SKIZZEN ÜBER
WAHRNEHMUNG, ERFAHRUNG
UND SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT
Das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das
Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in
den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib
sich selbst sieht und sich berührt, während er gerade dabei ist,
die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als
berührbarer zu ihnen hinabsteigt und sie als berührender alle
beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen
oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt
Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, 2.Aufl., p191 |
Vorbemerkung
Ich komme eigenartigerweise immer öfter auf Äußerungen
Baudrillards, wenn es ansteht, grundsätzlich das Geleise einzustellen,
auf dem der Zug der Gedanken durch die Vorstellungen fährt. Die Wahl
der Gleiseinstellung betrifft hier die von Baudrillard implizierte Wahl
zwischen dem Verständnis der Sprache und Theorie entweder als Produktionsmodus,
als Analyse, als Distanz zum Objekt und zum Objekt Welt, oder als Modus
des Verschwindens, der Aufbewahrung des Rätsels des Objekts im Diskurs,
als fataler Modus der Kontaktaufnahme mit einer fatalen Welt. Baudrillard
hat sich natürlich für das zweite Verständnis entschieden
und führt weiter aus: "Die Theorie muß ihrem eigenen Schicksal
vorgreifen. Denn sie muß für jeden Gedanken unwägbare zukünftige
Zeiten in Betracht ziehen. In jedem Fall ist sie der Verdrehung, der Irreführung
und der Manipulation geweiht. Es ist also besser, wenn sie sich selbst
verdreht (se détourner elle-même), wenn sie sich von sich
selbst abwendet (se détourner d'elle-même)";ders., Das Andere
selbst, Wien 1994, 2.Aufl., p78. - Ich denke, ich schaffe das nicht. Ich
schaffe es nicht, das Beschreibende selbst ein Ereignis werden zu lassen
innerhalb desjenigen Universums, das es - das Beschreibende - beschreibt,
vorausgesetzt, Baudrillard meint damit mehr, als die kritische Theorie
eh schon von der Reflexion und die Luhmannsche Theorie von der Selbstreferenzialität
der Theorie einforderte. Ich bleibe also da stecken, wo das Fortsetzen
des Produzierens von gegenwartsbefreiten Zeichen an den gegenwartsbefreiten
Zeichen ansetzt und nicht an der Gegenwart des Produzierens ebendieser.
Ich sehe dies als Mangel an, den ich noch nötig habe.
1)
Motto: "wüsste man, wie das geschieht, was man wollen nennt, dann wüsste man schon insofern nicht, was man wollen nennt, als man nichts wollen kann, wenn man weiss, wie das geschieht, was man wollen nennt." - f.j.czernin, die aphorismen, eine einführung in die mechanik, wien 1992, bd.1, p32
Die Hauptfrage ist folgende: Ist in einer Gesellschaft, die Abstraktion realisiert hat und weitgehend in abstrakter Realität sich und mittlerweile auch die in ihr lebenden Menschen reproduziert; die qua Technik und abstrakter Arbeit einen Universalismus der Vermittlung und Verkopplung etabliert hat, der ohne Not vom Besonderen und vom Materialen absehen kann: ist in solch einer Gesellschaft Wahrnehmung und Erfahrung etwas, was nur noch "regional", nur noch "nischenhaft" und als gleichzeitige Ungleichzeitigkeit Gesellschaft leistet, indem es das Besondere, das Berührbare, das so und nur so material sein-Könnende bewirtschaftet (als eine Art Luxusantiquität), oder greift Wahrnehmung und Erfahrung doch noch durch bis zu den universellen und abstrakten Formen und stellt damit eine Alternative dar für die Grundierung der gesamtgesellschaftlichen Gestalten von Vermittlung? Sind beide Begriffe gesellschafttheoretisch oder nur noch interaktionstheoretisch brauchbar? - Es geht also nicht um die Merleau-Ponty antreibende Frage, ob der Erfahrung der Gleichzeitigkeit, die uns durch die Wahrnehmung der Anderen und die Überschneidung unseres Wahrnehmungshorizontes mit demjenigen der Anderen zuwächst, ontologischen Wert zuzuschreiben ist (ders., a.a.O., p35), sondern darum, ob diese Erfahrung noch ein soziologischer Begriff ist oder nicht. Das mag erst einmal widersinnig erscheinen, erlebte doch die sinnliche Gewißheit seit dem Einbruch der großen Desorientierung innerhalb der technophilen Gesellschaften, also ab 1975, eine Art Rettungsinsel-Ruf für all die Schiffbrüchigen, die von ihren Schiffen namens Rationalität, Modernität, Abstraktion aus nur noch Eisberge wahrgenommen haben (das ist vielleicht zu optimistisch gedacht). Sogar Robert Kurz' tiefschwarzes Buch über den Kollaps der Modernisierung setzte noch 1991 auf eine sinnliche Vernunft, die als einzige den stofflichen Inhalt der erreichten Vergesellschaftungspotenzen radikal von der historischen Form befreien könne, wenn sie denn käme. - Dessen geachtet gehe ich jedoch in Analogie des Satzes von Adorno, daß immer weniger Individuen vorhanden sind, je mehr von Individualismus/Individualität die Rede ist, davon aus, daß die Berücksichtigung von Potenzen der Wahrnehmung und Erfahrung für gesellschaftliche Vermittlungsformen in dem Maße abnimmt, wie ihr Stellenwert innerhalb der gesellschaftsthereotisch selbst an Gewicht verlierenden Interaktion größer wird.
An steht also das Thema Erfahrung und Wahrnehmung, zu dem ich ohne allzuviel Autoritätsbezug Gedanken und Fragen anstellen möchte und dabei gewillt bin, mich etwas anzustellen. Ich kann mich nur etwas und nicht etwa in der Art anstellen, wie es Merleau-Ponty zu Beginn seiner Studie "Das Sichtbare und das Unsichtbare" (München, 1994, 2.Aufl.) umreisst und dann beeindruckend einlöst; nötig wäre nämlich, daß, sobald wir nach dem Wir, nach dem Ding, nach dem Sehen, nach der Welt, und hier nach der Wahrnehmung und der Erfahrung fragen, wir "in ein Labyrinth von Schwierigkeiten und Widersprüchen geraten" (p17). Mehr noch: Fürs Thema erscheint mir der unmögliche Wunsch Peter Fuchs', mit den Sonden eines Autisten die Welt- und Wirklichkeitskontakte erfahren und konstruieren zu können und doch zugleich ein theoretisches Vokabular zur Verfügung zu haben (ders., Die Umschrift, FFM 1995), sehr einsichtig. - Diese Grade verunsichernden Staunens und begrifflicher Unhaltbarkeit erreiche ich im Folgenden nicht.
Das Thema Erfahrung und Wahrnehmung: Woher die Sicherheit, daß hier zwei Begriffe, die jeweils für eine bestimmte Fokussierung der Problematisierung von Wirklichkeitser- und verarbeitung stehen, als ein Thema zu behandeln sind? Wieso die Annahme, daß sich Erfahrung und Wahrnehmung von einer bestimmten Beobachtung aus in einer Einheit der Problematisierung einfinden werden, die ihre Vergleichbarkeit, ihre Bezüglichkeit, ihre Interferenz zu garantieren vermag? Soll behauptet sein, daß Wahrnehmung nur durch Aufnahme in Erfahrung aus der Gegenwärtigkeit ihres statthabenden Daseins evakuiert werden kann und durch sonst nichts? Und daß das, was wir Erfahrung nennen, nur dann als solche ankommt, wenn sie vorher durch die Formen der Wahrnehmung gegangen ist und nicht, wie Aristoteles sagt, durch die Erinnerung (Metaphysik, 980b)? Oder soll genau dies erst einmal in Frage gestellt sein? Soll die Frage sein, daß sich Erfahrung und Wahrnehmung zueinander verhalten wie Äpfel und Birnen, die man nicht vergleichen könne und deren Gemeinsames, nämlich daß beide Obst sind, keine Aussage über eine Einheit darstellt, die einen Unterschied macht? Erstblicklich stehen wohl beide Vermögen mehr auf der Seite eines Verarbeitungsfeldes, das dem "Objekt" mehr Reverenz erweist, oder gewendet: das sich von den Wirklichkeiten mehr düpieren, korrigieren, enttäuschen läßt als die dazu passende andere Seite, die gemeinhin mit Abstraktion, begrifflicher Reflexion und der Macht des objektiven Geistes markiert wird; es scheint also darum zu tun zu sein, Wahrnehmung und Erfahrung aus dem Bannkreis des Hegelschen Geistes zu verrücken, der die Wirklichkeit nur als in ihrem Begriff zu sich kommende als wirklich begriff und die Wirklichkeiten nur brauchte für das "Spiel" namens Negation der Negation; wer die Regeln des Spiels in der Hand hielt, war hier von vornherein klar. Oder besser gesagt: Es geht wohl darum, Hegels qualitative Rangfolge der Erscheinungen des Wissens, des Bewußtseins und der Erfahrungen des Bewußtseins aufzugeben (oder aufzuheben?). Und das heißt: plausibel bestreiten können, daß sinnliche Gewißheit letztlich die ärmste und abstrakteste Wahrheit, Wahrnehmung nur ein Spiel leerer Abstraktionen sei (die beide ohne Dialektik nichts Wesentliches an sich hätten; siehe Hegels Phänomenologie, Bd.3 der Werke, FFM 1970, p82-107). Und bestreiten können, daß das Wahrnehmen bloß ein einfaches "Zusammen" von Hier und Jetzten sei, die sich in der bestimmten Wahrnehmung zwar durchdringen, aber sich dabei nicht berühren und daher auf immer und ewig dem Gegenstand äußerlich bleiben (diese Kritikfigur ist in etwa die gleiche, die gemeinhin der Hegelschen Abstraktion des Geistes angediehen wird). Und, drittens und letztens, bestreiten können, daß Wahrnehmung die reduzierteste Form impliziten Wissens sei (wie es M.Polanyi dünkt; Impliztes Wissen, FFM 1985, p16). Aber wie? Wie ist zu plausiblisieren, daß Wahrnehmung/Erfahrung letztlich nicht mit dem Geist in einem Boot sitzen und von Kräften, Bedingungen, Strukturen, Emergenzien angetrieben, ge- und verformt werden, die es verunmöglichten, in Wahrnehmung und Erfahrung Vermögen der Weltkontaktorganisation zu sehen, die weniger unversöhnlich denn der "Geist" das auf ewig brüchige Verhältnis Kultur/Natur zu bestimmen vermögen? Wie und vorallem was soll da in den menschlichen Sinnen überwintert und sich kontaminationsfrei bzw. zumindest dekontaminierbar vom Gift namens Abstraktion gehalten haben? Was also "gehört" der Perzeption, das niemals in die Apperzeption einzugehen bzw. transformiert bzw. ge(ur)teilt zu werden vermag? Ist es das laszive Verhalten der Wahrnehmung gegenüber einem Etwas, das etwas ist und doch zugleich etwas anderes? Ist es ihre Fähigkeit, Uneindeutigkeit, Unsicherheit nicht mit Wahn und Zwang zu begegnen? Ist Wahrnehmung ein Schied, eine Schnittstelle zwischen Sensation und Bedeutung, eine Art Haut des Erkenntnisapparates, die verhindert, daß Erfahrung niemals in Gänze von der Form verdrängt werden kann und damit die menschliche Natur zu einem Monstrum werden ließe?
