichnendem in der schriftlichen und sprachlichen Sprachwelt, die den Akt des Verstehens noch an ein hochkompliziertes Wissen ob der Bedeutung von Zuordnungen zwischen Wort und Repräsentation bindet, verliert zugunsten einer analogisch-assoziativ-ikonischen Organisation der Verstehensoperationen von Bildersprache an Gewicht279; Wahrheit und Falschheit werden ununterscheidbar. Also das zweite Moment: Fernsehn als das Zusichkommen einer gesellschaftlichen Maschine, die die Lebenswelt systematisch derangiert bzw. unbegreiflich macht für Begriffe, die gegenüber der `Halbverständlichkeit` der Bilder nichts mehr auszurichten vermögen. DANIEL JOSEPH BOORSTIN hat dieses Moment schon sehr früh zur Sprache gebracht280.
Das dritte Moment schließlich umkreist die Möglichkeit, dem Medium Fernsehn eine eigenständige, selbstverständliche Realitätsverortung anzudienen, welche es endlich heraushebt aus seiner Brückenfunktion zwischen Wirklichkeitsbilder und Bilderwirklichkeit und es als Ding begreifen läßt, das - wie Recht, wie Vertrauen, wie Geld oder Macht - den Vorteil hat, sich über eine Verständigung nicht notwendig erfüllen müssende Kommunikation reproduzieren zu können, die ihrerseits immer stärker verdinglicht werden kann und auch tatsächlich verdinglicht wird. In diesem dritten Moment kann man "weder von einem Gegensatz zwischen Buch und Fernsehn, Fotographie und Fernsehn, Kino und Fernsehn sprechen, noch von einer hierarchischen Struktur, die das Fernsehn gegenüber den anderen Medien hervorhebt, sondern von der Ausdehnung des Ding-Charakters auf alle Medien" - Habermas würde hier von der Umstellung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums auf ein systemisch induziertes Steuermedium sprechen -. "Die Videocassette also oder das Videoband oder ein vom Computer geliefertes Datum ist im gleichen Sinne Ding wie das Buch, der Film, die Fotographie, die Poesie". Dennoch "entsteht in der Tat ein neuer Typ von Ding, der sich vom natürlichen Ding oder vom handwerklichen oder industriellen Gegenstand abhebt".281
RÜHM: Bitte, was soll das sein: Fernsehn als Ding282?
MODERATOR: MARIO PERNIOLA283 spricht von einem telematischen oder von einem videomatischen Ding, genauer gesagt von einer Ästhetik desselben...
RÜHM:...Tut mir leid, ich habe jetzt den Zusammenhang verloren. Was wollen Sie eigentlich sagen?
MODERATOR: [atmet tief durch] Nun ja, es geht mir um eine - sagen wir - nichtakademische Differenzierung der Denkweisen über Massenmedien, die mit deren Entwicklung Schritt zu halten versucht. Ich wollte das an den drei Momenten verdeutlichen, die nicht nur, aber wesentlich massenmediale Metadiskurse einer Unterscheidung zugänglich machen. In der ersten Phase der Massenmedieninterpretation stand das Phänomen Fernsehn itself im Mittelpunkt; die Medien werden als Bedingung von Erfahrung gesehen, nicht die im Fernsehn abgebildete, sondern durch das Fernsehn geschaffene neue Wirklichkeit bekommt einen quasiorganischen Status; die Ansätze einer Theorie der Massenmedien erreichen eine Dimension, in der bis dato nur politisch-soziale Utopien gehandelt wurden, das Fernsehn `revolutioniert` alle traditionellen Vorstellungen, Handhabungen und Gesellschaftlichkeitsgrade von Raum, Zeit, Erfahrung, Verständigung und Kognition: Die Welt wird ein Dorf, die Menschheit in gänze wird zu `einer Haut`, Information wird wieder zur Formation usw., na ja, Sie kennen das ja. Zum größten Teil stecken die Kritiker der Massenmedien - Verteidiger oder gar ambivalente Apologeten McLuhanschen Ausmaßes findet man meines Wissens heute nicht mehr284...
PERNE:...Nun ja, dialektisch Geschulte gibt es noch, die indirekt auf emanzipative Strukturen verweisen innerhalb des Mediensystems, und das auf beiden Ebenen der Integration; der sozialen und der systemischen285...
MODERATOR:...Zum größten Teil stecken die Kritiker der Massenmedien noch in einer Antithetik zu dieser ersten Phase. Medieneuphorie und Medienphobie sind auch hier Zwillinge, die das Geschäft der Kritik arbeitsteilig zum Ausdruck bringen: Konzentriert sich die Euphorie auf das Potential an Innovation, so die Phobie auf das an Verlusten von Menschlich- und Gesellschaftlichkeit bei der Erzeugung und Kontinuierung von soziokulturellen und individuellen, also auch psychischen Systemen. Also kurz: Die Telematik wird immer noch so gedacht, als ob sie von außen in eine Ordnung einbricht, in der die ordnungstragenden Funktionen eindeutiger Realitätsbestimmung, eindeutiger Subjekt- bzw. Adressatbestimmung, eindeutiger Öffentlichkeitsbestimmung noch intakt seien; auch da, wo Hyperrealität konstatiert wird, müsse mindestens ein Begriff von Realität vorhanden sein; auch da, wo kollektives Wissen, Denken, Bedeuten nur noch in psychoanalytischen Terms der Traumdeutung adäquat gefasst werden könne, müsse es eine Vorstellung geben, was systematisches Wissen, Erkenntnis und Konsens zu bedeuten haben; auch da, wo das resignierte Registrieren von Entwirklichung nur noch Wüsten hinterläßt, müsse die Ordnung intakter Soziotope gedacht worden sein.
