Annahmen-Skizze
|
Ausschnitt einer größeren Arbeit über soziale Gesellschaft,
die in Arbeit ist
bernd ternes
Legen Sie zehntausend Meilen quer durch Amerika zurück und
Sie werden mehr über dieses Land wissen als alle soziologischen oder
politikwissenschaftlichen Institute zusammen
Jean Baudrillard, Amerika, dt., München 1987,
p79
|
Alleine schon der Anspruch, eine Skizze der hier genommenen und anzuwendenden
Theorie anzufertigen, ist sicherlich maßlos übertrieben. Hat
man auch nur oberflächlich die Entwürfe etwa von Marx, von Giddens,
von Habermas, von Holzkamp, von Luhmann u.a. im Kopf, also ihr komplexes
Entwerfen des theoretischen Netzes und das gleichsam komplexe Einfangen
gesellschaftlicher Wirklichkeit, müßte konsequenterweise auf
den Begriff Theorie verzichtet werden, so man noch fähig ist, verhältnismässig
zu vergleichen. Auch kann nicht, wenn wie hier die ganze Welt im Blick
ist, der Wissenstand auch nur annährend wiedergegeben werden, der
sich in den speziellen Wissensfirmen wie Ethnologie, Kulturanthropolgie,
Sozial- und Technikgeschichte erreicht worden ist. Zudem setzt Baudrillards
Satz genereller der vermeintlichen Kapazität theoretischer Aussagekraft
zu und stellt sehr plausibel infrage, ob Theorie überhaupt noch ein
Denkwerkzeug ist, um Wesentliches zu verstehen. – Auch deswegen könnten
Formulierungen wie assoziatives Inbeziehungsetzen, heuristisch kontrolliertes
Spekulieren, essayistisch inspiriertes Unterstellen von Zusammenhängen
oder einfach bloß Jonglieren mit Begriffen als Bezeichnungen des
hier zu Entwerfenden nur mit Mühe von der Hand zu weisen sein. Vielleicht
passiert hier nur das, was man als "Sich einen Reim auf etwas machen" bezeichnen
könnte: wissenschaftliches Dichten; wobei das "etwas" die menschlichen
Gesellschaften sind in Zeit und Raum. Negativ gesehen wäre das eine
Kapitulation vor der Einsicht, daß es zwischen Wahrheit, Mythos und
tieferer Bedeutungslosigkeit keine undurchlässigen Grenzen mehr gibt.
Positiv gewendet ist es der Versuch, aus eben diesem Zustand des Denkens
eine Erkenntniskraft zu destillieren, der man nicht mehr mit Sichtungen
von Defiziten und Mängeln nahe kommt. Wiewohl nichts plausibler ist
als die Annahme, daß Welt und Weltverstehen nicht mehr in einen Kopf
alleine passen und also Äußerungen dieses einen Kopfes per se
unselbständig sind, soll doch das Ganze im Blick sein.
Die ausgeführte Darstellung (étude) übernimmt Bestandteile
einer darstellenden Aufführung, die, wie man weiß, nur funktioniert,
wenn man vergißt, was zuvor für sie gelernt wurde.
Dennoch. Jenseits von Aversionen gegenüber teleologischem Abheben,
diesseits der Reflexion auf die Historizität jeglicher Fassung, die
etwas über etwas aussagen will, und eingedenk des eher heuristischen
denn konsistenten und paradoxalen Charakters des 'schauenden' Blicks sollen
folgende Annahmen das Vereinnehmen von Texten und Gedanken über Gesellschaften
leiten:
-
Soziale Gesellschaften werden nicht durch sprechende, zeugende, sich sozialisierende
Menschen zusammengehalten, aufrechterhalten, hergestellt und erhalten (dafür
reichen die Organisationformen Familie, Gruppe, Gemeinschaft), sondern
durch Technik erfindende, Technik anwendende und Technik erzwingende Menschen
(remember Marxens Satz von der Industrie als das aufgeschlagene Buch des
Menschengeschlechts, nicht jedoch Marxens Produktfetischismus!). Nicht
die vorhandenen technologischen Infrastrukturen (Wasser, Strom, Information,
Bilder, Waren, automobile Bewegung), sondern die diese erfindenden, anwendenden,
herstellenden und ordnenden Menschen bilden die Gesellschaft (was manchmal
schwer zu verstehen ist). Und dennoch bestimmt nicht die technische Vergesellschaftung
die soziale Integration als Funktion der funktionalen Integration (in Anlehnung
an Parsons); wie andereseits es nicht die Arenen des kommunikativen Handelns
der Lebenswelt sind, in denen die wie auch immer praktische Führung
der Bestimmung übernommen werden kann (in Anlehnung an die Integrationskraft
des Rechts bei Habermas). Vielmehr sind die historisch diversen Formen
gesellschaftlicher Synthesis in ihrer geno- und phänotypischen Gestalt
Resultate der Ozillation zwischen spontanen und geplanten Ordnungsbildungen
in der Gesellschaft (Konventionen, Traditionen, Marktwirtschaft auf der
einen, Rechtssprechung und -findung, 'Politiken' auf der anderen Seite).