Von solchen hier unbeantwortet bleibenden Fragen wieder zurück
zu solchen, die das Thema schon als Rahmen akzeptieren. Was also, das ist
eine zu klärende Frage, läßt Erfahrung und Wahrnehmung
evident in einer Art priviligierten Bezüglichkeit zueinander erscheinen
bzw. was vermag zu zeigen, daß beide nicht auf eine entscheidende
Einheit hin in Betracht gezogen werden können? Ohne Lücke kommt
eine weitere Frage hinterher, nämlich die nach dem Unterschied der
beiden Begriffe zu denen des Erlebens, des Erinnerns, des Antizipierens,
des Imaginierens und des Empfindens. Gehören alle aufgezählten
Vermögen des Menschen überhaupt in ein und dieselbe kategoriale
Etage? Sind alle synonym? Und wenn ja: Ist ihr Gemeinsames dann dies, daß
sie sich alle als mehr oder weniger "reines Auffassen" (Hegel) oder als
Formen "passiver Synthesis" (Kant) verstehen lassen? Läßt die
Vielfalt dieser Formen der Artikulation, der Wirklichkeitsverarbeitung,
-schaffung und -problemlösung einen gemeinsamen Ansatz zu, der, zwei
Pole aufspannend (etwa Unsicherheitsabsorption und Sicherheitserhaltung),
all die verschiedenen, aber gleichen Vermögen wie auf einem Ukw-Frequenzband
aufzureihen vermag? D.h.: Besteht weiterhin die Möglichkeit, Wahrnehmung,
Erfahrung, Erleben, Imagination usw. als auf den einen Menschen konvergierende
zu rekonstruieren, oder sind derartige Rekonstruktionsversuche nur noch
so machbar, daß auf den Menschen als Medium verzichtet werden muß?-
Das ist eine Frage danach, ob weiterhin im Begriff des einen Menschen gedacht
werden soll, des Menschen, der die Einheit ist von Sinn und Sinne, Denken
und Handeln, Biologie und Semantik (die Frage ist auch gesellschaftstheoretisch
in der Habermas/Luhmann- Inszenierung ausprobiert worden; nämlich
als Streit darüber, ob Gesellschaften noch eine kollektive Identität
ihrer selbst entwickeln können oder nicht).
2)
Unter den vielen Blickwinkeln, die Erfahrung und Wahrnehmung unterscheiden könnten, nehme ich denjenigen, der die Zeit in den Mittelpunkt stellt. Man könnte zwar beide Begriffe danach befragen, welcher eher ein aktives, welcher eher ein passives Moment innehat, welcher mehr Selbst- und welcher mehr Fremdreferenz betont, welcher mehr Offenheit besitzt fürs implizite Wissen bzw. für implizite Gewissheit, also mehr Wirklichkeit der Welt durchläßt als der andere, welcher eher sprachlich rekonstruierbar ist und welcher nicht, welcher eher zur Konstitution von Sinn beiträgt oder diese eher verzögert, welcher mehr kognitiv und welcher mehr normativ orientiert ist, welcher mehr dem Selbst und welcher mehr dem Sozialen gehört, welcher mehr Wahrheit und welcher mehr Unwahrheit transportiert, welcher eher entscheidungsfreundlicher ist welcher nicht. Ich halte es aber mehr mit der Frage, welches Zeitverhältnis beide haben, um zu passieren, und mit der Frage, ob es ein Verhältnis beider Begriffe zur speziellen Materialität und Abstraktion des Erfahrenen und des Wahrgenommenen gibt; also ob der Akt des Erfahrens und Wahrnehmens als Prozeß des Bestimmens davon berührt wird, was bestimmt wird (also eher ein berührbarer Gegenstand oder eher ein bedeutbarer, nicht abgeschlossener und in die Zukunft reichender Sachverhalt), und ob er davon berührt wird, in welcher Zeit sich der Akt vollendet und abschließt, um durch einen folgenden Akt abgelöst zu werden. Nehmen wir also verschieden wahr, je nach dem, ob das Wahrgenommene als physikalische oder als symbolische, im weitesten Sinne semiotische Entität "da" ist? Können wir überhaupt Bedeutung, können wir Objekte und Erwartungen wahrnehmen und nicht vielmehr nur dingliche, stoffliche Gestalten oder gar nur unsere eigene Selbsterfahrung, unsere eigenen Berechnungen, wie von Foerster und Glanville meinen? Und: Nehmen wir überhaupt noch wahr, wenn eine bestimmte Zeit der Beziehung zwischen Nehmer und Genommenes über- oder unterschritten wird? Und wenn dem so wäre und dies positiv gewendet wird zur Aussage, daß das Wahrnehmen als "aktiver Prozeß" seine eigene Zeit hat: Heißt das, Wahrnehmen ermögliche soetwas wie die Gestaltwerdung einer Materialität von Zeit?
Ich komme damit zur ersten Trivialisierung dieser Begriffe und werde mich im Folgenden mehr um den der Wahrnehmung bemühen:
- Wahrnehmen öffnet eine Zeit des Weltkontaktes, in der durch das hohe Tempo des Wahrnehmens (im Vergleich zu Sprechen und Handeln) abgesehen wird von Pro-, Re- und Intention, also vom Kontext, um das Wahrgenommene ("Inhalt") als Kontext und nicht als Figur vor einem Kontext in Kontakt zu bringen mit oder zu übersetzen in den eigenen Prozeß des Wahrnehmens, der als Prozeß nicht anders als einmünden kann in die Auflösung der eigenen Blindheit. Diese Auflösung muß angst machen, Unverfügbarkeit spüren lassen, Ausgeliefertsein bedeuten. Die Auflösung der Nichteinsehbarkeit des Wahrnehmens in ihren eigenen Prozeß beginnt mit dem Denken des Wahrnehmens (Merleau-Ponty nennt das Wahrnehmung) resp. mit Erfahrung.
- Erfahrung stellt sich an als auffangendes Becken für die Zeit des Wahrgenommenhabens, in der der Wahrnehmer zwar voll in/mit Welt war, aber jeglichen Anhalts für Selbstbeobachtung verlustig ging. Erfahrung kühlt den beunruhigenden Sachverhalt, sich nicht gesehen zu haben, während man wahrnahm, ab, und füllt den gewesenen Selbstausfall auf mit Kognition. Erfahrung ist die sich zeitimmun gerierende Struktur der Verarbeitung von Wahrnehmung, die verunsichtbart, daß jedes Wahr-nehmen immer ein Dafür-halten im Schlepptau hat, für das Reflexion in Anschlag zu bringen ist, durch Erfahrung aber vereitelt wird. Erfahrung ist die Wahr(wieder)gabe des Wahrgenommenen, ohne sich darum zu kümmern, was zwischen dem Nehmen und dem an-sich-Wieder-Geben an Transformation passiert. Erfahrung flieht der Explikation, ist also nicht dasjenige, was das Verhältnis zwischen Gegenstand der Wahrnehmung und dem Wahrnehmen als Gegenstand aufbereitet, um es der Reflexion als Material zur Weiterverarbeitung zum Anundfürsich darzubieten. - Das ist, im Vergleich zur Hegelschen Fassung, ein Erhebliches weniger an Kompetenzzuschreibung, behauptet dieser doch (Hegel, Bd.3, p78), daß die "dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt", eigentlich dasjenige ist, "was Erfahrung genannt wird"; aber dieses Weniger ist wohl unausweichlich, wenn nicht mehr mit einem Begriff der Wahrheit und der sich selbst fernsteuerenden Dialektik so unbefangen gedacht werden kann wie seinerzeit.
Wahrnehmen und Erfahren passieren beide zeitpünktlich, also gegenwärtlich. Das Wahrgenommene der Wahrnehmung passiert und passiert nun ebenfalls nur in der Gegenwart, das Erfahrene der Erfahrung hingegen ist und ist immer nur in der Vergangenheit passiert. Man könnte auch etwas schief analogisieren: Man nimmt wahr, wie der Baum oder das Gras wächst, während man erfährt, daß der Baum oder das Gras gewachsen ist; die Erfahrung hält sich am wahrscheinlichen, 'erfahrungsgemäßen' Ergebnis als Effekt und ignoriert den Prozeß, für die Wahrnehmung ist der Prozeß Ereignis als Effekt und das Ergebnis, also die Schließung und Beendigung des Prozesses, irrelevant. In der Wahrnehmung gibt es eine Art Koinzidenz der Gegenwart des Beziehens auf den "Gegenstand" oder "Sachverhalt" mit der Gegenwart des Gegenstandes oder Sachverhalts, während die Erfahrung geprägt ist durch einen Hiatus der Gegenwart des Erfahrens und der vergangenen Gegenwärtigkeit des erfahrenen Gegenstandes.