RÜHM: Lassen Sie mich mal auf den Punkt bringen, worum es geht, d.h., was einige von uns hier zu umgehen suchen. Es ist schlicht der Umstand, daß unsere bisherigen Konzepte von Öffentlichkeit, von gesellschaftlichem Raum und gesellschaftlicher Zeit, von Journalismus und von Wissenschaft nicht mehr so recht das zu fassen vermögen, was begriffliche Prothesen wie Videotisierung, Informatisierung, Computerisierung und systemische Vernetzung anzeigen sollen. Unser Problem ist, daß wir noch nicht fähig oder gar willens sind, bestimmte Paradoxien nicht mehr paradox zu denken; daß wir nicht fähig sind, bestimmte Ableitungsschleifen sein zu lassen, wenn wir eine bestimmte Konstellation von Problemen vor Augen haben. Bleiben wir mal bei der Informatisierung, ohne jetzt deren Penetrationsgrad noch in die letzten Winkel der Gesellschaft hineintragen zu wollen, also ohne sich des ideologischen Konzepts der Informationsgesellschaft zu bedienen286. Man kann mittlerweile auch bei der Infrastruktur der immateriellen Verkehrs-, Übertragungs- und Vermittlungswege, beim Angebot verfüg- und kaufbarer Information, Unterhaltung und Kommunikation und bei der Individualisierung konsumierter bzw. gespeicherter Angebote von einer Unübersichtlichkeit reden, die elementar ist. Während in der Phase des Aufbaus einer immateriellen Infrastruktur technisierter Information und Kommunikation die unendlich verschiedenen Raum- und Zeitdimensionen eher gebündelt, d.h. abstrahiert wurden, zersplittert heutzutage die Fernsehnerfahrung wieder in eine Vielzahl verschiedener Orte und Zeiten287; sie findet heute quasi ohne das Medium bzw. außerhalb des Mediums statt, sie findet privat statt. Je totaler, je öffentlicher, je universaler sich die Gesellschaft in den bereitgestellten Informationsnetzen wieder zurücknimmt, desto schwieriger wird es, Öffentlichkeit jenseits temporärer ad hoc -Assoziationen zu konstituieren. Eine infolge vermehrter Marktvergesellschaftung hervorbrechende Kontaktgesellschaft erschwert die Aufrechterhaltung einer qua Institutionalisierung Kontraktcharakter besitzenden Öffentlichkeit in dem Maße, wie weiterhin an der Konstituierung gesellschaftsrelevanten Handelns durch konsens- und kontraktorientierte Kommunikation festgehalten wird. Delegiert man dies aber an anonyme Systeme und an eine technische Kommunikation, dann ist z.B. zu fragen, wie "ein Nachrichtenverkehr denkbar [ist] ohne öffentliche Meinung? Eine Regierbarkeit ohne Konsens? Eine Wissensübermittlung ohne ein System der Erkenntnisse? (..) Wie ist eine Ordnung denkbar ohne Subjekt und ohne Grundlage"288? Und schon ist man geneigt, sich systemtheoretischer Konzeptionen von gesellschaftlicher Information und Kommunikation zu bedienen, die bestimmte `alteuropäische` Ballaste einfach abwerfen, an denen wir - Sie gestatten, daß ich wir sage - immer noch schwer zu tragen haben, etwa am Begriff des Subjekts oder an dem des Bewußtseins289. Sehen Sie, "die Information in der dritten Fernsehästhetik ist verfügbar, weil sie gemäß einer neuen Begrifflichkeit strukturiert ist". Und das impliziert "den Übergang von einem Typ des Lernens, der auf der Akkumulation von Kenntnissen beruht, zu einem Typ des Lernens, der sich auf Strukturen und Konzepte gründet: Es eröffnet sich also eine enorme philosophische, linguistische und pädagogische Arbeit, deren Umrisse man erst jetzt zu sehen beginnt"290. Man darf nun einen Reigen scheinbarer Paradoxien eröffnen, die zur Zeit statthaben, ohne daß wir sie auch nur annährend begriffen, d.h. in Begriffen begriffen haben, etwa: Je mehr telematisches Material durch die infrastrukturellen Gefüge des Sendens, Übertragens und Speicherns verfügbar wird und mehr denn je auf sich selbst verweist, desto weniger ist es vorhanden, d.h. zur Hand, handlich, direkt handelbar. Noch ist es für sehr viele Menschen eine nichtbeherrschte Fähigkeit, verfügbare Daten in für sie vorhandene Informationen zu verwandeln - das beziehe ich jetzt nicht nur auf technische Belange, etwa das Handhaben von Computern oder Datenaustauschsystemen, sondern auch bezogen auf die eher mentale Technik, Informationsmaterial flexibel nach unterschiedlichsten Parametern zu selegieren, also die Fähigkeit, eine hohe `re-entry`-Toleranz für einmal ausselegiertes Material beizubehalten...
PERNE:...Entschuldigung, aber das kommt mir angesichts des Themas jetzt doch zu philosophisch daher. Man täte besser daran, den Rahmen, in dem wir hier die Telematik problematisieren, etwas einfacher, wenngleich nicht schlicht abzustecken. Worum geht es denn? Es geht um wirtschaftliche und um politische Prozesse. Innerhalb des wirtschaftlichen Universums kapitalistischer Konkurrenzökonomien erleben wir zur Zeit die Anfänge einer - vielleicht der letzten - Restrukturierung kapitalistisch-gesellschaftlicher Vergesellschaftung, die vordringlich über Technologie geleistet wird. Die Eigenart dieser neuen, mikroelektronisch oder bald auch biotechnologisch dominierten Verdinglichung von Gesellschaft ist es, daß sie nur in komplexen und systemischen Dimensionen implementiert werden kann, also nicht nur innerhalb spezifisch ökonomischer Orte und Zeiten, sondern innerhalb der Gesamtgesellschaft, die nur noch schwach die Penetranz des Weltmarktsystems qua eigenständiger Medien der Lebenswelt und qua Kompensationsleistungen des Sozialstaates abpuffert. Das wirtschaftliche System platzt förmlich aus seinen Nähten - wie auch die kapitalistische Produktivität allmählich das Korsett ihrer Realisierung qua produktiven Konsums sprengt - ; es bedarf der Vernetzung mit anderen Systemen, kulturellen, politischen, ökologischen291, es bedarf letztlich der Aufhebung dessen, was MAX WEBER die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Sphären eigener Rationalität nannte. Ich sage bewußt Aufhebung und nicht Eliminierung: Das Kapital kann das Leben nur dann organisieren, wenn es Rücksicht nimmt auf seine selbstproduzierten