Diese Ozillation, etwa beschreibbar als das nie versiegende Potential immer
wieder neu erstehender Selbstbeschreibungen von Gesellschaften (Klaus Eder),
als die Spannung zwischen Bevölkerungswachstum und Wachstum der Nahrungsmittelerzeugung
(Thomas Robert Mathus), als Widerspruch geistiger und körperlicher
Arbeit (Afred Sohn-Rethel), oder als gegenstrebiger Prozeß der Entdinglichung
und Verdinglichung des Sozialen (Bernhard Giesen), diese Ozillation also
ist nicht in den evolutionstheoretischen Kategorien zu fassen, gleichsam
auch nicht in Kategorien des 'Humanismus' oder der Sozialkybernetik, sondern
allenfalls in organisationellen bis organizistischen Kategorien. Dabei
ist die Denkschwierigkeit maßgebend, daß 'Organe' des Sozialen,
des Kulturellen, des Gesellschaftlichen die Positivierung einer Abwesenheit
sind, einer Abwesenheit innerhalb einer anderen Daseinskonfiguration, nämlich
der der Leben (Plural von Leben). Die Leben haben kein Organ, und dieses
Nichtorganhaben der Leben wird positiviert durch die Nexus (Plural von
Nexus) resp. Organisationen von Sozialität Dabei bleibt natürlich
im Dunkel, was die Plastizität der Sozialisation ist, die die Bedingung
darstellt zur Ermöglichung der Änderung des Charakters existentieller
Abhängigkeitsbeziehungen der Menschen zur Welt, zu Menschen, zur Natur,
und zu sich.
-
Technik in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung hat nichts gemein mit der
griechischen Bedeutung von Techné, also nichts gemein mit der technischen
Nachahmung der Naturdoppelbestimmung natura naturans und natura naturata
durch die Doppelbedeutung von künstlich und künstlerisch; und
dies nicht erst seit der neuzeitlichen Rhetorik, in der sehr viel aufgeboten
wurde, um die Technik als eine genuine, nicht-emanative Gestalt des schöpferischen
Subjekts von der Arbeit der Naturnachahmung und -vollendung zu emanzipieren.
Materielle Technik (etwa der Behälter, der Waffen, der Transporte,
der Maschinenerzeugung) ist vielmehr die genuin soziale Irritationskraft
gesellschaftlicher Einheiten. Sie bringt diese unaufhörlich in Zugzwang,
sich in eine Dynamik zu begeben, in der neue Dosierungen und neue Arrangements
der gesellschaftlichen Inbeziehungssetzungen, der Codierungen und Leistungserfüllungen
(sprich: vorallem Kriege und Revolutionen) ausprobiert werden. Die gesellschaftliche
Semantik, verstanden als soziale Technik (Moral, Recht, politische Rhetorik)
reagiert nicht nur darauf, sondern ist selbst ein inhärenter Teil
dieser technikinduzierten Dynamik, auch wenn sie bis in die Gegenwart hinein
an der quasimetaphsischen Trennung von sozialer und technischer Organisation
zu hängen scheint. Überspitzt formuliert: Was für das einzelne
Bewußtsein das Unbewußte ist, das ist für die Organisation
sozialer Gesellschaft die Technik. Es gilt darum trotz gegenteiligem Anschein
weiterhin, sogar auf höherer Vermittlungsstufenleiter, Blumenbergs
Einschätzung: "Für die herankommende technische Welt [zu Beginn
der Neuzeit; B.T.] stand keine Sprache zur Verfügung, und es versammelten
sich hier wohl auch kaum die Menschen, die sie hätten schaffen können.
Das hat schließlich zu dem erst heute - da die technische Sphäre
erstrangig 'gesellschaftsfähig' geworden ist - kraß auffallenden
Sachverhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer
Welt am stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagen wissen,
was sie tun." – Auch wenn wir es nicht mehr sehen wollen und zum Teil schon
nicht mehr können, was nach den Revolutionen der Darstellungs- und
Verbreitungsmedien zur Darstellung gebracht wird: die gesellschaftliche
Bedeutung dessen, was wir herstellen, bekommen wir nie zu fassen (Gruß
an Günther Anders).
-
Die Leistung des homo sapiens war nicht die Erfindung der Kultur im Sinne
"jenes Instruments, durch welches eine Gesellschaft ihre Mitglieder bändigt
und beherrscht, aber auch ihre komplexe soziale Organisation schafft und
aufrechterhält"; und auch trifft nicht zu, daß die Kultur daneben
noch technologische, ökonomische, religiöse usw. Funktionen hat,
deren Realisierung durchweg davon abhängt, inwieweit "der Kultur nach
ihrer politischen Seite die Integration und der Schutz der Gesellschaft
gelingt". Denn wenn es stimmt, daß 99 Prozent der menschlichen Geschichte
abgelaufen sind, bevor es zur Institutionalisierung politischer Systeme
kam, dann ist die soziale Gesellschaft ein Effekt der Kultur, die ihrerseits
Effekt ist von technischen Innovationen, die einen Umbau der Verhältnisse
zwischen Mitgliedern von Gruppen und Gemeinschaften erzwang. Die politische
Integration ist Supplement eines technisch induzierten Integrationsbedarfs;
überall da, wo dies nicht der Fall war, kann zwar von Kultur/Zivilisation,
nicht aber von Gesellschaft die Rede sein. Gesellschaft beginnt zeitlich
in dem Moment, wenn die soziale Ordnung und die herrschaftliche Sicherung
dieser Ordnung abgestimmt werden muß mit den Anforderungen der Organisation
technisch bestimmter Koordinationen im großen Umfang, also über
einzelne Gruppen hinaus; sie beginnt sachlich in dem Moment, wenn die materielle
Reproduktion der meisten Mitglieder nicht mehr über die Form der Hausökonomie
bewerkstelligt werden kann; sie beginnt sozial in dem Augenblick, wenn
sich für die meisten Mitglieder die Möglichkeit ergibt, daß
ihre rassischen, geschlechtlichen, verwandtschaftlichen, religiösen,
geographischen, gruppenspezifischen, familialen Eigenschaften sekundäre
Attribute der Zuschreibung werden.
