Systemfrage
Die Welt ist voller Sachen, Dinge, Sachverhalte. Die kann man unterscheiden danach, ob sie viel Informationen enthalten, also unwahrscheinlich sind, oder wenig informativ sind, also selbstverständlich. Kommt jemand, wo das Schlipstragen Konvention ist, ohne Schlips daher, wird dies prompt als Zeichen gedeutet, das etwas zu bedeuten hat. Grüßt jemand nicht wie gewohnt, stellt sich sofort die Frage: Was ist denn mit dem los? Die größere Erklärungsbedürftigkeit solcher Handlungen, Verhaltensweisen und Unterlassungen rührt zumeist daher, daß - um es krypto-logisch zu sagen - das Auftreten von non-A so aufgefasst wird, als sei es wider A. Oder einfach: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Die Frankfurter Rundschau möchte das nun an der Europawahlbeteiligung exemplifizieren. Sie erachtet die Tatsache, daß nicht einmal jeder zweite Stimmberechtigte seine Stimme abgegeben hat, als so erklärungsbedürftig, daß eigens dafür ein Leserforum im Internet angeboten wird (www.fr-aktuell.de/start/forum). Aber: Ist die Fragerichtung richtig? Muß wirklich erklärt werden, warum soviele nicht wählen gingen? Ist es nicht viel unwahrscheinlicher, also informativer, politisch wählen zu gehen? Warum ist denn noch fast jeder zweite Wähler zur Urne aufgebrochen?
Vermutlich ist die Befragungshoheit für die Nichtwähler der Überzeugung geschuldet, daß der demokratische Akt der Stimmabgabe eher wertrational denn zweckrational motiviert zu sein hat. Fasste man politische Wahl zweckrational auf, gäbe es überhaupt keine Probleme, die geringe Nachfrage für die Besetzung der europäischen Parlamentssitze zu verstehen oder zu bedeuten: Man müßte halt konstatieren, daß das politische Angebot vom Nachfrager nicht als für seine Interessen förderliches oder gar befriedigendes Angebot wahrgenommen wurde. Fragt man aber aus einem wertrationalen Rahmen heraus, verbietet sich diese Frage; denn für diesen ist allein schon die Tatsache, daß Parlamentssitze im Angebot sind, ein Wert an sich, eine Interessenbefriedigung per se. Und also sind dann solche, die nicht wählen, auch per se Bürger, die gegen ihre eigenen Interessen handeln, wenn sie das Wählen unterlassen.
Aber so sehen es auch viele Nichtwähler, bezogen auf die Stimmabgeber: Sie werfen diesen vor, gegen ihre demokratischen Interessen zu verstossen, solange sie noch auf der Ebene der Parteien/Programme Stimmabgabe praktizieren.
Man sieht, es ist ein Kreis. Aus diesem heraustreten könnte man vielleicht, wenn man sich fragt, was auf der Systemebene der parlamentarischen Demokratie falsch läuft. Denn genau darauf, so wäre zu vermuten, antworten die Wahlunterlasser, und eben nicht mehr auf die kleineren Übel namens politische Parteien. Wer zwischen Wählen und Nichtwählen keinen Unterschied mehr setzt, dem ist auch der Unterschied zwischen Nicht-wählen-dürfen und Nicht-wählen-wollen egal. Zurecht?
So zu fragen ginge ans Mark der politischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Aber: Ist sie das, wovon sogar die Verfassung ausgeht, nämlich eine freiheitliche, dann hätte sie diese Art Systemfrage verdient, sogar nötig. Oder ist diese mit dem Marxismus auch untergegangen?