Negationen, Rücksicht nimmt auf die Minimalerfordernisse gesellschaftlicher und ökologischer Reproduktion. D.h., es hat bei der jetzigen Technisierung von Kommunikation, bei der systemischen Rationalisierung, Formalisierung und Standardisierung gesellschaftlicher Austauschverhältnisse und Verkehrsformen, bei der Monetarisierung von bis dato nicht in Geld und Preisen darstellbaren Leistungen und Tätigkeiten nicht nur eine allgegenwärtige und alles abstrahierende und nivellierende Funktionalität auf der Basis von Geld-Ware-Geld zu organisieren, sondern auch, und das meine ich ganz umemphatisch, die Bedingungen der Ermöglichung von Dissens, Widerspruch, Negation, Opposition, Etatismus. Desintegration, Opposition, Systemfeindliches und Negation sind Produkte, also noch keine (System-)Waren; sie können nur sozial hergestellt werden, d.h. über die Schiene sozialer Integration der kapitalistischen Vergesellschaftung. Das hört sich jetzt libertärer an, als es ist, vorausgesetzt, man subsumiert unter Widerspruch bzw. unter Negation nicht nur `sozialdemokratische` Versionen systemintegrativer Negationen, sondern auch bzw. vorallem solche, die immer noch an einer gesamtsystemverschiedenen nach- bzw. antikapitalistischen Gesellschaftsformation ihre Ausrichtung heften. Vonnöten wäre also eine Systemauseinandersetzung innerhalb des Systems des Kapitalismus auf einem Niveau von Gesellschaftstheorie, wie sie KARL HERMANN TJADEN praktiziert292, und auf einem Niveau von sozialpolitischer Auseinandersetzung, die - ich kann es nur negativ formulieren - jenseits der etwas heruntergekommenen Unterscheidung `Konsens` versus `Konflikt` statthat, also jenseits dessen, was BOURDIEU in einem anderen Zusammenhang die antagonistische Komplementarität zu nennen pflegt. Solcherart Theorie und Praxis bedürfen Funktionssysteme, um funktionieren zu können, glauben Sie mir! Und sei es nur, um sich daraus die Brocken ideologischen Legitimierungsbedarfs herauszuschlagen, die sie brauchen, um dem Niveau an Legitimität zu entsprechen, daß sie dialektisch mitproduzieren und wohl auch weiterhin in die Höhe treiben - Stichwort ökologische Legitimität -. Man kann diesen Umstand auch aphoristisch fassen, allgemeiner: "Die Welt konstituiert sich durch das tägliche Nein aller Weltbürger. Der Konsens aller ist der Dissens der einzelnen"293. Aber das mag auch nur ein schwacher Trost sein angesichts der Tatsache, daß die irreversible Zerstörung von Mensch, Naturgrundlage und vernünftiger Gesellschaftlichkeit durch die scheinbaren Superstrukturen einer weltweiten kapitalistischen Vergesellschaftung in keinerlei Sphären der politischen, demokratischen und kommunikativen Verhandlung bzw. Revolution hereingezogen und zumindest verlangsamt wird.
MODERATOR: Nun ja, wenn das jetzt nicht zuviel Philosophie enthält, dann weiß ich auch nicht...
PERNE:...Okay, man kann in die Systeme reingehen und schauen, was sich dort ansammelt, das Pessimismus verscheucht. Man könnte zum Beispiel sagen, daß zukünftige Arbeitsprofile innerhalb von Arbeitsprozessen, die das Koordinieren, das Erstellen, das Selegieren, das Konzeptualisieren und das Synthetisieren von Informationen und Kommunikation zum Inhalt haben, einen tätigen Menschen erfordern, der seine eigene Schaltzentrale ist, vergleichbar mit BECKS Begriff der selbstreflexiven Wahlbiographie inklusive ichzentriertes Weltbild innerhalb einer sich individualisierenden Sozietät294. Daß also dieser Typus von Gesellschaftsmitglied ein...
MODERATOR:...Entschuldigen Sie, aber Sie sitzen jetzt wohl der Ideologie der Informationsgesellschaft auf, wenn Sie der Ausstaffierung subalterner Funktionen mit Verantwortung und Kreativität, ganz gemäß den Erfordernissen eines komplexer werdenden Kapitalismus, und wenn Sie den Mensch-Maschinen -Beziehungen, ganz gemäß den Erfordernissen einer kommunikationstechnischen Modernisierung des Wirtschaftssystems, eine Affinität zu Prozessen der Selbstentfaltung, der Persönlichkeitsbildung, der Subversion oder gar zur konkreten Arbeit im Sinne von MARX unterstellen - ganz abgesehen von dem Umstand, daß diejenigen, die in Zukunft noch derartige Arbeit verrichten, zum Kreis der herrschenden Beherrschten gehören werden, der die Depravationstendenzen innerhalb des sozialen Systems der Arbeit durch seine Existenz noch stärker anzeigt -. Diese tätigen Menschen, die mit der Informationserzeugung-, -bearbeitung, -übertragung und -überwachung beschäftigt sein werden, sind für mein Dafürhalten genauso Opfer und borniert wie diejenigen, die früher in roherer Weise vom Produktionsprozeß absorbiert wurden. Auch wird meines Erachtens die Produktionsintelligenz, die SCHUMANN und KERN wiedergefunden haben und auf die Sie wohl insgeheim abheben, entgegen deren Diagnosen nichts für einen keimhaften gesellschaftlichen Fortschritt, und schon gar nichts für die Aufhebung der kapitalistischen Ordnung beitragen295. Sie [zu Perne] idealisieren nicht nur die noch verbleibenden Ermessens- und Initiativspielräume all derer, die vordringlich für die reibungslose Funktion der Steuerung von Realprozessen durch technische Systeme `verantwortlich` sind; viel gravierender ist, daß Sie mit Ihrem Blick auf mögliche subjektive Faktoren von Negation statt "Strukturen von Macht, d.h. Systeme von objektiven Relationen (...), Populationen von Akteuren untersuchen, die Machtpositionen innehaben"295a, und seien es nur solche technologischer Art.
Und: Unterschätzen Sie nicht die keine Lücke mehr lassenden Kontrollmöglichkeiten der neuen Technologien, denen all die ausgesetzt sind, die z.B. am Computer ihr eigenes Leistungs- und Fehlerprotokoll miteingeben? Ignorieren Sie jetzt nicht `erwartungskonforme Irrationalitäten` bei denen, die sich dem Verantwortungsdruck bei der Eingabe oder Übermittlung von Daten innerhalb informationstechnologischer Kommunikation nicht gewachsen fühlen296?
PERNE: [nach kleiner Pause] Noch was?
MODERATOR: Ich glaube, wir sollten...