-
Soziale Gesellschaften sind Medien grundlegender Stoffwechselprozesse zwischen
Menschen und Natur, keineswegs Medien variabler, kontingenter Austauschprozesse
zwischen Menschen und Natur; sie sind eher, im Bereich des Lebewesens,
mit den Prozessen der Glykolose, des Zitrat-Zyklus, der Endoxidation vergleichbar
denn mit Prozessen des Nervensystems. D.h.: Soziale Gesellschaften sind
medieninhärent limitiert in ihrer Variabilität der Organisation
von Formen des 'Austauschs' zwischen Menschen und Natur; unlimitiert ist
hingegen die Diversität der Formen, die sozial vergesellschaftet werden
können (natürlich auch Maschinen).
-
Zugleich ist die stabile Form der ménage à trois (Körper,
Geist, Gesellschaft) nicht nur temporal bzw. historisch eine intermediäre
Form, sondern auch material bzw. evolutionär. D.h.: Dieser Zustand
der Ungeteiltheit von Körper und Geist (gemeinsamer Träger: Mensch),
dieser Zustand der Ungeteiltheit von Natur und Gesellschaft (gemeinsamer
Prozeß: Stoffwechsel), und dieser Zustand der Ungeteiltheit von "Individuum"
und Gesellschaft (gemeinsamer Horizont: Lebenswelt) sind Gestalten eines
vorübergehenden Prozesses von nun reflexiv gewordener Evolution, der
ebenfalls vorübergeht. Evolution mutierte Geschichte; Geschichte (Geist
und Gesellschaft) kommt an ihre Grenze, den Zeitraum der natürlichen
Evolution gemeinsam mit Natur und Körper teilen und sich reproduzieren
zu müssen; zugleich kommen Natur und Körper an ihre Grenze, im
"alten" Herr-Knecht-Modus (Herrschaft) und Knecht-wird-Herr-Modus (Selbstzucht,
Selbstdiziplin) ausgebeutet, deformiert und eliminiert zu werden; Geschichte
beginnt, Evolution zu produzieren, nicht verstanden als Bedeutung der Geschichte
der Produktion von Welt für die natürliche Evolution des Lebendigen
auf der Erde, sondern als radikal anderer Modus der Grundlagen des Selegierens,
Variierens und Kondensierens evolutionärer Prozesse; die von Geschichte
produzierte Evolution (zweiter Ordnung?) koppelt den Geist, den Körper
und die Gesellschaft zunehmend ab vom gemeinsamen Bedingungsensemble der
ersten Evolution, und schafft jeweilige, wohl nicht nur operational abgeschlossene
"Wohineins", in denen jeweils für sich Körper, Geist und Gesellschaft
ihre Selbsterhaltung und Selbstproduktion autopoietisch wiederholen. Geistloser
Körper (Kreatur), körperloser Geist (Dämon), menschenfreie
Gesellschaft (System), gesellschaftsloser Mensch (Monade) - auf eine Art
technologischer Realisation emergenzfähiger "Entmischung" (biologisches
Pendant: Zellteilung) der bis dato evolutions- bzw. geschichtstheoretisch
als verwoben und unselbständig beschriebenen Wirklichkeitskomponenten
namens Natur, Geist, Körper und Gesellschaft scheint also die Evolution
der Evolution, die historische Produktion von Evolution als Fortsetzung
der Evolution von Geschichte, hinauszulaufen. D.h., auf soziale Gesellschaft
bezogen: Die Form des Mediums 'soziale Gesellschaft' vermag ihrerseits
wieder eingehen in ein höherraffiniertes Medium für "Austauschprozesse"
zwischen Menschen, Natur und soziale Gesellschaften, nicht im Sinne eines
Ferments, eines Sediments, sondern im Sinne eines Organs (um wieder aus
der Biologie heraus zu verdeutlichen: Was einmal Organismus war, wird durchs
neue Medium Organ eines umfassenderen biologischen Zusammenhangs. Der Unterschied
zur Biologie ist hier der: Während alles Emergieren in dem einen
Bereich der Biologie verbleibt, vermag das Medium 'soziale Gesellschaft'
sich als Form wiederzufinden in einem Ensemble unterschiedlichster
Bereiche, also des Lebens, der Information, der Kommunikation, der Psyche,
der Energie usw., das seinerseits kein Organ/keine Organisation hat).
-
Die Sozialität des Mediums 'soziale Gesellschaft' entspringt nicht
den wie immer embryonal angelegten musischen, ethischen, aisthetischen
Vermögen, auch nicht den religiösen Praktiken der Menschen (Durkheim),
sondern der Härte der Sorge für die große Zahl. Sozialität
ist eine per se quantitativ, technisch und organisationell konstituierte
Daseinsweise, Solidarität ein Derivat der Okkasion, daß aus
Quantitäten Qualitäten werden können. Das Reich der Freiheit
ist und bleibt eine Enklave, ein Homeland des Notwendigkeitsreiches, eine
Art Tränke; zumindest muß man bis auf weiteres davon ausgehen,
nachdem der niemals gesellschaftlich gewordene, sondern allenfalls im Radius
des Politischen verbliebene Versuch namens "Kommunismus" gescheitert ist.