Man nimmt also wahr, und zwar immer: jetzt (aber: man nimmt nicht immer wahr!). Man kann nicht wissen, ob man wahr oder falsch wahrnimmt; man kann vieles nehmen und annehmen: Das Gehirn kümmert sich erstlich nicht darum, ob etwas fiktional oder real ist, sondern nur um das "Daß". Irgendwann nimmt man nun das Wahrgenommene für wahr. Man nimmt das Genommene an und hält es (an): für wahr, eben weil es wahr und wahrnehmbar ist, daß etwas angenommen wurde. Ich schließe von der Persistenz des Annehmens und Angenommenhabens auf die Existenz des Genommenen, und ich schließe für die als gegeben angenommene Existenz des Wahrgenommenen jegliches eigene Hinzutun aus, und sei es auch ein Hinzutun, das den Eindruck schaffen soll, daß das Wahrgenommene einzig gegeben und nicht durch Hinzutun so ist, wie und was es ist. Die Doppelung, die diese Als-ob-Konstellation bewirkt, nämlich etwas für etwas (anderes) halten, verdünnt sich genau dann zu einer Einfachung, wenn das stattgehabte Wahrgenommenhaben auch nur noch einfach wahrgenommen wird. So wie ein Gegenstand einfach wahrgenommen wird, so wird jetzt das Wahrgenommenhaben wahrgenommen. Auch für diese Ebene ließe sich der Zwischenschritt, nämlich die Als-ob- oder die Für-wahr-Struktur, angeben, doch dafür müßte Reflexion in Anschlag gebracht werden. Der entscheidende Punkt ist, daß anstelle der Reflexion Empfinden bzw. Erleben auf den Plan tritt. Empfinden ist also soetwas wie das Wahrnehmen zugleich des Wahrnehmens als selbstreferentielles und des Wahrgenommenen als fremdreferentielles. Der entscheidende Punkt bei der Erfahrung hingegen ist, daß hier soetwas wie eine Erinnerung auf den Plan tritt: Im Erinnern wird zugleich die gegenwärtige Gegenwart mit einer vergangenen Gegenwart erfahren, nicht, um sie zu amalgamieren, sondern um durch Aufdeckung vorhandener Interferenzen die gegenwärtige Gegenwart des Erfahrens zu entwerten. Erfahrung nämlich ist ein sich selbst aufhebender Prozeß. Die Teleonomie der Erfahrung ist eindeutig gerichtet von der statthabenden Verwendung hin zur nur noch epigrammatischen Erwähnung. In der Regel erfahren erfahrene Menschen nicht mehr sehr viel; ihnen ist der Zugang fürs Eingehen in die Sitation oder in das Ereignis durch den Automatismus des blitzschnellen Abgleichs der gegenwärtigen mit einer vergangenen Gegenwart verwehrt. Die Abwesenheit des Erfahrens, des Durchquerens einer Erfahrung, kurz: die Abwesenheit der Widerfahrnis wird zur Haupterfahrung. Das Erfahrensein koppelt sich langsam ab von den Erlebnissen und Wahrnehmungen, in und mit denen Erfahrungen gemacht werden können. Für solch einen state of art bleiben zwei Möglichkeiten offen: Entweder man übt sich ein in die Kunst, das Nichtmachen von Erfahrung (für) derart präsent resp. ereignishaft zu halten, daß jedesmal, wenn keine Erfahrung passiert und genau dies erfahren wird, eine Erinnerung passiert, die zum Inhalt hat: eine vergangene Gegenwart. Oder man übt sich ein in die Kunst, nicht die vergangene Gegenwart in der Gegenwart passieren zu lassen, sondern die gegenwärtige Gegenwart in die vergangene Gegenwart einreisen zu lassen bzw. der Gegenwart der Vergangenheit in der Gegenwart nachzuspüren. Genau dafür gilt mir der Begriff Reflexion als stimmiges Etikett. - Bevor ich den mittlerweile angehäuften Wust an Begriffen trivialisiere, möchte ich mit dem Vermögenpaar Erleben und Erinnern nochmals das für mich zentrale, nämlich das jeweilige Zeitverhältnis der hier anstehenden Begriffe, paraphrasieren:
Man erlebt - und ist da, wo man ist; nämlich im Erleben.
Man hat erlebt - und war da; jetzt, danach, ist man im Erinnern.
Erinnern von Erlebtem hat meist die Oberhand beim Vorhaben, das, was man tat, mit dem, was man tat, konvergieren zu lassen oder aber zu dissoziieren. Oberhand gegenüber was aber? Man würde jetzt sagen: Gegenüber dem Ich, das mittels Veräußerlichung des Erlebten zu verdecken sucht, daß es vielleicht doch ein anderes Ich ist, aber durch die veräußerlichte Verdeckung zeigt, daß es schon ein anderes ist. Das nichterinnerte Erlebte bleibt hingegen machtlos, eingezäunt von den Umständen, daß man nur da war als Erlebender, nicht aber als Sich. Das Sich ist Eigenschaft des Nach-seins. Und dieses erinnernde Sich im Nachsein hat schlichtweg die Kraft zu bestimmen, was das Erlebte für einen ist. Das erinnernde Sich hat nicht die Kraft zu bestimmen, was das Erlebte war, sondern nur die Kraft zu bestimmen, was das Erlebte ist, jetzt, im Danach. (Davon, daß zwischen dem, was war, und dem, was das Gewesene ist, niemals eine Deckung passiert, solange Zeit noch Unterschluß für Geschichte ist, lebt der Unterschied zwischen Mensch und Maschine.) Aber dieses Danach ist näher dran an zukünftigem Erleben, will sagen: formt schon das Zuerlebende danach, wie es erlebt werden soll vom Erlebenden, der, während er dies tut, ja nicht bei sich ist.
Das erinnernde Sich nimmt als Gestalt einer zeitlichen und persönlichen
"Arbeits"teilung Aufgaben vorweg, die der Erlebende nicht zu tätigen
imstande ist. Es kümmert sich als Sich um das Material eines baldigen
Sich, das aus dem Erleben geschlagen/geschlachtet wird. Die Frage ist nun,
ob das Produkt der Erinnerung des Erlebten überhaupt noch etwas mit
der Materialität des Erlebten zu tun hat oder nicht?; und: Ob die
Zeit des Erinnerns incl. der Zeit des Erinnerten noch zur Zeit des Lebens
gehören oder nicht?
3)
Wahrnehmung gilt bis hierher als derjenige Inbeziehungssetzungsorgani-sationsmodus, der den Zugang zur wirklichen Welt gewissermaßen mit einer Gewißheit versieht: daß das, was ich gerade wahrnehme, und daß das, daß ich wahrnehme, jetzt gewiß ist, gewiß auf Zeit. Diese durch Wahrnehmung sich einstellende Gewißheit auf Zeit hat natürlich als Kehrseite die Gewißheit, durch Wahrnehmung ge- und enttäuscht werden zu können (sowohl von sich als auch vom Gegenstand). Ganz so, wie nur etwas möglich Schönes hässlich werden kann, kann nur etwas möglich Falsches vom Boden eines möglich Gewissen bzw. Wahren aus in Erfahrung gebracht werden. Genau diese Fallhöhe (Gewißheit des 'daß', Ungewissheit des 'was') besitzt das Wahrnehmen (andere sehen dies schon für Kognition schlechthin gegeben; siehe Luhmann, Die Sinnform Religion, in: Soziale Systeme, 1/96, p3-33, hier: p26f.), nicht aber das Beobachten etwa oder das Erkennen: denn während letztere die beiden Verhältnisse namens "Subjekt im Verhältnis zur/mit der Welt" und "Subjekt im Verhältnis in der Welt" so arrangieren, daß das Verhältnis des Subjekts in der Welt von der Warte des Verhältnisses zur Welt in Blick genommen wird, geht Wahrnehmung genau anders vor: Ihr Verhältnis in der Welt ist ihr Verhältnis zur Welt. Wahrnehmung ist also, um etwas kryptisch zu sprechen, in eins drin und draußen. Während das Erkennen und Beobachten aufruhen auf einem sogenannten blinden Fleck (man kann sein Sehen nicht sehen) und es auch gerechtfertigt ist, den Status dieses blinden Flecks als fundamental anzusehen, da Erkennen und Beobachten wohl einzig relevant sind von der Position der Beobachtung zweiter Ordnung, kann man demgegenüber von der Wahrnehmung behaupten, daß sie das Schema Blindheit/Erkennen außer Kraft setzt, da einzig ein anderer Wahrnehmer das Fundament namens Blindheit und das darauf aufbauende Wahrgenommene zu Gesicht bekommen könnte, aber die Wahrnehmung nicht zuläßt, daß Wahrnehmung selbstreferentiell wird, also daß Wahrnehmen wahrgenommen werden kann. Da Wahrnehmung ob ihrer Sinnlichkeit für die Zeit ihres Passierens die Illusion erzeugt, in ihrem Statthaben nicht von Sinnhaftigkeit abhängig zu sein, Sinn aber die Voraussetzung dafür ist, das aktuelle Wahrnehmen mit einem potentiellen Wahrnehmen zu korrelieren, passiert Wahrnehmen immer so, als ob der neue Gegenstand (neu, weil das, was ich wahrnehme, vor der Wahrnehmung nicht da war) nicht meine Blindheit verkleinert (das wäre selbstreferentiell betrachtet), sondern einfach nur die Welt erweitert (und das fremdreferentiell). Daß mein Wahrnehmen die Welt erweitert, nicht aber, solange es beim Wahrnehmen bleibt, die "Welt" meines Wahrnehmens, liegt daran, daß der wahrnehmende Körper selbst der Welt gehört, in und immer nur in der Welt ist, nicht aber irgendwo, von wo aus er zur Welt ein Verhältnis, eine Beziehung aufbaut. Merleau-Ponty (a.a.O., p180) fasst dies, bezogen auf den Leib, denn nur der ist zur Wahrmehmung fähig, ambivalenter auf: "Wir behaupten also, daß unser Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt er sie; und wir stellen fest, da es offensichtlich so ist, daß er diese zwei Eigenschaften in sich vereinigt, und daß seine doppelte Zugehörigkeit zur Ordnung des 'Objekts' und des 'Subjekts' uns zur Entdeckung ganz unerwarteter Beziehungen zwischen diesen beiden Ordnungen führt." - Was aber bewirkt nun, daß dieser empfindend-empfindbare Leib nicht nur zeig-, sondern auch sagbar wird?; was bewirkt, daß er Denken wird?; oder besser: Was ist der unhintergehbare Hiatus zwischen nicht-sich-wahrnehmenden/sich-wahrnehmenden Leib und Kommunikation? Wie kommt es, daß das Bewußtsein und die Kommunikation nicht wahrzunehmen vermögen? Oder können sie es doch?