PERNE:...Moment, Moment! Ich wollte auf ganz andere Dimensionen hinaus. Ich kam von der Seite der Beschreibung gegenwärtiger Tendenzen des wirtschaftlichen und des politischen Systems zur Feststellung, daß mit dem zunehmenden `Systemischwerden` wirtschaftlicher Handlungen - egal ob auf der Produktions-, Zirkulations- oder der Investitionsebene - ein neuer Grad der Vergesellschaftung gesellschaftlicher Teilsysteme erforderlich wird; eine Vergesellschaftung, die bestehende Systemgrenzen neu zieht, bestehende Grenzen mit der sogenannten Lebenswelt aufhebt, neue Systeme schafft und alte eliminiert: So sind etwa die Grenzen zwischen Bildungs- und Erwerbssystem neu gezogen worden, Stichwort wäre hier `lebenslange Fortbildung` bzw. `permanenter Qualifizierungszwang`; die Grenzen tendieren hier quasi zur Aufhebung. Das kulturelle System geht eine neue Verschmelzung mit dem ökonomischen ein. Das Umweltsystem, das nach LUHMANN kein System, sondern nur Umwelt innerhalb von System/Umweltbeziehungen sein kann, löst sich auf und wird zu Elementen innerhalb der Systeme. Das System der Arbeit bröckelt langsam weg und wird zur Umwelt von Systemen, gleich dem politischen System, das der Legitimation qua Massenloyalität verlustig geht usw.
RÜHM: Und wo ist jetzt das politische System geblieben?
PERNE: [etwas aufgebracht] Das politische System lebt davon, Problemlagen und Konflikte zu produzieren, die eine politische Verhandlung notwendig erscheien lassen...aber BAUDRILLARD beiseite297. Nein, die Politik wird viele ihrer bisherigen Aufgaben und Funktionen an andere Systeme abgeben, um sich auf eine Funktion verstärkt zu konzentrieren: Die Funktion der Entdifferenzierung, ja der Derealisierung von bis dato strukturbildenden Modi gesellschaftlicher Beziehungen, wie sie etwa in den Begriffen `Interesse`, `Macht`, `Werte`, `Identität`, `Legitimation` usw. begrifflich begriffen werden298. Diese Entdifferenzierung tatsächlicher, materialer Beziehungen zwischen den verschiedenen Handlungs- und Kommunikationssubjekten in der Gesellschaft geht nun nicht nur einher mit einer ebensolchen von bis dato noch unterschiedlichen Verteilungs- und Vermittlungsmedien, sondern auch - und dies scheint paradox - einher mit einer Pluralisierung gesellschaftlicher Vorstellungen, Gewohnheiten und Lebenspraxen, einher mit einer Art `Befreiung` des Denkens über Gesellschaft. In dem Maße nämlich, wie kollektive Vorstellungen von sozialen Beziehungen nicht mehr die wesentlichen Konstituentien sozialer Beziehungen sind und von den nur noch singularisierten Erfahrungen des Gebrauchs oder der Bedienung kollektiver technischer Kommunikationsinfrastruktur vermutlich abgelöst werden, in dem Maße also darf sich die Vorstellung, darf sich die Imagination soviele verschiedene, antagonistische, paradoxe, ästhetische oder auch anästhetische Welten und Beziehungen ausmalen wie sie will; es juckt keinen, um es klar zu sagen. Bitte mißverstehen Sie mich nicht; das hört sich alles dekadent, vielleicht auch idealistisch oder einfach unverständlich an, hat aber ganz handfeste, will heißen reele, noch erkennbare Komplexe von Gründen für sich. Diese Gründekomplexe haben meines Wissens schon das hinter sich gelassen, was BAUDRILLARD das Beweisen des Realen durch das Imaginäre oder das Erlangen von Existenz durch die Inszenierung des eigenen Todes genannt hat299.
MODERATOR: Also gibt es eine Realität jenseits der unbestimmbaren Ordnungen, die die Simulation erzeugt?
PERNE: Ja, bei bestimmter Parametrisierung einer Sichtweise ist eine solche Realität durchaus mit Referenz auszumachen, und ich mache sie immer noch innerhalb der poltischen Ökonomie aus, also innerhalb materieller Produktion, auch wenn ich durchaus einräume, daß diese selbst hyperreal geworden ist300 und `Zeichen ihrer Ähnlichkeit` produziert, so daß eindeutige Differenzierung mehr als schwerfällt, aber nichtsdestotrotz nottut. Es gibt noch Lücken innerhalb gesättigter oder gar übersättigter Systeme, deren Dysfunktionalität nicht allein der systemimmanenten Krebswucherung und der immanenten Erzeugung parasitärer Dynamiken zugerechnet werden dürfen, sondern durchaus noch einer transzendierenden bzw. einer transformierenden Dialektik zugänglich sind; Lücken der Analyse wohlgemerkt, und nicht der Ekstase, d.h. nicht ausschließlich des Ekstatischen.
MODERATOR: Bevor Sie sich weiter von BAUDRILLARD meinen unterscheiden zu müssen und dabei implizit der Theorie des kommunikativen Handelns entgegen eilen: Wo sind die handfesten Gründe der politischen Ökonomie, sich einerseits zu totalisieren, die Lebenswelten zu pluralisieren und die Politik zu simulieren, und sich andererseits doch noch in der Tradition von nichtzirkulärer Entwicklung zu reproduzieren, und all dies jenseits hyperrealer Ordnung?
PERNE: Nun, zuerst hat man als Bedingung der Möglichkeit realer politischer Ökonomie davon auszugehen, daß die Grundfrage heute zwar nicht mehr die des Kapitals ist, sondern die des Sozialen301; daß daraus allerdings nicht folgt, das das Reale nicht mehr stattfindet und alle Kräfteverhältnisse, die sich in diesem Realen entfesseln könnten, deswegen schon totgeborene Kräfteverhältnisse seien302. Ich glaube auch nicht, daß BAUDRILLARD keinen Gefallen daran fände, in diesem Punkt widerlegt zu werden303.
RÜHM: Er würde sicherlich vor Belustigung lachen...
PERNE:...Kräfteverhältnisse, die sich noch aus dem Realen der materialen Verhältnisse, aus der materiellen Produktion und der politiökonomischen Organisation von monetären, warenförmigen und sozialen Austauschbeziehungen speisen, müssen zumindest als Legitimation eine nachvollziehbare Situierung in der Lebenswelt anzeigen können, da sie ansonsten wieder nur innerhalb geschlossener Systeme ihre eigene Integration, d.h. also ihre eigene Destruktion vorantreiben würden. Damit auf sie nicht auch das Netz der Inszenierung, das Netz des Spektakels und das der Simulakraproduktion geworfen werden kann...
MODERATOR:...Kann es sein, daß Sie jetzt auf HENRI LEFEBVRE hinaus wollen304?