-
Die Sozialität von Gesellschaft ist aus einer fundamentalen Asymmetrie
abzuleiten, die ihrerseits nur eine Fortsetzung der natürlichen Verhaltensweisen
von lebenden/anorgnischen Systemen darstellt. Die Asymmetrie besteht in
der Knappheit/Temporalität von Welt im Verhältnis zur Aneigungsmächtigkeit
und zum Bedürfnis nach Feststellung von Welt. In einer soziologischen
Sichtweise verhält sich das Verhältnis von zu wenig/zu unbeständiger
Welt (Nahrung, Raum, Schutz) und den sich Welt aneignen müssenden
(lebenden) Systemen (vegetative, tierische Systeme und Menschen) genau
umgekehrt zum systemtheoretisch entworfenen, eher informations- und erkenntnistheoretisch
orientierten Modell eines Verhältnisses von überkomplexer Umwelt
und diese Komplexität reduzieren müssenden Systemen. Der Kampf
ums, das Töten fürs, die Konkurrenz im Überleben, die Aneignung
von Wasser, Territorium, Nahrung, Wärme, gesicherter Zeit, Besitz,
Macht über Leben, Kommunikation und Handeln geht immer vom Vermittlungszwang
aus, sei er strikt biologisch-vegetativer Art (wie etwa das Atmen als dauerndes
Tun, damit man überlebt; wie etwa das permanente Energieaufnehmen
durch Nahrung etc.), oder eben sozialräumlichen Zuschnitts. 'Das Brot,
das ich esse, macht den anderen nicht satt" (Sohn-Rethel): exakt diese
Vermitteltheit der eigenen Weltaneignung resp. Bedürfnisbefriedigung
ist, wenn sie reflexiv in die Aneignung/Befriedigung eingeht, der nicht
mehr stillzustellende Motor für die Genese der Sozialität von
Gesellschaft. Denn während in allen subhumanen Formen der Überlebensbewältigung
dieser Moment der Aneignung von Welt über die Ausschaltung/Vernichtung/Umgehung
des 'anderen' Aneigners sich allenfalls biologisch transformiert (die Stachel
des Igel, das Netz der Spinne, das Chamäleon), bzw. allenfalls soziativ
sozietär gestaltet, transformiert er sich bei Menschen zuerst kulturell-gemeinschaftlich
und dann gesellschaftlich-soziologisch.
-
Die Asymmetrie des Verhältnisses Weltaneigner/Welt, also das Vorhandensein
von zuvielen Aneignern im Verhältnis zur aneignungsfähigen Welt,
setzt sich, nachdem die Vernichtung/Auslöschung/Umgehung des anderen
Aneigners und das Wissen, selbst ein anderer Aneigner eines anderen Aneigners
zu sein, reflexiv wird, unbeirrt fort, jetzt allerdings ergänzt durch
eine zusätzliche Form der Weltaneignung: nicht mehr alleine durch
das Töten der Feinde wird die Weltmasse mehr, sondern auch durch die
Rationalisierung der Aneigung selbst: Die Sozialität der Menschen
selbst wird nun produktiv, indem sie Kooperation ermöglicht über
die notwendigen Formen der Gesellung hinaus (das sog. konzentrierte soziale
Surplus im Sinne Childes). Dabei ist es irrelevant, ob die "Plastizität"
des Sozialen zuerst für die Produktion von effektiverer Destruktion
anderer Mitaneigner experimentell genutzt wurde (koordiniertes Angreifen,
"Kriegssozialtechnik", Waffen, militante Organisation im Sinne Spencers),
oder zuerst für die Produktion effektiverer Aneignung von Natur (koordiniertes
Sammeln, koordiniertes Jagen, koordiniertes Auffinden geeigneterer Seßhaftungen,
industrielle bzw. tragende Organisation im Sinne Spencers). Sowohl die
effektivere Naturaneignung als auch die effektivere Vernichtung anderer
Aneigner jeweils für sich betrachtet zögen die je andere Produktion
des Sozialen nach sich, weil sich das Verhältnis innen/außen
unwiederruflich verdoppelt (hier Gruppe, dort Feind; hier Gruppe, dort
Natur); und zwar nur noch auf der Ebene der Sozialität, nicht mehr
auf der Ebene der Individualität. Analogisierend gesagt: Das, was
das aufzuziehende Kind für die Familie und die Familie für das
Kind ist, ist nun die soziative Familie für die soziale Form der Gruppe/Gemeinschaft
und die soziale Gemeinschaft für die Familie. Das strukturell Unruhige,
das strukturelle Eingebundensein, das rigoros Prozessuale jeglicher Existenz,
vorallem aber die schon im Vergleich zu anorganischen Materien weit forcierte
"Interdependenz" von System und Umwelt bei lebender Materie (permanenter
Auf- und Abbau der Spannungen innerhalb homöopathischer Regelkreise)
setzt sich bei "sozialer Materie" fort im Sinne des permanenten Auf- und
Abbaus der Spannung innerhalb des systemischen Regelkreises 'soziales Innen/soziales
u. naturales Außen'. Inklusion und Exklusion bilden als Unterschiede
die Einheit eines nie mehr differenzlos werdenden Prozesses der Gruppen-,
Gruppengrenz- und Gruppenaußenbildung. Kein Einatmen ohne Ausatmen;
kein sozialer Binnenraum ohne Schaffung eines sozialen Außenraums.
Vielleicht koinzidiert kausal mit dem sozial notwendigen Interagieren einer
verdoppelten Außenwelt (sozial und natural) die Fähigkeit des
Menschen, mit seinen eigenen Beschreibungen zu interagieren und diese zu
kommunizieren.
