Anmerkungen zur Phantasma-Forschung
Phantasma-Forschung könnte da weitergehen, wo die Kritik an dem erkenntnistheoretischen Bild des Spiegels und also der Repräsentation aufhört. Diese Art Kritik könnte man bei Luhmann zu sich kommen sehen, der beschreibt, wie stark die Bildung von Bildern (Spiegelbildern) für die Bestimmung der Bestimmbarkeit einer (Sozial-)Beziehung an Potenz verloren hat (derselbe, Soziale Systeme, FFM 1984, p153-154):
Spricht man von Spiegelung, dann mag man in gewissem Umfange noch einrechnen, daß die Spiegel, die sich wechselseitig spiegeln, vergrößern oder verkleinern oder sonstwie verzerren, eine "subjektive" Komponente mit ins Spiel bringen. Die Metapher wird jedoch in dem Maße inadäquat, als die selbstbezügliche Selektion zunimmt; und sie wird vor allem dann inadäquat, wenn man bedenkt, daß der Zerrspiegel die Verzerrung des anderen Spiegels nicht miterfaßt. Das heißt: wenn man diese Metapher auf die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferentiell operierenden Systemen übernimmt, dann löst sie sich auf. Die Spiegel zerbrechen. (...) Kurz: es wird fragwürdig, wie man überhaupt noch die Einheit einer Beziehung denken kann, die eine Mehrheit selbstreferentieller Systeme liiert. Die Beziehung wird selbst zur Reduktion von Komplexität. Das aber heißt: sie muß als emergentes System begriffen werden. (...) Soziale Systeme entstehen... dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. Das ist mit dem Grundbegriff der Handlung nicht zu fassen."
Dem Stand dieser Einsicht, also der Einsicht in die Unmöglichkeit von Einheitsbildung im Modus der Abbilderkenntnis, korrespondiert eine neue Paradoxiefreundlichkeit der wissenschaftlichen und philosophischen Versuche, den Dingen auf den nicht mehr vorhandenen Grund zu gehen. Das philosophische "nichts" bzw. die reflexionstheoretische "Leere", der beobachtungstheoretische "blinde Fleck", das psychoanalytische "Reale", die neurophilosophische "indifferente Codierung", das kunsthistorische "Unsichtbare": all diese Namen paraphrasieren etwas, was zwischen Absenz, Undarstellbarkeit und Nichtexistenz mit Macht die Erfahrungen des Bewußtseins und des Lebens durchherrscht und schmerzt, wenn nicht tötet.
Luhmann empfiehlt, die Paradoxien, die sich am Ende einer langen Selbstreflexion von Erkenntnis und Abstraktion als die zeitgemäßen Gestalten der Gorgonen herausstellen, nicht anzuschauen, sondern die zu beobachten, die ihre Beobachtung danach orientieren, Stheno nicht zu Gesicht zu bekommen; er empfiehlt also eine negative Paradoxologie bzw. Beobachtungstheorie. Die Psychoanalyse Lacans, sieht man von manchen Unterschieden ab, betreibt mit einer Art negativen Retextemologie etwas gleichsinniges.
Eine den Phantasmen nachforschende Sthenographie geht hier vielleicht mit Slavoj Zizek zusammen einen Schritt weiter. Sie geht von der Einsicht aus, daß das sich nun langsam durchsetzende Erkennnen der Unmöglichkeit eines ewigen, neutralen, logischen Kommensurationsvokabulars (R. Rorty), einer Vereinheitlichung und einer Vergleichbarkeitsgeschlossenenheit im sozialen, symloischen und geographischen Raum, daß dieses Erkennen also auch schon als historisch überholt zu gelten hat. Denn: So wie es als historisch bedingt anzusehen ist, daß sich die abendländische Kultur in ihren Zivilisationsschüben und Logifizierungen Paradoxieaversion nur deswegen erlauben konnte, weil sich untergründig ("sub-jektiv", unbewußt, "dialektisch") bereits die historische Entwicklung der Paradoxiefreundlichkeit, ja Paradoxieabhängigkeit als zukünftige Gegenwart Gestalt gab, so kann sich die gegenwärtige Gesellschaft auch nur deshalb positiv werdende Paradoxien im Denken, im Leben und in der sozialen Vermittlung erlauben, weil sich gleichsam die historische Entwicklung auf anderen Terrains in die Zukunft abgesetzt hat, und zwar strikt antiparadoxal, also tautologisch. Die Pointe also ist, daß die Promotion oder Freigabe des Paradoxalen, des Heterogenen, des Differenten, des Grund- und Einheitslosen "harmlos" bleibt, eben weil sich, und das ist der Punkt, nun "obergründig" im Imaginären eine totale Tautologie, also eine rigorose Immanenz vorbereitet. Man könnte fast sagen, hier wiederhole