PERNE:...Wenn Sie so wollen; ja. Aber ich würde mich nur in der Hinsicht auf ihn beziehen, in der seine Rahmenabsteckung der Analyse kenntlich wird. LEFEBVRE geht ja bei seiner Kritik des Alltagslebens vom Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation aus, der viel mehr zuläßt als der doch recht heruntergekommene des `Überbaus` und der `Basis`. Was seine Fortführung des Begriffs der Entfremdung betrifft, wäre ich allerdings skeptischer - wie auch immer: Ich sprach von Kräfteverhältnissen, die ohne viel Aufhebens in gesellschaftlicher Praxis beheimatet sind. Sie kommen zum Vorschein etwa in der inneren Emigration politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsträger, deren Selbstbewußtsein nicht mehr durch die funktionsbestimmte Selbstabstraktion ruhiggestellt werden kann und schon seit längerem mit Prothesen wie corporate identity, Arbeitsplatzkultivierung, externer Motivationsbeschaffung und mit Ideologisierung der Arbeit als Erlebnisveranstaltung bestückt wird; die Kräfte kommen zum Vorschein etwa im Bedürfnis der Massen nach Brechung ihres Alltags durch Freizeit, also nach Zugänglichkeit einer wirklichen Ersatzwelt durch Freizeit, in der entweder Infantilismus oder Spurenelemente ozeanischen Gefühls zu herrschen haben304a; sie kommen zum Ausdruck in dem wenn auch nur akkumulierten und nicht transformierten Wissen der meisten Menschen ob der ökologischen und sozialen Vernichtung und in dem sich daraus erzeugenden Unbehagen an der `Modernität`, das nicht in gänze vom Zynismus oder vom Konservatismus aufgesogen werden kann; sie zeigen sich in den schon genuin ironischen, d.h. distanzierten Umgangsweisen der meisten mit Technik im Alltag...
RÜHM:...Das ist mir jetzt doch zu lila. Ich ergreife mal für Sie Partei, Herr Perne: Das worldwatch-Institute forderte in seinem am 11.1.1992 veröffentlichten Bericht zur `Lage der Welt 1992` eine Revolution in der Umweltpolitik305 - gemeint ist natürlich eine gesellschaftliche Revolution in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, eine Revolution vergleichbar mit der neolithischen oder der industriellen, eine, die der Notwendigkeit sozialer und politischer Kontrolle über Investitionen, Innovationen und materielle Reproduktionen endlich in der Weise gerecht werden müsste, wie die ökologisch indizierten Dringlichkeiten immer mehr die Kategorie Kontrolle ad absurdum führen. Herr Perne, glauben Sie, daß die, die Sie eben `die meisten Menschen` nannten, dazu bereit wären, geschweigedenn eine Art von gesellschaftlicher Subjektivität aus ihrer deformierten Individualität herauskramen werden, die diesen Prozeß in eine aufhebungsbereite Spannung versetzen könnte? Glauben Sie, daß die meisten Menschen die handlungsnormierende Gewalt der Technik als das erkennen, was sie ist, nämlich eine - ich sag' es mal in bürokratischer Art - Asymmetrie des Institutionalisierungsgrades verschiedener sozialer Handlungsbereiche306, wenn diese meisten Menschen in der Regel doch schon glücklich sind, ein technisches Artefakt auf der Ebene der Gebrauchsanweisung erfolgreich bedienen zu können und auch ansonsten schon glücklich sind, noch etwas von den Früchten des Leistungsprinzips abbekommen zu haben, wie wir es in den letzten Jahren bei den konvertierten Linken beobachten konnten? Sind Sie ernstlich davon überzeugt, die Ökonomie und die Wissenschaft hätten ein Interesse daran, ihre in Maschinen und in sonstigen Artefakten eingebauten normativen und politischen Konstruktions- und Spielregeln als zur Disposition stehende einer Käufer-, Staatsbürger- und Rezipientenumwelt anzubieten?
Herr Perne, die sogenannte Majorität leidet nicht mehr unerträglich unter ihrem Sosein, auch nicht unter dem Leid der wachsenden Minorität in den Metropolen, die in Verelendung begriffen ist; auch nicht unter dem Leid der Majorität der Weltbevölkerung, die noch nie aus dem sozialdarwinistischen `Fressen oder Gefressen werden` hinauskam. Das Leid der Majorität in den fortgeschrittesten kapitalistischen Gesellschaften und das der übrigen Menschheit ist verfügbar geworden, anschaubar, bedienbar, an- und ausschaltbar, es ist integriert. Nichts wollen die, die einen ganz normalen Alltag in den G-7 -Staaten ihr eigen nennen, weniger, als eine radikale Veränderung, die ihre Lebens- und Leidensgefüge, ihre Konsum- und sonstigen Gewohnheiten mit in den Strudel zöge; nicht einmal die, die diese Forderung in Feuilletons, in wissenschaftlichen Publikationen oder in Talkshows immer wieder zum besten geben, wollen sie, weil sie wissen, daß der, der alle Verhältnisse umwerfen will, in der Regel von ihnen erschlagen wird. Nichts ist der Mehrheit schwieriger abzutrotzen als ein allgemeines Verhalten und Handeln, ein allgemeines Bewußtsein, das sich nicht erst in der größten Gefahr, in der größten Verelendung, in der größten Repression einzustellen wagt und dann doch wieder gelenkt werden müsste wie eine Schafsherde, die nur solche Schäfer akzeptiert, die sie zur Schlachtbank307, nicht aber zur Schaffung eines `Vereins freier Menschen` führen wollen.
Sicher, es gibt noch ein Programm, das viele für reprogrammierbar halten: Das Programm des Sozialen. Es gibt noch Bedeutungsmenüs, deren Antlitze noch dazu zu verführen verstehen, sie nicht nur in Erinnerungen existent zu sehen, sondern in sozialen Beziehungen; etwa die Ethik oder die christliche Religion308. Es gibt sogar noch ein Vokabular des Sozialen, das sich zur Zeit irrsinnig bemüht, wenigstens noch reimmaterialisiert oder retextualisiert zu werden, bevor es als erfolgloser Versuch der Beschreibung und Plannung historisch-gesellschaftlicher Evolution einfach im schwarzen Loch der Kontingenz und der Zeit zu verschwinden droht; das Vokabular des Marxismus309. Es gibt noch die Hoffnungen einer historischen Anthropologie, die plausibel zu machen sucht, warum der heutige Zustand der Welt, der mit allen Mitteln auszudrücken scheint, daß die experimentelle Zeit des Menschen in Gestalt des Projektes Gesellschaft unwiderruflich vorbei ist, nicht in eins gehen kann mit der anthropologischen Ausstattung des Menschen. Es gibt die Hoffnungen eines JÜRGEN KUCZYNSKI, der die Zeit der Verelendung noch nicht zuende wähnt und also an der Utopie eines möglichen Eintritts der Gattung Mensch in eine wie auch immer sich gebärdende Gesellschaftsformation sozialistischen Zuschnitts festhält. Es gibt die Hoffnung eines SIEGFRIED ZIELINSKI310, daß sich mittels der privat zugänglichen Speichertechniken die Materialität von Audiovision literarisiert, daß also die fremdbestimmte Unterhaltungszeit ein gutes Stück rückverwandelt werden kann in Lebenszeit, indem der Benutzer eingreift in die Zeit des Ausdruck und in die des Inhalts der Medienwaren. Es gibt, um etwas bodenständiger zu werden, die durch die theoretischen Anstrengungen eines HABERMAS unverwüstlich erscheinende Lebenswelt, die zumindest den Opfern erlaubt, ihrer Verletzungen und Verluste einsichtig zu werden. Und es gibt ein noch recht unproblematisches Reservoir, das wir Geschichte nennen und zu dem wir immer noch recht einfach Zugang finden, wenn uns die Sprache wieder einmal im Stich läßt beim Bemühen, Lernbares aus der Zusammenführung von individueller, sozialer und `objektiver` Welt zu destillieren.