-
Die scheinbar entgegengesetzten Züge innerhalb der sozialen Produktion,
nämlich einerseits mit dem sozialen Außen innerhalb des sozialen
Innen umgehen zu müssen, also mit dem Außen innen rechnen zu
müssen, sich also in Verbindung, in Beziehung zu wissen mit einem
sozialen Außen, das kontingent/bedrohlich bleibt (also: soziale Kontingenzmaximierung),
und anderseits den Aufbau sozialer Systeme voranzutreiben durch Unterbrechung
der doppelten Kontingenz innerhalb des sozialen Innen durch überindividuelle
Feststellung von Erwartungen und Erwartungserwartungen (Modus: Arbeit,
Arbeitsteilung), also soziale Kontingenzminimierung, diese unterschiedenen
und doch einer Einheit angehörenden Formen der sozialen Produktion
(intern Kooperation, extern Konkurrenz) bilden das binäre Agencement
oder die Matrix der Ausdifferenzierung von Formen innerhalb des sozialen
Innenraumes, wobei diese Differenzierung im Innen des Sozialen maßgebend
der Differenzierung von Verhältnisformen zwischen Gruppe/andere Gruppe
resp. Natur subordiniert wurde; dies nicht im Sinne der Hereinnahme des
Konkurrenzprinzips in den sozialen Binnenraum, sondern durch Stillstellung
möglicher Konkurrenzen durch klar strukturierte Herrschaft-, Autoritäts-
und Funktionsverteilungen (segmentäre / stratifikatorische Organisation
der Sozialität). Noch ist die soziale Sozietät Additionssumme
der Innen-Außen-Stellung (zur Natur und zu anderen Aneignern) und
der Binnenorganisation der einzelnen aggregierten Gruppenmitglieder; als
eigenständige Größe "Sozialität" wird sie ausschließlich
vorreflexiv konstitutiv in Festen und Opferriten, also in zwar streng räumlich-
und handlungsformierten Sozialstrukturen, aber eben in einer schnelleren,
flüchtigeren, volatilen Zeit. Es verhält sich fast so, als generierte
sich Sozialität in äußerster Vorsichtigkeit erst einmal
unbemerkt von den Menschen selbst, die in ihren Festen und Opferriten nicht
nur durch eine vollständig andere Referenz (animistische Mächte,
Übersubjekte, Außerphysisches) vom eigentlichen Vorgang abgelenkt
sind, sondern auch durch die Intensitäten des vokalen, rhythmischen
und ereignishaften Geschehens; Fokus ist hier nicht die gegenwartsresistente
Erinnerung, sondern die erinnerungsresistente Verausgabung. Man sucht sich
trotz strenger Ritualisierung und rigoroser Reglementierung die körperlichsten,
flüchtigsten, deixisabhängigsten, antizipationsaversivsten, ereignishaftesten
Formen der Gestaltung sozialer Zeiträumlichkeit aus, um in ihnen und
durch sie das zu stiften, was körperlos, sinnenunzugänglich,
was abstrakt und unsichtbar ist: Gemeinschaft, Gesellschaft. Die Eigenwertigkeit
der Ordnung von Sozialität entsteht in der Flüchtigkeit der gemeinschaftlich
zelebrierten intensiven Verausgabung. Der Übersprung, besser: die
Übersprunghaftigkeit der in Intensität "gearbeiteten" Sozialität
zur Sozialität der Arbeit ist bis heute noch intakt, wenngleich kaum
noch nachvollziehbar durch eine unendlich erscheinende Vermittlung und
durch die unendlich lange Geschichte der Kriege, die kaum plausibel den
Gedanken zuläßt, daß Einheitsbildung, Identitätsbildung
und Vermittlungsdichte einer Sozialität in nichtkriegerischen Intensitäten
erwächst.
-
Die noch völlig unarrangierten diversen Abhängigkeiten der Menschen
und der durch sie entstehenden Organisationsformen (Mutter/Kind–Dyade,
'Kleinfamilie', Gruppe, Clan, Stamm, 'Dorf'-Gemeinschaft) hinsichtlich
der Versorgung mit Wärme, Wasser, Ernährung, Sicherheit, Entscheidungsfindung,
Zukunftsgewißheit, Sozialbindung und nichtgewaltsamer Verständigung
erfahren mit der Agrikultur/Seßhaftwerdung ihre erste Systematisierung/
Sequenzialisierung und ineins damit ein neues, Horizonte eröffnendes
Produktionsmittel: die Zeit. Die Abhängigkeiten von den Rythmen der
natürlichen Wachstumsprozesse und den Rythmen kalten und warmen Klimas,
die sich in einer daran anpassenden Raummobilität Gestalt geben (Nomadismus,
Wildbeuter) werden mit der Seßhaftwerdung und der räumlich weitgehend
fixierten Kultivierung des Bodens umgebrochen in eine Beweglichkeit der
Zeit. Besser: Das Durchqueren des Raumes wird konkurrenziert mit der Durchquerung