sich Geschichte in anderen Registern; könnte sagen, daß die "erste" Logifizierung und Abstraktifizierung (Symbolisierung), die sich noch auf Raum, Sozialraum und Symbolik bezog, in die falschen Dimensionen von Welt hineingriff, durch das Reale (das Nichtsignifizierbare, das Unsichtbare, das Paradoxe) aber uno actu "korrigiert" wurde, und nun, in der eigentlichen agonalen Bipolarität, Reales vs. Imaginäres, auch die eigentliche Dimension von Welt trifft, in der Abstraktion zu sich kommt und aufhört, untergründig historisch zu sein: nämlich die Dimension des Imaginären. Diese Dimension ist "obergründig" oder paragrundhaft, weil sie fortgeschrittener selbstreferentiell ist als alle bisherigen historischen Weltan- und enteignungsmittel. Sie hat kein Unsichtbares, kein Nichtdarstellbares, kein Illusiorisches (Baudrillard) mehr nötig. Wenn Wolfgang Ernst schreibt: "Tarnung, Unsichtbarkeit als Garant machtvollster Wirkung ist die Signatur der Infrastruktur der Moderne. Die historisch progressive Unsichtbarwerdung von Infrastruktur (..) ist einerseits analog zu Jacques Lacans Differenzierung von Realem, Symbolischen und Imaginären analysierbar; andererseits als das, was sich dem klassischen Medium der historischen Beschreibung (...) entzieht"; und die hier verfolgte Sthenographie darüberhinausgehend annimmt, daß sich das Invisible und Invisibilisierte der sozio-psycho-kulturellen Welt nun mit Gewalt versichtbart, und zwar im kannibalistisch gewordenen Imaginären, und daß damit die gegenwärtige technologische/mathematische/informatische Grundfassung von Welt, nämlich an/aus, 1/0, Präsenz/Absenz, materialimmateriell konterkariert wird, ohne daß es dafür noch einen Ausweichuntergrund gibt, eine unsichtbare Unsichtbarkeit, eine unbewußte Unbewußtheit, ein reales Reales usw.: dann steht die Form szientistischer Erkenntnis, überhaupt die Form der Wissensproduktion vor einer kaum zu überblickenden Reformulierung. Denn, um die These zu wiederholen, die große Wirklichkeitdimension und historisch so erfolgreiche Phase der Bezeichnung, der Signifizierung, der symbolischen Ordnung wäre ausgeschieden im Kampf der Wirklichkeitstableaus um die Hegemonie der Austragung der 'gesellschaftsmodelnden' Prozesse. Wenn nur noch Reales und Imaginäres, also Kreatur und Kreation, Auszugsgestalten für den Kampf um die Wirklichkeitsform von Welt bereitstellen, dann werden essentielle Begriff wie Vermittlung, Bezeichnung, Information, Text, Kontext u.a. mehr als nur problematisch.
In dieser Situation der plausiblen Beschreibung gegenwärtiger Verfasstheit der imaginären Gesellschaft und der gesellschaftlichen Imagination ist es nicht nur eine Verlegenheit, das vor mehr als einhundert Jahren erfundene bewegte Bild nicht unter techniksoziologischen oder ästhetischen Annahmen zu fassen, sondern unter folgendem: So wie das Bewußtsein für die fortgeschrittene Systemtheorie das Unbewußte für die Kommunikation (also für die Gesellschaft) ist, so ist der Film für die Sthenographie das Unbewußte der Gesellschaft und zugleich die Aufhebung der (topologischen) Ozillation zwischen Unbewußtem (Mensch) und Bewußtem (Gesellschaft). Es fehlen hier eindeutig Worte, die zu beschreiben hätten, daß die Gesellschaftswerdung des Unwußten und die Unbewußtwerdung der Gesellschaft nichts mehr zu schaffen haben mit der Unterscheidung unbewußt/bewußt, da hier elementare Wechsel im 'Status' der Wirklichkeit von Welt passiert und nicht nur Wechsel innerhalb von Wirklichkeit. Es könnte nun sein, daß genau darauf der Film reagiert, Film also die einzige Form der totalen Imaginationsinklusion ist, die in den Sichtbarkeitsbereich des Menschen hineinragt (wenn auch schon mit einer positiven und den Film als bewegten überhaupt erst positiv werden lassenden Überforderung der Kapazitäten des menschlichen Sehsinns). Nur: Was sehen wir und was von uns "Menschen" sieht, wenn wir Filme sehen (jenseits der filmtechnischen und filmphilosophischen Frage Peter Greenaways, ob es im 20 Jahrhundert überhaupt schon einen Film gab, der den Möglichkeiten bewegter Bilder gerecht wurde): Das Reale, be-hauptet (als Gegensatz zur Enthauptung) durchs Imaginäre? Das Imaginäre, entkörpert durchs be-hauptete Reale?