Die unkognitive Gewißheit der Welt, die sich in der zu Gange befindlichen Wahrnehmung von Welt zeigt, zeigt sich allerdings nur im Gehen, im Nebenbei: sie ist verweillos, läßt nicht verweilen, ist nur im Nu. - Daher vielleicht die große Hegelsche Volte gegen die sinnliche Gewißheit, umgesetzt durch das geistige Projekt: Wenn schon nicht mit dem Positiven eine dauernde, an Dauer Haft findende Beziehung möglich ist, dann doch wenigstens beim Negativen verweilen, und zwar so weilen, daß letztlich alles Postive nur noch durch Negation des Negativen erreichbar, erkennbar wird. Das Sträubende der Wahrnehmung, Dauer zu generieren, scheint ein Hauptmotiv für die geistige, reflexionistische Überdachung des Negativen gewesen zu sein. Heute scheint dieser Konnex, also vom Vorhandensein der Vermittlung/Abstraktion/Reflexion auf die Zuhandenheit des Unmittelbaren/Konkreten/Wahrnehmens zu schliessen, oder von vorhandener Strukturbildung auf verunsichernde Überraschungen, dialektisch nicht mehr ohne Mühe haltbar zu sein; es hat sich etwas getan mit dem Wahrnehmen und dem Erfahren, das nicht so einfach in die Stufenförmigkeit der Kontaktverdichtung zwischen Subjekt und Welt eingeordnet werden kann. Aber vielleicht fällt es nur mir so schwer, weil ich mich nicht entschliessen kann, Wahrnehmung entweder als zeitlichen Ereignisprozeß oder als mögliche Zeiten (Temporalisierungen) bereithaltende Struktur zu verstehen. Ist sie ein zeitlicher Prozeß, dann gilt für sie das Zeitschema vorher/nachher, und das Besondere der Wahrnehmung könnte dann hier sein, daß sie die nötige Verknüpfung eines Vorher mit einem Nachher, die als Verknüpfung nicht vom Wahrnehmungsprozeß selber, sondern von einer ereignislosen Struktur getätigt werden müsste, so lange wie möglich verzögert. D.h.: Die Wahrnehmung würde sich so weit aus dem Wahrnehmenden heraus- und sich zum Wahrgenommenen hinbeugen, daß für einen mehr oder weniger langen Moment der Eindruck (für wen?) entsteht, daß die herausgebeugte Wahrnehmung ins Wahrgenommene kippt, und das hieße: Die Wahrnehmung fiele aus für die Reproduktion der inneren Anschlußfähigkeit des Wahrnehmenden, und die Gegenwart des Wahrnehmens entschwände nach dem Kippen ins Objekt in die Vergangenheit, ohne daß eine operationable Zeit folgte. Wahrnehmung wäre hier also bestimmt durch die Irreversibilität des sich Ereignens; das Ereignis bliebe dabei von jeglicher Änderung durch den Wahrnehmenden verschont, weil für Änderung überhaupt keine Zeit ist. (Vielleicht wäre dieser Moment oder Zustand oder Fall das genaue Gegenteil zur Selbstvergessenheit.) - Das Wahrnehmen wäre gesplittet in zeitliche Ereignisse, die nicht einmal aus ihrer zeitlichen Nähe eine schwache Kohärenz ziehen und damit in ihrem einfachen Dasein dem einfachen Dasein des Objekts oder Gegenstandes (bar irgendwelcher frames wie Figur/Hintergrund, Raum und Bedeutung) mimetisch oder gar imitatorisch entsprechen, solange entsprechen, bis sich Struktur bildet, die verhindert, daß die Ereignisse des Wahrnehmens einfach in ihrem Auftreten schon wieder altern und dann verschwinden, die bewirkt, daß sich eine Reversibilität des Verhältnisses Wahrnehmung/'Gegenstand' in ihr halten läßt und damit eine gewisse Freiheit in der Auswahl des Fortsetzens der Wahrnehmung, und die bewirkt, daß sich die Ereignisse selbst zu einem Gegenstand oder Objekt knüpfen und damit die interne "Verarbeitung" in Gang bringen. Was dann verarbeitet wird, ist nicht mehr das Was der Wahrnehmung, sondern das Daß und das Wie des Wahrnehmens.
Also: Ereignet sich das Wahrnehmen von p?; und wird es dadurch selbst
ein p' der Erfahrung und diese ein p'' der Reflexion und diese ein p'''
der Selbstreflexion? Oder ist das Wahrnehmen von p ein Ergebnis der zeitimmunen
Struktur namens Wahrnehmung, die sich überhaupt nicht mit einem bestimmten
p materialisieren kann, sondern von diesem nur seine Abstraktion wahrt,
so daß aus dem p ein q, aus diesen ein r und aus diesem ein s "wird"
und erst diese indifferente Verknüpfung, diese Relationierung von
p, q, r, s Dauer schafft, die sich nicht mehr so schnell durchs Wahrnehmen
überraschen läßt, eben weil sie nichts mehr mit den jeweiligen
Eigenschaften zu tun hat, sondern nur noch mit der zeitlichen Struktur?
- Ich weiß es nicht, d.h.: ich breche das Nachfragen ab.
4)
Eine sich schnell auftuende Unstimmigkeit greift Platz beim Nachdenken über Wahrnehmung und Erfahrung. Die Unstimmigkeit ist die, daß zu den wenigen wirklich evidenten Tatsachen die gehört, nur durch die indirekte Annährung an die Dinge, Sachverhalte, Probleme, Aufgaben überhaupt weiterzukommen, wir also einer Nebenbeihaftigkeit bedürfen, einer Delegation von Kognition an das, was implizites Wissen genannt wird, um etwas voranzutreiben; daß wir aber andererseits im Leben scheinbar nichts anderes machen, als uns direkt, in Zwang und zwanghafter Konzentration, in Reduktion und Blind- und Taubheit, an die Dinge, Sachverhalte etc. zu wenden. Woher diese Gegenläufigkeit? Ist sie Resultat einer längst resiginierten und zynisch gewordenen Einsicht (des Gehirns?), daß nur durch die harte Selektion, Konzentration, durch die von Weltstimmungen absehenden Bestimmungen soetwas wie by-the-way-Wahrnehmung möglich ist, vergleichbar dem Verhältnis der proximalen und distalen Terme der Struktur des impliziten Wissens, wie es Michael Polanyi entworfen hat (ders. Implizites Wissen, FFM 1985, p18f.)? Können wir nur dann wahrnehmen, wenn durch eine Konzentration überhaupt erst ein Dispositiv fürs Abzusehende entsteht? Können wir nur dann Kontexte merken, wenn wir uns durch eine bestimmte Aufmerksamkeit auf etwas im Kontext (Figur) ablenken? Oder verhält es sich doch ganz anders, etwa so: Merleau-Ponty (a.a.O., p273) spricht vom Sinnlichen als das Medium, "in dem das Sein gibt, ohne daß es gesetzt werden müßte; die sinnliche Erscheinung des Sinnlichen, die stillschweigende Überredung des Sinnlichen ist das einzige Mittel des Seins, sich zu zeigen, ohne daß es Positivität wird und ohne daß es aufhört, vieldeutig und transzendent zu sein. Die sinnliche Welt [..] ist uns selbst gerade in ihrer Sinnlichkeit nur in Anspielungen gegeben." Wenn dem so ist, also die sinnliche Welt, die nur den Sinnen gegeben ist, von den Sinnen nur genommen werden kann, wenn diese ihr Nehmen nicht (von selbst) bekommen, sondern (von der Welt) mitbekommen, dann erscheint dieser eine Satz Adornos, "ob nicht der Zustand, in dem man an nichts mehr sich halten könnte, erst der menschenwürdige wäre", trefflich (ders., Negative Dialektik, FFM 1982, p373). Aber gibt es soetwas wie einen Zustand für den Menschen, in dem er sich an nichts mehr halten kann, also dauernd fällt, ohne tödlich aufzuschlagen?; gibt es eine Art horizontales Fallen als Zu-Stand? Nach meiner Lesart setzt Merleau-Ponty für dieses horizontale Fallen den Terminus "wilde Wahrnehmung" ein (a.a.O., p270), bleibt aber skeptisch, ob es überhaupt gelingen mag, die kulturell überformte, die einformierte Wahrnehmung wieder zu entformen, zumal als Erschwernis hinzukommt, daß "die Wahrnehmung sich von sich aus als wilde Wahrnehmung, als Imperzeption verkennt, daß sie von sich aus dazu tendiert, sich als Akt zu sehen und sich als latente Intentionalität, als Sein zu - zu vergessen" (a.a.O., p272). Aber woher rührt die Tendenz der Wahrnehmung, sich als wilde Wahrnehmung zu verkennen?; woher rührt ihr Vergessen-Können? Vielleicht daher, daß wir bei der Wahrnehmung nur noch sehr schwer einsehen können, daß es sich dabei um eine "Lebensfunktion" handelt, die gelingen oder mißlingen kann, also einen Maßstab fürs Ergebnis der Wahrnehmung bereithält; sobald man nun davon absieht, daß Wahrnehmung als Prozeß etwas Bestimmtes erreichen soll, also einen Wert hat, der niemals in den Begriffen von Prozessen gefasst werden kann, die keiner Soll-Vorgabe folgen (Emergenzprinzip), erscheint das Wahrnehmen als ein Erstes, Unabgeleitetes, in sich selbst Zwecksetzendes. Vielleicht kommen Vergessen und Verkennen aber auch daher, daß wir nicht immer oder sogar meistens nicht zu trennen vermögen, was wir jetzt gerade wahrnehmen: sind es die tatsächlichen Merkmale, die Materialität eines bestimmten Trägers einer bestimmten Bedeutung, oder sind es doch nur die "reinen" Bedeutungen? Nehmen wir die wirklichen Dinge (für sich) wahr, oder nehmen wir wahr, wie die Dinge wirklich (für anderes) sind? Und vor allen Dingen: Für welche Bedeutung und als was für was erfahren wir unser Wahrnehmen? Bietet gar das Wahrnehmen eine Alternative zum (wie es Roland Barthes einmal sagte) Faschistischen der bedeutenden Sprache, den Dingen und Gegenständen Eigenschaften aufzuzwingen, indem sie den Eigenschaften und Merkmalen der Dinge und Gegenstände (also dem "Objekt") bedeutungsfreie Zeit läßt, in die hinein sich dann das sprachliche Bedeuten einzufinden hat? Polanyi meint, daß das für sich Wahrgenommene (der proximale Term, von dem wir nicht wissen, was wir von ihm wissen) sowohl Bedingung als auch Effekt des für anderes Wahrgenommenen ist (der distale Term, der als Wissen handlungs- und kommunikationsanschlußfähig ist). Sein Beispiel: Die Verwendung einer Sonde zur Erforschung einer Höhle (a.a.O., p21): "In dem Maße aber, wie wir eine Sonde oder einen Stock zum Abtasten unseres Weges zu handhaben lernen, verwandelt sich unser Gewahrwerden des Widerstands gegen die Hand in eine Gefühl 'an der Spitze selbst' für die Gegenstände, die wir erforschen. Auf diese Weise werden aufgrund einer Deutungsleistung an sich bedeutungslose Empfindungen in