und Einplanung von zukünftiger Zeit. Die nachträgliche Gerichtetheit
dieses Aufbaus einer Verräumlichung von Zeit kann in der Produktion
von zunehmender Unabhängigkeit der menschlichen Selbsterhaltung von
unmittelbaren, notwendigen, den Menschen nur Reagieren lassenden Zwängen
der ökologischen Environments gesehen werden. Reduktion der Macht,
Unvorhersehbarkeit und Grausamkeit von Natur auf die einfache Abhängigkeit
des Menschen von einem kontinuierlichen Stoffwechsel energetisch-materieller
Art; Domestizierung der fremden Natur durch ihre Inklusion in die eigene
Selbsterhaltung (prominentes Beispiel: der neolithische Ackerbau: Aneignung
der natürlichen Wachstumszeit durch geplanten Ackerbau), kurz: Sicherheitsproduktion
durch Ausweitung des Selbst (Gehlen) resp. Entfernung des Fremden aus dem
zentralen Blickfeld der Daseinssorge lassen als Diskriminierungsmodus soetwas
wie ein Immunsystem für den neu entstandenden "Körper" namens
Gesellschaft entstehen, der a) nur noch das als erhaltend anzusehen zwingt,
was intern und selbst produziert und synthetisiert wurde, und b) das Nicht-Gesellschaftliche
als a priori feindlich resp. als noch nicht zum Erhalt des eigenen Selbst
instrumentalisiert (erkannt) betrachtet. Die Entwicklung geschichtlicher
Gesellschaft bestand wesentlich darin, immer mehr Umwege in Kauf zu nehmen,
um das zu erreichen, was gewollt oder nötig war. Die immer vermittelter
werdende Bedürfnisbefriedigung hat als Kehrseite die immer größer
werdende Gleichzeitigkeit der Handhabung unterschiedlichster Zeiten zur
Folge. Mit Übergang der Technik von Instrument zu Werkzeug wurden
die Vermittlungen vielfältiger und komplexer. Man produzierte Mittel
für Mittel für Mittel... für Zwecke, die ihrerseits wieder
als Mittel für Zwecke eingesetzt werden. Die zunehmende Angewiesenheit
einzelner Handlungen, Ereignisse und Menschen auf ein sie zusammenbindendes
und auch zusammenhaltendes Ziel erforderte es, dem vielfältig, disparat
und zudem gleichzeitig Passierenden außerhalb der konkreten Gegenwart
eine einheitverbürgende Gestalt zu geben. Für die Technik wurde
dies der Plan, für die produzierende Gesellschaft die zukünftige
Zeit. Die beginnende Vergesellschaftung des Sich-Ernährens, Sich-Wärmens,
Sich-Sozialisierens, Sich-Bildens, Sich-Erhaltens und Sich-Schaffens umfasste
eine Masse an zu koordinierenden Parametern, die nicht mehr in der gegenwärtigen
Zeit zu organisieren war: Erwartungs-, Antizipationshorizonte mussten an
den Erfahrungsraum "angebaut" werden, da die Bewirtschaftung der nun gesellschaftlich
zu bewerkstelligenden Daseinssorge nicht mehr ohne Bewirtschaftung und
Rationalisierung von Zeit möglich war. Dabei geht die Abstraktion/Reduktion
unendlich vieler verschiedener Zeiten und Zeitrythmen auf ihre Uhr-Zeit-Kompatibilität
in eins mit der Abstraktion raumausfüllenden (Welt)-Materials auf
analyse- und synthesefähige Bestandteile; Verläßlichkeit
der Zeit und Verläßlichkeit kontrollierter Welt bedingen sich,
ebenso wie sich Zeitverläßlichkeit mit sozialer Verläßlichkeit
bedingen. Es entsteht ein eigener Regelkreis des Abgleichens von Handlungen,
Ereignissen, Geschehnissen in den jeweiligen sozialen, sachlichen und zeitlichen
Dimensionen; soziologisch gefasst in den drei Strukturen der sozialen Kontinuität,
der Arbeitsteilung und der Machtasymmetrieverwaltung.
-
In Folge der technologischen Revolutionen Agrikultur, Feuerbearbeitung
(Keramik, Metallurgie) und Großbautechnik (Städtebau, Wegetechnik),
die sich nach christlicher Zeitrechnung auf eine Zeitspanne von ca. 5000
Jahren beziehen (ca. 8000 v.u.Z. bis 3000 v.u.Z.; davor die Zeit der Jäger
und Sammler); in Folge neuer Zeitdauern (etwa die von Saat bis Ernte),
neuer Abstandsmaße zur Natur, neuer Orte (ganz wichtig: Behälter,
so Lewis Mumfort), neuer Arbeits- und Sozialprofile (Bauer vs. Handwerker,
Händler, Schreiber), neuer Verteilungsteilungen (Produktion, Distribution),
neuer Bedürfnisvermittlungsformate (städtischer Markt, Geld)
und neuer Medien der Disposition und Kontrolle des unübersichtlich
Heterogenen (Schrift, Rechentechniken); in Folge der Ausdifferenzierung
