bernd ternes

Interaktionsnahe Überwachung als Utopie


Von Zeit zu Zeit stehen Neubewertungen an. Geschichtliche Ereignisse, Persönlichkeiten, Goldreserven, aber auch Institutionen und Funktionen werden dann anders als üblich bewertet. Sind und Zweck dieser Wertungen ist es zumeist, den an sich sehr stummen, kommunikationsscheuen und eigentlich von keinem richtig gewußten Werten einer Gesellschaft etwas Gestalthaftes, Greifbares zu verleihen. Neue Informationen tauchen auf, neue Machtverhältnisse, neue Generationen, die das Vergangene anders an die Gegenart anschliessen und dementsprechend die Gegenwart anders rahmen als sonst. Die stärkste Motivation einer anderen Überlieferung ist in dem Spruch zu finden, daß früher manches besser war. Daß also in der Zwischenzeit sich einiges verschlechtert hat. Von der sich verschlechterten Gegenwart aus wird eine schlechte Vergangenheit besser.

Wenn man nun ins Auge fasst, daß, wie kürzlich erst eine repräsentative Umfrage ergab, 65% der Bundesbürger für den Lauschangriff sind; daß jeder Server potentiell Zugriff hat auf jede von ihm belieferte Festplatte; daß, wie kürzlich berichtet, die Schweizer Telefongesellschaft Swisscom Milliarden von Daten ihrer Mobilfunk-Abonnenten speichert und offenbar auch an die Polizei weitergibt; daß die Weltanschauung des Blockwarts in Gestalt liberal daherkommender Bürgerwehren mannigfach Urständ feiert; daß Banken und Vermieter mittlerweile mit Selbstverständlichkeit vom Kunden Informationen verlangen, die man nicht mal seinen besten Bekannten erzählt; daß Gesetzgeber und Polizei das Fernmeldegeheimnis immer stärker aushöhlen, weil technisch es ein Leichtes ist, von Mobiltelefonierern vielfältigste Profile zu erstellen; und daß der Strafrechtlicher Jürgen Welp den wirksamsten Schutz des Bürgers vor staatlicher Kontrolle darin sieht, einfach keine Daten mehr zu produzieren, also zu schweigen; wenn man dies also festhält: Wäre es dann nicht an der Zeit, sich die Stasi nocheinmal anders zu denken? War die Stasi nicht doch das einzig Fortschrittliche am Sozialismus deutsch demokratischer Brauart, weil sie im Kern doch humanistisch blieb in ihrer Organisation der Bewachung und Observation? War sie nicht geradezu populistisch, weil sie anschaulich und in den Alltag verwoben die Menschen dort abholte, wo sie auch standen?; weil sie erst gar nicht so tat, als wären ihre Aktivitäten in ein rechtsstaatliches Gewand gehüllt, wie es im Westen immer noch Routine ist? Waren ihre Sonden nicht auf das Wesen namens zoon politikon ausgerichtet, also auf den sprechenden, mündlichen Bürger, während der indirekte Kapitalismus seit Herold bloß noch die partialen Eigenschaften des Bürgers als Konsument, als Leistungsträger, als Kinderpornofreak, als Schuldner oder Terrorist unter Kontrolle halten will? Waren die hunderttauschende von Mitarbeitern, die durch die Stasi in Lohn und Brot standen, nicht doch gerechtfertigt angesichts der Lage im Westen, wo der potentiell zu Observierende sich selbst in Erreich-Haft zu bringen hat durch den Kauf eines Mobiltelefons?- Wenn etwas wirklich vom Ostsozialismus hätte übernommen werden sollen, dann hätte es die Stasi sein müssen, die Stasi als Projekt einer humanistischen Form des Überwachungsstaates. Dies leuchtet umso mehr ein, wenn man an die Talkshow-Nachmittage denkt, in denen der fernsehenden Gesellschaft Informationen angeboten werden aus Privatleben, für die sich die Stasi nie interessiert hätte.

Mit dem Stasi-Projekt "Menschen beobachten Menschen" ist wohl der letzte Versuch gescheitert, gesellschaftliche Überwachung interaktionsnah zu gestalten. Die alleingültige Form von Observation heißt nun: "Systeme beobachten Systeme". Luhmann kann dafür nichts.