Aber für sie alle - sie, die Programme, die Hoffnungen, die theoretischen Zusammenhänge, die den Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Emanzipation als etwas Nicht-Ganzes bedeuten311 - gilt:
a) Sie müssen sich ihrer ornamentalischen Dimension, ihrer gesellschaftlichen Verortung in den äußeren Rändern der Produktion von Freiheit von und der Arbeit inne werden.
b) Sie müssen sich der mächtigen Konkurrenz, die in der gesellschaftlichen Produktion von Wirklichkeitsverlust sich ausdrückt, bewußt sein.
c) Sie müssen Wege finden, wie die subjektiven, die konnotativen, die recht undiziplinierten Phantasien und Vorstellungen von und über gesellschaftliche(n) Verhältnisse(n), in denen ich mich öffentlich wiederfinden kann, nicht von der alles besetzenden (systemischen) Realität erdrückt werden, und Wege,
d) wie im Subjekt ein Bedürfnis nach noch nicht oder nicht mehr vorhandenen Ausdrucksmitteln geweckt wird, die es davor schützen, seine eigene Zeit, seine Wünsche, seinen Horizont mit der arbeits- und freizeittechnischen Zeit, mit den `Wunschmaschinen` und dem audiovisuell erzeugten Bilderhorizont in eins fallen zu lassen.
e) Sie müssen das Dilemma aushalten und vermitteln können, daß in allerkürzester Zeit die Einsicht, daß Systeme nicht lernen, umgesetzt werden muß in einen öffentlichen Gebrauch von Reflexion und Verständigung, in einen öffentlichen Gebrauch, der Zeit in Größendimensionen beansprucht, wie wir es uns heute noch nicht vorstellen können, d.h.:
f) Sie müssen ein Verständnis für Öffentlichkeit, also für politische Kommunikationsrechte schaffen, das sich von der Vorgabe abwendet, die Öffentlichkeit müsse den gleichen Kategorien der Effizienz, der Zeit, der Macht und der Zentralität gehorchen, wie es in der Sphäre der politischen Macht, der Administration, also in der Sphäre des Staates statthatte; ein Verständnis also, das Öffentlichkeit als genuin fragmentarische deutet, eins, das sich ein Gespür dafür bewahrt, was alles nichtöffentlich, alles nichtidentisch, alles nicht-Ich ist.
Schließlich müssen sie
g) eine nachhaltige Vergegenwärtigung auf hohem Öffentlichkeitsniveau
für das gewährleisten, was man als das geschichtlich Unabgegoltene,
das Unausgeschöpfte, das im anfänglichen Werden Abgebrochene
zu bezeichnen pflegt.
Wenn diese Ingredienzien - es sind sicherlich viel mehr, die zu nennen wären - einfliessen könnten in Konzepte materieller und symbolischer Vergesellschaftung, die sich dem verpflichtet fühlen, was neuerdings als die Zweite Aufklärung oder auch als die Reflexive Aufklärung betitelt wird, dann könnte soetwas wie eine Perspektive entstehen, der `Macht der Ohnmacht` einen ebenbürtigen Stellenwert innerhalb des Clubs bereits etablierter Mächte - des Kapitals, der Gewohnheit, der Angst, der Bildes, des Geldes, der Komputation - zu verschaffen. Aber auch...
PERNE:...Sehen Sie, das unterscheidet uns: Sie betten Ihre Diagnose in einen bereits etablierten Pluralismus, der als neue Grundform von Gesellschaften genügend Steuerungs- und Kommunikationsmedien zur Verfügung zu stellen scheint, um die notwendigen Disjunktionen gesellschaftlicher Entwicklung in der Geschichte zu verarbeiten, während ich davon ausgehe, das der gegenwärtige Stand der Produktivkräfte, der Kommunikationsverhältnisse, der Biosphäre, der sozialen Vergesellschaftung und der des Denkens nur als Katastase deutbar ist, die auf eine Zeit nach oder außerhalb der Geschichte, nach der Katastrophe verweist. Ich sage nicht: `Nur ein Gott kann uns noch retten`. Aber ich meine schon, daß wir auf ein Konzept des politischen Avantgardismus rekurrieren müssten, wenn wir erneut die Gattungszukunft als Totalität dafür heranziehen, die Gegenwärtigkeit der Geschichte völlig neu einzurichten. Ich sehe nirgends eine Subjektivität, nirgends Subjekte, nicht einmal Individuen, die sich als Avantgarde einer solchen Totalität repräsentativ zur Verfügung stellen...nein, Herr Rühm, wir stehen tatsächlich vor einem `alien`, stehen vor einer ungeheurlichen Kontraktion der Zeit, vor einer Konzentration der Zeit, vor einer Zeit, die keinen Anfang und kein Ende mehr birgt, weil sie in ein `Stadium` eingetreten ist, in dem sie als Zeit der Gattung Mensch in Anschlag zu bringen ist; wir müssten aus der Geschichte heraustreten, um die akkumulierte Geschichte in einen neuen Prozeß des Geschichtlich-Werdens zu..zu...zu stoßen...denn eins ist klar: Der momentane Zustand, in dem der Nihilismus der gesellschaftlichen Zwecksetzung noch einigermaßen durch das `zwecklose` Umsetzen-Können von Zwecken durch Wissenschaft und Technik verdeckt wird, also Teleologie durch Technologie kompensiert wird, dieser Zustand also ist schon seit gut zwei Jahrzehnten im Absterben begriffen; da kommt nichts mehr; danach wird nichts mehr ge-, ent- und verworfen sein oder werden können, verstehen Sie?...