Das be-hauptete Reale, das durchs Imaginäre (das sich seinerseits im Visuellen be-hauptet) "sichtbar", "dada" (im Sinne einer 'doppelten' Präsenz), nicht-rest, nicht-leer, nicht-blind wird, kann nicht mehr im Konzept der Beobachtung, der Kognition, der Unterscheidung, der Textemologie ankommen. Es ist eine zusätzliche eigenartige Verkehrung passiert. Man könnte sagen: Daß sich in der Instantanisierung, in der Ephemerisierung, der Temporalisierung und Volatilität der Wirklichkeit des bewegten Bildes ein Verständnis von Wirklichkeit zuspitzt, das erstblicklich alle Bestrebungen darauf richtete, die Wirklichkeit festzustellen und als unveränderliche jederzeit wiederholbar zu machen. Dieses Wirklichkeitsverständnis wird gemeinhin virulent in dem abendländischen und von der griechischen Tradition weiterhin beherrschten Begriff des Wissens: das Wissen ist das, was ich gesehen habe. "Wir haben ein Wissen von etwas, wenn wir es gesehen haben und von daher nicht noch einmal hinschauen müssen. Dieses Verständnis von Wissen impliziert also die Nichtveränderung des beobachteten Objekts. Von daher leitet sich auch das Ziel abendländischer Wissenschaft ab, das Sein zu erkennen, indem man auf das Unveränderliche fokussiert und Konstanten aufzudecken sucht. Die Realität als der Bereich, dem wir wirkliches Sein zuschreiben, hängt von daher von unserer Erwartung ab, daß das Beobachtete sich nicht verändert." Zwar ist nun in der imaginären und virtuellen Bilderraumwelt rein gar nichts mehr unveränderlich und fest, da ja jetzt die Dreidimensionalität imaginierenden Bilderflächen die Anpassungprozesse der Akkommodation und Assimilation übernommen haben (besser gesagt: natürlich die Computer), die sonst ein sich bewegendes Subjekt in der (nicht nur) dreidimensionalen Wirklichkeit tätigt. Und also geht es auch nicht mehr um ein Feststellen einer feststehenden Objektwelt, die bleibt, auch wenn ich nicht bleibe ("Horizont"). Und es geht auch nicht mehr darum, wegsehen zu können von der Welt, nachdem man sich sehend davon überzeugt hat, daß sie so ist, wie man es sah. Aber, und darin sehe ich die ausgereifte, quasi sich in sich aufhebende Form des Weltverhältnisses beobachtenden Feststellens: Die (digitalen) Bilder im imaginären/ virtuellen Raum erlauben es nicht mehr, wegzusehen: Man kann nur noch beobachten, jetzt nicht verstanden als Verunmöglichung des Riechens, Berührens usw., sondern als Verunmöglichung des Nichthinschauens, des Blickabwendens, des Changierens dessen, was Figur, was Hintergrund der angeschauten Welt ist. Das Feststellen der Realität nichtveränderter Objekte macht also soetwas durch wie einen Sprung von Quantität zu Qualität: Dasjenige, was bis dato gesehen werden konnte und deswegen als etwas aufgefasst wurde, das jenseits des Operationsradius des Sehens ist, wird jetzt in den Operationsradius des Sehens eingezogen. Es existiert nicht mehr als etwas, zu dem das beobachtende Subjekt sich verhalten muß in der Art, daß es sich erfährt in einer Beziehung mit etwas, in der es nur einen Teil ausmacht, also nur Bestandteil ist, und dementsprechend verbunden ist mit etwas, was es nie weiß, was es nie einnehmen und erreichen kann. Der operative Konstruktivismus hatte daraus noch Konsequenzen gezogen und gesagt, daß kognitive Systeme nicht zu unterscheiden vermögen zwischen den Bedingungen der Existenz von Realobjekten und den Bedingungen ihrer Erkenntnis, weil ihnen kein erkenntnisunabhängiger Zugriff auf ebendiese Realobjekte zur Verfügung stehen würde. Nichts desto trotz blieb das Unverfügbare, das Andere als Umwelt bzw. als Horizont anerkannt. In der visualisierten Imagination ist diese Unterscheidung aufgelöst: Die wenn auch nur als focus imaginarius angenommene Existenz von Realobjekten und Realumgebungen ist nun vollständig Effekt der Bedingungen zur Ermöglichung von Verbildlichung sehender Erkennntnis; ist nun vollständig in die Realität der Verbildlichung der Bedingungen des Erkennens eingezogen. Oder anders: Das ausgerüstete Subjekt okkupiert in Gänze den Bereich des Beobachtetwerdenkönnens, es selbst "wird" das, was sonst das ist, in und mit dem es ist, nämlich Welt, Horizont, Umwelt, und bleibt zugleich dasjenige, das beobachtet, sieht, erkennt. Das Beobachtete und der Beobachter sind eins geworden, wenngleich auf der Ebene visueller Aisthesis noch Verschiedenheit imaginiert werden kann (solange man nicht bemerkt, daß man gar nicht mehr die Möglichkeit hat, nicht zu sehen). Ist man im Sehen dieser Bilder, dann ist das ausgeschlossen, was sonst als theoretischer Kniff möglich ist: Das sog. re-entry. Was nun? Sthenographie!