bedeutungsvolle übersetzt und in einigem Abstand von der ursprünglichen Empfindung lokalisiert. Wir nehmen die Sensationen unserer Hand in ihrer Bedeutung an der Spitze der Sonde oder des Stabes wahr, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Ebenso verhält es sich, wenn wir ein Werkzeug gebrauchen. Wir registrieren die Bedeutung seines Drucks auf unsere Hand als seine Wirkung auf die Dinge, auf die wir es anwenden. Wir können dies den semantischen Aspekt des impliziten Wissens nennen. Alle Bedeutung tendiert dazu, sich von uns zu entfernen [..]". Daß wir uns von unseren körperlichen Sinnen wohl nie trennen oder auch nur entfernen können, nichtsdestotrotz aber mit ihnen, mit ihrer Hilfe so wahrnehmen, als ob auch sie Gegenstände der Welt wären, die ihrerseits einzig in ihrer Bedeutung für etwas anderes der (wissenden) Wahrnehmung zugänglich sind, scheint das Wahrnehmen zum Verkennen seiner selbst als wildes Wahrnehmen zu befähigen. Wenn also das leiblich/sinnliche Wahrnehmen so wahrnimmt wie eine Sonde, die aber von keiner Instanz mehr weiß, für die sie wahrnimmt (diese Rolle hat immer noch das ewig begleitende "Ich denke" inne) und sich demgemäß verkennt als unverortbar und unbeabsichtbar: hieße das nicht, der Wahrnehmung einen uneigenständigen Status innerhalb des Ensembles der menschlichen Vermögen einzuräumen? Vergleichbar wäre dieser Zustand des Verkennens der Wahrnehmung mit dem Zustand des nicht mehr unhistorischen Gebrauchswertes. Bei Wolfgang Pohrt liest man dies (Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995, Neuausgabe, p195): "Die lebendige Arbeit ist [..] der Gebrauchswert par excellence insofern, als sie sich in der Produktion von Gegenständen nicht erschöpft. Indem aber ihre historisch neue Qualität, sich nicht mehr bloß in unmittelbaren Gebrauchswerten darzustellen, unmittelbar als Gebrauchswert erscheint, als Sache, als verfügbares Mittel, als Gegenstand der Konsumtion durch das Kapital, wird der alte Naturzusammenhang, worin die Arbeit nicht freie - vom unmittelbaren Naturzwang freie Tätigkeit sondern Sache war, nicht nur mitgeschleift, sondern sogar verschärft." So wie also der Gebrauchswert sich zu emanzipieren wußte vom rigiden Naturzusammenhang, der der Produktion einzig unmittelbares Reagieren zugestand, um dann in seiner Fähigkeit zur Mittelbarkeit unmittelbar subordiniert und dann subsumiert zu werden vom Kapital, das den Gebrauchswert darin ausbeutet und erschöpft, daß er sich nicht in der Produktion von Gegenständen des unmittelbaren Bedarfs erschöpft, so könnte man von der Wahrnehmung sprechen als ein Vermögen, das sich aus dem rigiden Zusammenhang von Bedeutung des Wahrgenommenen und der Materialität des Wahrgenommenen (etwa beim Gesichtidentifizieren, wo die Bedeutung der Merkmale des zu Identifizierenden genau dort und das sind, wo und was die Merkmale sind) emanzipiert und den Variationsspielraum vergrößert, bestimmt Wahrgenommenes unbestimmt/vielformig (kontingent) in Gestalt zu versetzen; das nun aber, wo es "Geist sei dank" nicht mehr um die Gestaltung und Be-Deutung sinnlicher Welt, sondern um das Interpretieren der Welt der Bedeutungen und semiotischer Gestalten geht, in seinem Vermögen, unabstraktifizierbar Welt in die Sinne aufzunehmen, auf Teufel komm' raus forciert wird, um zu verdecken, daß in der durch Sinn bestimmten Welt die sinnliche Aufnahme sinnlicher Welt nicht nur marginalisiert ist und als Vermögen keinen Wert mehr darzustellen scheint, sondern schon lebensgefährlich geworden ist für den, der sich auf sie einläßt.
Was jetzt? Ist Wahrnehmung als letzter Stachel, als letzte Öffnung,
als Spalte, als Schied, als Rest oder als Abfall des seine sinnlichen Vermögen
in Hermetik einrichtenden Menschen aus dem Rennen der Gestaltung menschlicher
Beziehungen zu sich, der Welt und der sozialen Realitäten? Ist das
Nehmen des Wahrnehmens bloß noch mitgeschleppte Hülse oder einfach
nur noch Metapher, die in ein oder zwei Generationen abgelöst sein
wird durch ein "Ich konstruiere" (Ich konstruiere das Gegebene, um den
Eindruck zu haben, ich nehme das Gegebene wahr; oder, so Franz Josef Czernin:
"wahrnehmen: vergessen, woran man sich erinnert"; ders., die aphorismen.
eine einführung in die mechanik, 8 Bde, Wien 1992, Bd.1, p120). Oder
bleibt es Garant dafür, daß, wie abstrakt und sinnenaversiv
auch immer die Benutzeroberfläche namens "Welt" Haut und Fleisch zu
ersetzen droht, wir mit ihr einen unausrottbaren Kanal zur Verfügung
haben, der uns durchläßt zu dieser einen besonderen Komplexität,
die sich ergibt, weil wir Wesen sind, die zugleich (also noch unsynchronisiert)
in der Welt und in Beziehung zur Welt sind, Wesen sind, die sich der Welt
enthalten und zugleich in der Welt enthalten sind? Gestattet uns Wahrnehmung,
weiterhin davon auszugehen, daß die Realität (Wirkwelt) nicht
ausschließlich über die Kategorien der Wirklichkeit (Merkwelt)
vermittelt und erkannt wird, daß also ein Rest bleibt, der uns davor
bewahrt, endgültig nur noch über den Unfall, über die Katastrophe,
über die Vernichtung mit Realität in Kontakt zu treten?
5)
Vielleicht hilft das gleich folgende Bild, um der Wahrnehmung und Erfahrung, ihrem Verhältnis zueinander, und dem Verhältnis dieses Verhältnisses zum Verhältnis Abstraktion/Kommunikation näherzukommen; man könnte auch sagen: Um dem Verhältnis materialen Erkennens zur Diskursivität der Erkenntnis näherzukommen. Es geht, um erneut das Thema zu paraphrasieren, darum, danach zu fragen, ob Wahrnehmung resp. Erfahrung eine nicht nur spezifische, sondern gar besondere zeitliche Struktur besitzen, die diesen beiden menschlichen Vermögen der Weltbeziehung gegenüber der Abstraktion ein Vorrecht einräumt, eben weil diese in ihrer Zeit der Welt, sowohl der Wirk- wie der Merkwelt, eher gerecht werden, gerecht im für sie paradoxen Sinne einer Emanzipation des Menschen von Natur als auch einer Emanzipation der Natur von zu naturhafter Verstrickung des Menschen in/mit ihr, denn dieser Sinn ward immer im Begriff bzw. in der Praxis aufgehoben, nicht in der eher distanzloseren Ästhesie. Diese Fragestellung gibt es übrigens in vergleichbarer Ausführung zum Thema Leben; die Frage ist hier, ob das Phänomen Leben einer spezifischen Organisation von Materie zuzurechnen ist oder doch eher einer besonderen Materie, etwa der organischen (siehe: Milan Zeleny, Societal Aspects of Biological Self-Production, in: Soziale Systeme, 2/1995, p179-202).
Folgendes Bild also:
Angenommen sei eine Sphäre des Sozialkommunikativen, in der sich bestimmte Inhalte der Daseinsäußerung, die auch Formen sein können, in bestimmten Gestaltformen, die auch Inhalte sein können, unablässig bewegen, und zwar lose aneinandergekoppelt bewegen, also im weitesten Sinne geschichtlich sich aneinander halten; Träger der Bewegungen sind die Sprache, die Schrift, die Arbeit, die Erwartungen und die Bedürfnisse. Inwieweit sich diese Sphäre und die sich darin bewegenden Verkopplungen als Anderes und Früheres vernichtende Sphäre und Verkopplungen durchgesetzt haben (das Wirkliche ist unwahr) oder als Anderes und Früheres aufhebende (was wirklich ist, ist wahr), sei erst mal unentschieden. Die Inhalte, also etwa ein bestimmtes Verhalten, ein bestimmtes Tun, ein bestimmtes Reagieren, Erwidern, Koordinieren, oder, anthropologisch tiefer gelegt, die Angst, die Unruhe, die Neugierde, die Selbstliebe usw., bedürfen einer zumindest der Bedeutung zugänglichen Gestaltform, um überhaupt etwas zu sein in der sozialkommunikativen Sphäre; formlos blieben sie in der inneren Unendlichkeit des "Subjekts" (incl. der Träume). Auf den Menschen bezogen hieße das: er besitzt eine Disposition für alle möglichen Inhalte (d.i. die kulturelle Nulllage bzw. die Unterbestimmtheit des Menschen), die sich aber nur als beschränkte realisieren lassen, beschränkt im Sinne von Formvorgaben. Die Bestimmtheit von Inhalt und Form wäre nun eine, die sich an der Materialität, an der Physiognomie, der Kultur (Zeichen) festmachen ließe (empirischer Konstruktivismus), oder eine, die sich im zeitlichen Verhältnis von Form und Inhalt zum Ausdruck bringt, und sich dort einer wahrhaften Rigidität rühmen kann, einer Rigidität des Passens von Form und Inhalt, die etwas Ungeheuerliches haben kann. Einen Regenbogen, der eine Viertelstunde steht, so meint Goethe, sieht man nicht mehr an; will sagen: die Materialität Regenbogen hat, wenn man sich betrachtend/ästhetisch zu ihr verhält, nur eine ganz bestimmte Zeit, in der sich ebendieses Verhältnis wahrhaft passend einfindet (hier ist es eine eher flüchtige Zeit). Wird diese diesem Verhältnis von Inhalt und Form inhärente Zeit nicht eingehalten, interferieren Form und Inhalt nicht mehr, d.h.: die hier zeitliche Form ist nicht mehr fähig, den Inhalt passend (gewaltlos) aufzunehmen. Der Inhalt kann nun erlöschen (man sieht ihn hier einfach nicht mehr an), oder: der Inhalt findet Unterschlupf in einer anderen Form, die aber als Form nicht mehr zum ästhetischen/betrachtenden Verhältnis Regenbogen/Regenbogen-sehen gehört (man beobachtet etwa wissenschaftlich motiviert), oder: der Inhalt wird selbst zur Form (das Regenbogenschauen wird als Habitus benutzt, um sich Gedanken zu machen). Will sagen: Formen kommen mit Inhalten und Inhalte mit Formen in ein Verhältnis, dessen inhärente Zeit nicht die ihre ist. Diese Aussage wäre also ein Plädoyer, zeitliche Einheiten von Inhalt/Form-Verhältnissen als Materialität der zeitlich vereinheitlichten Formen und Inhalte anzusehen und nicht als Modus, von ihnen zu abstrahieren.