MODERATOR: [hat die Hoffnung aufgegeben]...Lassen Sie's gut sein, Herr Perne. [schaut auf die Uhr an seinem Handgelenk] Wir haben noch ein wenig Zeit, das heißt, wir müssen noch bis zum Beginn der nachfolgenden Sendung Geräusche produzieren, auch wenn ich große Lust hätte, dank Ihnen, Herr Perne, jetzt schon das Studio zu verlassen...
PERNE: [der offensichtlich in eine andere Zeit hineingerutscht ist]..."Das Wichtigste ist, den Kopf beweglich zu halten doch leer. Dinge geschehen, tauchen auf und verschwinden. Da kann es dann keine Rücksicht auf Irrtum geben. Immer gehn Dinge schief"312. "In einer völligen Leere kann alles stattfinden"312a. Aber das geht hier nicht. Hier "ist nicht genug nichts drin"312b...
JOOST: [redet jetzt, als wäre in der Runde klar, daß Perne endgültig ausgeschieden ist, zu den anderen hin]...Also, vom Standpunkt des Marketings muß man ihm schon Professionalität zusprechen, glauben Sie nicht?! Das erinnert fast an RAINALD GÖTZ, der sich bei einer Literaturlesung die Stirn aufschlitzte und so dann seine Texte vorlas, mit blutüberströmten Kopf...
RÜHM: [bleibt unbemüht unberührt]...Ich sehe überhaupt nicht ein, warum wir uns auf die Bemühungen von Herrn Perne, aus dieser Talkshow eine sogenannte Freakshow zu machen, einzulassen haben. Wir können diese Versuche, mit hermetischer, esoterischer, metaphorischer Sprachgewalt oder auch Sprachohnmacht ein letztes Mal gegen die "Hegemonie der Zahlenreihe aus Nullen und Einsen wie des Visuellen"313 anzurennen, ruhig als etwas Positives werten, vorausgesetzt natürlich, die Versuche werden nicht zur Struktur, die sich einer neuen Textgeneration der Gegenaufklärung dienlich macht, wobei ich diese Gegenaufklärung weniger in philosophischen als in politischen Vokabularen und Diskursen für bemerkens- und bekämpfenswert erachte. Daß sich die Studenten irgendwann als Foucault-, als Lacan-, als Derrida-, als Heidegger- und auch Luhmann-Exegeten besser machen werden denn als Exegeten Marx', Webers, Horkheimers und Habermas', das ist nicht so tragisch; es stimmt sogar noch optimistisch, wenn man an das Niveau dieser Diskurse denkt. - Also ich teile hier die Angst KLAUS LAERMANNS absolut nicht! -. Was mir aber Ratlosigkeit beschert, ist die politische Gegenaufklärung. Nehmen Sie etwa die USA. Als Ende April 1992 Los Angeles und andere Städte heimgesucht wurden von aufstandartigen Verwüstungen durch Schwarze, die damit auf die engültig zementierte Ungerechtigkeit des Justiz- und also Gesellschaftssystems gegenüber der schwarzen Bevölkerung reagierten - Sie erinnern sich sicherlich: Freisprechung eines angeklagten weißen Polizisten, der einen Schwarzen auf offener Straße folterte -, begann in den Massenmedien eine Diskussion über die Lebensverhältnisse der Schwarzen in den Städten, über ihre soziale Situation, über die Armut, über Lösungsmöglichkeiten usw. Ich habe diese Diskussionen leider nur im Sender CNN verfolgt, aber eins wurde auch in diesem kleinen Ausschnitt deutlich: Nämlich eine gesellschaftspolitische Einstellung, die zum Ausdruck bringt, daß `die` Schwarzen ihre Chance bekommen hätten, um in diese Gesellschaft integriert zu werden, sie aber nicht nutzten, so daß ihre Zeit jetzt einfach vorbei sei. Also lohne es nicht, sozialpolitische, arbeitsmarktpolitische, kulturelle und wohnungspolitische Initiativen und Programme zur Bekämpfung der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Kriminalität, der Obdachlosigkeit usw. zu starten; es lohne sich einfach nicht, weil die Zeit dafür schlicht und einfach vorbei sei. Man müsse also damit leben, besser gesagt: `Die` Schwarzen müssen damit leben, daß sie mehrheitlich in Armut, in Gettos, in sozialen Kampfräumen leben müssen. Manche Talkshowgäste gingen sogar soweit, soziobiologisch zu erklären, warum der unterste Rand der Gesellschaft das Maximum sei, was `der` Schwarze überhaupt erreichen könne... . Verstehen Sie, das ist Gegenaufklärung, das ist die eigentliche Gefahr, der wir uns - Sie gestatten, daß ich wieder `Wir` sage - zu stellen haben; dieses larmoyant daherkommende `Wir-haben-alles-probiert`. Dieses Einwilligen, das Experiment namens Gesellschaft, namens zivile Gesellschaft habe nun seine experimentelle Zeit gehabt, es müsse nun ganz anders weitergehen - was es ja auch muß, nicht wahr?, aber halt in den Bahnen einer rationalen Moderne -. Wenn ich sehe, wie ein gewisser Herr ROSS PEROT in den USA Chancen auf die Präsidentschaft hat, nur weil er noch nichts mit dem politischen System zu tun hatte, sich gar von diesem prononciert distanziert, wenn ich sehe, daß diesem konservativen Unternehmer deswegen politische Qualitäten zugesprochen werden, weil er glaubwürdig die vollständige Negation bisher gebräuchlicher Qualifikationen verkörpert, dann ist das für mich ein Wink mit dem Zaunpfahl, daß die Verhältnisse nicht mehr nur tanzen, sondern schon zu marschieren beginnen...
MODERATOR: [der sichtlich keine Lust mehr aufbringen kann]...Ich glaube, wir sollten diese Beispiele nicht überbewerten. Die Kultur, die Kulturen der USA laufen nach anderen Uhren als die europäischen, das hat BAUDRILLARD schon richtig gesehen und überzeugend zu Papier gebracht in seinem Amerika-Buch. [kurze Pause. Moderator schaut jetzt in die Kamera]
Tja, die Luft ist raus, meine Damen und Herren...