der Figuren des lebensweltlichen Gegenübers und Miteinanders (von
den Figuren Mann, Frau, Vater, Mutter, Kind, alter Mensch, Sohn, Tochter,
Verwandte, Oberhaupt, Krieger, Fremde, fremde Gleiche, ungleiche Fremde
ausgehend hin zu den ergänzenden Sozial- und Funktionsfiguren wie
Handwerker, Verwalter, Machthaber, Schreiber, Händler, 'Mediziner',
'Zulieferer', Planer, 'Zeremonienmeister', Erkunder, religiöser Machthaber
usw.) entsteht ein bis heute anhaltender (Zivilisations-) Zug, den man
holbrig als "Vereisbergspitzung" der sozialen Verkehre bezeichnen kann,
d.h.: Die gesellschaftlich objektivierten Sinn- und Verkehrsstrukturen
korrespondieren immer weniger mit den subjektiven Relevanzstrukturen der
persönlichen Biographie (Habermas). Das, was in der Anschauung dem
einzelnen Menschen hier und jetzt erfahrbar wird, ist nur die Spitze eines
Eisberges, dessen maßgebendes Volumen nicht mehr in der sinnlichen
Anschauung und auch nicht in den einfachen Differenzierungen wie Fremd/Eigen
oder Innen/Außen untergebracht werden kann. Daß woanders als
hier, wo ich bin, gleichzeitig etwas passiert, das mit mir und meiner Lebenssituation
aufs engste verbunden ist; daß der Handwerker, Händler und Bauer,
Verwalter jeweils verschiedene Arbeiten machen, anderes Wissen haben, ein
anderes Leben führen, also getrennt sind, gleichzeitig jedoch strikt
voneinander abhängig; daß also die Formen des Zusammensatzes
und des Zusammenhalts, suchte man sie in der deiktischen, anschaulichen,
sinnlichen Dimension, nicht mehr zu finden sind und also die Bindung oder
das "soziale Band" (Andreas Hofbauer) vermittelter, symbolischer werden
mußten: genau das begründet die sich durch die Geschichte der
Menschen hindurchziehende Kluft zwischen kultureller und (sozio)-technologischer
'Entwicklung' menschlicher Gesellschaften bis heute. Die Dimension der
(arbeits-) technischen Verbindung durch Teilung löste sich eklatant
von der kulturellen Verarbeitungskapazität der Menschen, das Nichtdazugehörende,
das Andere, das Fremde, das sinnlich Abwesende als fremd- und selbstreferentielle
Zugehörigkeit zu "erleben". Man könnte auch sagen: Das lebensweltliche
Erfahren von Wirklichkeit wechselt von tautologischer zu paradoxer Grundierung,
von "es ist, wie es ist" hin zu "es ist nicht, wie es ist". Das sachliche,
zeitliche und soziale Koordinieren, maßgebend durch technologische
Revolutionen hervorgerufen, erschafft in eins neue, nichtmenschliche Einheiten
und nicht mehr von den einzelnen Menschen einsehbare Teile/Teilungen.
-
Entgegen der Überzeugung, daß die großtechnische Zivilisation
auf die Nachahmung einer unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit
zielt, und mit der noch zu erweiternden Überzeugung, daß alle
technischen Aktivitäten, wie verfeinert sie auch immer erscheinen
mögen, nur Ausdehnungen der Aufgaben des täglichen Lebens sind
und faktisch als alltägliche Aufgaben gelebt werden (Maturana), ist
das maßgebende Syndrom des Antriebs zur Zivilisationierung der Lebewesen
namens Menschen und zur Artefaktisierung der Bereitstellung seiner anthropologischen
Bedürfnisbefriedigungsmittel in Begriffen der Herrschaft, der Angst,
der (Zukunfts)Sicherheit und Dummheit zu fassen. Je fortgeschrittener,
d.h.: je vermittelter die Gesellschaften, desto stärker läßt
sich dieses "Viereck-Syndrom" entindividualisieren und in Strukturen, Organisationen
und Verkehrsmechanismen verkörpern. So läßt sich etwa der
kapitalistische Verkehrsmechanismus Geld-Ware-Geld nicht auf den Machtwillen,
die Angst, die Zukunftssorge und die Dummheit einzelner Unternehmer-Subjekte
reduzieren; vielmehr kumuliert dieses Syndrom beim Übergang der Aneigung
des Produkts hin zur Aneignung des Produzenten und in einer eigenen Organisationsform
der Aneignung der Produktion selbst, die, bis heute, ihre allopoietische
Struktur weiterhin pseudoautopoietisch aufrechterhält. Focus ist hier
die Emanzipation der sozialen Gesellschaft von den meisten in ihr lebenden
Menschen. Die vor etwas mehr als 400 Jahren beginnende Aufklärung
war in ihrem Kern die mehr oder weniger rhetorische Werbung, diesen Emanzipationsschub
hoffnungsvoll zu deuten.