Nun wäre genau das, daß Inhalte und Formen nicht nur nicht ihre inhärente Zeitlichkeit in Gestalt ausdrücken, sondern gar überhaupt keine inhärente Zeitlichkeit, die ihnen passt, besitzen (das wäre der Beginn einer Anthropologisierung von Unsicherheit und einer Verzeitlichung von Welt, der Beginn einer Einsicht in die eigene Monstrosität des Menschen, so Montaigne), und dabei dennoch funktionieren, bestehen, dauern und verwendbar sind, Ausweis dessen, was man die Artifizialität des Menschen, verstanden als sein natürliches Vermögen, bezeichnen könnte. Bezogen auf Wahrheit hieße das dann, daß sich ebendiese nicht mehr in aus einer natürlichen, kosmologischen oder auch ungebrochen anthropologischen Sphäre herrührenden Wesensformen einstellt, sondern daß sie jetzt die Welt beliebig aufzulösen und zu rekombinieren vermag und dabei ihre Wahrhaftigkeit einzig in der Methode des Auflösens und Rekombinierens in Form(!) zu bringen braucht. Sprache und dann Schrift (ich belasse es bei diesen beiden Trägern) eröffneten dem Menschen die Möglichkeit, orginäre, individuelle und zeiträumlich abhängige Verknüpfungen und Synthesen anderen mitzuteilen, ohne daß dabei erforderlich war, daß der die Mitteilung Erfahrende die Erfahrung des Mitteilenden teilen mußte; teilen mußte er jetzt nur noch die gemeinsame Deixis des Mittelungsaktes resp. die Grammatik der Schrift. Ausdruck als Modus der Kommunikation wurde entlastet und dann weitgehend ersetzt durch Zeichen der Bedeutung; die Kultur des Eindrucks (Einfühlungsvermögen, Empfindungen, Wahrnehmungen; also als das, was das "äußere-Spuren-Hinterlassen" fürs Innere evakuieren konnte) wurde zusehends irrelevant fürs Verstehen als immer noch monopolartiger Indikator des Erfolgs oder Mißerfolgs einer Kommunikation. Oder kurz: Die Dynamik des Ausdrucks, des Wahrnehmens als beinahe mimetisches Korrelat zur Dynamik der Welt wurde zum Stehen (lat.: stare), zum Verstehen gebracht; der Garant für die nun notwendige Stabilität (denn erst jetzt konnte soetwas passieren wie das Fallen) wurde der Buchstabe, der Garant fürs Berechnen der Welt wurde die Zahl, und als Organon des kein Organ besitzenden Lebens wurde eingesetzt: die Wiederholbarkeit. Der Preis dieser Artifizialität, dieser Produktion einer von der Realität nicht mehr unmittelbar störbaren Wirklichkeit, historisch sich dartuend in abstrakter Technologie und in abstrakter gesellschaftlicher Synthesis, ist eine neue Abhängigkeit nicht mehr von einer "Objektivität" (mir fällt kein besserer Begriff ein) der Form/Inhalt-Gestaltungen, sondern von einer Sinnhaftig- und Funktionfähigkeit (oder darf man heute nur noch sagen: von einer Dividendenfähigkeit?) derselben. Sinn und Funktion (Produktivität) sind die wackligen Hängebrücken, die einzig erlauben, nicht in der neu entstandenen Kontingenz der Welt zu versinken, sondern ebendiese zu überschreiten (im nichttranszendenten Sinne). Das meine ich in einem zutiefst nichtaffirmativen Sinne. Es gibt zwar noch einige zeitliche Verkopplungsgestalten, die nicht oder nur in minimaler Form der Variations- und Analysegabe des Menschen subordiniert werden können (zumindest beim jetzigen Stand der Bio-Technik), etwa die Zeit der Schwangerschaft, die (maximale) Zeit des biologischen Lebenkönnens, die Zeit der Wachheit, die Zeit ohne Energieaufnahme, vielleicht auch die Zeit der kognitiven Konzentration und die des Vergessens. Die anderen Verkopplungsgestalten von Formen und Inhalten aber sind geschichtlich, d.h.: sie sind nicht anthropologisch verifizierbar, nicht einmal anthropologisch falsifizierbar, sondern entweder machbar und dann erfolgreich haltbar, oder machbar, aber unhaltbar, oder aber, der wahrscheinlichste Fall: machbar, aber unhaltbar, aber trotzdem auf Dauer gehalten. D.h.: die geistig-kulturelle Lebeweise, die wissenschaftlich-technische Zivilisation kann von sich aus keinen Maßstab angeben, ob eine zeitliche Weise, Art, Gestalt und Verkopplung eines Inhalts und einer Form richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist (deshalb sind Funktion und Sinn die weltfremdesten und zugleich negativ-anthropozentrischsten Säulen, die das Gehäuse des Menschen abstützen). Sie kann es deswegen nicht, weil bestimmte Reaktionen, Verhaltensweisen, Aktivitäten, Zeitverkopplungen, die nicht funktionieren, nicht notwendigerweise tödlich sein müssen. Wirksame Operationen des Lebendigen, so führt es von Glasersfeld aus (Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig 1987, p188), führen zu einer Viabilität, aber unwirksame, destruktive, Form und Inhalt in ihrer Zeitlichkeit völlig verfehlende Operationen nicht immer zum Tod. Kurzum: Die Welt, die Wirklichkeit, die Umwelt können bestenfalls fürs Aussterben, nicht aber fürs Leben und Überleben verantwortlich gemacht werden. Oder, metaphorisch: Das Leben hat (und braucht) kein Organ. So können wir also, um den Bogen wieder auf etwas zu spannen, niemals für die Richtigkeit oder Falschheit der Zeitgestalten einstehen, in denen Fragen und Antworten, Problem und Problemlösung, Erkennen und Handeln, Koordinationen und Ereignisse, Empfindungen und Erkenntnisse, Bedürfnisse und Begehrnisse aktuell geschichtlich gekoppelt werden. - Während nun die Abstraktion in diesem Kosmos herrenloser Inhalte, die in fremdem Formen untergekommen sind, und 'inhaltsentfremdeter' Formen, die sich unbeeindruckt irgendwelcher Inhalte annehmen (denn: Abstraktheit allgemeiner Formen ist Bedingung der universellen Mannigfaltigkeit des Inhalts), in diesem Kosmos, wo Inhalte die Gestaltungsaufgabe von Formen und Formen die Gestalten des Inhalts übernehmen, also in diesem Kosmos der permanenten Verschiebung, Verrückung, Verdichtung und Ersetzung sich eingerichtet hat und seit Jahrhunderten mörder- und buchhalterisch ihre Arbeit durchzieht, nämlich Grenzen/Differenzen zu setzen und grenzenlos Gemeinsames/Identitäten zu stiften, zu kombinieren, aufzulösen und zu rekombinieren, scheint Wahrnehmung zu diesem Kosmos weniger ein Arbeits- oder Realitätsprinzip-Verhältnis denn ein Berührungs- oder Lustprinzip-Verhältnis, vielleicht sogar ein indifferentes Verhältnis zu besitzen. Gleich biologischer und physischer Limits, die den Menschen nur innerhalb eines ganz bestimmtes Spektrums des Hörbaren, Sehbaren, Empfindbaren, Fühlbaren sinnlich erfahren lassen, setzt der Wahrnehmungsvorgang Limits für das, was überhaupt wahrgenommen werden kann von dem, was aufgenommen wird. Eine nichtzuüberschreitende Grenze ist hier, wie bei der Lust, die Unmittelbarkeit des Wahrnehmens (übrigens ein Garant dafür, daß Meßapparaturen nur und immer nur beobachten, nie aber wahrnehmen können). Diese Grenze der Unmittelbarkeit ist so konstitutiv, daß sie sogar auf den Grad der Mittel-/Unmittelbarkeit des Wahrgenommenen Einfluß gewinnt. D.h.: Je mittelbarer, vermittelter das Wahrzunehmende ist (ein Gedanke, eine Abstraktion, ein Sachverhalt, eine Erwartung, eine Interferenz, also schon reduzierte und damit erst komplexe Komplexität für den Geist), desto weniger Chancen besitzt es, wahrgenommen zu werden (hier hat die abstrakte Kunst ihre Kämpfe geführt).
Da nun aber metatheoretisch die Inhalte namens Wahrnehmung und Reflexion
nicht in einer besonderen Form eingezwängt sind und auch keiner inhärenten
Zeitlichkeit unterliegen, um zu gelingen (und das heißt natürlich
nicht: sich zu erfüllen, etwa durch das, was sinnliche Reflexion geheißen),
scheint es nicht sehr relevant zu sein, etwas (Vermitteltes) wahrgenommen
haben zu müssen, um es reflektieren und bedeutungsmäßig
verstehen zu können, umso mehr, als technische Artefakte Reflexion,
Verstehen und Wahrnehmen durch die Verhaltensvorschrift "Gebrauchen" ersetzt
hat bzw. auf einen immer kleiner werdenden Kreis von Experten der Produktion
und Konstruktion der Artefakte beschränkt. Daß der Wahrnehmung
als Organisationsform des In-Beziehung-Tretens mit Wirklichkeit immer weniger
Wirklichkeit gelassen wird, die beinahe notwendig wahrgenommen (und nicht:
beobachtet, berechnet, bedacht) werden muß, ist ein alter Hut. Daß
sie sich nicht widerstandslos ergibt (vergleichbar Habermas' Hoffnung auf
eine rationale Kultur, die sich gleichsam gegenüber den Systemimperativen
wehrt, sollten diese in die Substanz des kulturellen Terrains hinein intervenieren),
scheint mir fraglich, denn: Getreu dem Motto, daß in einer kranken
Gesellschaft der Kranke besser angepasst ist als der Gesunde, wandelt sich
das Wahrnehmungsvermögen unterderhand in ein Vermögen zur Anästhesie
immer genau dann, wenn weiterhin statthabendes Wahrnehmen Dysfunktionen
mit sich bringt (deshalb vielleicht wurde Kunst die Heimstatt fürs
Wahrnehmen von Dysfunktionen). Will sagen: Wahrnehmung bleibt, gerade wenn
es hart auf hart kommt, eingeschnürt vom Korsett der Lebensdienlichkeit.
