Bernd Ternes

Politische Schatten


Franz Josef Strauss forderte es schon in den frühen 80er Jahren. Die sonstigen Rechten schon seit den 50er Jahren. Neuerdings sind sich konvertierte Linke nicht zu schade, ins gleiche Horn zu blasen: Die Bundesrepublik soll aus dem Schatten des Nationalisozialismus treten, soll als normaler Staat betrachtet werden, kurz: Die BRD sei schon so normal wie alle anderen Staaten auch, vielleicht sogar etwas normaler; einzig in der Rhetorik der Umweltpolitik leistet man sich noch ein Voranmarschieren. Schluß also, so die Mahnungen, mit masochistischen Selbstbeschreibungen der Bundesrepublik; Schluß mit dem Ernstnehmen der Ängste anderer Staaten. Spätestens mit dem gelungenen "Gesellenstück" Helmut Schmidts, den Nato-Doppelbeschluß durchgezogen zu haben und damit zu beweisen, daß wirklich nichts die Loyalität der Bundesrepublik zur großen westlichen Wertegemeinschaft schwächen kann, entstand soetwas wie ein Bedürfnis, doch bitte nicht mehr als Nachfolge des NS-Unrechtsstaates betrachtet zu werden, bei dem man sich immer noch zu fragen hat: Kommt da noch was? Zudem drängte sich vielen angesichts der vergleichsweisen Erfolge des Rheinischen Kapitalismus - viele setzen auch heute noch diesen mit Kapitalismus schlechthin gleich - immer mehr die rhetorische Frage auf, ob so Kriegsverlierer aussehen.

1989 war dann auch der Startschuß für den endgültigen Verzicht auf eine politische Sonderbehandlung: Mit dem Einigungsvertrag vom August 1990 und der Annahme eines unreformiert gebliebenen neuen Grundgesetzes 1994 verschwand auch das 1949 erlassene und 1951 schon weitgehend revidierte Besatzungsstatut der westlichen Militärgouverneure. Endlich die volle politische Souveränität für die BRD; und zugleich rechtzeitig genug, um beim großen "neoliberalen" Staatabsterb-Spiel mit vollen Pfunden mitspielen zu können.

Man kann sich fragen, ob die politische Bundesrepublik "erwachsen" worden ist, um nun tatkräftig ihr Programm umzustellen: von einer Marktwirtschaft, die sich sozial auszurichten hatte - so verlangte es zumindest die politische Rhetorik -, hin zu einer sozialen Gesellschaft, die das zu nehmen hat, was Markt und Unternehmensgesellschaften hergeben. Man kann sich fragen, ob es nun wirklich in die Köpfe eingegangen ist, daß zwischen Gesellschaft und Kapital nirgends ein Vertrag besteht, der letzteres an erstere zu binden vermag. Wer, wie Sir Ralph Darendorf und überhaupt die "ZEIT"-Liberalen allgemein, danach fragt, wie man dafür sorgt, daß Wettbewerbsfähigkeit nicht zum Fetisch wird, der hat immer noch nicht verstanden, daß es unmöglich ist, einen Bär daran zu hindern, in den Wald zu scheissen.

Aber die Frage geht tiefer: Ist die politische und soziale Bundesrepublik in den letzten 50 Jahren ausreichend us-amerikanisch erzogen worden, um jeglichen Verdacht der Mitkonkurrenten auzuräumen, der darin besteht, daß Deutschland, im Gegensatz um beginnenden 19.Jahrhundert, diesmal zu früh an einen restrukturierten Kapitalismus auf gehobener Stufenleiter angeschlossen wird? Darf die Welt davon ausgehen, daß Deutschland mit seiner hegemonialen Stellung im Europäischen Wirtschaftsraum kein Jota von der Machtausübungsart abweicht, die die USA vorgemacht hat ("Idee Bundesbank")? Verblassen Überlegungen, die die wirtschaftspolitische Gestalt der Europäischen Union herleiten aus den Konzepten des Reichwirtschaftshauptamtes? Kurz: Ist die Re-education gelungen?; wird also nur noch das Geld als Erziehungsinstrument akzeptiert? Wird endlich von aller Rhetorik gelassen, die noch behauptet, es ginge um Freiheit?

Die Frage ist offen. Aber richtig gestellt werden muß sie schon, etwa so, wie kürzlich David Binder in der New York Times: "Zweimal haben wir uns in diesem Jahrhundert gegen die Deutschen gewendet, und wir können das unter bestimmten Umständen im nächsten Jahrhundert wieder tun — aber vielleicht müssen wir es ja nicht." Wer nicht mehr fragt, so Yehuda Bauer in seiner Rede Anfang 1998 im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Holocaust, der muß "sicher sein, daß hier, woher der Holocaust kam, eine alt-neue, humane, bessere Zivilisation auf den Trümmern der Vergangenheit entstanden ist."

Ist sie das?