-
Was auch immer die exakten ermöglichenden und verursachenden Bedingungen
gewesen sein mögen, die die Entwicklung der Spezies Mensch in den
sich wiederholenden Formaten von organisierter Zivilisation (Gruppen, Gemeinschaften,
Staaten, Gesellschaften) einmünden ließen; was auch immer exakt
die Scheide ausmacht zwischen egalitären / segmentären, hierachischen
/ geschichteten und funktionalen / kapitalistischen Gesellschaften, zwischen
mechanischer und organischer Solidarität, zwischen charismatischer,
traditionaler und legaler Herrschaftsform, zwischen kriegerischer und substantieller
Organisation der Gesellschaft, zwischen Aneignung des Produkts, Aneignung
des Produzenten und Aneignung der Produktion, zwischen urbanen, seßhaften
und nomadischen Gesellschaften, zwischen gesellschaftsnotwendiger und herrschaftsnotwendiger
Arbeitsteilung etc.; wie auch immer die beherrschte Gesellschaft durch
erfolgreiche Kriegsführung, durch erfolgreiche Infrastrukturierung
(Wasser, Bodenkultur, Urbanität), durch den internen Bevölkerungsdruck
auf knappe Ressourcen, durch die Form der distributiven Systeme bestimmt
wurde: Es bleibt bis auf weiteres offen, wie die organisierte Menschheit
von ihren Anfängen (das sind die primären Zivilisationen Mesoamerika,
Peru, Ägypten, Mesopotamien, Indus-Tal und Shang-Chou sowie die ersten
primitiven Staaten Hawaii, Tonga, Tahiti, Cherokee, Ashanti, Kongo, Zulu,
Nupe, Ankole) bis zur Gegenwart evolutionstheoretisch so eingefasst werden
kann, daß die kaum mehr überblickbare Divergenz kultureller,
organisatorischer, institutioneller, sprachlicher "Antworten/Lösungen"
organisierter Menschen und menschlicher Organisationen auf bestimmte "Fragen/Probleme"
der Selbst-, Herrschaft-, Ordnungserhaltung und des guten Lebens erklärt
werden können aus generellen Prozessen, Zügen, Formbildungen
der Evolution des Lebendigen. Auch wenn die Systemtheorie den Boden zu
bereiten versucht für eine Sicht auf soziale Gesellschaften, in der
sich die a-historische Autopoiesis-Systematizität im Bereich Sozialität
Geschichtlichkeit (Sinn) nur deswegen erlaubt, um die notwendigen Bedingungen
zur Erfüllung der geschichtslosen Autopoiesis zu reproduzieren, also
die soziokulturelle Evolution einläßt in die abstraktere Sichtweise
der Evolution von Systemen resp. autopoietischen Maschinen: die grundlegende
Einsicht, daß Menschen in ihren Organisationsformen im buchstäblichen
Sinne alleine auf der Erde sind, also keine Vergleichsmöglichkeit
besitzen, bleibt davon unberührt. Gewiß ist diese Stellung des
Menschen in der Natur resp. innerhalb des Lebendigen mit ein Hauptgrund
für religiöse, metaphysische und spirituelle Erklärungsansätze
gewesen. Aber auf diesen Pfaden nicht weiterzuwandern heißt nicht,
automatisch der gegenwärtig anziehenden Naturalisierung, Kybernetisierung
und Biologisierung des Menschen (noch nicht: der menschlichen Gesellschaft)
zu folgen.
Was also ist eine soziale Gesellschaft, von einem Denkpunkt aus bedacht,
der die kaum zu überwindende theoretische Perspektive einer Distinktion
der Handlungskoordination innerhalb der Gesellschaften in systemische und
sozialintegrative Koordination (society vs. community) hinter sich zu lassen
versucht?; der nicht bloß die Determinanten jedes sozialen Systems,
also auch Determinanten nichtmenschlicher Gesellschaften, zu erfassen sucht,
sondern die "humanen" Bedingungen genuin sozialer Gesellschaften der Menschen,
ohne im Bestimmungsdreieck Weltoffenheit (Gehlen), Geist
(Scheler) und exzentrische Positionalität (Plessner) zu verschwinden;
der die unterschiedlichen Systemdifferenzierungsmechanismen von Gesellschaften
(also segmentäre Differenzierung, Stratifikation, symbolisch generalisierte
Steuerungsmedien, staatliche Organisation; Integration durch Tausch und
durch Macht) und das daraus sich ergebende Integrationsniveau sowie die
unterschiedlichen Gesellschaftsformationen (also segmentäre und hierachisierte
Stammesgesellschaften, ökonomisch konstituierte und politisch stratifizierte
Klassengesellschaften) noch zu überspannen versucht; der das Denken
nicht bei einer Variante des agilen AGIL-Schemas von Talcott Parsons stranden
bzw. nicht unterderhand bloß in den Synthesisformen moderner (statt
sozialer) Gesellschaft sich verfangen läßt (Markt, funktionale
Differenzierung, Organisation und Hierachie); und der schließlich
nicht die Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses darin
zu erblicken erlaubt, daß es die Rationalität der Lebenswelt
ist, die eine Steigerung der Systemkomplexität von Gesellschaft ermöglicht,
die dann aber so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative
die Fassungskraft der Lebenswelt sprengen?
Dieser Frage soll nun also nachgegangen werden anhand jeweils kurzer
Erörterungen unterschiedlicher Gesellschaftsformate, Gesellschaftsbegriffe
und Gesellschaftsvorstellungen in zeitlicher, sachlicher, sozialer und
zukünftiger Hinsicht. Festgehalten wird die alte Einsicht Adornos,
daß die Realität soziale Gesellschaft keine Nominaldefinition
erträgt, da sie wesentlich als Bewegung, als Prozeß aufzufassen
ist. Und, ein letztes: das Attribut sozial könnte als überflüssig
erscheinen, da Gesellschaft logischerweise bzw. soziologischerweise sozial
sein muß. Bleibt diese Attribution, so könnte man daran denken,
daß hier eine Unterscheidung markiert werden soll gegenüber
unsozialen oder asozialen Gesellschaften. Soziale Gesellschaften würden
dann sofort in einen moralischen, in einem ethischen, zumindest in einem
emphatischen Sinne verstanden. Dem soll hier nicht gefolgt werden. Das
Soziale der Gesellschaft steht nicht im Unterschied zum Asozialen, sondern
vielmehr zum Abstrakten der Gesellschaft. Damit ist zumindest möglich,
daß die abstrakte Gesellschaft nicht automatisch asozial im moralischen
Sinne sein muß. Die Wahl der Unterscheidungseite "abstrakte Gesellschaft"
ist dem empirischen Umstand geschuldet, daß ebendiese (als Sammelbegriff
unterschiedlicher bürgerlicher Gesellschaften) einen dramatischen
Einschnitt in der Geschichte der Gesellschaftsreproduktion darzustellen
scheint (Globalisierung der Produktionsweise Kapitalismus, der Produktionsmittel
Technik und Wissenschaft, der Politikweise Demokratie).