Sie ist in der Lage, sich der Konkretion hinzugeben, sich in ihr eigenes
Verschwinden zu wandeln (bis hin zur Anosognosie), wenn es erforderlich
ist. Kurz: Wahrnehmung besitzt, ebenso wie Normalität, ein nach oben
hin offenes Maß der Indifferenz gegenüber der Materialität
und Bedeutung des Wahrgenommenen (vielleicht ist diese Indifferenz die
einzig wirkliche Leidenschaft). Daß aus dieser Indifferenz ein Interesse
der Wahrnehmung an der gleichen Gültig- und Wertigkeit des Genommenen
wird (auf der kognitiven Ebene hieße das: universalistische Moral),
scheint mir zweifelhaft. Eher nehme ich an, daß in ihr eine Kompetenz
zum tragen/fallen kommt, eine Kompetenz nicht des Bestimmens oder der Bestimmung
von Gegenständen, Dingen, Sachverhalten, Perzeptionen mittels der
richtigen Form, sondern eine des Stimmens oder der Stimmung einer Kopplung
von Verkopplungen von Inhalt und Form; also eine Kompetenz im Bereich der
(um alt zu sprechen) Koordination von Koordinationen, die, wird sie gebraucht,
dazu führt, ausschließendes Entscheiden für oder gegen
etwas immens zu verkomplizieren. Diese Kompetenz scheint mir allerdings
akommunikabel zu sein und sich zudem nur negativ bemerkbar zu machen. Was
ist gemeint? Die Limits von Organen, traktiert, benutzt, eingespannt und
verkoppelt zu werden, sind recht eindeutig. Zuviel Alkohol, zuviel Streß,
zuviel Sonne, zu laute Akustik: und die Dysfunktion resp. die Paralyse
setzt ein. Anders beim Auge und beim Bewußtsein: hier gibt es keine
direkte Indikation, daß etwas nicht stimmt. Die Grenze nach oben
ist offen (Grenzwächter war einmal die Moral) bzw.: die Grenze ist
weg, weil nichts mehr jenseits einer Begrenzung ist. Vergessen (vielleicht
auch Verstehen) ersetzt fürs Auge und fürs Gehirn die Verdauung,
d.h. also: es gibt nichts Unverdaubares, solange vergessen werden kann.
Leben in einer Gesellschaft, die ihre Entwicklung maßgebend über
Sehen und Wissen vorangetrieben hat, also über visuelle und kognitive
Kanäle Weltkontakt organisiert, kann dann eigentlich nur noch bedeuten,
andauernd zu verhindern, in einen Zustand zu geraten, in dem man unfähig
wird, zu vergessen. - Wahrnehmung wäre nun die Stellvertretung des
Körpers in der Sphäre des Geistes, die an sich keine negative
Indikation der Unstimmigkeit kennt. So wie Logik das Geld des Geistes,
also die an sich bedeutungslose Materialisierung der Abstraktion sei, so
sei Wahrnehmung, verstanden als Bewußtseinsfunktion, die an sich,
also material, bedeutungsvolle Abstraktionskompatibilisierung der Materialität
innerhalb der immateriellen Abstraktion. Oder weniger großspurig
gesagt: Wahrnehmung nicht als Stellvertretung des Körpers, sondern
als die Wieder-Holung des Bestimmungswertes der Materialität für
die Stimmigkeit eines Körper-Welt-Kontaktes für den Bewußtsein-Welt-Kontakt.
Ein tritt anstelle der körperlichen, biologischen, elektrochemischen
Materialität des Körpers eine zeitliche Materialität; die
zeitliche Materialität des Wahrnehmens von Inhalt-Form-Verhältnissen
hebt die für den Geist nicht mehr zugängliche Materialität
der Inhalt-Form-Verhältnisse auf, und zwar ohne Abstraktion auf, und
macht sie hinreichend verfügbar innerhalb der immateriellen Abstraktion,
allerdings nur negativ, d.h.: verfügbar wird der Abstraktion Wahrnehmung
nur in ihrer Eigenschaft als übergangene, als unberücksichtigte,
als gefehlt habende. D.h. also: Die Wahrnehmungszeit stellt sich als Form
der Einheit des Wahrnehmungsverhältnisses, das selbst in Form (Wahrnehmender)
und Inhalt (Wahrgenommenes) unterschieden ist, zur Verfügung, und
benutzt die Einheit dieses Verhältnisses als Inhalt, der nun in die
Unterscheidung tritt mit eben der Wahrnehmungszeit als Form, die sich ausschließlich
aus der Materialität der Zeit des Wahrnehmens bildet. - Es so zu sehen
heißt natürlich, von einer mehr oder weniger unbestimmten Materie
auszugehen, die, negativ gesprochen, Unableitbarkeit für sich hat,
also niemals auch nur abstraktester "Besitz" eines Systems zu sein vermag
(wie etwa der Kontrastbegriff Medium). In diesem Sinne ist Wahrnehmung
innerhalb der geistig-kulturellen, innerhalb der abstrakten Gesellschaft
als Weltkontaktorganisationsweise einerseits immer zu früh dran, andererseits
kommt
sie immer zu spät an. Mir scheint, daß dieses Zeitprofil der
Wahrnehmung singulär, also besonders ist, und sich jeder Übersetzung
resp. Simulation sperrt, zumindest solange sperrt, wie die Suche nach einer
Alternative zum Organischen des körperlichen Lebens erfolglos bleibt.
Tja.
6)
Wenn Wahrnehmung und Erfahrung nur noch durch ihr Zustandekommen erinnerbare Spuren hinterlassen, daß Welt als Wirklichkeit vorhanden ist, nicht mehr aber durch das, was durch sie wahrgenommen und erfahren wird, dann stellt sich die Frage, wie das nicht nur alltägliche Verwirklichen von Gesellschaft zustandekommt, ohne per se als Chaos zu erscheinen. Wie kommt Vertrauen, wie Selbstverständlichkeit wieder zustande, hat sich der Mensch einmal auf Wahrnehmung eingelassen?
Wie so oft im Leben entscheidet die Nähe und Distanz zu dem, was man sieht, die Bedeutung ebendessen, was man sieht. Man will nicht so genau wissen - microskopisch genau -, wie der Teppichboden aussieht, der plötzlich Lebewesen beinhaltet, wie es nur einem fruchtbaren Boden zukommt. Man will nicht genau wissen, wie Luft aussieht, die bei entsprechender Sonnenstrahlung sich ausnimmt wie ein Wüstenstaubsturm. Man will auch nicht genau wissen, ob die Frau wirklich befriedigt wurde, was bei einer genaueren Nachfrage sich als Desaster der Vorstellungen eigener Männlichkeit entpuppen könnte.
Nähme man den Teppich unters Microskop, sähe man die Luft in der Brechung von Sonnenstrahlen, fragte man die Frau nach ihrem postkoitalen Gefühl: und schon mutierte der Teppich zu einem ekelhaften und Fluchtdrang verursachenden Terrain, das Einatmen würde zur Selbstvergiftung, und die notwendige Selbstverständlichkeit des Miteinander-schlafens wäre dahin. Wir leben in großen Daseinsbereichen unseren Lebens deswegen relativ ohne "Gewärtigung" des Um-uns, weil wir für bestimmte Räume, Tätigkeiten und Dinge nur ganz bestimmte Sicht- bzw. Sehweisen zur Verfügung stellen, an denen normalerweise nicht gerüttelt werden darf. Im großen, gesellschaftsevolutiven Rahmen wurde das einmal mit dem Begriff der Sublimation zu fassen gesucht, also die Tatsache, daß bestimmte, nichteliminierbare Daseinsweisen des Menschen wie z.B. Agressivität einfach dem Projekt der Invisibilisierung überantwortet wurden, also der Verdrängung, die dann ihrerseits die Erzeugung des (Lacanschen) Realen dermaßen promotete, daß es mittlerweile den Eindruck hat, als ob wir nicht verdrängten, um (zivilisiert) zu leben, sondern daß wir leben, um verdrängen zu können (gewiß ist dies eine doppelte Verkehrung: der Korrelation zur Kausalität und der Wirkung zur Ursache).
Bestimmte materiale und kommunikative Vorhandenheiten und Tätigkeiten besitzen also in ihrem Gewahrwerden rigid festgelegte Weisen, zu ihnen Zugang zu finden bzw. sie zu interpretieren. Der Traum, verstanden als Prozeß, der seinen Selbstbezug nicht mitvollzieht, also kein Verhältnis zu sich hat, kann als Profiteur dieser reduzierten "Gestaltwahrnehmung" von Welt gelten, aber auch die Künste (der Film besonders) und das, was wir Philosophie nennen.
Gewiß ist hier an Heideggers Unterscheidung von Zuhandenheit und Vorhandenheit zu denken. Vorhanden ist einem nichtbeobachtenden In-der-Welt-Seienden nur das, was nicht mehr zuhanden, sprich: nicht mehr zu Händen ist, also, wie Heidegger meint, zusammenbricht (also, um das alte Beispiel zu erwähnen, der Hammer, der plötzlich auf den Daumen schlägt und nicht mehr auf den Nagel; solange er den Nagel trifft, ist er nicht vorhanden, sondern vorhanden ist dann nur das Hämmern). Das Selbstverständliche also ist nichts anderes als eine Art bereits vollzogene Inkorporation des Außen, sei dieses Außen nun ein Gegenstand, Gegenstände, Verhaltensweisen oder Beziehungsweisen. In dem Moment, wo sich diese Inkorporation als nicht gegeben erweist, wird das Außen wieder zu dem, was es (oft nur für einen kritischen Beobachter) eigentlich schon immer war: zu dem Außen. Man ist dann nicht mehr in der Welt, nicht mehr draußen oder außen, wo man ist, sondern man ist eigentlich nicht mehr, da es jetzt Aufgabe wird, wieder in die Welt, in das Draußen, in das Außen zu kommen, also eine Entfernung zu überwinden, die sich einstellte durch das Zerbrechen der Selbstverständlichkeit. Wie ist Selbstverständlichkeit wieder herstellbar? Ad hoc möchte man gerne sagen: Gar nicht mehr. Das wäre ein Plädoyer für die Verschärfung einer kritischen Theorie (also für die historische Arbeit des Negativen), die nicht nur das Ganze als das Unwahre sezieren müsste, sondern mit Blick auf eine positive Entität (wenn nicht gar Ontologie) die vollständige "Alienation" des gesellschaftlichen Subjekts voranzutreiben hätte, um der Nochnichtfertigheit, um dem Erfahrungsreichtum und der sinnlichen Vernünftigkeit des historischen Subjekts "gerecht" zu werden; gerecht werden, überhaupt auf diese noch aufmerksam machen zu können, ist jedoch nur möglich qua negativer Dialektik, also dadurch, das Nichterreichte, das Verschwunden-Gemachte, das Eliminierte und Deformierte des historischen Subjekts lesbar zu machen. Nur dadurch ist eine Kontextualisierung möglich, die den jetzigen Menschen in seiner reduzierten, regredierten Verfasstheit denkbar werden läßt. Ein positives Positiv des Menschen theoretisch anzustreben käme demgegenüber also einer zweiten "Schändung" gleich: Die tatsächliche Plünderung des historischen Menschen durch den Prozeß seiner Ökonomisierung erschiene dann als notwendige Hinzutuung dafür, daß er jetzt das ist, was er ist; all das, was ihm genommen wurde, würde ihm ein zweites Mal genommen durch das Vergessen.