PERNE: [enthusiasmiert]...Merken Sie nicht, daß es jetzt erst anzufangen beginnt, unter Atemnot, unter Kurzatmigkeit, unter Fluchtgedanken?; daß wir erst jetzt soweit sind, unsere besetzten Sprech- und Denkplätze, unsere verkarsteten Redeschleifen zu lockern?; daß wir erst jetzt uns zu trauen wagen, wie Ratlose, wie begrifflich Obdachlose miteinander zu reden, und nicht mehr wie Talkshowgäste?...
RÜHM:...So langsam fange ich an, Sie zu verstehen, Herr Perne. Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Ihr Problem ist: Sie ertragen es einfach nicht, daß nicht alle so leiden und so sprachlos werden wie Sie. Sie kommen mit dem Umstand nicht zurecht, daß nicht einjeder aufspringt, mit seiner Faust auf die linke Brustseite schlägt und unter Tränen herausschreit: "Aber hier, hier hat was gelebt!"; daß nicht alle heimgesucht werden vom Engel der Verzweiflung, der mit seinen Händen den Rausch austeilt, das Vergessen, die Betörung. Sie wollen nicht verstehen, daß das Denken auch weiterhin unterhalb eines Niveaus angesiedelt bleibt, auf dem der Ausstieg aus der wissenschaftlich-technischen Kultur verhandelt zu werden hat314. Sie wollen nicht verstehen, daß nicht jeder bereit ist, die "Vernichtung natürlicher und menschlicher Energie durch ihre selbstzweckhafte, symbolische Verwendung"315 mitzumachen.
Sehen Sie, Herr Perne: Was wir alle zu lernen haben ist, daß die Geschichte ihrem Zeitraum - die vergangene Zeit - zu entwachsen scheint und hineinzuragen beginnt in einen Zeitraum, der als Behältnis zukünftiger Zeit eingeholt wird von der Vergegenwärtigung dessen, was von dem, was die zukünftige Zeit versprach, realisiert wurde, und zwar just zu einem Zeitpunkt, der nicht anders umschrieben werden kann denn als Zeitpunkt kurz vor dem Tod, in dem das gesamte Leben wie in Zeitraffer vergegenwärtigt wird. Erst heute, da die Verarbeitung gewesener Geschichte auf vollen Touren läuft, öffnet sich eine Überblicklichkeit, die bis hinunter auf die Grundelemente der Arbeitsgesellschaft reicht, bis hinein in die Ozonschicht, bis hinein in die Welt der Atome, der Gene, der Gehirne, bis hinein in die Konstruktionsbedingungen der Konstruktionsbedingungen der Konstruktionen von Welt, von zweiter Natur, von Geschichte und von Ich. Und diese Überblicklichkeit, die von Unübersichtlichkeit nicht zu scheiden ist, jagt uns Schrecken ein, weil uns vor Augen geführt wird, daß die Vergegenwärtigung der Geschichtverarbeitung die letzte Arbeit sein wird, die als Arbeit der Geschichte in der Geschichte verortet und verzeitlicht werden kann. Denn die Arbeit der Geschichte - also die Produktion von Kultur, von Sozialität, von kommunikativem Handeln, von Wissen, von Systemen usw. - erweist sich heute zumindest für eine Minorität von Denknutzern als fertig gemacht, also als fertiggemacht. Wir können uns nur noch eine Geschichte des Fertiggemachten vermachen, aber keine mehr, die in sich noch eine Verarbeitung zuließe, die nicht mit Vernichtung in eins fiele.
`So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen` empfehlen die einen; `So laßt uns denn an das Systemmanagement einer ökologisch durchdrängten Marktwirtschaft glauben` die anderen. Wiederum andere bauen auf die mimetische, imaginative, simulative, also nicht in `die Natur` intervenierende Kraft fortgeschrittener Audiovision und Computation, wähnen uns erst am Anfang einer völlig neuen Bezeichnungspraxis für Erkenntnis, Welt, Weltbild und Subjektivität, während die Kritiker in dieser Kraft nur einen kontemplativen Zuschauer im Sinne NIETZSCHES angelegt sehen, der seine Herrschaft über eine Ästhetisierung der Identifikation mit dem Aggressor zurückgewinnt (P.FURTH)...Nun gut. Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen:
"Der innerweltliche Zukunftshorizont der Moderne hat die `vertikale` Ausrichtung auf Transzendenz eben in dem Maße nicht bewältigt, wie er sie `horizontal` wiederholt: in der Bewegung der beständigen `Vervollkommnung` [...] des Wissens, des menschlichen Zusammenlebens, des Gemeinwohls..."316 usw. Dieses Wiederholen ist heute zuende. Die gängigen Zusammenhänge zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, zwischen geschichtphilosophisch aufgeladenen `Makro-Subjekten` (G.MARRAMAO) und empirischen Individuen, haben nicht nur ihre Legitimation verloren, sondern entpuppen sich als unwiederrufbar auseinanderhängend.
Was uns bleibt, ist, die Krise der Zukunft, die von nun an nur noch im Plural aufscheint, anzunehmen, und zwar nicht nur anzunehmen im Sinne von `sich vorstellen` oder `unterstellen`, sondern zuvörderst im Sinne von `etwas übernehmen`; auch auf die Gefahr hin, unter dem Gewicht endgültig zusammenzubrechen.
Tja [kurze Pause]...`Die Hoffnung der Vernunft liegt in der Emanzipation von ihrer eigenen Furcht vor der Verzweiflung` (M.HORKHEIMER)...
MODERATOR:...Ich danke Ihnen für diese einen Abschluß möglich machenden Worte, Herr Rühm [richtet sich voll zur Kamera]. Wir haben es Ihnen, liebe Zuschauer, sicherlich nicht einfach gemacht. Wer aber in der heutigen Lage "nur Argumente und moralische Appelle zur Verfügung hat, wer nur auf die Angst vor der Katastrophe setzt, statt zu zeigen, daß wir eine Welt zu gewinnen haben, der bietet womöglich allzu karge Kost. Aufklärung und Emanzipation können im Gemütsnebel der postmodernen Zerstreuungindustrie nur dann massenwirksam Orientierung bieten, wenn sie sich versinnlichen, wenn sie den Verstand ansprechen und das Gefühl, wenn sie das analytisch Begriffene auch in Bildern, Symbolen, Metaphern auszudrücken wissen, wenn der Fortschritt wieder eine Sprache spricht, die nicht nur den Verstand zu beeindrucken, sondern auch das Herz zu rühren vermag"317...
PERNE: [fasst sich mit beiden Händen an den Kopf, schüttelt diesen]...Nein, nein, es geht schon wieder los...
MODERATOR: [unbeeindruckt]...Ich hoffe, daß Sie sich ein wenig durch diese Sprache haben ansprechen lassen. Guten Abend.