Diese Alienation hätte also die Aufgabe, durch das Festhalten an einem Begriff des Subjekts, der auf den Reichtum an Erfahrung des Menschen besteht, die Situation des Menschen als halb- wenn nicht gar ganzleeres Glas Wasser zu plausibilisieren, um theoretisch zumindest Zugang zu schaffen zu den bestandenen und auch weiterhin bestehenden Möglichkeiten des Menschen, sich zu (er)füllen (eine Arbeit übrigens, die Kluge/Negt beinahe prototypisch in ihrem Werk "Geschichte und Eigensinn" anvisierten).
Wie ist Selbstverständlichkeit wieder herstellbar? Eine zweite Antwort wäre: Durch Anästhesie. Aufbauend auf der These, daß Transparenz der beste Schutz vor Sichtbarkeit ist, wäre Anästhesie dadurch herzustellen, daß man nur noch (oder zumindest überwiegend) in der operationalen Dimension des Daseins in der Welt ist. Man betäubt sich durch Tätigkeit, durch Anschluß eines Aktoms an das nächste unter Vermeidung von Pausen und Absehungen, also unter der Vermeidung, daß innerhalb der Triade "Zwischen mir und der Welt bin immer noch ich" (Fichte) das Ich die Aufgabe der Fortführung des In-der-Welt-Seins übernimmt (und sei dies auch nur sequentiell).
Von der prometheischen Scham einmal abgesehen hat diese Vermeidung es wohl geschafft, sich als Strategie durchzusetzen, und zwar in Form der technisch-wissenschaftlichen Zivisiertheit des Menschen: diese wissenschaftlich-technische Zivilisation als Doppelgänger des Menschen (Peter Furth) läßt den Menschen sich selbst erzeugen, ohne das "Sich" mit in den Produktionsprozeß hineinzuziehen: Veränderungen an diesem Sich bleiben weiterhin (wie in den letzten 300 Jahren auch) scheinbar kontingente Derivate und Appendizes der logisch notwendigen Blindheit technischen Prozessierens von Welt (und des In-der-Welt-seins). Das Zuschauen, das vielleicht für einige Zeit nur mit den Augen Nietzsches richtig interpretiert werden konnte, nämlich als Ästhetisierung der Identifikation mit dem Aggressor, dieses Zuschauen (nicht nur den Fernsehnbildern, sondern dem Leben) entpuppt sich heutzutage als die eigentliche Gestalt der "Weltflucht". Dieses Paradox, in der Sprache des Journalismus mit 'overnewsed, but underinformed' kompaktiert, verwechselt das In-der-Welt-Sein mit einem Mit-der-Welt-Sein. Die potentielle Bewußtwerdung der Nichtselbstverständlichkeit von Welt durch konzentrierte Gewahrwerdung der Selbstverständlichkeitseinbrüche in der Welt verkommt zu einer Selbstanwendung der Selbstverständlichmachung auf den Akt des Gewahrwerdens von Nichtselbstverständlichkeit: solange ich selbstverständlich an der Destruktion von Selbstverständlichkeit (sehend) teilnehme, solange wird meine illusionäre Basis nicht sichtbar. Ich bewege mich fest in einer brüchigen Welt, deren Brüchigkeit sich nicht auf mein `Mich in ihr bewegen` ausweitet. Solange mir die Welt nicht in Gänze hinderlich wird bei meinem 'Mich durch sie betäuben', solange ist die Welt noch in Ordnung (das ist vergleichbar mit der Einstellung von vielen Fernsehzuschauern, die, solange noch Seifenopern zu sehen sind, davon überzeugt sind, die Welt sei noch in Ordnung. Gefährlich würde es erst dann, wenn die Welt mich nicht mehr in Ruhe ließe bei meinem Versuch, mich durch sie von ihr zu entfernen).
Eine dritte Form, Selbstverständlichkeit herzustellen, ist die folgende: Im Momente des Zusammenbruchs der Konstruktionen von Bezüglichkeit meiner und der Welt (sozialer Art, kausaler Art, intuitiver Art) und dem Abhandenkommen meines In-der-Welt-Seins durch das Überflutetwerden von (jetzt vorhandenwerdender) Welt wird nicht mehr auf eine eigene Einsichtnahme in die Selbstverständlichkeit des jetzt unselbstverständlich Gewordenen gesetzt, sondern auf die Vorstellung, daß andere diese Einsicht besitzen. Man läßt die einen bedrängende Welt als unverstandene in der Vorstellung als für andere selbstverständlich, für andere erklärbar erscheinen, setzt sie also in der Vorstellung anderen Menschen vor, von denen man annimmt, daß sie die für einen selbst fremd gewordene Welt als selbstverständliche inkorporiert halten. Das Erfordernis, selbst zu verstehen bzw. Verständlichkeit zu schaffen (also Welt zu invisibilisieren), wird delegiert an die Selbstverständlichkeit der Annahme (des Vertrauens), daß das in actu Nichtverständliche von anderen verstanden wird (erklärt wird). Der Vorteil dieser Verfahrensweise ist es, bestimmte Zusammenbrüche der Welt aus dieser herauszuziehen und einer rein quantitativen Ebene (etwa des Wissens, der Informationen) zuzuführen, in der es per se eine Selbstverständlichkeit gibt, die aber nicht notwendigerweise nur durch mich bewerkstelligt werden muß: Das Wissen (ob des Selbstverständlichmachens von Welt) wird somit überindividuell, intersubjektiv gar und damit selbst Welt. Kurz: So wie ich nicht weiß, warum die mich bedrängende Welt so ist, wie sie ist (weil sie ihre Selbstverständlichkeit "verloren" hat; Verlorenes ist wiederfindbar!), so weiß ich doch, daß andere wissen, warum sie so ist (also im Akt des Zusammenbruchs), wie sie ist.
Diese dritte Art, Selbstverständlichkeit "sein" zu lassen, lebt allerdings gesellschaftlich davon, daß diese anderen (meist Autoritäten, Experten, Funktionäre, aber auch a-subjektive Strukturen wie das politische System, das Geldsystem, die Sprache usw.) verschweigen, daß sie ebensowenig wissen ob der Selbstverständlichkeit des Wissens von Welt (einzig im technischen System hat sich der Mensch ein System geschaffen, wo er vermeintlich in der Lage ist, auch jenseits der Selbstverständlichkeit sich aufhalten zu können; dies schlägt bis hinunter in den Alltag unmittelbar in unsere bewußt- und einsichtlose Art des Umgangs mit technischen Artefakten durch: Wir sind mit ihnen nur im Verhältnis der Zuhandenheit zusammen; funktionieren sie einmal nicht, sind sie plötzlich vorhanden, also fremd, und man ist gezwungen, mit denen Kontakt aufzunehmen, die für ihr Vorhandensein zuständig sind: den Reparatur-spezialisten).
Richard Rorty hat für den Bereich der kommunikativen Lebenswelt die Gesellschaften des Spätkapitalismus provozierend zu fassen versucht als eine Gemeinschaft von Exzentrikern; Exzentriker zwar, aber in einer Gemeinschaft eingebunden. Was könnte aber das Gemeinsame dieser Exzentriker sein außer die Einsicht eines jeden, daß es der andere auch ist? Wäre es in einer solchen Gemeinschaft (die er ganz klar von einem Kommunitarismus etwa Robert Bellahs, eines Alasdair Macintyre oder eines Charles Taylor abgrenzt) gleichsam möglich, Vertrauen als eine gesellschaftswirkliche Infrastruktur vorzufinden, die als Infrastruktur ganz klar konturiert, wer sich worüber wieviel seinen Kopf zerbrechen darf? Die vorgibt, daß es im Notfalle einen "Raum" gibt, aus dem der Jocker gezogen werden kann, um die verletzte Normalität, die eingebrochene Legitimation und die ausgefallene Aufführung des Allgemeinseins als "Ausrutscher", als Fehler der Anwendung zu verharmlosen? Denn nichts anderes ist die Funktion des Vertrauens auf der Ebene einer über symbolisch generierte Medien vermittelten Gesellschaft, als Akzeptanz für das Abbrechen von Fragen zu beschaffen. Durch Vertrauen mitdesignte Arenen der Kommunikation können es beinhalten, mit Fremdem, Angstbereitendem, mit Abstoßendem umzugehen, da das Fremde, Ängstigende und Abstoßende einfach nicht mehr der für sie institutionalisierten und vorgeschriebenen Sehweise zugänglich ist. Der Kaiser ist nackt, doch alle bewundern seine neuen Kleider. Und dabei sind die Kleider nicht das einzige, was unsichtbar ist. Unsichtbar ist auch die Überzeugung aller, daß sie Kleider sehen. Eine Überzeugung, eine Vorstellung über einen der Öffentlichkeit zugänglichen Sachverhalt darf nicht sichtbar, ja muß sogar unsichtbar bleiben, denn sie bildet sich nur durch das gegenseitige Unterstellen, daß auch der andere unterstellt: Ich beobachte alter, wie er nicht reagiert (etwa auf die Tatsache, daß der Kaiser nackt ist) und weiß, daß alter auch mich bei meiner Nichtreaktion beobachtet. Wir wissen, daß der Kaiser nackt ist und denken zu wissen, daß es alter auch weiß, so wie wir unterstellen, daß alter das gleiche Wissen ego unterstellt. - Dies Spiel, diese dritte Art der möglichen Wiedereinsetzung von gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit durch Autorität, ist heute nicht mehr gangbar; man sieht es alleine daran, daß die allenthalben produzierten Parodien auf und ironischen Imitationen von Autorität sowie die antithetisch vorgestellte Infantilisierung in der Massenkultur auch schon ihre Zeit hinter sich haben. Manch einer setzt demgegenüber auf einen gesellschaftlichen Neustart, der in seiner Art den maßgebenden Prozeß innerhalb sozialwissenschaftlicher und philosophischer Reservate kopiert, nämlich: Autorität gewinnen durch Destruktion von Autoritatismen (bekannt unter dem Namen Dekontruktivismus). Auch das scheint gesellschaftswirksam nicht übersetzbar zu sein.
Vielleicht scheint jetzt erst, am Beginn des dritten Jahrtausend, etwas zu beginnen, das all die Zeit immer schon behautet wurde: nämlich die Klärung der Frage, ob der Mensch ein bestimmtes Lebewesen ist. Zur Zeit jedenfalls vermehren sich die Anzeichen, er sei es nicht, sondern bloß eine historisch überfällige und variable Inkorporation der spezifischen Organisation von Materie, Energie und Information.